Stefan Zweig und Inszenierungsformen kulturellen Erbes im deutschsprachigen Raum – lässt sich beides zusammendenken? Einen Vorschlag dafür liefert der Beitrag von Marion Garot in vorliegendem Dossier, der sich unter dem Titel
Zweig war ein begeisterter Autographensammler, wobei diese Aktivität nicht schlichtweg als belanglose Nebenbeschäftigung, als rein dem persönlichen Amüsement dienendes ‚Hobby‘, sondern viel eher als eng mit seinem literarischen Schaffen verknüpft anzusehen ist. Auch diesbezüglich hat Zohns früher Beitrag bereits Klarstellung geleistet: „Far from being a mere hobby, this collection must be viewed as an integral part of Zweig's literary work“ (ebd.: 182). Dem Plädoyer Zohns entsprechend wird die Autographensammlung in der Kapiteleinteilung des Stefan-Zweig-Handbuchs als Bestandteil des Zweigschen Œuvres gewürdigt, wie ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt (Larcati / Renoldner / Wörgötter 2018: VIII). Dies weist darauf hin, dass sich der Bezug zwischen Zweigs Sammlung und seinem literarischen Schaffen nicht ausschließlich in der Erzählung
Zweigs Sammelinteresse reicht mindestens ebenso weit zurück wie seine literarische Betätigung. Eine frühe Bekundung ist in einem Brief an seinen Jugendfreund Max Mell vom 12. Februar 1907 zu finden:
Ich freue mich schon sehr, Ihnen meine Schätze zeigen zu können. Zwar: wie bescheiden sind sie. Vorgestern war ich bei Max Kalbeck, um seine Sammlung zu sehn, […] tausend schöne Dinge, die ich wirklich gar nicht neidisch begehrte, die mich aber doch sehnsüchtig anfassten. Und zwei Tage vorher lag der Brief Kleist's in meiner Hand, den er eine Stunde vor dem Selbstmord mit Henriette Vogel gemeinsam schrieb. Nennen Sie das Sammelwahnsinn – aber ich war innerlich gepackt, wie selten im Theater. Schrift hat tatsächlich etwas fascinierendes für mich.
Zweig ist zum Zeitpunkt dieses Briefes 26 Jahre alt und so-eben in seine erste eigene Wohnung in der Kochgasse im achten Gemeindebezirk Wiens gezogen. Das Zitat ist ein schöner Beleg dafür, wie prägend und wie grundlegend seine Begeisterung für Handschriften war, wobei er nicht verabsäumt – die Antwort seines Korrespondenzpartners antizipierend –, sein Bewusstsein darüber zum Ausdruck zu bringen, dass eine solche Leidenschaft nicht von allen seinen Schriftstellerkollegen nachvollzogen wird. Tatsächlich wird Sammeln (allerdings im Sinne einer Musealisierung) zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder und aus unterschiedlichen Beweggründen einer Kritik unterzogen, so etwa bei Ernst Jünger, Martin Heidegger und auch bei Walter Benjamin (Finkelde 2008: 248). Das namentlich von Jünger und Benjamin (die im Übrigen selbst als bedeutende Sammler in Erscheinung traten) kritisierte Phänomen (Finkelde 2006: 196f.) muss allerdings insofern als deutlich verschieden zur Sammelaktivität Zweigs verstanden werden, als sie Kritik an einem Vorgang der produktionshemmenden Akkumulation üben. Im Falle von Zweig ist hingegen das Sammeln sehr eng mit literarischer Produktion verknüpft. Dabei wird zu untersuchen sein, wie sich Zweigs Sammelverständnis und -interesse gegenüber demjenigen Benjamins und Jüngers vor ihrem jeweiligen historischen und soziopolitischen Ideen-horizont gestaltet.
In Anbetracht der Tatsache, dass Zweig zu diesem noch frühen Zeitpunkt seiner Sammlung wenig selbstbewusst ist, nennt er seine Passion Mell gegenüber verwerfend „Sammelwahnsinn“. Es handelt sich allerdings um einen „Wahnsinn“, der ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. Die grundlegende Ambiguität des Begriffs des „Besessenen“, der einerseits als Objektbezeichnung auf den materiellen Besitz, andererseits aber auch als Subjektbezeichnung auf den ‚Besessenen‘ im Sinne eines manischen Sammlers verweist, wurde bereits aufgezeigt (Vedder 2014: 142f.). Bemerkenswert ist mit Blick auf die Performativität und Inszenierungen des Schreibens forcierende Schreibszenen-Forschung, dass Zweig die Ergriffenheit, die für ihn von Autographen wie dem Abschiedsbrief Heinrich von Kleists ausgeht, mit der rezeptionsästhetischen Spannung eines Theaterbesuchs in Verbindung bringt.
Bis zur Emigration nach Amerika im Jahr 1940 und somit bis etwa anderthalb Jahre vor seinem Lebensende hatte Zweig seine Sammlung mit großer Beflissenheit und Professionalität weitergeführt (Matuschek 2018; Matuschek 2005). Sowohl durch Schenkungen zahlreicher persönlich mit ihm bekannter Künstler als auch aufgrund seiner wachsamen Beobachtung diverser Kataloge und Auktionen im Antiquariatshandel – anfangs noch hauptsächlich auf dem deutschen und dem französischen, in der englischen Exilzeit vor allem auf dem britischen Markt – konnte eine ausgesprochen umfangreiche Sammlung entstehen. Die Sammlung war stets dynamischen Veränderungen unterworfen. Eine wichtige Zäsur stellt vor allem Zweigs Emigration nach London 1934 dar, da er sich in diesem Zusammenhang entschloss, einen beträchtlichen Teil seiner Sammlung zu veräußern.
Zweigs Sammelaktivität folgt nicht ausschließlich einem kontemplativen Genuss und ist auch nicht hinlänglich mit einem Impetus des Haben-Wollens zu erklären, womit sie sich Ulrike Vedder zufolge von derjenigen Goethes abhebt, wenngleich Renata Schellenberg davon spricht, dass auch Goethes Sammlung grundlegend einer Wissenserweiterung und damit einem Erkenntnisinteresse und nicht allein einem akkumulativen Zweck folgt (Vedder 2014: 148f.; Schellenberg 2012: 166). Dass aber die Zugangsweise zu den Autographen bei Goethe eine andere ist als bei Zweig und dass auch ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse anders gelagert ist, ist durchaus anzunehmen, und es wird zu untersuchen sein, wie sich diese Differenz im Detail gestaltet.
Zweigs Beschäftigung mit Autographen ist immer auch auf epistemologische Zwecke gerichtet: Es geht ihm, wie er insbesondere in seinem 1939 als Vortrag gehaltenen Text
In vielen seiner Werke thematisiert Zweig implizit oder explizit den künstlerischen Schaffensprozess im Sinne des In-Szene-Setzens, der Inszenierung des Schreibens selbst – mit anderen Worten, im Sinne einer ‚Schreibszene‘. Der Begriff der ‚Schreibszene‘ als methodischem Operativ geht auf einen Aufsatz Rüdiger Campes zurück (Campe 1991). Er wurde im Forschungsprojekt
Die terminologischen Bestimmungen im Rahmen der Schreibszenenforschung verbinden sich unmittelbar mit Theater und Dramaturgie; Zweig selbst hat, wie oben festgestellt, im Brief an Max Mell das Theater als Vergleichsbeispiel herangezogen, um seinem Staunen Handschriften gegenüber Ausdruck zu verleihen. Mit seinen literarischen Ausgestaltungen holt Zweig den Akt des Schreibens vor den Vorhang – er Zur Spezifik des Vorhangs als Symbol in Verbindung mit Schreibszenen der Goethezeit vgl. Link 2004.
Paradigmatisch für Zweigs Beschäftigung mit dem Künstlertum ist seine Auseinandersetzung mit Balzac. Dass er sich damit durchaus in einen gewissen Zeitdiskurs einschreibt, zeigt sich daran, dass diese Balzac-Begeisterung in Kreisen Jung-Wiens und besonders von Hugo von Hofmannsthal ebenfalls kultiviert wurde (Hemecker / Huemer 2009: 253). Teilweise wird in der Forschung auch die Ansicht vertreten, dass Balzac für Zweig auf einer persönlicheren Ebene seines individuellen Schaffens besondere Bedeutung zukam, etwa indem er mit den Ein leises Pochen des Dieners an der Tür hat ihn geweckt. Balzac ist aufgestanden und nimmt seine Kutte. Aus jahrelanger Erfahrung hat er sich diese Kleidung als die geeignetste für seine Arbeit gewählt. Wie der Krieger seine Rüstung, wie der Bergmann sein Ledergewand, gemäß der Forderung seines Berufs, hat der Schriftsteller sich diese weiße, lange Robe aus warmem Kaschmir im Winter, aus feiner Leinwand im Sommer gewählt, weil sie leicht jeder Bewegung sich anschmiegt, den Hals frei läßt zum Atmen, gleichzeitig wärmend und doch nicht drückend, und vielleicht auch weil sie, ähnlich wie die Kutte den Mönch, ihn daran erinnern mag, daß er im Dienst ist, zugeschworen einem höheren Gebot und abgeschworen, solange er sie trägt, der wirklichen Welt und ihrer Verführung.
Die Szene steigt ein mit dem Tages- und Arbeitsbeginn des Protagonisten, der sich deutlich vom gewöhnlichen Lebensrhythmus seiner Mitbürger abhebt, da Balzac mitten in der Nacht aufsteht und sich ans Werk macht. Als erstes Arbeits-utensil wird sodann von Zweig die auf die Körperlichkeit des Schreibenden zurückverweisende Bekleidung Balzacs en détail und rhetorisch ausgeschmückt geschildert. Der eigene menschliche Körper ist mehr noch als die Körperlichkeit der Schreibinstrumente Sitz und Ursprung diverser, auch konfligierender Widerstände. Die von Balzac mit großem Bedacht gewählte Arbeitskleidung soll ihn im Winter warm-halten, im Sommer vor Überhitzung bewahren und sie soll ihm jeglichen Eindruck der Einengung nehmen. Die Bedeutung, die der Kleidung durch diese ausführliche Schilderung zugeschrieben wird, führt das Schreiben als eminent körperliche Arbeit vor Augen. Der menschliche Körper wird als ein sensibles Gebilde anschaulich, das es vor diversem Unbill zu schützen gilt, damit sich die Schreibarbeit überhaupt vollziehen kann. Hinsichtlich körperlicher Bedürfnisbefriedigung und bezüglich damit einhergehender gedanklicher Ablenkungsmanöver hilft die Analogie der Schreibbekleidung mit einer Mönchskutte, den produktiven und sich ohne nennenswerten Unterlass vollziehenden Fortgang der Arbeit anzumahnen.
In weiterer Folge werden die Schreibutensilien genau unter die Lupe genommen:
Ein letzter Blick noch: ist alles bereit? Wie jeder wahrhaft fanatische Arbeiter ist Balzac pedantisch in seiner Arbeit, er liebt sein Werkzeug wie ein Soldat seine Waffe und muß es, ehe er sich in den Kampf wirft, geschliffen bereit wissen. Zur Linken liegen die unbeschriebenen Blätter geschichtet, Blätter eines ganz bestimmten, sorgfältig ausgewählten Papiers gleichmäßigen Formats. Das Papier muß leicht bläulich sein, um den Blick nicht zu blenden und bei der vielstündigen Arbeit zu ermüden. Die Blätter müssen besonders glatt sein, um dem fliegenden Kiel keinen Widerstand zu bieten, sie müssen dünn sein, denn wie viele hat er noch zu beschreiben in dieser Nacht, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig! Ebenso sorglich sind die Federn vorbereitet, Rabenfedern (er will keine andern); neben dem Tintenfaß – nicht dem kostbaren aus Malachit, das ihm Verehrer geschenkt haben, sondern dem einfachen seiner Studentenjahre – stehen noch zur Reserve ein bis zwei Flaschen Tinte. Jede Vorsorge muß getroffen werden, damit der ständige Fortgang der Arbeit nicht Abbruch leide.
Vorbildlich werden an dieser Stelle alle seitens der Schreibinstrumente zu befürchtenden Widerstände, die sich bei der Arbeit unter Umständen bieten, evoziert und zugleich wird der Versuch inszeniert, diesen Widerständen durch eine plan-mäßige, vorsorgliche Vorbereitung der Werkzeuge und mit diversen Kniffen und Schlichen die Stirn zu bieten. Alle mate-rialen Grundlagen, das Papier, die Tinte, die Schreibfedern, werden genau beschrieben und auf ihre Zweckdienlichkeit geprüft. Der Zweck, den sie erfüllen sollen, ist es, möglichst nicht den Schreibvorgang, der quasi als
Mit solchen narrativen Ausgestaltungen wie dieser umfangreichen Balzac-Schreib-Szene, aus der hier lediglich zwei Ausschnitte zitiert werden konnten, will Zweig den schriftstellerischen Schreibakt, eine Handlung, die sich in ihrer Prozessualität grundlegend im Unsichtbaren abspielt, anderen nahebringen und vermitteln. Er tut dies in seiner Funktion als Literat, aber er be-schreibt gerade nicht seine eigene Schreib-Szene, sondern die von anderen: Balzac, Dickens, Dostojewski, Tolstoi, Stendhal, Goethe, Kleist und Hölderlin figurieren als wichtige Beispiele für bewunderte ‚Genies‘, denen Zweig sein Schreiben widmet. Es ist eine Form des „nachschöpferischen Gestaltens“, das Zweig jenen Künstlern zuteilwerden lässt, die ihn im Rahmen des „Faszinosum[s] des geheimnisvollen Schöpferischen [...] nicht loslassen“ (Müller 2008: 14). Dass er dabei Formen eines Personenkults tangiert, klingt schon bei Daniela Strigl an, wenn sie schreibt, dass Zweig nicht nur den Künstler, sondern immer auch den Menschen bewundert (Strigl 2017: 272), und wird jüngst von Herwig Gottwald unter Bezugnahme auf Edgar Zilsel noch eindeutiger herausgestellt (Gottwald 2022: 84). An obiger Aufzählung fällt auf, dass alle genannten Autoren mit Friedrich Kittler gesprochen in das „Aufschreibesystem 1800“ gehören, wohingegen Zweig selbst dem „Aufschreibesystem 1900“ angehört (Kittler 1985). Den Postulaten Kittlers folgend, zeichnet sich mit diesem poetologisch-praxeologischen Epochenbruch eine interessante Linie in Zweigs Sujetfindung ab, die es unter Beibehaltung der Fokussierung auf Schreibbedingungen zu vertiefen gilt. Zu hinterfragen ist unter Einbezug seiner Sammelpraxis und der sich daraus ergebenden historischen Perspektivierung, ob der Wandel der Produktionsverhältnisse und des ‚Zeitgeistes‘ bei Zweig ihre Berücksichtigung finden und inwiefern Bezugnahmen auf veränderte Verhältnisse im Vergleich zur eigenen Gegenwart überhaupt eine Rolle spielen. Umgekehrt bieten Zweigs kreative Explorationen des Arbeitsprozesses früherer Autoren die Möglichkeit, Kittlers Konzept der Aufschreibesysteme von der Zweig-Philologie her kommend kritisch zu betrachten oder gegebenenfalls anhand von Zweig als einem bisher im Kontext von Aufschreibesystemen und Schreibszenen noch nicht berücksichtigten Autor zu bestätigen.
Da sich die Thematisierung von Kunstwerken und künstlerischer Produktivität wie ein roter Faden durch Zweigs Schreiben zieht, käme für nähere Untersuchungen des Komplexes bei Zweig eine kaum enden wollende Reihe an Texten verschiedenster Genres und Entstehungszusammenhänge in Frage. Für das Dissertationsvorhaben wurde eine engere Auswahl nicht nur im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung getroffen, sondern vor allem auch unter Berücksichtigung möglicher materieller Basisstudien anhand von Archivmaterial Zweigs und nach wie vor archivierter Dokumente seiner ehemaligen Autographensammlung (dokumentiert in Matuschek 2005) sowie außerdem im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang sehr spannende Kritik an Zweigs anscheinend aus der Zeit gefallenem affirmativen Genieglauben. Das Verhältnis von Zweig zur Genieästhetik wurde bisher noch nicht tiefgreifend untersucht, einzelne Bemerkungen dazu finden sich etwa bei Rüdiger Görner (2008: 40) und Karl Müller (2008: 15, 24). Eine erste umfassendere Beschäftigung mit diesem Themenkomplex liegt nun in Form von Einzelaufsätzen im Sammelband
Teil der Textauswahl für das Dissertationsprojekt sind die Künstlertrilogie
Für die Künstlertrilogie Freud, nicht gerade bekannt für seinen intensiven Austausch mit zeitgenössischen Künstlern, schätzte, um nicht zu sagen: überschätzte Stefan Zweig als Schriftsteller. Die Überschätzung hat indes Methode, denn Freud lobt den Schriftsteller Zweig, der mit großer Geläufigkeit das Terrain psychologischen Erzählens beherrscht, während er dessen psychologisches Wissen als vor-analytisch laienhaft einstuft und ihn so auf Distanz zur eigenen Domäne hält.
Bezüglich der Modellierung Goethes als Antagonisten und Bezugspunkt ist in erster Linie die Einleitung von
Bezüglich der Balzac-Rezeption Zweigs lassen sich die beiden Hauptinteressen des Dissertationsvorhabens idealtypisch miteinander verbinden, nämlich die Frage nach Schreibszenen und nach produktionsästhetischen Explorationen Zweigs, die auch den Rückgriff auf erhaltene Balzac-Archivalien aus Zweigs ehemaliger Sammlung miteinschließen, sowie materialorientierte Untersuchungen anhand von Zweigs eigenen textuellen Hinterlassenschaften. Für letztere sollen besonders die fragmentarische Balzac-Biographie sowie das