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Ansichten der Pandemie: Die Rezeption des Sarg-Konvoi-Fotos in der deutschen und italienischen Presse

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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Vom Umgang mit Krankheit im öffentlichen Raum. Ein internationaler Blick. De la gestion de la maladie dans l’espace public.Un regard international

Zacytuj

Abb. 1:

Der Sarg-Konvoi. Das von Emanuele di Terlizzi aufgenommene Handyfoto vom 18. April 2020 zeigt einen Konvoi von Militärlastern ©ANSA.1

EINFÜHRUNG. DIE BILDER DER NÄCHTLICHEN LEICHENTRANSPORTE VOM 18. MÄRZ 2020 ZU BEGINN DER CORONA-PANDEMIE IN BERGAMO

Am 18. März 2020 war Italien bereits seit Wochen schwer von der Pandemie betroffen, die Stadt Bergamo stand zu diesem Zeitpunkt seit zehn Tagen unter Quarantäne.* In der Nacht waren die Straßen menschenleer und still, und, von einigen Journalisten und Fotografen abgesehen, war niemand zu sehen außer ein Dutzend schwerer Militärlastwagen, die aus einem Seiteneingang des städtischen Friedhofs herausfuhren.2 Die Idee, Militärfahrzeuge für den Transport der Pandemieopfer-Särge einzusetzen, stammt von einem Abgeordneten aus Bergamo, der die katastrophale Situation der städtischen Bestattungsdienste unmittelbar selbst erlebt hatte. Als die Menschen in Bergamo die mit Särgen beladenen Militärfahrzeuge durch die Straßen rollen sahen, war ihnen die Schwere der Lage noch nicht klar, doch dieses Ereignis veränderte alles. Aufgenommen wurde das Bild von dem damals 28-jährigen Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi. Vom Balkon aus hatte er die nächtliche Aktion beobachtet. Das Foto ging innerhalb weniger Stunden um die Welt und von dem Moment an, als es veröffentlicht wurde, war es nicht mehr möglich, die Schwere der Ereignisse in Bergamo und die Gefahr, die von Covid-19 ausging, zu leugnen oder gar anzuzweifeln. Wie Marco Birolini in Avvenire am 19. März 2020 schrieb:

Das schwere Brummen der Motoren durchbricht die Stille, die die verlassene Via Borgo Palazzo umhüllt. Es ist kurz nach zehn Uhr abends, die Menschen schauen aus ihren Fenstern. Jemand zückt sein Smartphone um ein Foto zu machen, das traurigerweise in die Geschichte eingehen wird. Dreißig Armee-LKWs fahren in einer geordneten Reihe langsam den Weg vom Friedhof zur Autobahnausfahrt entlang. Sie sind mit 65 Särgen beladen, die Bergamo nicht mehr beerdigen, ja nicht einmal mehr einäschern kann. Das Militär wird sie nach Modena und Bologna eskortieren, dann wird die Asche ihren Angehörigen übergeben.3

Zu dem Zeitpunkt, als Julie Metzdorf in der BR Kulturbühne vom 26. Oktober 2021 Obenstehendes schreibt, ist das Bild des Militärkonvois für diejenigen, die noch nicht direkt von der Pandemie betroffen waren, noch völlig undurchsichtig:

Genau genommen sehen wir nichts weiter als Autos bei Nacht. Ein Militärkonvoi, der bei Nacht durch ein Wohngebiet fährt: Das ist diffus genug um keine direkte Panik auszulösen, aber auch so deutlich, dass man lieber mal ein bisschen Klopapier mehr einkauft. In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020). Es war die Angst vor dem „Killervirus” genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise wird in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.4

Unabhängig von dem Kontext, in dem es aufgenommen wurde, ist das Foto des Militärkonvois auf den ersten Blick wirklich undurchsichtig und allgemein, und der Betrachter ist weit davon entfernt, es ohne weitere Angaben in den richtigen Kontext einordnen zu können: Zu sehen sind Militärfahrzeuge, die nachts in Kolonne durch eine verlassene Stadt fahren. Das vage Gefühl von Fremdartigkeit, das das Bild vermittelt, erlangt jedoch, wenn man es in den Zusammenhang mit der Situation vom 18. März 2020 in Bergamo einordnet, in seiner Bedeutung für die italienischen Leser absolute Eindeutigkeit und löste innerhalb weniger Stunden Entsetzen im Land aus, als es im Internet viral ging. Jedes Mal, wenn das Bild in den sozialen Medien gepostet wurde, hat das Auge tatsächlich nach den Särgen gesucht, die nicht zu sehen sind, und es ist genau diese tiefe Kraft des Bildes, die in gewisser Weise seine Verbreitung erklärt: die Abwesenheit des Fokus, das corpus delicti des Killervirus. Es ist kein Zufall, dass die häufigsten Begriffe, die in der deutschen Presse verwendet werden, um dieses Bild zu definieren, „Militärlaster” und „Sarg-Konvoi” sind, die diese visuelle Lücke mit bedeutungsbestimmenden Komposita zu füllen scheinen. Die Rezeption des Fotos in Italien war ganz anders. Das Sarg-Konvoi-Foto wurde blitzschnell im Internet verbreitet und löste dadurch innerhalb weniger Minuten Panik aus. Die bei Avvenire beschriebene kontextuelle Dimension blieb der Rezeption im Ausland fremd. In Italien galt schon seit über zehn Tagen eine Ausgangssperre, während des Lockdowns bestand das strenge Verbot die Wohnung zu verlassen. Die von der Polizei Tag und Nacht kontrollierten Straßen waren leer und es herrschte eine absolute Stille in den Großstädten, regelmäßig warnte die Polizei abends über Lautsprecher, zu Hause zu bleiben. Tage später ging die Stille in das ständige Tag und Nacht anhaltende Heulen der Krankenwagensirenen über, menschen- und autoleere Straßen und ein früher Frühling ermöglichten einen ungewöhnlich intensiven Blumenduft selbst in Städten wie Mailand oder Turin. Die surreale Dimension dieser Tage mit der schon sommerlichen Sonne und den Nachbarn in Badeanzügen an Fenstern und auf Balkonen wird für immer in der allgemeinen Erinnerung bleiben.

Im Zusammenhang mit den erschreckenden Ereignissen erhielt das Bild von Bergamo für italienische Leser und Internetnutzer sofort unmittelbare Klarheit – zumindest für die Bewohner Norditaliens, die in der ersten Phase täglich mit der Pandemie konfrontiert waren. So sind in diesem Foto einige grundlegende Koordinaten enthalten, die in der kollektiven Wahrnehmung die bestehende Krise ausdrücken: die öffentlich geräumte Stadt als Ausdruck größter Risikobegrenzung, aber auch der Angst und Panik, die die Menschen inzwischen erfasst hatten. Ebenfalls der Einsatz der Armee als extrema ratio zu einem Zeitpunkt, als die Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens nicht mehr in der Lage waren, die Notlage zu bewältigen; die scheinbar endlose Kolonne von Militärfahrzeugen – mit den nicht sichtbaren Särgen – als Metapher für die potenziell unendliche Zahl der Opfer. Schon aus den ersten, kurz nach dem Ereignis veröffentlichten Zitaten geht die unterschiedliche Wirkung, die das Bild in Italien und Deutschland hatte, deutlich hervor.

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Bildrezeption des Sarg-Konvois in der deutschen Presse zu rekonstruieren und dabei herauszuarbeiten, wie die direkte Kenntnis des Kontextes, in dem das Bild aufgenommen wurde, seine Rezeption in Italien und Deutschland unterschiedlich beeinflusst hat. Der theoretische Rahmen stützt sich hierbei auf die Theorie der Bedeutungskonstitution (Nothdurft 2006) und die Text-linguistik (De Beaugrande-Dressler 1981; Bazzanella 2008; Ferrari 2014; Haßler 1997 u. 2020), insbesondere auf die Rolle des Kontextes in der digitalen Umgebung sowie auf die Theorie der Metapher (Lakoff / Johnson 1999 u. 2003; Prandi 2017). Auf methodischer Ebene versucht der Beitrag die Auswirkungen des realen Kontextes (Lakoff / Johnson 2019) auf die Bedeutungskonstitution in der digitalen Multimodalität (Bateman et al. 2017; Verdiani 2020, 2023) und die pragmatische Organisation und Folgerungsstruktur des Fotos Sarg-Konvoi zu definieren und schlägt ein deskriptives Modell der digitalen Multimodalität in Bezug auf die Bildrezeption vor.

DIE ROLLE DES REALEN KONTEXTES FÜR DIE BEDEUTUNGSKONSTITUTION IN DER DIGITALEN MULTIMODALITÄT

In der digitalen Dimension der Kommunikation wird das, was wir alle im Fall des Konvoi-Bildes als Foto wahrnehmen, als Hypertext betrachtet. Digitale Hypertexte zeichnen sich durch eine ausgeprägte Hybridität bereits auf der Ebene der pragmatischen Organisation des Textes aus. Die im digitalen Artefakt formulierte Nachricht bedient sich zahlreicher Ausdrucksformen (Bateman et al. 2017: 25), um seinen Gesprächspartner dazu zu bringen, die für die Bedeutungskonstitution der Botschaft erforderlichen Handlungen auszuführen, indem er Elemente ikonischer Art mit dem realen Kontext und den alphabetischen Elementen verbindet.5 Bei der multimodalen Kommunikation treten neue textuelle Inszenierungsformen auf “deren Einfluss auf den Rezeptionsprozess, in dem sich ein Wandel vom Kommunizieren auf das Wahrnehmen vollzogen hat”. (Antos et al. 2014: 10). Die Schichtung von Referenzen, die für die Bedeutungskonstitution einer multimodalen Online-Nachricht nützlich ist, greift manchmal auch auf Elemente auberhalb des Netzes zurück. In diesem Beitrag werden die Schlagzeilen und einige der Texte analysiert, die dieses emblematische Bild der Pandemie in der italienischen und deutschen Presse begleiteten. Außerdem sollen die verschiedenen kontextuellen Situationen und der Einfluss, den sie auf die Rezeption des Bildes hatten, rekonstruiert werden.

Der Kontext in der digitalen Umgebung

Sprachhandlungen finden in der kommunikativen Realität statt, vor einem präzisen kognitiven Hintergrund, der aus dem kommunikativen Kontext rekonstruiert werden kann. Nach Carla Bazzanella (2008: 120) greifen wir in unserem täglichen Leben ständig auf den Kontext zurück, implizit und explizit, wobei wir die Zuschreibung eines von allen anerkannten Sinns als selbstverständlich voraussetzen. In jeder Situation benutzen wir den Kontext, um etwas zu sagen oder zu tun, aber auch, um zu verstehen, was getan oder gesagt wird. Ohne den Kontext wären wir sehr oft nicht in der Lage, unsere eigenen Worte/Handlungen oder die der anderen zu verstehen. Dieser Kontextbegriff scheint auch in einer multimodalen Perspektive effektiv zu sein. Denn in der Online-Interaktion erfolgt die Kontextkonstruktion hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, mittels Sprache. Der Verstehensprozess, der aus der Dekodierung der sprachlichen Nachricht gewonnenen Informationen wird durch die multimedialen und multimodalen Daten, die dem Leser in hybriden Nachrichten zur Verfügung gestellt werden, auf intuitive Weise ergänzt.

Das Repertoire an Bildern (oder anderen außersprachlichen Referenzen), auf das der Leser zurückgreift und das er erkennen und interpretieren kann, erinnert an die kontextuelle Situation und den jeweiligen Wissensumfang – die Enzyklopädie –, mit denen er in seiner kulturellen Realität umgehen muss. Es handelt sich um eine Dimension, die der russische Semiologe Jurij Lotman als Semiosphäre (2005 [1985]) definiert hat und damit einen Mechanismus bezeichnet, der für das Überleben einer bestimmten Kultur unabdingbar ist. Die Semiosphäre weist gemeinsame Merkmale ihrer Gesprächspartner auf, d.h. einerseits werden ein gewisses Ausmab an Hintergrundwissen und andererseits diskursive, konventionelle und kulturelle Annahmen vorausgesetzt, die die Zusammenarbeit zwischen den Sprechern garantieren sollen. Die Dekodierung der sprachlichen Botschaft, die in der digitalen Kommunikation zusammen mit den Bildern vorliegt, wird also auch wesentlich durch die Interpretation eines komplexen und kulturell artikulierten Kontextes beeinflusst. Dies gilt insbesondere für implizite Bedeutungen. In vielen Fällen wird in multimodalen Online-Texten die vorliegende Information eben durch Details erschlossen, die auf hybride Weise konstruiert sind. Die Verfügbarkeit von Multimedia-Materialien innerhalb des Netzwerks kann diesen Prozess nur fördern und auf diese Weise auch die Erschliebung impliziter Bedeutungen sicherstellen (Bateman et al. 2017: 25; Verdiani 2023: 193).

Beim Versuch eine sprachliche Interaktion zu disambiguieren, kann der Gesprächspartner nie sicher sein, dass die kontextuellen Inhalte auch wirklich die vom Sprecher intendierten sind. Ebenso wenig wie der Sprecher nie sicher sein kann, dass die richtigen kontextuellen Inhalte vom Gesprächspartner aktiviert werden. In solchen Fällen kann das Vorhandensein von Bildern den Präzisionsgrad der Schlussfolgerungen erhöhen. Auf der Grundlage des 1993 von Dan Sperber und Deirdre Wilson6 formalisierten Prinzips der Relevanz ist es genau das Wissen, mit dem der Gesprächspartner im Moment der Interpretation am meisten vertraut ist, das am ehesten Teil des Kontextes wird. Die ikonographische Enzyklopädie, über die wir alle verfügen, ist eben Teil dieser Dimension. Elemente wie die verlassene Stadt in der Nacht, der Aufmarsch der Armee und die lange Reihe von Militärfahrzeugen behalten im Gegenteil ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit, wenn man sie aus dem Zusammenhang der Pandemie in Italien Anfang März 2020 herauslöst.

Dekodierung und Inferenz

Der Sprachgebrauch stützt sich auf die primären Strategien der Dekodierung und Inferenz. Die Dekodierungsfunktion ist grundlegend für das Erkennen des bezeichnenden Inhalts der Nachricht (oder des Textes) und seiner internen strukturellen Beziehungen. Denn die Sprache liefert uns die Anweisungen für die Lesart eines Textes und somit die Vorgehensweise, um exakt die intendierte Bedeutung aus der Bedeutungsvielheit eines Ausdrucks auszuwählen. Schlussfolgerung ist eine Form natürlichen Denkens, also keine linguistische Strategie, sondern eine allgemeinere kognitive Strategie, die es zunächst ermöglicht, “explizite linguistische Bedeutungen präzise zu erfassen und zu ergänzen” (Prandi 2006: 223), darüber hinaus kann sie in manchen Fällen auch völlig neue Inhalte schaffen (Ferrari 2014: 49). Sprachliche Handlungen finden nicht in einer abstrakten Dimension statt, sondern in der Realität und in Anwesenheit verschiedener Sprecher, deren Wissen für den Verlauf des Gesprächs entscheidend ist. Die für die Interpretation eines Textes notwendigen Inferenzen beziehen sich auf inhaltliche Kategorien, die auf verschiedenen Ebenen abgeleitet werden können. Etwa aus dem sprachlichen Kontext oder Kotext, aus dem situativen Kontext oder aus dem enzyklopädischen Wissen des Sprechers. Diese begrifflichen Strukturen bilden den kognitiven Hintergrund der kommunikativen Aktivitäten und haben den Zweck, andere Begriffe zu aktivieren, die für die Inferenzaktivität nützlich sind. Der Kontext ist die Voraussetzung, auf die sich die Kommunikation stützt.7 In seinem Wesen ist er wandlungsfähig, da er sich im Laufe der Kommunikation sowie in Abhängigkeit der Interpretationsbedürfnisse verändert, immer aber von den Gesprächspartnern geteilt wird. Die Mobilisierung von Wissen innerhalb eines kommunikativen Aktes ist nur dann erfolgreich, wenn bekannt ist, dass der Gesprächspartner über dieses Wissen verfügt oder es rekonstruieren kann.

Neben einer komplexeren Gliederung des situativen Kontextes, der in einen realen und einen virtuellen Kontext unterteilt ist, weist das Modell (Abb. 2) funktionale Unterschiede auf, die durch die Erfordernisse der sprachlichen Ökonomie diktiert werden, die für die Effektivität und Effizienz des digitalen Textes unerlässlich sind. Ausgehend von einer bestimmten Informationssituation ermöglicht das oben angegebene Wissen die Aktivierung weiterer Konzepte und Schlussfolgerungen. Das hier hervorgehobene Wissen ist nicht sicher, sondern relativ, d.h. es ist abhängig vom Subjekt.

Abb. 2:

Modellierung der Rezeption des Sarg-Konvoi-Fotos aus Bergamo in Italien (nach Verdiani 2023: 91).

Der Kontext ist in der Tat eine variable Entität, die sich im Laufe der Kommunikation und in Abhängigkeit von den Interpretationsbedürfnissen verändert und als von den Gesprächspartnern geteilt angesehen wird: Bei der Durchführung eines kommunikativen Aktes kann man nur dann mit der Mobilisierung von Wissen rechnen, wenn man weiß, dass der Gesprächspartner dieses Wissen hat oder rekonstruieren kann (Ferrari 2014: 57). Nach Ferrari treibt in der Face-to-Face-Kommunikation die sprachliche Botschaft die dynamische Auswahl des Kontextes voran, denn sie bietet eine erste Reihe von Hinweisen darauf, wie die explizite Bedeutung der Äußerung zu interpretieren ist. In der digitalen Kommunikation trägt der multimediale Apparat, der die sprachliche Botschaft begleitet, ebenfalls zur Bestimmung ihrer Bedeutung bei. Er nimmt gewissermaben ihren Inhalt vorweg, indem er die jeweilige Enzyklopädie auf direkte, nicht durch Sprache vermittelte Weise nutzt und so eine nur scheinbare Lücke (gap) zwischen der virtuellen kontextuellen Situation und dem Kontext füllt (Verdiani 2023: 91). Ferrari weist darauf hin, dass die in der Face-to-Face-Kommunikation üblicherweise hervorgerufenen Implikate eine “hypothetische Komponente” haben, jenen grauen Rand der Unsicherheit, der damit zusammenhängt, dass der Gesprächspartner nie sicher sein kann, ob die kontextuellen Inhalte richtig interpretiert worden sind. In der digitalen Kommunikation ist der Annäherungsgrad offensichtlich größer, da es möglich ist, einen informativen Inhalt zu evozieren, indem man – auch anhand einer weiteren thematischen Internet-Recherche – zur Informationsquelle geht, d.h. Bilder oder andere multimediale Materialien des Originaldokuments zitiert.

Abb. 3:

Modellierung der Rezeption des Sarg-Konvoi-Fotos in der deutschen Presse.

PRAGMATISCHE ORGANISATION UND FOLGERUNGSSTRUKTUR DES SARG-KONVOI-FOTOS

Ergänzend zum Modell in Abbildung 2 sollte hervorgehoben werden, dass die reale kontextuelle Situation in dem untersuchten Zeitraum je nach Gebiet, in dem sich die Pandemie ausbreitete, unterschieden werden muss. Das Modell behält seine deskriptive Gültigkeit im Fall von Nutzern, die zu dem von der ersten Phase der Pandemie betroffenen Gebiet gehören, das in etwa dem Gebiet Norditaliens entspricht. In den anderen Fällen sollte es stattdessen wie in Abbildung 3 umformuliert werden. Eine andersgelagerte Ereigniswahrnehmung durch die deutsche Presse entstand durch die Tatsache, dass das in Bergamo aufgenommene Bild von einer Schlussfolgerungsstruktur überlagert wird, die mit dem von den Nutzern in ihren jeweiligen nationalen Realitäten wahrgenommenen Alltag zusammenhängt. In diesem zweiten Fall entspricht der reale situative Kontext nicht dem in Norditalien und verändert daher seine Schlussfolgerungsstruktur. Wir könnten also mit Lakoff und Johnson (2019: 953) behaupten, dass ein einziges Bild für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen situativen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben kann.

VISUELLE METAPHERN ODER IKONISCH-KONZEPTIONELLE KONFLIKTE

Es gibt jedoch noch eine zweite Analyseebene, die die visuelle metaphorische Struktur betrifft, die das betreffende Bild charakterisiert. So wird etwa bei digitalen Nachrichten das Mittel der Anspielungslogik eingesetzt, das Konsequenzen für den Leser hat, der dadurch mit etwas konfrontiert wird, was er nicht erwartet hat, was seine Aufmerksamkeit fesseln und ihn zugleich aktiv in die Lösung eines konzeptionellen Problems einbeziehen soll, anstatt ihm eine leicht zugängliche Bedeutung durch eine Kette typischer lexikalischer Kollokationen zu liefern. So gesehen erscheinen die lebendigen Metaphern, auf denen die digitale Kommunikation sehr oft beruht, als eine Form der kreativen Aufwertung der formalen syntaktischen Strukturen der Sprache (Prandi 2017: 219). Bei der Stabilisierung metaphorischer Konzepte spielt auch die Verwendung von Bildern eine wichtige Rolle. Konzeptuelle Konflikte sind die Grundlage vieler bekannter bildlinguistischer Produktionen in Kunst und Werbung. In vielen Fällen wäre der widersprüchliche Charakter der in der Werbung verwendeten sprachlichen Metaphern ohne die Bilder, die die Eigenschaft haben, die verbale Botschaft zu aktivieren, nicht denkbar. In anderen Fällen – wie etwa beim Sarg-Konvoi-Foto – ist das Gegenteil der Fall, d. h. das Bild wird erst durch das Vorhandensein einer sprachlichen Botschaft in eine lebendige Metapher verwandelt.

Eine konfliktuelle Metapher kann ein Einzelfall bleiben. Nach Prandi (2017: 144) kann es aber auch vorkommen, dass sich der Begriff, zu dem sie Zugang verschafft, stabilisiert und sozusagen als Generator komplexer Ausdruckskonstellationen von einem Autor innerhalb eines einzigen Werks oder sogar von einer ganzen literarischen Tradition übernommen wird. Wir befinden uns in diesem Fall vor dem, was Prandi einen ,metaphorischen Schwarm” nennt (2017: 143), der in gewisser Weise dem nahekommt, was Gerda Haßler (2019: 37), einer anderen Perspektive folgend, ein ,intertextuelles Paradigma” nennt. Gemeint ist eine Reihe von bekannten und miteinander verknüpften sprachlichen Ausdrücken, die sich auf Bilder oder gemäß der Definition von Diekmannshenke (2011: 161) Schlagbilder beziehen. Sie bleiben im kollektiven Gedächtnis und stehen für ein bestimmtes historisches Ereignis, das in den verschiedenen nationalen Kontexten einen unterschiedlichen semantischen Wert hat. Sie stellen also ein sehr wichtiges kulturelles Referenzgut dar und ermöglichen es, einen historischen Bezug präzise und prägnant zu vermitteln und gleichzeitig die emotionale Dimension zu vermitteln, die das Ereignis in der Öffentlichkeit ausgelöst hat (Verdiani 2023: 300-301).

Die ikonisch-konzeptionellen Konflikte in der deutschen Presse

Der starke Eindruck des vielfach geteilten Sarg-Konvoi-Fotos ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auf pragmatischer Ebene besteht seine erste Wirkung in dem Gefühl des Unbehagens, das es international hervorruft. Das Bild zeigt einen Militärkonvoi, der sich in der Stille des frühen Morgens in einer verlassenen Stadt bewegt. Ein Gefühl des Unbehagens stellt sich ein, da das auf dem Foto wiedergegebene Ereignis nicht mit der italienischen Situation vereinbar zu sein scheint, da nichts eine Militäraktion dieses Ausmaßes zu rechtfertigen scheint. Dieser durch das Bild hervorgerufene Konflikt führte zu seiner enormen Verbreitung. Das Bild evoziert eindeutig einen kriegerischen Kontext, dessen Gründe jedoch nicht bekannt sind. Nicht zufälligerweise war in den folgenden zwei Pandemiejahren der Krieg der vorherrschende Rahmen im Diskurs über den Kampf gegen das Virus.

Ein weiterer interessanter Aspekt von ikonolinguistischen Konflikten ist ihre Fähigkeit, das, was im Bild nicht vorhanden ist, durch Worte sichtbar zu machen. In dieser Perspektive werden Sprache und Bild nicht mehr einfach als transparente Entitäten betrachtet, durch die die Realität dargestellt und verstanden werden kann, sondern als ein zu interpretierender Text, ein zu lösendes Problem. Bilder werden hier als eine besondere Art von Sprache mit eigener Autonomie betrachtet. Die verbale Botschaft in Verbindung mit dem Bild entsteht so mit einer bestimmten Rolle, als ein Rahmen, oder, Umberto Eco (1997: 345)8 nach, als eine nützliche Beschriftung für die “Verankerung” des Sinnes im Bild.

Abb. 4:

Modell des ikonolinguistischen Konflikts des Sarg-Konvoi-Fotos aus Bergamo.

Im Fall des Sarg-Konvoi-Fotos ermöglichen einige Wörter die Verankerung einer Bedeutung, die das Bild auf fluktuierende Weise überträgt: abtransportieren, Särge mit Toten, Leichen, Konvoi, Militärlaster, Militärcamions, Lastwagen in Tarnfarben, nächtliches Bergamo, Sprachlosigkeit der Einsamen, Schmerzen der Opfer.9 In den italienischen Pressetexten lauten die entsprechenden Wendungen: bare, bare di Bergamo, salme, camion dell’esercito, camion dei morti, trasporto militare, trasferimento, convoglio militare, mezzi, corteo di mezzi militari, mezzi militari, militari, ultimo viaggio.10 Sie sind, anders als in deutschen Texten, bereits in den Titeln der Artikel vorhanden, in denen sie als echte Schlüsselbegriffe vorkommen - wie im Fall der bare di Bergamo oder der camion dei morti, ganz analog zur Wendung von “Sarg-Konvoi” der oben erwähnten Bildunterschriften in den deutschen Medien.

Im Bild sind keine Särge zu sehen, vielmehr werden sie als konzeptioneller Konflikt in den Pressetexten evoziert und als Schlussfolgerung durch das Bild heraufbeschworen. Konzeptionelle Konflikte sind auf der funktionalen Ebene durch eine semantische Inkohärenz zwischen Bild und Text gekennzeichnet. Dieser Konflikt erfordert einen kreativen Beitrag des Lesers, seine Interpretation, seine kontextuelle und enzyklopädische Kompetenz, und wie wir gesehen haben, werden diese Elemente von seiner direkten Wahrnehmung der Realität beeinflusst.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Roland Barthes (1964) identifizierte zwei verschiedene mögliche Beziehungen zwischen Text und Bild in dem, was wir heute eine hybride Botschaft nennen würden: relais, ,Komplementarität’ und ancrage, ,Verankerung’. Im ersten Fall haben Worte und Bilder innerhalb eines Syntagmas den gleichen Wert, während im zweiten Fall der Text die Verankerung einer Bedeutung ermöglicht, die das Bild auf fluktuierende Weise überträgt und seine Entschlüsselung erleichtert. Der Fall des Sarg-Konvoi-Fotos gehört zu diesem zweiten Fall. Hier ist es tatsächlich die Anspielung auf die Artikeltitel oder -texte, die es erst ermöglicht, das Bild zu verstehen. Die Pressemitteilungen beziehen den Leser aktiv in die Lösung eines konzeptionellen Konflikts mit ein. Er findet die Auflösung des fotografischen Bildes nur durch den Titel. Ein wichtiger Faktor bei der unmittelbaren Rezeption dieses Bildes war jedoch auch seine unterschiedliche unmittelbare Kontextualisierung. Die unterschiedliche reale Pandemiesituation im März 2020 in Italien und im Ausland bewirkte eine andersgelagerte Rezeption in Italien und den jeweiligen Ländern. Darüber hinaus verlief die Pandemieentwicklung so rasch, dass die Medien sich nicht mit der gleichen Schnelligkeit darauf einstellen konnten, was ebenfalls zu einer unterschiedlichen Interpretation der produzierten Bilder und insbesondere des Sarg-Konvoi-Fotos führte. Auf pragmatischer Ebene ist die mit der Lektüre dieses Textteils verbundene Schlussfolgerung in der Tat als indirekter sprachlich-ikonischer Akt konfiguriert. Die Textzitate auf Italienisch und Deutsch, die das fotografische Bild begleiten - hier als indirekter sprachlicher Akt verstanden –, die unmittelbar nach dem Ereignis veröffentlicht wurden, verraten ein jeweils anderes gemeinsames Wissen, das auf der Ebene der direkten Wahrnehmung der Welt (Lakoff / Johnson 2019: 953) angesiedelt werden muss. Diesbezüglich unterstreicht Carla Bazzanella (2009: 164):

Damit die Absichten des Sprechers erkannt werden können, spielen der Kontext und das geteilte Wissen eine wesentliche Rolle: “In indirekten sprachlichen Handlungen teilt der Sprecher dem Hörer mehr mit, als er tatsächlich sagt, da er sich auf den geteilten sprachlichen und nicht-sprachlichen Wissensumfang und gleichzeitig ganz allgemein auf die Denk- und Schlussfolgerungsfähigkeiten des Hörers stützt.” (Searle 1975/1978b: 254)11

ZITATE AUS DER DEUTSCHEN PRESSE12

Wer in Italien auf der Intensivstation liegt, muss allein kämpfen. Auch in die Leichenschauräume dürfen die Angehörigen nicht. Und vom Beerdigungsbesuch wird abgeraten. … Da ist auch der Bericht aus Bergamo, aus einer der am stärksten von Covid-19 betroffenen Provinzen der Lombardei. Ein Konvoi von Lastern des italienischen Heers setzt sich in Bewegung: Geladen haben sie 60 Särge, die zum Einäschern in andere Städte und Regionen gebracht werden. Später wird man die Urnen zu den jeweiligen Friedhöfen zurückführen …

Affaticati, Andrea (2020), ,Stilles Sterben”, Zeitonline, 20.03.20: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-03/krankenversorgung-italien-totenversorgung-bestattung-mailand-lombardei [24.03.2022].

Nun ist der 18. März ein fixer Gedenktag – und ein Versprechen für die Zukunft. Ein Jahr ist es her, dass Militärcamions, ein langer Konvoi, durch das nächtliche Bergamo fuhren, um die Leichen abzuholen, die auf dem Friedhof der Stadt keinen Platz mehr hatten. 18. März 2020. An jenem Tag, mit jenen Bildern der Lastwagen in Tarnfarben war die Tragödie der Pandemie für viele zum ersten Mal richtig fassbar geworden, in ihrer ganzen Tragweite.

Tages-Anzeiger, 19.03.2021, S. 9; “Der Tag, an dem Europa vom Drama erfuhr”.

Während in Bergamo Militärlaster durch die Straßen rollen, um die Leichen abzutransportieren, feiern wenige Hundert Kilometer entfernt andere Europäer “Corona-Partys”. Was auf Deutschlands Inseln passiert, zeigt die Groblage im Kleinen. Als die Schulen schlossen, zog es Zehntausende an die Küsten. “Corona-Ferien”, obwohl jeder weiß, dass es an der See nur eine begrenzte intensivmedizinische Versorgung gibt.

Hamburger Morgenpost, 21.03.2020, S. 14; “Präsentiert von ankerherz.de Verzweiflung eines Insel-Bürgermeisters”.

… der Konvoi der Militärlaster, der gekommen ist, die Särge der Toten zu holen. Das Leid, das der Lockdown verursacht, ist schwerer abzubilden: die Sprachlosigkeit der Einsamen, die Schmerzen der Opfer der häuslichen Gewalt, die Nöte der Arbeitslosen, die Angst der kleinen Selbstständigen und Unternehmer.

Spiegel-Online, 08.04.2020; “Angst frisst Demokratie”.

Derzeit gibt es in Italien rund 8000 Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. Etwa 2000 davon sind mit Covid-19-Patienten belegt. Vorbei die Zeit, als verzweifelte Ärzte mangels Beatmungsgeräten über Leben und Tod der eingelieferten Kranken entscheiden mussten. Damals war die Nation erschüttert von den Bildern der Militärlaster im norditalienischen Bergamo, die die Särge von den überfüllten Krematorien abtransportierten. Die ganze Welt trauerte mit. Während die Straßen in Großstädten wie Mailand und Rom noch immer fast menschenleer sind, wird der Streit innerhalb der eigenen vier Wände immer lauter.

Berliner Morgenpost, 28.04.2020, S. 3; “Italiens neue Freiheit”.

Dann ging plötzlich alles schnell. Am 12. März zählt Italien 1000 Todesopfer, zwei Wochen später 10.000. In der Nacht auf den 19. März fahren Militärlaster mit hunderten Särgen durch Bergamo. Unter dem Eindruck des Horrors in Norditalien verordnet die österreichische Regierung Ausgangsbeschränkungen fürs ganze Land. In hiesigen Supermärkten sind Klopapier und Topfen ausverkauft, der Buchhandel meldet Umsatzrückgänge von 50 bis 70 Prozent.

Falter, 15.04.2020, S. 12; “Wie es weitergeht”.

Seit Monaten sehen wir Bilder von schwerkranken Covid-19-Patienten in überfüllten Krankenhäusern. Die Aufnahmen von Militärlastern, die im italienischen Bergamo Särge abtransportierten, haben sich vielen Menschen ins Gedächtnis eingebrannt. Mehrmals am Tag hören und lesen wir die aktuellen Zahlen der in Deutschland nachgewiesenen Infizierten und derjenigen, die an der Lungenkrankheit gestorben sind. Selbst denjenigen, die in ihrer Familie oder im Freundeskreis – zum Glück – keine Corona-Toten zu beklagen haben, wird bewusst, wie schnell das Leben zu Ende gehen kann. Denn was uns sonst nur als Nachricht aus der Ferne erreicht, geht uns jetzt ganz konkret selbst an und berührt uns unmittelbar.

Hannoversche Allgemeine, 09.05.2020, Ressort: “Weiter denken; Der Blick aufs Ende”.

Wir sehen Bilder im Fernsehen und lesen in der Zeitung, dass die Stadt Bergamo Särge mit Toten auf Militärlastern aus der Stadt bringen ließ, weil “die Leichenhäuser überfüllt sind”. Das macht Angst. Nicht berichtet wird, dass in Bergamo lediglich 25 Menschen pro Tag eingeäschert werden können und Bestattungsunternehmen schließen mussten. Daher wurden 60 Leichen, die eingeäschert werden sollten, in benachbarte Orte gefahren.

die tageszeitung, 20.05.2020, S. 2; “Liebe tazzler, seid ihr noch unabhängig?”

Wer eine Katastrophe verhindert, muss sich nachher vorhalten lassen, dass es doch gar nicht so schlimm gekommen ist. Als staatliche Großorganisation zur Bewältigung von Extremfällen sind die Streitkräfte seit März auf das Schlimmste eingestellt. Auf Zustände wie in Bergamo, als Militärlaster die vielen Leichen aus den Krankenhäusern abtransportieren mussten. Doch das Schlimmste blieb Deutschland erspart. Damit wirkt der ganze Aufwand inzwischen ein wenig absurd.

Der Spiegel, 30.05.2020, S. 36; “In Tur Turs Reich”

Auch im Volk der Drosten-Hörer haben Bilder in der Coronakrise eine größere Wirkung entfaltet als Studienergebnisse. Militärlaster fahren die Toten aus Bergamo weg, weil die Bestatter nicht nachkommen, als das in den Abendnachrichten zu sehen war, schwante den Deutschen: Das kann übel ausgehen.

Spiegel-Online, 02.07.2020; ,Warum Gabriel das darf”.

Menschen mit Atemschutz, ganz unspektakulär im Supermarkt, in der S-Bahn oder beim Bäcker, sind aktuell der alltägliche Hauptanhaltspunkt dafür, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Vor ein paar Monaten erzeugten noch ganz andere Bilder ein Gefühl von Gefahr. Militärlaster in Bergamo, die nachts Särge der Toten abholten; Fotos erschöpfter Mediziner, die Augen unendlich müde, die Haut im Gesicht blutig und wund von den Atemmasken; Bilder von Krankenschwestern und Pflegern, aus deren Gesichtern die nackte Verzweiflung sprach; Patienten, die an Beatmungsmaschinen hingen. Bilder wie diese fehlen mittlerweile, weil sich die Situation in Europa entspannt hat, zum Glück. Neue Themen binden Aufmerksamkeit, die Black-Live-Matters-Proteste, die Diskussionen um die Polizei und der andere ganz normale Wahnsinn. Dramatische Corona-Nachrichten erreichen die Öffentlichkeit allenfalls aus den USA.

Süddeutsche Zeitung, 18.07.2020, S. 2; ,Fete statt Vorsicht”

Es waren die Bilder aus Bergamo, Militärlaster vollgepackt mit Särgen, die im März zum Symbol der tödlichen Macht des Virus wurden. Die Bilder machten Angst, und die Angst sorgte dafür, dass sich die Menschen in Deutschland den Maßnahmen zum Kampf gegen die Pandemie fügten. Bergamo stand für eine Eskalation, die es in Deutschland nicht geben sollte.

Spiegel-Online, 17.12.2020; ,Putins Show”.

Ich widmete fünf Minuten dem alternativen Fakt, wonach das Schreckensbild des Konvois von Militärlastern, die Särge zur Kremierung wegführten, in Wahrheit einem Streik der Bergamasker Bestatter geschuldet gewesen sei. Das war schnell widerlegt: Der erste Konvoi startete …

Die Presse, 24.12.2020, S. 78; “Die Wucht der zweiten Welle

All das hatten Zeitungen geschrieben, Nachrichtensprecher verlesen. Aber Europa glaubte und verstand das Ausmaß der Katastrophe erst, als das Bild der Militärlaster von Bergamo in allen Medien zu sehen war. Nach dem 18. März schlichen auch die meisten Münchner nur noch so weit wie nötig aus dem Haus und wechselten die Straßenseite, wenn ein anderer Passant zu sehen war. In der deutschen Politik wurden die ,Bilder von Bergamo” schnell zum geflügelten Wort, sie waren das, was hierzulande unbedingt verhindert werden sollte, wie es Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet später einmal erklärte. Ohne die Aufnahmen von den Militärlastern wäre der Lockdown in der ersten Welle in Deutschland möglicherweise nicht noch einmal verschärft worden, die Leute wären länger nachlässig geblieben, und es wären auch hier schon im Frühjahr mehr Menschen gestorben.

Süddeutsche Zeitung, 17.03.2021, S. 9; ,Momente der Wahrheit”.

Aufgabe der Politik wäre es, genau an dieser Stelle die Verhältnismäbigkeit abzuwägen. Dabei hat sie bis jetzt versagt, wenn wir vom ersten Lockdown vor einem Jahr absehen. Das Pendel schlägt natürlich leicht zu den Medizinern aus, wenn es Bilder wie 2020 in Bergamo mit Militärlastern voller Corona-Toter gibt. Dagegen steigt die Risikobereitschaft, wenn Flüge nach Mallorca für dreißig Euro angeboten werden und die Politik mit Minderleistungen und Skandalen Vertrauen verspielt. Da offenbar noch Platz auf den Intensivstationen ist, zeigt der Augenschein momentan jedenfalls keinen so ausgeprägten Notstand, dass unmittelbares Durchgreifen und Zurückstecken der einen oder der anderen Seite geboten erscheint. Stattdessen profilieren sich jetzt einzelne Ministerpräsidenten, teils vom Wahlkampf getrieben, mit landesspezifischen Lockerungsübungen, während die Zahlen steigen und steigen.

Nürnberger Zeitung, 30.03.2021, S. 2; ,Angela Merkel sucht nach einer Mehrheit - Verhärtete Fronten”.

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