Das Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa läutete eine Zeit epochaler Turbulenzen ein, die nicht zuletzt die Lebensläufe von Staatsdienern gehörig durcheinanderwirbelte. Glaubt man den Klagen des ehemaligen Zoll-Beamten Joseph von Meurer, der sich 1816 um Anstellung in preußischen Diensten mühte, dann war die »glückliche Umschaffung der Dinge«
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (Rheinland) [LAV NRW R], BR 0002, Nr. 1523, fol. 10v, »Anstellungsgesuch des Joseph von Meurer«, 16. 4. 1816. LAV NRW R, BR 2, Nr 1523, fol. 10. Sabine Graumann: Französische Verwaltug am Niederrhein. Das Roerdepartement 1798–1814, Essen 1990, S. 125, 131; Sam A. Mustafa: Napoleon’s paper kingdom. The life and death of Westphalia, 1807–1813, Lanham 2017, S. 289. Zur Professionalisierung des Verwaltungsdiensts in Preußen und der Prävalenz von Leistung und Qualifikation in Bewerbungsverfahren um 1800, s. grundlegend: Rolf Straubel: Adlige und bürgerliche Beamte in der friderzianischen Justiz- und Finanzverwaltung. Ausgewählte Aspekte eines sozialen Umschichtungsprozesses und seiner Hintergründe (1740–1806), Berlin 2010; Rolf Straubel: Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverläufe, Entscheidungsprozesse (1763/86–1806), Potsdam 1998. Für eine ähnliche Entwicklung unter französischer Herrschaft im Napoleonischen Italien, s. Michael Broers: The Napoleonic Empire in Italy, 1796–1814. Cultural Imperialism in a European Context?, London 2005, S. 198 und Valentina dal Cin: Presentarsi e autorappresentarsi di fronte a un potere che cambia, in: Società e storia 155 (2017), S. 61–95.
Tatsächlich war eine Dramatisierung von Lebensereignissen, wie man sie in der Bewerbung Meurers liest, gerade im Rheinland alles andere als ein Einzelfall. Nach 1815 strömte eine Flut von Bewerbungsschreiben in die Registraturen der gerade neu etablierten Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Niederrhein, die eine ungeheure Menge an Lebenserzählungen enthielt.
Die Registratur des Oberpräsidenten der Provinz Jülich-Kleve-Berg und der Bezirksregierungen von Düsseldorf und Koblenz etwa führen jeweils eine eigene Kategorie »Anstellungsgesuche« auf, die allein für den Zeitraum von 1816–1821 jeweils Dutzende Aktenkonvolute à 30–40 Bewerbungen enthalten. LAV NRW R, BR 2 1512–1533; LAV NRW R, BR 4, Nr. 303–311, 1626–1633; Landeshauptarchiv Koblenz, Best 441, Nr. 4727–4746. Auch die Berliner Zentrale wurde, gleich nachdem auf dem Wiener Kongress verkündet wurde, dass das Rheinland endgültig preußisch werden sollte, von Bewerbungsschreiben überflutet. Norbert Schindlmayr: Zur preußischen Personalpolitik in der Rheinprovinz. Eine Untersuchung über die Anstellung der höheren Regierungsbeamten und Landräte in den Regierungsbezirken Koblenz und Trier zwischen 1815 und 1848, Köln 1969, S. 21f. So etwa in den preußischen Provinzen Westphalen, Jülich-Kleve-Berg, Niederrhein und (hier allerdings nur auf den Adel bezogen) Sachsen. Bernd Walter: Personalpolitik Vinckes, in: Hans-Joachim Behr/Jürgen Kloosterhuis (Hg.): Ludwig Freiherr Vincke. Ein westphälisches Profil zwischen Reform und Restauration, Münster 1994, S. 157–172, hier: S. 168–172; Jürgen Herres/Bärbel Holtz: Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814–1888), in: Georg Mölich/Veltzke Veit/Bernd Walter (Hg.): Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 113–208, hier: S. 122–124; Daniela Feistauer: Aufstiegschancen des Adels in der preußischen Provinz Sachsen in Staat und Militär 1815–1871, Frankfurt am Main 2005. Dieter Strauch: Der Einfluss des französischen Rechts auf die rheinische und deutsche Rechtsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Kerstin Theis/Jürgen Wilhelm (Hg.): Frankreich am Rhein. Die Spuren der »Franzosenzeit« im Westen Deutschlands, Köln 2009, S. 161–180, hier: S. 161–163; Walter Rummel: Das Nachwirken der französischen Herrschaft im preußischen Rheinland des 19. Jahrhunderts, in: Kerstin Theis/Jürgen Wilhelm (Hg.): Frankreich am Rhein. Die Spuren der »Franzosenzeit« im Westen Deutschlands, Köln 2009, S. 131–144, hier: S. 131; Jürgen Müller: 1798. Das Jahr des Umbruchs im Rheinland, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 62 (1998), S. 205–237, hier: S. 215–217.
Das monumentale Projekt der personellen (Neu-) Organisation war geradezu unumgänglich auf die Textform des Lebenslaufs angewiesen, um aus der Masse von Unbekannten potenzielles Personal zu filtern. Mit Lebensläufen suchte die Verwaltung vor allem einen Abgleich zwischen den rechtlich genormten Stellenanforderungen und den ihr bisher unbekannten Personen zu schaffen. Allgemein reguliert war insbesondere die Notwendigkeit von Bildung, Routine und Geschäftskenntnis.
Johann A. Sack: Bekanntmachung über die Art, nach welcher junge Männer sich für den öffentlichen Dienst zu bilden haben, um eine Anstellung in den verschiedenen Administrationen zu bekommen, in: Journal des Nieder- und Mittelrheins 3 (1815), S. 17–20. Friedrich Wilhelm III.: Verordnung wegen Bewaffnung der Freiwilligen, in: Gesetzssammlung für die Königlich Preußischen Staaten 5 (1815), S. 34–36, hier: S. 36.
Anders als die zahlreichen Studien zur französischen oder preußischen Personalpolitik im Rheinland soll es hier nicht um die Perspektive der Behörde und deren Selektions- und Entscheidungsmechanismen, sondern – ganz unabhängig von ihrem Erfolg oder Misserfolg – die Rhetorik der Anstellungsgesuche gehen.
Martin Schlemmer: …beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer? Kommunale und staatliche Verwaltung im Übergang vom Empire francais zum Königreich Preußen, in: Thomas Becker/Dominik Geppert/Helmut Rönz (Hrsg.): Das Rheinland auf dem Weg nach Preußen 1815–1822, Köln 2019, S. 119–144; Graumann: Französische Verwaltug am Niederrhein; Dieter Poestges: Die preußische Personalpolitik im Regierungsbezirk Aachen von 1815 bis zum Ende des Kulturkampfs, Aachen 1975; August Klein: Die Personalpolitik der Hohenzollernmonarchie bei der Kölner Regierung. Ein Beitrag zur preußischen Personalpolitik am Rhein, Düsseldorf 1967; Schindlmayr: Personalpolitik in der Rheinprovinz. Karl F. Weber: Entwurf zur Geschäftsführung der Untergerichte, München 1817, S. 35. Walter Gerschler: Das preußische Oberpräsidium der Provinz Jülich-Kleve-Berg in Köln. 1816–1822, Köln 1967, S. 51. Aufgrund der hohen Ablehnungsquote, die – so zumindest der Tonus in zeitgenössischen Amtsblättern – der hohen Menge an Bewerbungen geschuldet war, konnte deshalb auch nicht valide eruiert werden, welche der genannten Bewerbungsstrategien erfolgsversprechender war. So lässt die Regierung zu Köln unter Ägide Solms-Laubachs 1816 verlauten: »Es gehen täglich so viele, und oft schon mehrmals wiederholte Anstellungs-Gesuche ein, daß es von der Hand ganz unthunlich ist, ein jedes derselben einzeln zu beantworten […]. Eine individuelle Antwort werden daher künftig nur diejenigen erhalten, denen wegen ermangelnder Ansprüche, gar keine Hoffnung zur Anstellung gemacht werden kann, wogegen die übrigen den Erfolg ihres Gesuchs abzuwarten haben […].« Friedrich zu Solms-Laubach: Dienstanstellungsgesuche, in: Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Köln 1/21 (1816), S. 157.
Die naheliegendste rhetorische Strategie, sich für eine Stelle zu empfehlen, bestand darin, eine kurze Geschichte der eigenen Qualifikation und Amtsverwaltung abzuliefern. Was der staatstragende Diskurs um 1800 als legitime »Ansprüche«
Freiherr v. Stein: Plan zu einer neuen Organisation der Geschäftspflege im Preußischen Staat, in: Heinrich Scheel (Hg.): Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Berlin 1967, S. 100–150, hier: S. 127. Rolf Straubel: Carl August von Struensee. Preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik im ministeriellen Kräftespiel (1786–1804/06), Berlin 1999, S. 51–53; Freiherr v. Altenstein: Stellungnahme des Geheimen Oberfinanzrats Feiherr von Altenstein zu den Bemerkungen des Ministers Freiherrn vom Stein über den Organisationsplan, in: Heinrich Scheel (Hg.): Das Reformministerium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, Berlin 1967, S. 540–545, hier: S. 544. Straubel: Adlige und bürgerliche Beamte in der friderzianischen Justiz- und Finanzverwaltung, S. 507; Straubel: Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat, S. 62–65. Bernd Schminnes: Kameralwissenschaften – Bildung – Verwaltungstätigkeit. Soziale und kognitive Aspekte des Strukturund Funktionswandels der preußischen Zentralverwaltung an der Wende zum 19. Jahrhundert, in: Bernd Bekemeier et al. (Hg.): Wissenschaft und Bildung im frühen 19. Jahrhundert II, Bielefeld 1983, S. 99–319, hier: S. 171–173; Peter Lundgreen: Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe, Berlin 1975, S. 8–10; Otto Hintze: Der Beamtenstand, Darmstadt 1963 [1911], S. 30–33. Robert Bernsee: Moralische Erneuerung. Korruption und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820, Göttingen 2017, S. 178–183. Zur traditionellen Beamtenethik, s. Michael Stolleis: Grundzüge der Beamtenethik (1550–1650), in: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1990, S. 197–231, hier: S. 198f. Robert Bernsee: Gefühlskalte Bürokratie. Emotionen im Verwaltungshandeln des frühen 19. Jahrhunderts, in: Administory 3/1 (2018), S. 147–163, hier: S. 148. Bernsee: Gefühlskalte Bürokratie, S. 158f. Bärbel Holtz/Christina Rathgeber: Ressortleitung und Räte von 1817 bis 1866, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.): Acta Borussica Neue Folge 2. Reihe: Preussen als Kulturstaat. Das preußische Kultusministerrium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 1.1, Berlin 2010, S. 170–222, hier: S. 194–196; Walter: Personalpolitik Vinckes, S. 165.
Für die Darstellungen solcher Normallaufbahnen waren Lebensläufe das ideale Format. Um ihre Kenntnisse, Qualifikationen und beruflichen Vorerfahrungen nachzuweisen, verfassten Bewerber gegen Ende des Jahrhunderts immer häufiger einen kurzen Lebenslauf in Prosaform, aus dem Schulbildung, Studien, abgelegte Examina, bisherige Anstellungen und besondere Tätigkeiten und Auszeichnungen hervorgingen.
Eine Stichprobe aus dem Bereich der preußischen Bauverwaltung zeigt, dass bereits Ende des 18. Jahrhunderts über 30 % aller Bewerber eine Passage über ihren bisherigen Lebenslauf in Bewerbungsschreiben integrierten. Der Prozentsatz wuchs ab 1815 auf 40 % aller Bewerbungen an. Wolfram Fischer: Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten, in: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978, S. 311–336, hier: S. 316. Zur epistemischen Form der ›Karriere‹, s. a. Maren Lehmann: Mit Individualität rechnen. Karriere als Organisationsproblem, Göttingen 2011. Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 299.
Die Situation im Rheinland kurz nach den napoleonischen Kriegen stellt in der Entwicklung des Formats Lebenslaufs eine außergewöhnliche Konstellation dar. Die Tatsache, dass nur wenige Bewerber mit den höheren Adressaten vertraut waren, führte zu einem explosionsartigen Anwachsen von Lebenserzählungen in Bewerbungsschreiben. In den untersuchten Akten der rheinländischen Ober- und Regierungspräsidenten findet sich in so gut wie allen Bittschriften ein Lebenslauf, oft auch separat an die Bewerbung angehängt. Die Behörden selbst forderten immer wieder das Nachreichen eines Lebenslaufs, um zu überprüfen, ob Bewerber Ansprüche auf einen Posten geltend machen konnten oder nicht.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 75–76, Protokoll über die Prüfung des Wachtmeisters Krebs, 9. 1. 1818; LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 101v, »Reskript an Carl Magnus Krauß«, 22.6.1818; LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 61r, Reskript an Johann Stephan Malmendier de Malmedyé, 13. 3. 1818. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 66v, Marginalreskript Friedrich zu Solms-Laubachs, 15. 4. 1816.
Ein Beispiel für eine ungebrochene Laufbahn ist die Bewerbung des Bonner Rendanten Halm, der seine »[s]chon seit 17 Jahren […] dem Staate, und hiervon 15 ununterbrochen in der Zollverwaltung« erbrachten Dienste »in gedrängter Kürze« vorstellte.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 223v, Anstellungsgesuch des Rendanten Halm (Abschrift), 16. 7. 1819. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 223. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 223r.
Zwischen 1810 und 1825 dominierte auf deutschen Bühnen das romantische Schicksalsdrama, das die Unglücksfälle und Katastrophen ihrer Protagonisten auf tief im Dasein verankerte, schuldhafte Verstrickungen zurückführte und eine Weltordnung heraufbeschwor, in der ein willkürliches Schicksal aus reiner Zerstörungswut waltete.
Franziska Rehlinghaus: Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015, S. 217f; Sebastian Wogenstein: Schicksalsdrama, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin 2007, S. 375–377, hier: S. 375. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 Vf., Lit. V Nr. 1, fol. 1r, Bittschrift des Schulamtskandidaten Vollmer mit Zur Frage der Personalkontinuität in den französischen bzw. preußischen Rheinland liegen zahlreiche Studien vor. Auf der Ebene höherer Beamter bedeutete die französische Machtübernahme häufig ein abruptes Karriereende. Die linksrheinischen Eliten (insbesondere der Adel) verließen bereits nach Besetzung des linken Rheinufers 1794 das Rheinland. Die höheren Posten in der Verwaltung der vier rheinischen Departements wurden meist von Franzosen besetzt. Auf der Ebene des subalternen Beamtentums bestand hingegen eine hohe Personalkontinuität, viele dieser Offizianten waren bereits im Ancien Régime tätig gewesen und wurden in ihrer Stellung bestätigt. Eine wichtiges Ausscheidekriterium war dabei die Kenntnis der französischen Sprache, da nur diejenigen Beamten bestätigt wurden, die des Französischen mächtig waren. Müller: 1798. Das Jahr des Umbruchs im Rheinland, S. 218; Jörg Engelbrecht: Grundzüge der französischen Verwaltungspolitik auf dem linken Rheinufer (1794–1814), in: Christof Dipper/Wolfgang Schieder/Reiner Schulze (Hg.): Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien. Verwaltung und Justiz, Berlin 1995, S. 79–92, hier: S. 80; Christof Dipper: Die zwei Gesichter der napoleonischen Herrschaft, in: Christof Dipper/Wolfgang Schieder/Reiner Schulze (Hg.): Napoleonische Herrschaft in Deutschland und Italien. Verwaltung und Justiz, Berlin 1995, S. 11–28, hier: S. 16. Nach der Machtübernahme durch Preußen wiederum wurde in etwa die Hälfte der vormals unter französischer Herrschaft dienenden Offizianten bestätigt, die andere Hälfte entlassen. Fritz Vollheim: Die provisorische Verwaltung am Niederund Mittelrhein während der Jahre 1814–1816, Bonn 1912, S. 28f. Die These, dass hauptsächlich ›Altpreußen‹ in die rheinische Verwaltung drangen, wurde inzwischen revidiert, je weiter man in der Amtshierarchie nach unten stieg, desto dominierender war der Anteil einheimischer Amtsinhaber. Schlemmer: …beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer?, S. 141f.
Einen solchen biographischen Exkurs schlug der ehemalige Steuerdiener Georg Jacob Theodor d’Honrath
D’Honrath war der Bruder von Beethovens erster Liebe Jeannette d’Honrath aus Köln, die später den im Anstellungsgesuch als Schwager erwähnten k. u. k. Hauptmann Carl von Grerth heiratete. Ludwig Schiedermair: Der junge Beethoven, Hildesheim 1978, S. 197f. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 82r, Anstellungsgesuch des Georg Jacob Theodor d’Honrath, 13. 9. 1815. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519 fol. 82r. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519 fol. 82r, 83v.
Hier trübt sich abermals die Aufstiegsgeschichte d’Honraths. 1804, noch unter der »gewissen Zusage« eingesetzt, »daß ich längstens binnen zweyen Jahren besser progidirt werden sollte«, löst sich diese Zusicherung bald in Luft auf, da die »nachgefolgte Präfecte ihre Kreaturen hatten die sie protegirten«.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83.
Dieser doppelt gebrochene Lebenslauf weist an zwei entscheidenden Stellen mikro- und makrohistorische Turbulenzen die Schuld für verfehlte Laufbahnen zu. Wo es ab 1795 die kriegerischen Aktivitäten der Franzosen im Rheinland sind, die die Aussicht auf die väterliche Stelle zunichtemachen, ist es 1814 die inneradministrative Ranküne vorgesetzter Beamter, die seine Laufbahn im Finanzfach für immer verschließt.
Das Reichsherzogtum Kerpen-Lommersum, dessen Steuer-Einnahmen d’Honraths Vater verwaltete, wurde 1795 von Frankreich erobert. Gerhard Köbler: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München, 2007, S. 333 Arianne Baggerman: Lost time. Temporal discipline and historical awareness in nineteenth-century dutch egodocuments, in: Arianne Baggerman/Michael Mascuch/Rudolf Dekker (Hg.): Controlling time and shaping the self. Developments in autobiographical writing since the sixteenth century, Leiden/Boston 2011, hier: S. 486. Ganz allgemein gilt, dass Autobiographisierungen meist vom aktuellen Erzählzeitpunkt aus vorgenommen werden, von dessen Warte aus »Ereignisse gerahmt« und »Zusammenhänge hergestellt« werden. Winfried Marotzki: Aspekte einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, in: Dietrich Hoffmann/Helmut Heid (Hg.): Bilanzierungen erziehungswissenschaftlicher Theorieentwicklung, Weinheim 1991, S. 119–134, hier: S. 129.
Im Jahr 1814 hingegen betritt das Schicksal in der profanen Figur maliziöser Vorgesetzter den Mikrokosmos der Kölner Steuerbehörde. Wenn d’Honrath das Ende seiner Finanzbeamtenlaufbahn der Protektion von »Kreaturen« und dem »nach willkühr und wieder alle Gesetze« entfesselten »Haß gegen mich und meine Person« zulastet,
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1519, fol. 83v. Bei Kant etwa nimmt sich der ›Hass‹ als Leidenschaft »Zeit, um sich tief einzuwurzeln und es seinem Gegner zu denken« und ist, wie alle Leidenschaften, grundsätzlich negativ konnotiert. Die Leidenschaften, so Kant, sind »wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift oder Verkrüppelung anzusehen, die einen innern oder äußern Seelenarzt bedarf.« Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Kant‘s Gesammelte Schriften. »Akademie-Ausgabe«, Bd. 7, Berlin 1907, S. 117–335, hier: S. 252. Bernsee: Gefühlskalte Bürokratie, S. 155f. Für einem ähnlichen Befund im Amtswesen der Habsburgermonarchie etwa ein Jahrhundert später, s. Burkhardt Wolf: Kafka in Habsburg. Mythen und Effekte der Bürokratie, in: Administory 1 (2016), S. 193–221, hier: S. 212.
Nun ist es jedoch genau jene laufbahnfeindliche Kraft des Schicksals, die in den Lebensläufen mobilisiert wird, um ins Stocken gekommene Laufbahnen zu enthemmen. Auch der ehemalige Steuereinnehmer Heuermann erfährt zunächst einen steilen Aufstieg unter französischer Verwaltung und avanciert 1808 im neu gegründeten Königreich Westphalen vom »Actuar des Friedensgerichts Essen […] zum Maire-Secretair daselbst« und »endlich am 18ten April 1809 zum Einnehmer der Kayserlichen Domainen«.
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 42r, Anstellungsgesuch des ehemaligen Steuereinnehmers Heuermann, 18. 2. 1817. Eine solche Karriere war im Königreich Westphalen unter Napoleons Bruder Jerome keine Seltenheit. Die lokale Ebene der Beamten wurde zu einem guten Teil aus Offizianten des Ancien Régimes rekrutiert. Besonders auf der kommunalen Ebene der LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 43v.
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 43v.
Doch auch in Heuermanns rasantem Lebenslauf nimmt die Aufstiegsgeschichte während der Zeit der ›Befreiungskriege‹ ein jähes Ende. Unterbrochen wird die Karriere durch den kriegsbedingten Regierungswechsel in Westphalen.
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 43v.
Auch hier wird die Karriereunterbrechung aber rhetorisch instrumentalisiert. Gerade weil er »durch die eingetretene Regierungsveränderung einer der unglücklichsten vormaligen Officianten« geworden sei, bittet er, ihm »wegen Anstellung bey der hier zu errichtenden Münze vor andern einen Vorzug zu Theil werden [zu] lassen«.
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 44r.
Der rhetorische Eintrag schicksalhafter Karriereeinschnitte in den Lebenslauf folgt damit einem instrumentalistischen Kalkül. Indem die Brüche als Produkte unbeeinflussbarer Kräfte markiert werden, versuchen die Beamten die gescheiterten Laufbahnen nicht als Grund gegen, sondern gerade für eine Anstellung einzubringen. Die karrierehemmenden Turbulenzen der Franzosenzeit werden so auf der Ebene der Bewerbungsrhetorik genutzt, um Blockaden der eigenen Karriere zu lockern. Die Zeit der Kriege und staatlichen Veränderungen markiert zunächst den Einbruch biographischen Chaos, das jede zielgerichtete Laufbahn zunichtemacht. In einer solch turbulenten Zwischenzeit können regelgeleitete Karrieren unmöglich verfolgt werden. Gerade aus dieser Unordnung aber stiftet die Rhetorik der Lebensläufe eine neue Ordnung. Denn wenn Bewerber das Chaos der napoleonischen Zeit in ihre Erzählungen einbinden, sind kriegerische Unterbrechungen nicht mehr nur Hemmnisse, die passiv erlitten wurden. Das Schicksal wird vielmehr zu einem Argument umgestaltet, das eine Anstellung oder Beförderung in der Jetztzeit begründen soll. Die Karrieren zerschellen so zwar an schicksalhaften Klippen, weisen aber gerade in diesem Zerschellen auf das hinaus, was eigentlich aus ihnen hätte werden sollen.
Tatsächlich mag es daher wenig erstaunen, wenn die Karrierebrüche in den Lebensläufen zwar explizit genannt werden, ihre narrative Extension aber äußerst gering bleibt. So nennt etwa ein bereits 1807 arbeitslos gewordener Offiziant »die häufigen Begünstigungen der Fremdlinge« als Grund, »die unter so tüchtigem Titel begonnene Laufbahn zu verlassen«, um »einen beßeren Zeitpunkt abzuwarten«, den er sofort im nächsten Halbsatz – in der erzählten Zeit allerdings elf Jahre später – als »Zeitpunkt, welcher seiner Meinung nach heute vorhanden ist«, qualifiziert.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 59r, Anstellungsgesuch des Johann Stephan Malmendier de Malmendyé, 12. 2. 1818.
Schicksalhafte Zustöße in den Vordergrund zu rücken, blieb jedenfalls nur eine rhetorische Taktik unter anderen. Für viele Bewerber war diese komplexe Bewerbungsstrategie keine Option. Entweder liefen ihre Karrieren in französischen Diensten relativ reibungslos, oder sie waren von vornherein in preußischen Diensten geblieben. Wesentlich virulenter hingegen war die Thematisierung der patriotischen Einstellung, Verdienste oder Aufopferung, die man für den preußischen Staat, ganz besonders im Medium des militärischen Freiwilligendienstes, erbracht hatte. Anders als in den amtlichen Schicksalsdramen hing hier die Stilisierung außergewöhnlicher Lebensepisoden in viel höherem Maß mit den gesetzlichen Bestimmungen zusammen.
Bei der Lektüre der Lebensläufe stößt man immer wieder auf patriotische Selbstbezeugungen, Treueschwüre und Verdiensterzählungen. Diese sollten aber nicht vorschnell als Zeugnisse eines gerade aufgekeimten Nationalgefühls missverstanden werden.
Auch die historische Forschung konstatiert, dass patriotische Einstellungen, etwa unter Kriegs-Freiwilligen, weitaus weniger verbreitet waren, als es die zeitgenössische Publizistik gerne behauptete. Leighton S. James: For the Fatherland? The Motivations of Austrian and Prussian Volunteers during the Revolutionary and Napoleonic Wars, in: Christine G. Krüger/Sonja Levsen (Hg.): War Volunteering in Modern Times. From the French Revolution to the Second World War, Houndmills, Basingstoke, Hampshire/New York, NY 2010, S. 40–58, hier: S. 53f. Karen Hagemann: »Mannlicher Muth und teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, S. 406f. Rudolf Ibbeken: Preußen 1807–1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit, Köln 1970, S. 393. Eduard v. Hoepfner: Die Formation der freiwilligen Jäger-Detachements bei der preußischen Armee im Jahre 1813, in: Militär-Wochenbatt. Beihefte 1847/Januar und Februar, S. 1–38, hier: S. 4. Ibbeken: Preußen 1807–1813, S. 394. Krohn (Hg.): Der Preußische Subaltern-Beamte, Potsdam 1854, S. 30. Krohn: Der Preußische Subaltern-Beamte, S. 30.
Den Bewerbern, die sich bei der rheinischen Provinzialverwaltung um Stellen bewarben, mussten sich diese Bekanntmachungen tief ins Bewusstsein eingebrannt haben. Wieder und wieder liest man von Freiwilligentätigkeit und Aufopferung für Preußen während der Kriege. Im festen Glauben an die Gültigkeit der gesetzlichen Anstellungsversprechen wurden Bewerber nicht müde von ihrer Dienstzeit während den ›Befreiungskriege‹ zu berichten. Im klassischen Duktus patriotischer Kriegsbegeisterung schreibt etwa Wachtmeister Krebs, dass er »die heiligen Pflichten des Sohnes«, seinen »so sehr bedürfenden Eltern nützlich seyn zu können«, in dem Moment aufgab, »als auch am Rhein Deutschland Freyheits Sonne aufzugehen begann«.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 70v, Anstellungsgesuch des Wachtmeisters Krebs, 17. 12. 1817. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 70v.
Im Komparativ der Pflichten entscheidet sich Krebs für das ›Vaterland‹ und tritt »gleich beym Uebergange der hohen Alliirten über den Rhein als Freiwilliger unter die Fahne [s]eines Königs.«
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 70. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 79v, Lebenslauf des Wachtmeisters Krebs, 3. 1. 1818. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 79r. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 80v. LAV NRW R, BR 2, NR. 1521, fol. 74v, Reskript an den Wachtmeister Krebs, 14. 1. 1818.
Junge Bewerber rekapitulierten den Freiwilligeneinsatz in ihren Lebensläufen also nur bedingt mit Pathos und betonten vielmehr den Transaktionsanspruch, der durch ihren Kriegseinsatz entstanden sei.
Zur deutschnationalen Erinnerungskultur, s. Karen Hagemann: Umkämpftes Gedächtnis. Die Antinapoleonischen Kriege in der deutschen Erinnerung, Paderborn 2019. LA NRW; BR 0002, Nr. 1528, fol. 92v, Anstellungsgesuch des Gerichts-Executors Wilhelm Romberg, 15. 6. 1820.
Die hehren Versprechen von 1815/16 scheinen indessen nur für wenige Bewerber nahtlos in die Realität überführt worden zu sein. Vor allem für die subalternen Bewerber spitzte sich das Verhältnis zwischen Kriegsdienst und Anstellung zuweilen als Existenzfrage zu. Die Tätigkeiten im Militär, etwa »zwey Jahre als Sekretair im Lazareth«, »neun Monathe unter dem 8ten Ohlauer Regiment«
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 8v, Anstellungsgesuch des Veteranen Friederick Haller, 20. 3. 1816. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 12v, Lebenslauf des gewesenen Freiwilligen Carl Joseph Hirler, 6. 4. 1816. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 18v, Anstellungsgesuch des Veteranen Hartwig 9. 4. 1816. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1632, fol. 2r, Lebenslauf des Veteranen Carl Wilhelm Schultze, 28. 3. 1816. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 105v, Anstellungsgesuch des invaliden Trompeters Merretig, 22. 9. 1821. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1628, fol. 11v, Anstellungsgesuch des gewesenen Freiwilligen Carl Joseph Hirler, 6. 4. 1816. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 8v. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1632, fol. 1v, Anstellungsgesuch des Veteranen Carl Wilhelm Schultze, 28. 3. 1816. Von einer ungeheuren Anzahl an Bewerbern zeugen auch mehrere Einträge in Amtsblättern, die die Öffentlichkeit bitten, sich mit Anstellungsgesuchen zurückzuhalten. Georg J. G. A. von Reiman: Bekanntmachung das Bewerben um Anstellung betreffend, in: Journal des Nieder- und Mittelrheins 40 (1816), S. 347; Friedrich zu Solms-Laubach: Dienstanstellungsgesuche, S. 157. Die Tatsache, dass ein Großteil, der in die Registraturen der rheinischen Ober- und Regierungspräsidenten eingegangenen Anstellungsgesuche negativ beschieden wurde, erhärtet diesen Befund auf der personalpolitischen Ebene. Bei einer Stichprobe von 40 größtenteils subalternen Gesuchen lag die Ablehnungsquote bei ca. 90 %. Johann H. Bolte: Berlinischer Briefsteller für das gemeine Leben. Zum Gebrauch für deutsche Schulen und für jeden, der in der Briefstellerei Unterricht verlangt und bedarf, Berlin 1795, S. 94f. Bolte: Berlinischer Briefsteller für das gemeine Leben, S. 238.
Prinzipiell war der Freiwilligendienst bei rheinländischen Bewerbern nicht unbedingt vorauszusetzen. Auf der linken Rheinseite gab es keine große Begeisterung für die Aufrufe der preußischen Generalität; nur wenige meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst, den meisten Rheinländern war die angebliche ›Schicksalsfrage‹, ob sie französisch bleiben oder ›befreit‹ werden sollten, relativ gleichgültig.
Roger Dufraisse: De la Révolution à la Patrie. La rive gauche du Rhin à l‘époque francaise (1792–1814), in: L‘Allemagne à l‘époque napoléonienne. Questions d’histoire politique, économique et sociale, Bonn 1992, S. 37–75, hier: S. 69–70. Poestges: Personalpolitik, S. 17. Vor allem im Bereich höherer politischer Beamter ist diesem Anspruch nicht Geltung getragen worden. Nicht-Einheimische erhielten hier vermehrt den Vorzug vor Rheinländern. 1817 waren nur ein Viertel aller höheren Beamtenstellen von Rheinländern besetzt, zusätzlich gab es ein starkes Bias für protestantische Kandidaten. Michael Rowe: From Reich to State. The Rhineland in the revolutionary age, 1780–1830, Cambridge 2003, S. 255 Auf der Ebene des mittleren und unteren Verwaltungspersonals überwogen hingegen die Einheimischen. Schlemmer: …beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer?, S. 133. Schlemmer: …beynahe gänzliche Vernachlässigung der Einländer?, S. 133f. Allerhöchste Cabinets-Ordre betreffend die Gehalts- und Pensions-Entschädigungen in den wieder vereinigten und neuen Provinzen, in: Karl Albert von Kamptz (Hg.): Annalen der Preußischen innern Staats-Verwaltung, Bd. 1, Heft 3, Berlin 1817, S. 14–20, hier: S. 18. Allerhöchste Cabinets-Ordre betreffend die Gehalts- und Pensions-Entschädigungen in den wieder vereinigten und neuen Provinzen, S. 18. Allerhöchste Cabinets-Ordre betreffend die Gehalts- und Pensions-Entschädigungen in den wieder vereinigten und neuen Provinzen, S. 17. Schindlmayr: Zur preußischen Personalpolitik in der Rheinprovinz, S. 23.
Aus den Lebensläufen geht hervor, dass Bewerbern der patriotische Imperativ, der in den gesetzlichen Bestimmungen durchklang, nicht unbekannt gewesen ist. Immer wieder betonten sie die geteilte Gesinnung, die sie mit Preußen und gegen Frankreich verband. Auf diese Weise versuchten sie zu kompensieren, was ihnen an ›Ansprüchen‹ aufgrund mangelnden freiwilligen Engagements fehlte. Steuereinnehmer Heuermann antizipiert die Einwände,»daß ich für das Vaterland keine Militairdienste geleistet habe« und kontert sie mit dem Argument, »daß mir dieses wegen Flechten am Ohre unmöglich war«.
LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 64r. LAV NRW R, BR 4, Nr. 1628, fol. 65v.
Der arbeitslose Sprachlehrer Kauhausen, dessen Gesuch bereits einmal wegen des fehlenden Freiwilligendienstes abgeschlagen wurde, legt eine »kurze Beschreibung zur Rechtfertigung des [ihm] gemachten Vorwurfs«
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 9v, Anstellungsgesuch des Joseph Kauhausen, 15. 5. 1816. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 9r. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10v.
Diese beiden Kompensationsversuche – die Equipierung des Bruders anstatt seiner selbst und die Aufopferung sämtlicher Ersparnisse – rücken den Freiwilligendienst in die Domäne des Ökonomischen. Die Aufrechnung in Kronen, Talern und Equipage transformiert das, was weiter oben als »heiligste Pflicht« und unaufwiegbares patriotisches Gut präsentiert wurde, endgültig in einen kommensurablen Ereignistyp. Die Bewerber suggerieren nicht nur, dass der abgeleistete Freiwilligendienst gegen Stellen eingetauscht werden kann, sondern führen darüber hinaus eine Reihe von Techniken vor, mit der die eigene ›Nicht-Freiwilligkeit‹ aufgewogen und zur patriotischen Ersatzleistung gemacht werden soll. Der Prozess dieses Aufwägens folgt dabei einer ökonomischen Steigerungsund Verausgabungslogik: Heuermann stattet seinen Bruder nicht einmal, sondern zweimal für den Krieg aus; Kauhausen bringt sämtliche übrige Ersparnisse »auf den Altar des Vaterlandes«
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10r. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 10r.
Schon etwas leichter konnten sich Bewerber entschuldigen, die darstellen konnten, wie sie »unter fremde Herrschaft gekommen« und »von dieser verstoßen« wurden.
Allerhöchste Cabinets-Ordre betreffend die Gehalts- und Pensions-Entschädigungen in den wieder vereinigten und neuen Provinzen, 15. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1521, fol. 53v, Gesuch des Beamten Krauthausen, 29. 9. 1815. Hansgeorg Molitor: Vom Untertan zum Administré. Studien zur französischen Herrschaft und zum Verhalten der Bevölkerung im Rhein-Mosel-Raum von den Revolutionskriegen bis zum Ende der napoleonischen Zeit, Wiesbaden 1980, S. 193f.
Mit einem ähnlichen Tenor berichtetet auch Stephan Malmendier de Malmendyé von seiner ins Stocken gekommenen Laufbahn während des napoleonischen Regimes. Anfangs noch »spiegelte man [ihm] die glänzendsten Aussichten vor«, ehe »Organisationen auf Organisationen, kurz Veränderungen« eintraten, »derer Jede zur Folge hatte daß […] die Aussichten für die Landeskinder […] immer kärglicher« wurden.
LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 62, Lebenslauf von Stephan Malmendier de Malmendyé, 13. 3. 1818. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 62r. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 63v. LAV NRW R, BR 2, Nr. 1523, fol. 64v, Reskript an Stephan Malmendier de Malmendyé, 6. 4. 1818.
Es bleibt die Frage, was so heterogene Strategien wie amtliche Schicksalsdramen, heilige Freiwilligkeit oder patriotische Ersatzleistungen auf der Ebene des Erzählens vereint. Zunächst antizipieren alle Lebensläufe ein heteronomes Bewertungssystem, das festlegt, welche Form das Leben für eine bestimmte Stelle anzunehmen hatte. Dieses Bewertungssystem war vor allem deshalb starr gerastert, weil es sich direkt in gesetzliche Bestimmungen übersetzte. Die zentralen Kriterien der Anstellbarkeit waren für jeden Verwaltungssektor und für jede Hierarchieebene gesetzlich festgelegt und in erforderliche Kenntnisse, Prüfungen, Fähigkeiten und Qualifikation unterteilt. Für die Ausnahmeperiode der postnapoleonischen Zeit hatte man dieses strikt laufbahnbezogene Bewertungskorsett zwar versucht, den Umständen der Zeit anzupassen, auch hier endete die Neubewertung von Karrieren aber in einem gesetzlich festgelegten Kriterienkatalog. Besonders in den oberen Rängen der Verwaltung war für eine ausreichende Bewerbung eine mehr oder weniger stringente Normallaufbahn erforderlich, die zumindest manche Bewerber auch darzustellen versuchten. Natürlich wussten die Bewerber aber, dass zwischen den gesetzlich vorgeschriebenen Bewertungskriterien und der tatsächlichen Bewertungspraxis eine kasuistische Anwendungslücke klaffte, die Bestimmungen im Einzelfall also unterminiert werden konnten.
Ganz allgemein werden rein ›rationale‹ Personalentscheidungen in Organisationen häufig von anderen Faktoren wie Patronage, Affekten oder Einzelfallüberlegungen überlagert. Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 294–297. Geschichtliche Belege finden sich für die Zeit um 1815 sowohl in der napoleonischen als auch der preußischen Administration, Bernsee: Moralische Erneuerung, S. 327; Déborah Cohen: Le recrutement des cours impériales en 1810, construction d‘une administration européenne ou validation de privilèges locaux traditionnels?, in: Jean-Pierre Jessenne/Hervé Leuwers/Anne Jourdan (Hg.): L‘Empire napoléonien. Une expérience européenne?, Recherches, Paris 2014, S. 332–346, hier: S. 333.
Während sich aus der Perspektive der Behörde die Frage stellte, mit welchen Kriterien ein Lebenslauf zu bewerten sei, eröffnete sich für die Verfasser der Lebensläufe ein komplementär dazu gelagertes Problem. Der Kristallisationspunkt der Bewerbungspraxis lag in der Frage, wie und durch welche Strategien sich der Wert eines Lebenslaufs auch dann möglichst hoch ansetzen ließ, wenn er nicht oder nur teilweise den gesetzlichen Bewertungskriterien entsprach.
An diesem Punkt nun setzt der Lebenslauf als multivalente Form an. Gerade wenn die Formations- und Berufsgeschichte eines Individuums gebrochen oder nicht kompatibel mit den vorgeschriebenen Laufbahnvoraussetzungen war, versuchten Bewerber ihren mangelhaften Lebenslauf mit Alternativereignissen aufzuwerten. So stellten Kandidaten ihre Ansprüche auf einen Posten etwa eine Erzählung ihres Schicksals während der langen Zeit der napoleonischen Herrschaft dar, das größtenteils in harten Entbehrungen und beruflichen Entgleisungen bestand. Oder sie setzten in besonderem Maße ihre Opferbereitschaft während der ›Befreiungskriege‹ in Szene und stilisierten ihren Einsatz in den Freiwilligenkorps zu sakralen Leistungen und unbestreitbaren Anstellungsgründen. Schließlich gab es Bewerber, die nicht an den ›Befreiungskriegen‹ teilgenommen hatten und diesen Mangel an ›vaterländischem Engagement‹ über patriotische Ersatzleistungen auszugleichen versuchten. Die multivalente Logik des Formats Lebenslauf ließ also einen biographischen Überschuss zu, der weit mehr darstellen konnte als nur genormte Qualifikations- und Laufbahnprofile.
Wissend um die Nicht-Erfüllung der objektiven Anforderungen, nahmen Bewerber in ihren Lebensläufen also alternative Wertungen der eigenen Laufbahn vor und problematisierten die gesetzliche Bewertungsmatrix. Rhetorisch aufblühende Lebensläufe erlaubten es Bewerbern, ihre Leben anders und höher zu valorisieren, als es die offiziellen Bestimmungen vorsahen. Auf einem anderen Papier stand freilich die behördliche Anerkennung dieser Strategien. Angesichts einer schier überwältigenden Nachfrage nach staatlicher Anstellung wurden nur die wenigsten Bewerbungen bewilligt, weshalb nur schwer geklärt werden kann, ob durch die multivalente Rhetorik tatsächlich Verwaltungsnormen ausgehebelt werden konnten.
In jedem Fall aber speisten sich die Mehrwerte in den Lebensläufen aus multiplen nicht-bürokratischen Wertesystemen (etwa der Semantik des Schicksals, der sakralen Aufladung des Patriotismus oder der ökonomischen Tauschlogik freiwilliger Kriegsspenden), die im Medium des prosaisch verfassten Lebenslauf mühelos in die Welt des amtlichen Schriftverkehrs überführt werden konnten. Eingepasst in den Tumult der napoleonischen Zeit malten diese Bewertungen die Laufbahn oft als turbulent und deshalb unverschuldet unterentwickelt aus. In der Antizipation eines immer situativen Bewertungsprozesses hofften Bewerber mit multivalenten Lebensläufen die gesetzlichen Bewertungskriterien zu überspielen und die praktische Bewertung zu ihren eigenen Gunsten zu beeinflussen. Lange vor dem Zeitalter tabellarischer Lebensläufe und der »Produktion von standardisierten, dekontextualisierten Inskriptionen«
Peter Becker: Formulare als »Fließband« der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen, in: Peter Collin/Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.): Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 281–298, hier: S. 290. Becker: Formulare als »Fließband« der Verwaltung?, S. 294.