Am 18. März 2020 war Italien bereits seit Wochen schwer von der Pandemie betroffen, die Stadt Bergamo stand zu diesem Zeitpunkt seit zehn Tagen unter Quarantäne.* In der Nacht waren die Straßen menschenleer und still, und, von einigen Journalisten und Fotografen abgesehen, war niemand zu sehen außer ein Dutzend schwerer Militärlastwagen, die aus einem Seiteneingang des städtischen Friedhofs herausfuhren.2 Die Idee, Militärfahrzeuge für den Transport der Pandemieopfer-Särge einzusetzen, stammt von einem Abgeordneten aus Bergamo, der die katastrophale Situation der städtischen Bestattungsdienste unmittelbar selbst erlebt hatte. Als die Menschen in Bergamo die mit Särgen beladenen Militärfahrzeuge durch die Straßen rollen sahen, war ihnen die Schwere der Lage noch nicht klar, doch dieses Ereignis veränderte alles. Aufgenommen wurde das Bild von dem damals 28-jährigen Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi. Vom Balkon aus hatte er die nächtliche Aktion beobachtet. Das Foto ging innerhalb weniger Stunden um die Welt und von dem Moment an, als es veröffentlicht wurde, war es nicht mehr möglich, die Schwere der Ereignisse in Bergamo und die Gefahr, die von Covid-19 ausging, zu leugnen oder gar anzuzweifeln. Wie Marco Birolini in Das schwere Brummen der Motoren durchbricht die Stille, die die verlassene Via Borgo Palazzo umhüllt. Es ist kurz nach zehn Uhr abends, die Menschen schauen aus ihren Fenstern. Jemand zückt sein Smartphone um ein Foto zu machen, das traurigerweise in die Geschichte eingehen wird. Dreißig Armee-LKWs fahren in einer geordneten Reihe langsam den Weg vom Friedhof zur Autobahnausfahrt entlang. Sie sind mit 65 Särgen beladen, die Bergamo nicht mehr beerdigen, ja nicht einmal mehr einäschern kann. Das Militär wird sie nach Modena und Bologna eskortieren, dann wird die Asche ihren Angehörigen übergeben.3
Zu dem Zeitpunkt, als Julie Metzdorf in der Genau genommen sehen wir nichts weiter als Autos bei Nacht. Ein Militärkonvoi, der bei Nacht durch ein Wohngebiet fährt: Das ist diffus genug um keine direkte Panik auszulösen, aber auch so deutlich, dass man lieber mal ein bisschen Klopapier mehr einkauft. In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020). Es war die Angst vor dem „Killervirus” genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise wird in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.4
Unabhängig von dem Kontext, in dem es aufgenommen wurde, ist das Foto des Militärkonvois auf den ersten Blick wirklich undurchsichtig und allgemein, und der Betrachter ist weit davon entfernt, es ohne weitere Angaben in den richtigen Kontext einordnen zu können: Zu sehen sind Militärfahrzeuge, die nachts in Kolonne durch eine verlassene Stadt fahren. Das vage Gefühl von Fremdartigkeit, das das Bild vermittelt, erlangt jedoch, wenn man es in den Zusammenhang mit der Situation vom 18. März 2020 in Bergamo einordnet, in seiner Bedeutung für die italienischen Leser absolute Eindeutigkeit und löste innerhalb weniger Stunden Entsetzen im Land aus, als es im Internet viral ging. Jedes Mal, wenn das Bild in den sozialen Medien gepostet wurde, hat das Auge tatsächlich nach den Särgen gesucht, die nicht zu sehen sind, und es ist genau diese tiefe Kraft des Bildes, die in gewisser Weise seine Verbreitung erklärt: die Abwesenheit des Fokus, das
Im Zusammenhang mit den erschreckenden Ereignissen erhielt das Bild von Bergamo für italienische Leser und Internetnutzer sofort unmittelbare Klarheit – zumindest für die Bewohner Norditaliens, die in der ersten Phase täglich mit der Pandemie konfrontiert waren. So sind in diesem Foto einige grundlegende Koordinaten enthalten, die in der kollektiven Wahrnehmung die bestehende Krise ausdrücken: die öffentlich geräumte Stadt als Ausdruck größter Risikobegrenzung, aber auch der Angst und Panik, die die Menschen inzwischen erfasst hatten. Ebenfalls der Einsatz der Armee als
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Bildrezeption des Sarg-Konvois in der deutschen Presse zu rekonstruieren und dabei herauszuarbeiten, wie die direkte Kenntnis des Kontextes, in dem das Bild aufgenommen wurde, seine Rezeption in Italien und Deutschland unterschiedlich beeinflusst hat. Der theoretische Rahmen stützt sich hierbei auf die Theorie der Bedeutungskonstitution (Nothdurft 2006) und die Text-linguistik (De Beaugrande-Dressler 1981; Bazzanella 2008; Ferrari 2014; Haßler 1997 u. 2020), insbesondere auf die Rolle des Kontextes in der digitalen Umgebung sowie auf die Theorie der Metapher (Lakoff / Johnson 1999 u. 2003; Prandi 2017). Auf methodischer Ebene versucht der Beitrag die Auswirkungen des realen Kontextes (Lakoff / Johnson 2019) auf die Bedeutungskonstitution in der digitalen Multimodalität (Bateman et al. 2017; Verdiani 2020, 2023) und die pragmatische Organisation und Folgerungsstruktur des Fotos Sarg-Konvoi zu definieren und schlägt ein deskriptives Modell der digitalen Multimodalität in Bezug auf die Bildrezeption vor.
In der digitalen Dimension der Kommunikation wird das, was wir alle im Fall des Konvoi-Bildes als Foto wahrnehmen, als Hypertext betrachtet. Digitale Hypertexte zeichnen sich durch eine ausgeprägte Hybridität bereits auf der Ebene der pragmatischen Organisation des Textes aus. Die im digitalen Artefakt formulierte Nachricht bedient sich zahlreicher Ausdrucksformen (Bateman et al. 2017: 25), um seinen Gesprächspartner dazu zu bringen, die für die Bedeutungskonstitution der Botschaft erforderlichen Handlungen auszuführen, indem er Elemente ikonischer Art mit dem realen Kontext und den alphabetischen Elementen verbindet.5 Bei der multimodalen Kommunikation treten neue textuelle Inszenierungsformen auf “deren Einfluss auf den Rezeptionsprozess, in dem sich ein Wandel vom Kommunizieren auf das Wahrnehmen vollzogen hat”. (Antos et al. 2014: 10). Die Schichtung von Referenzen, die für die Bedeutungskonstitution einer multimodalen Online-Nachricht nützlich ist, greift manchmal auch auf Elemente auberhalb des Netzes zurück. In diesem Beitrag werden die Schlagzeilen und einige der Texte analysiert, die dieses emblematische Bild der Pandemie in der italienischen und deutschen Presse begleiteten. Außerdem sollen die verschiedenen kontextuellen Situationen und der Einfluss, den sie auf die Rezeption des Bildes hatten, rekonstruiert werden.
Sprachhandlungen finden in der kommunikativen Realität statt, vor einem präzisen kognitiven Hintergrund, der aus dem kommunikativen Kontext rekonstruiert werden kann. Nach Carla Bazzanella (2008: 120) greifen wir in unserem täglichen Leben ständig auf den Kontext zurück, implizit und explizit, wobei wir die Zuschreibung eines von allen anerkannten Sinns als selbstverständlich voraussetzen. In jeder Situation benutzen wir den Kontext, um etwas zu sagen oder zu tun, aber auch, um zu verstehen, was getan oder gesagt wird. Ohne den Kontext wären wir sehr oft nicht in der Lage, unsere eigenen Worte/Handlungen oder die der anderen zu verstehen. Dieser Kontextbegriff scheint auch in einer multimodalen Perspektive effektiv zu sein. Denn in der Online-Interaktion erfolgt die Kontextkonstruktion hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, mittels Sprache. Der Verstehensprozess, der aus der Dekodierung der sprachlichen Nachricht gewonnenen Informationen wird durch die multimedialen und multimodalen Daten, die dem Leser in hybriden Nachrichten zur Verfügung gestellt werden, auf intuitive Weise ergänzt.
Das Repertoire an Bildern (oder anderen außersprachlichen Referenzen), auf das der Leser zurückgreift und das er erkennen und interpretieren kann, erinnert an die kontextuelle Situation und den jeweiligen Wissensumfang – die Enzyklopädie –, mit denen er in seiner kulturellen Realität umgehen muss. Es handelt sich um eine Dimension, die der russische Semiologe Jurij Lotman als
Beim Versuch eine sprachliche Interaktion zu disambiguieren, kann der Gesprächspartner nie sicher sein, dass die kontextuellen Inhalte auch wirklich die vom Sprecher intendierten sind. Ebenso wenig wie der Sprecher nie sicher sein kann, dass die richtigen kontextuellen Inhalte vom Gesprächspartner aktiviert werden. In solchen Fällen kann das Vorhandensein von Bildern den Präzisionsgrad der Schlussfolgerungen erhöhen. Auf der Grundlage des 1993 von Dan Sperber und Deirdre Wilson6 formalisierten Prinzips der Relevanz ist es genau das Wissen, mit dem der Gesprächspartner im Moment der Interpretation am meisten vertraut ist, das am ehesten Teil des Kontextes wird. Die ikonographische Enzyklopädie, über die wir alle verfügen, ist eben Teil dieser Dimension. Elemente wie die verlassene Stadt in der Nacht, der Aufmarsch der Armee und die lange Reihe von Militärfahrzeugen behalten im Gegenteil ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit, wenn man sie aus dem Zusammenhang der Pandemie in Italien Anfang März 2020 herauslöst.
Der Sprachgebrauch stützt sich auf die primären Strategien der Dekodierung und Inferenz. Die Dekodierungsfunktion ist grundlegend für das Erkennen des bezeichnenden Inhalts der Nachricht (oder des Textes) und seiner internen strukturellen Beziehungen. Denn die Sprache liefert uns die Anweisungen für die Lesart eines Textes und somit die Vorgehensweise, um exakt die intendierte Bedeutung aus der Bedeutungsvielheit eines Ausdrucks auszuwählen. Schlussfolgerung ist eine Form natürlichen Denkens, also keine linguistische Strategie, sondern eine allgemeinere kognitive Strategie, die es zunächst ermöglicht, “explizite linguistische Bedeutungen präzise zu erfassen und zu ergänzen” (Prandi 2006: 223), darüber hinaus kann sie in manchen Fällen auch völlig neue Inhalte schaffen (Ferrari 2014: 49). Sprachliche Handlungen finden nicht in einer abstrakten Dimension statt, sondern in der Realität und in Anwesenheit verschiedener Sprecher, deren Wissen für den Verlauf des Gesprächs entscheidend ist. Die für die Interpretation eines Textes notwendigen Inferenzen beziehen sich auf inhaltliche Kategorien, die auf verschiedenen Ebenen abgeleitet werden können. Etwa aus dem sprachlichen Kontext oder Kotext, aus dem situativen Kontext oder aus dem enzyklopädischen Wissen des Sprechers. Diese begrifflichen Strukturen bilden den kognitiven Hintergrund der kommunikativen Aktivitäten und haben den Zweck, andere Begriffe zu aktivieren, die für die Inferenzaktivität nützlich sind. Der Kontext ist die Voraussetzung, auf die sich die Kommunikation stützt.7 In seinem Wesen ist er wandlungsfähig, da er sich im Laufe der Kommunikation sowie in Abhängigkeit der Interpretationsbedürfnisse verändert, immer aber von den Gesprächspartnern geteilt wird. Die Mobilisierung von Wissen innerhalb eines kommunikativen Aktes ist nur dann erfolgreich, wenn bekannt ist, dass der Gesprächspartner über dieses Wissen verfügt oder es rekonstruieren kann.
Neben einer komplexeren Gliederung des situativen Kontextes, der in einen realen und einen virtuellen Kontext unterteilt ist, weist das Modell (Abb. 2) funktionale Unterschiede auf, die durch die Erfordernisse der sprachlichen Ökonomie diktiert werden, die für die Effektivität und Effizienz des digitalen Textes unerlässlich sind. Ausgehend von einer bestimmten Informationssituation ermöglicht das oben angegebene Wissen die Aktivierung weiterer Konzepte und Schlussfolgerungen. Das hier hervorgehobene Wissen ist nicht sicher, sondern relativ, d.h. es ist abhängig vom Subjekt.
Der Kontext ist in der Tat eine variable Entität, die sich im Laufe der Kommunikation und in Abhängigkeit von den Interpretationsbedürfnissen verändert und als von den Gesprächspartnern geteilt angesehen wird: Bei der Durchführung eines kommunikativen Aktes kann man nur dann mit der Mobilisierung von Wissen rechnen, wenn man weiß, dass der Gesprächspartner dieses Wissen hat oder rekonstruieren kann (Ferrari 2014: 57). Nach Ferrari treibt in der
Ergänzend zum Modell in Abbildung 2 sollte hervorgehoben werden, dass die reale kontextuelle Situation in dem untersuchten Zeitraum je nach Gebiet, in dem sich die Pandemie ausbreitete, unterschieden werden muss. Das Modell behält seine deskriptive Gültigkeit im Fall von Nutzern, die zu dem von der ersten Phase der Pandemie betroffenen Gebiet gehören, das in etwa dem Gebiet Norditaliens entspricht. In den anderen Fällen sollte es stattdessen wie in Abbildung 3 umformuliert werden. Eine andersgelagerte Ereigniswahrnehmung durch die deutsche Presse entstand durch die Tatsache, dass das in Bergamo aufgenommene Bild von einer Schlussfolgerungsstruktur überlagert wird, die mit dem von den Nutzern in ihren jeweiligen nationalen Realitäten wahrgenommenen Alltag zusammenhängt. In diesem zweiten Fall entspricht der reale situative Kontext nicht dem in Norditalien und verändert daher seine Schlussfolgerungsstruktur. Wir könnten also mit Lakoff und Johnson (2019: 953) behaupten, dass ein einziges Bild für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen situativen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben kann.
Es gibt jedoch noch eine zweite Analyseebene, die die visuelle metaphorische Struktur betrifft, die das betreffende Bild charakterisiert. So wird etwa bei digitalen Nachrichten das Mittel der Anspielungslogik eingesetzt, das Konsequenzen für den Leser hat, der dadurch mit etwas konfrontiert wird, was er nicht erwartet hat, was seine Aufmerksamkeit fesseln und ihn zugleich aktiv in die Lösung eines konzeptionellen Problems einbeziehen soll, anstatt ihm eine leicht zugängliche Bedeutung durch eine Kette typischer lexikalischer Kollokationen zu liefern. So gesehen erscheinen die
Eine konfliktuelle Metapher kann ein Einzelfall bleiben. Nach Prandi (2017: 144) kann es aber auch vorkommen, dass sich der Begriff, zu dem sie Zugang verschafft, stabilisiert und sozusagen als Generator komplexer Ausdruckskonstellationen von einem Autor innerhalb eines einzigen Werks oder sogar von einer ganzen literarischen Tradition übernommen wird. Wir befinden uns in diesem Fall vor dem, was Prandi einen ,metaphorischen Schwarm” nennt (2017: 143), der in gewisser Weise dem nahekommt, was Gerda Haßler (2019: 37), einer anderen Perspektive folgend, ein ,intertextuelles Paradigma” nennt. Gemeint ist eine Reihe von bekannten und miteinander verknüpften sprachlichen Ausdrücken, die sich auf Bilder oder gemäß der Definition von Diekmannshenke (2011: 161)
Der starke Eindruck des vielfach geteilten Sarg-Konvoi-Fotos ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auf pragmatischer Ebene besteht seine erste Wirkung in dem Gefühl des Unbehagens, das es international hervorruft. Das Bild zeigt einen Militärkonvoi, der sich in der Stille des frühen Morgens in einer verlassenen Stadt bewegt. Ein Gefühl des Unbehagens stellt sich ein, da das auf dem Foto wiedergegebene Ereignis nicht mit der italienischen Situation vereinbar zu sein scheint, da nichts eine Militäraktion dieses Ausmaßes zu rechtfertigen scheint. Dieser durch das Bild hervorgerufene Konflikt führte zu seiner enormen Verbreitung. Das Bild evoziert eindeutig einen kriegerischen Kontext, dessen Gründe jedoch nicht bekannt sind. Nicht zufälligerweise war in den folgenden zwei Pandemiejahren der Krieg der vorherrschende Rahmen im Diskurs über den Kampf gegen das Virus.
Ein weiterer interessanter Aspekt von ikonolinguistischen Konflikten ist ihre Fähigkeit, das, was im Bild nicht vorhanden ist, durch Worte sichtbar zu machen. In dieser Perspektive werden Sprache und Bild nicht mehr einfach als transparente Entitäten betrachtet, durch die die Realität dargestellt und verstanden werden kann, sondern als ein zu interpretierender Text, ein zu lösendes Problem. Bilder werden hier als eine besondere Art von Sprache mit eigener Autonomie betrachtet. Die verbale Botschaft in Verbindung mit dem Bild entsteht so mit einer bestimmten Rolle, als ein Rahmen, oder, Umberto Eco (1997: 345)8 nach, als eine nützliche Beschriftung für die “Verankerung” des Sinnes im Bild.
Im Fall des Sarg-Konvoi-Fotos ermöglichen einige Wörter die Verankerung einer Bedeutung, die das Bild auf fluktuierende Weise überträgt:
Im Bild sind keine Särge zu sehen, vielmehr werden sie als konzeptioneller Konflikt in den Pressetexten evoziert und als Schlussfolgerung durch das Bild heraufbeschworen. Konzeptionelle Konflikte sind auf der funktionalen Ebene durch eine semantische Inkohärenz zwischen Bild und Text gekennzeichnet. Dieser Konflikt erfordert einen kreativen Beitrag des Lesers, seine Interpretation, seine kontextuelle und enzyklopädische Kompetenz, und wie wir gesehen haben, werden diese Elemente von seiner direkten Wahrnehmung der Realität beeinflusst.
Roland Barthes (1964) identifizierte zwei verschiedene mögliche Beziehungen zwischen Text und Bild in dem, was wir heute eine hybride Botschaft nennen würden: Damit die Absichten des Sprechers erkannt werden können, spielen der Kontext und das geteilte Wissen eine wesentliche Rolle: “In indirekten sprachlichen Handlungen teilt der Sprecher dem Hörer mehr mit, als er tatsächlich sagt, da er sich auf den geteilten sprachlichen und nicht-sprachlichen Wissensumfang und gleichzeitig ganz allgemein auf die Denk- und Schlussfolgerungsfähigkeiten des Hörers stützt.” (Searle 1975/1978b: 254)11
Wer in Italien auf der Intensivstation liegt, muss allein kämpfen. Auch in die Leichenschauräume dürfen die Angehörigen nicht. Und vom Beerdigungsbesuch wird abgeraten. … Da ist auch der Bericht aus Bergamo, aus einer der am stärksten von Covid-19 betroffenen Provinzen der Lombardei. Ein Affaticati, Andrea (2020), ,Stilles Sterben”, Zeitonline, 20.03.20:
Nun ist der 18. März ein fixer Gedenktag – und ein Versprechen für die Zukunft. Ein Jahr ist es her, dass Tages-Anzeiger, 19.03.2021, S. 9; “Der Tag, an dem Europa vom Drama erfuhr”.
Während in Bergamo Hamburger Morgenpost, 21.03.2020, S. 14; “Präsentiert von ankerherz.de Verzweiflung eines Insel-Bürgermeisters”.
… der Spiegel-Online, 08.04.2020; “Angst frisst Demokratie”.
Derzeit gibt es in Italien rund 8000 Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser. Etwa 2000 davon sind mit Covid-19-Patienten belegt. Vorbei die Zeit, als verzweifelte Ärzte mangels Beatmungsgeräten über Leben und Tod der eingelieferten Kranken entscheiden mussten. Damals war die Nation erschüttert von den Bildern der Berliner Morgenpost, 28.04.2020, S. 3; “Italiens neue Freiheit”.
Dann ging plötzlich alles schnell. Am 12. März zählt Italien 1000 Todesopfer, zwei Wochen später 10.000. In der Nacht auf den 19. März fahren Falter, 15.04.2020, S. 12; “Wie es weitergeht”.
Seit Monaten sehen wir Bilder von schwerkranken Covid-19-Patienten in überfüllten Krankenhäusern. Die Aufnahmen von Hannoversche Allgemeine, 09.05.2020, Ressort: “Weiter denken; Der Blick aufs Ende”.
Wir sehen Bilder im Fernsehen und lesen in der Zeitung, dass die Stadt Bergamo die tageszeitung, 20.05.2020, S. 2; “Liebe tazzler, seid ihr noch unabhängig?”
Wer eine Katastrophe verhindert, muss sich nachher vorhalten lassen, dass es doch gar nicht so schlimm gekommen ist. Als staatliche Großorganisation zur Bewältigung von Extremfällen sind die Streitkräfte seit März auf das Schlimmste eingestellt. Auf Zustände wie in Bergamo, als Der Spiegel, 30.05.2020, S. 36; “In Tur Turs Reich”
Auch im Volk der Drosten-Hörer haben Bilder in der Coronakrise eine größere Wirkung entfaltet als Studienergebnisse. Spiegel-Online, 02.07.2020; ,Warum Gabriel das darf”.
Menschen mit Atemschutz, ganz unspektakulär im Supermarkt, in der S-Bahn oder beim Bäcker, sind aktuell der alltägliche Hauptanhaltspunkt dafür, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Vor ein paar Monaten erzeugten noch ganz andere Bilder ein Gefühl von Gefahr. Süddeutsche Zeitung, 18.07.2020, S. 2; ,Fete statt Vorsicht”
Es waren die Bilder aus Bergamo, Spiegel-Online, 17.12.2020; ,Putins Show”.
Ich widmete fünf Minuten dem alternativen Fakt, wonach das Schreckensbild des Die Presse, 24.12.2020, S. 78; “Die Wucht der zweiten Welle
All das hatten Zeitungen geschrieben, Nachrichtensprecher verlesen. Aber Europa glaubte und verstand das Ausmaß der Katastrophe erst, als das Bild der Süddeutsche Zeitung, 17.03.2021, S. 9; ,Momente der Wahrheit”.
Aufgabe der Politik wäre es, genau an dieser Stelle die Verhältnismäbigkeit abzuwägen. Dabei hat sie bis jetzt versagt, wenn wir vom ersten Lockdown vor einem Jahr absehen. Das Pendel schlägt natürlich leicht zu den Medizinern aus, wenn es Bilder wie 2020 in Bergamo mit Nürnberger Zeitung, 30.03.2021, S. 2; ,Angela Merkel sucht nach einer Mehrheit - Verhärtete Fronten”.