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Sammeln und Inszenieren: Stefan Zweigs Sammelleidenschaft als Movens seiner Erkundungen künstlerischer Produktivität


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Stefan Zweig und Inszenierungsformen kulturellen Erbes im deutschsprachigen Raum – lässt sich beides zusammendenken? Einen Vorschlag dafür liefert der Beitrag von Marion Garot in vorliegendem Dossier, der sich unter dem Titel Stefan Zweig „gardien de l’héritage“ européen mit Zweigs Biographien zu Erasmus von Rotterdam und Sebastian Castellio befasst (Garot 2022). Als ein Aspekt, der Zweig und die Frage nach den Inszenierungsmöglichkeiten und -formen von kulturellem Erbe des Abendlands verbindet, ist auch Zweigs Autographensammlung und die Art und Weise, wie er diese schriftstellerisch produktiv nutzte, anzusehen. Dass die Sammlung Zweigs als seine Verwaltung intellektu-ellen Erbes verstanden werden kann, hat Harry Zohn bereits 1952 beschrieben: „[Zweig] strove to explore, to synthesize, to appraise and appreciate – above all, to present in a vivid form the decisive factors – movements and personalities – which have determined the intellectual heritage of our world“ (Zohn 1952: 190).

Zweig war ein begeisterter Autographensammler, wobei diese Aktivität nicht schlichtweg als belanglose Nebenbeschäftigung, als rein dem persönlichen Amüsement dienendes ‚Hobby‘, sondern viel eher als eng mit seinem literarischen Schaffen verknüpft anzusehen ist. Auch diesbezüglich hat Zohns früher Beitrag bereits Klarstellung geleistet: „Far from being a mere hobby, this collection must be viewed as an integral part of Zweig's literary work“ (ebd.: 182). Dem Plädoyer Zohns entsprechend wird die Autographensammlung in der Kapiteleinteilung des Stefan-Zweig-Handbuchs als Bestandteil des Zweigschen Œuvres gewürdigt, wie ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt (Larcati / Renoldner / Wörgötter 2018: VIII). Dies weist darauf hin, dass sich der Bezug zwischen Zweigs Sammlung und seinem literarischen Schaffen nicht ausschließlich in der Erzählung Die unsichtbare Sammlung und in journalistischen Arbeiten zur Thematik des Sammelns erschöpft. Vielmehr bietet dies den Anstoß, eine Sichtweise zu erproben, wonach die Autographensammlung als Inspirationsquelle für ihn und als Erkenntnismöglichkeit für seine Darstellung und Untersuchung des künstlerischen Schaffens anderer genutzt werden kann. Darüber hinaus bietet die Sammlung im Sinne einer Strukturierungs- und Ordnungstätigkeit auch für Zweigs literarische Bestrebungen ein Fundament, auf dem eine bestimmte Weltsicht und ein gewisser Werteindex seine Grundlage finden kann.

Zweigs Sammelinteresse reicht mindestens ebenso weit zurück wie seine literarische Betätigung. Eine frühe Bekundung ist in einem Brief an seinen Jugendfreund Max Mell vom 12. Februar 1907 zu finden:

Ich freue mich schon sehr, Ihnen meine Schätze zeigen zu können. Zwar: wie bescheiden sind sie. Vorgestern war ich bei Max Kalbeck, um seine Sammlung zu sehn, […] tausend schöne Dinge, die ich wirklich gar nicht neidisch begehrte, die mich aber doch sehnsüchtig anfassten. Und zwei Tage vorher lag der Brief Kleist's in meiner Hand, den er eine Stunde vor dem Selbstmord mit Henriette Vogel gemeinsam schrieb. Nennen Sie das Sammelwahnsinn – aber ich war innerlich gepackt, wie selten im Theater. Schrift hat tatsächlich etwas fascinierendes für mich.

(Zweig an Mell, 12.02.1907)

Zweig ist zum Zeitpunkt dieses Briefes 26 Jahre alt und so-eben in seine erste eigene Wohnung in der Kochgasse im achten Gemeindebezirk Wiens gezogen. Das Zitat ist ein schöner Beleg dafür, wie prägend und wie grundlegend seine Begeisterung für Handschriften war, wobei er nicht verabsäumt – die Antwort seines Korrespondenzpartners antizipierend –, sein Bewusstsein darüber zum Ausdruck zu bringen, dass eine solche Leidenschaft nicht von allen seinen Schriftstellerkollegen nachvollzogen wird. Tatsächlich wird Sammeln (allerdings im Sinne einer Musealisierung) zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder und aus unterschiedlichen Beweggründen einer Kritik unterzogen, so etwa bei Ernst Jünger, Martin Heidegger und auch bei Walter Benjamin (Finkelde 2008: 248). Das namentlich von Jünger und Benjamin (die im Übrigen selbst als bedeutende Sammler in Erscheinung traten) kritisierte Phänomen (Finkelde 2006: 196f.) muss allerdings insofern als deutlich verschieden zur Sammelaktivität Zweigs verstanden werden, als sie Kritik an einem Vorgang der produktionshemmenden Akkumulation üben. Im Falle von Zweig ist hingegen das Sammeln sehr eng mit literarischer Produktion verknüpft. Dabei wird zu untersuchen sein, wie sich Zweigs Sammelverständnis und -interesse gegenüber demjenigen Benjamins und Jüngers vor ihrem jeweiligen historischen und soziopolitischen Ideen-horizont gestaltet.

In Anbetracht der Tatsache, dass Zweig zu diesem noch frühen Zeitpunkt seiner Sammlung wenig selbstbewusst ist, nennt er seine Passion Mell gegenüber verwerfend „Sammelwahnsinn“. Es handelt sich allerdings um einen „Wahnsinn“, der ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird. Die grundlegende Ambiguität des Begriffs des „Besessenen“, der einerseits als Objektbezeichnung auf den materiellen Besitz, andererseits aber auch als Subjektbezeichnung auf den ‚Besessenen‘ im Sinne eines manischen Sammlers verweist, wurde bereits aufgezeigt (Vedder 2014: 142f.). Bemerkenswert ist mit Blick auf die Performativität und Inszenierungen des Schreibens forcierende Schreibszenen-Forschung, dass Zweig die Ergriffenheit, die für ihn von Autographen wie dem Abschiedsbrief Heinrich von Kleists ausgeht, mit der rezeptionsästhetischen Spannung eines Theaterbesuchs in Verbindung bringt.

Bis zur Emigration nach Amerika im Jahr 1940 und somit bis etwa anderthalb Jahre vor seinem Lebensende hatte Zweig seine Sammlung mit großer Beflissenheit und Professionalität weitergeführt (Matuschek 2018; Matuschek 2005). Sowohl durch Schenkungen zahlreicher persönlich mit ihm bekannter Künstler als auch aufgrund seiner wachsamen Beobachtung diverser Kataloge und Auktionen im Antiquariatshandel – anfangs noch hauptsächlich auf dem deutschen und dem französischen, in der englischen Exilzeit vor allem auf dem britischen Markt – konnte eine ausgesprochen umfangreiche Sammlung entstehen. Die Sammlung war stets dynamischen Veränderungen unterworfen. Eine wichtige Zäsur stellt vor allem Zweigs Emigration nach London 1934 dar, da er sich in diesem Zusammenhang entschloss, einen beträchtlichen Teil seiner Sammlung zu veräußern.

Zweigs Sammelaktivität folgt nicht ausschließlich einem kontemplativen Genuss und ist auch nicht hinlänglich mit einem Impetus des Haben-Wollens zu erklären, womit sie sich Ulrike Vedder zufolge von derjenigen Goethes abhebt, wenngleich Renata Schellenberg davon spricht, dass auch Goethes Sammlung grundlegend einer Wissenserweiterung und damit einem Erkenntnisinteresse und nicht allein einem akkumulativen Zweck folgt (Vedder 2014: 148f.; Schellenberg 2012: 166). Dass aber die Zugangsweise zu den Autographen bei Goethe eine andere ist als bei Zweig und dass auch ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse anders gelagert ist, ist durchaus anzunehmen, und es wird zu untersuchen sein, wie sich diese Differenz im Detail gestaltet.

Zweigs Beschäftigung mit Autographen ist immer auch auf epistemologische Zwecke gerichtet: Es geht ihm, wie er insbesondere in seinem 1939 als Vortrag gehaltenen Text Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens darlegt (Zweig 2007 [1984]), um ziemlich konkrete Erkenntnisse über die künstlerische Produktionsweise verschiedener Schriftsteller, Musiker und bildender Künstler und um eine darauf aufbauende Bildung von Typologien. Das Studium der handschriftlichen Dokumente ist für ihn außerdem eine Inspirationsquelle für sein eigenes Schreiben und findet sich in seinem Œuvre in Form von zahlreichen Künstlerbiographien, Künstlernovellen und weiteren Texten theoretischer wie literarischer Natur, in denen er sich teilweise sehr konkret auf bestimmte Autographen bezieht, wieder. In diesem Zusammenhang ist aber auch zu hinterfragen, ob die umfangreiche Sammlung Zweigs nicht nur produktionsfördernd, sondern ganz im Gegenteil auch produktionshemmend wirken konnte.

In vielen seiner Werke thematisiert Zweig implizit oder explizit den künstlerischen Schaffensprozess im Sinne des In-Szene-Setzens, der Inszenierung des Schreibens selbst – mit anderen Worten, im Sinne einer ‚Schreibszene‘. Der Begriff der ‚Schreibszene‘ als methodischem Operativ geht auf einen Aufsatz Rüdiger Campes zurück (Campe 1991). Er wurde im Forschungsprojekt Zur Genealogie des Schreibens auf Initiative von Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti im Rahmen mehrerer Tagungen und entsprechender Sammelbände formgebend ausdifferenziert. Dabei kam es zur Unterscheidung einer ‚Schreibszene‘ ohne und einer ‚Schreib-Szene‘ mit Bindestrich. Mit ‚Schreibszene‘ wird die Verbindung von Sprache, Instrumentalität und Geste, oder, anders ausgedrückt, die Verbindung von Semantik, Technologie und Körperlichkeit des Schreibens bezeichnet. Schreib-Szene mit Bindestrich soll die Selbstthematisierung und Selbstreflexion des Schreibens zum Ausdruck bringen (Stingelin 2004: 8; Giuriato 2005: 8; Giuriato / Stingelin / Zanetti 2008: 12).

Die terminologischen Bestimmungen im Rahmen der Schreibszenenforschung verbinden sich unmittelbar mit Theater und Dramaturgie; Zweig selbst hat, wie oben festgestellt, im Brief an Max Mell das Theater als Vergleichsbeispiel herangezogen, um seinem Staunen Handschriften gegenüber Ausdruck zu verleihen. Mit seinen literarischen Ausgestaltungen holt Zweig den Akt des Schreibens vor den Vorhang – er entdeckt ihn

Zur Spezifik des Vorhangs als Symbol in Verbindung mit Schreibszenen der Goethezeit vgl. Link 2004.

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Paradigmatisch für Zweigs Beschäftigung mit dem Künstlertum ist seine Auseinandersetzung mit Balzac. Dass er sich damit durchaus in einen gewissen Zeitdiskurs einschreibt, zeigt sich daran, dass diese Balzac-Begeisterung in Kreisen Jung-Wiens und besonders von Hugo von Hofmannsthal ebenfalls kultiviert wurde (Hemecker / Huemer 2009: 253). Teilweise wird in der Forschung auch die Ansicht vertreten, dass Balzac für Zweig auf einer persönlicheren Ebene seines individuellen Schaffens besondere Bedeutung zukam, etwa indem er mit den Baumeistern der Welt versucht habe, Balzacs Großprojekt der Comédie humaine nachzueifern – dies aber nur unzulänglich umsetzen konnte (Reffet 2008: 71). Bezeichnend ist daher, dass in Zweigs unabgeschlossen gebliebener Balzac-Biographie die Thematik schriftstellerischen Schaffens wiedergefunden werden kann und dass eine sehr umfangreiche Passage die Schreibarbeit Balzacs rhetorisch gewandt inszeniert. Diese Passage bietet sich an, um gemäß den Kriterien und Überlegungen der Schreibszenen-Forschung in Augenschein genommen zu werden und ist, wenn sie als eine ‚Schreibszene‘ begriffen wird, ein in ihrer Länge, Ausführlichkeit und ihrem Detailreichtum besonders markantes Beispiel einer solchen. Der Aspekt des Widerstands, als grundlegende Kategorie von der Schreibszenenforschung von vornherein fruchtbar gemacht (Stingelin 2004: 11f.), ist auch hier von zentraler Relevanz:

Ein leises Pochen des Dieners an der Tür hat ihn geweckt. Balzac ist aufgestanden und nimmt seine Kutte. Aus jahrelanger Erfahrung hat er sich diese Kleidung als die geeignetste für seine Arbeit gewählt. Wie der Krieger seine Rüstung, wie der Bergmann sein Ledergewand, gemäß der Forderung seines Berufs, hat der Schriftsteller sich diese weiße, lange Robe aus warmem Kaschmir im Winter, aus feiner Leinwand im Sommer gewählt, weil sie leicht jeder Bewegung sich anschmiegt, den Hals frei läßt zum Atmen, gleichzeitig wärmend und doch nicht drückend, und vielleicht auch weil sie, ähnlich wie die Kutte den Mönch, ihn daran erinnern mag, daß er im Dienst ist, zugeschworen einem höheren Gebot und abgeschworen, solange er sie trägt, der wirklichen Welt und ihrer Verführung.

(Zweig 1990 [1946]: 181)

Die Szene steigt ein mit dem Tages- und Arbeitsbeginn des Protagonisten, der sich deutlich vom gewöhnlichen Lebensrhythmus seiner Mitbürger abhebt, da Balzac mitten in der Nacht aufsteht und sich ans Werk macht. Als erstes Arbeits-utensil wird sodann von Zweig die auf die Körperlichkeit des Schreibenden zurückverweisende Bekleidung Balzacs en détail und rhetorisch ausgeschmückt geschildert. Der eigene menschliche Körper ist mehr noch als die Körperlichkeit der Schreibinstrumente Sitz und Ursprung diverser, auch konfligierender Widerstände. Die von Balzac mit großem Bedacht gewählte Arbeitskleidung soll ihn im Winter warm-halten, im Sommer vor Überhitzung bewahren und sie soll ihm jeglichen Eindruck der Einengung nehmen. Die Bedeutung, die der Kleidung durch diese ausführliche Schilderung zugeschrieben wird, führt das Schreiben als eminent körperliche Arbeit vor Augen. Der menschliche Körper wird als ein sensibles Gebilde anschaulich, das es vor diversem Unbill zu schützen gilt, damit sich die Schreibarbeit überhaupt vollziehen kann. Hinsichtlich körperlicher Bedürfnisbefriedigung und bezüglich damit einhergehender gedanklicher Ablenkungsmanöver hilft die Analogie der Schreibbekleidung mit einer Mönchskutte, den produktiven und sich ohne nennenswerten Unterlass vollziehenden Fortgang der Arbeit anzumahnen.

In weiterer Folge werden die Schreibutensilien genau unter die Lupe genommen:

Ein letzter Blick noch: ist alles bereit? Wie jeder wahrhaft fanatische Arbeiter ist Balzac pedantisch in seiner Arbeit, er liebt sein Werkzeug wie ein Soldat seine Waffe und muß es, ehe er sich in den Kampf wirft, geschliffen bereit wissen. Zur Linken liegen die unbeschriebenen Blätter geschichtet, Blätter eines ganz bestimmten, sorgfältig ausgewählten Papiers gleichmäßigen Formats. Das Papier muß leicht bläulich sein, um den Blick nicht zu blenden und bei der vielstündigen Arbeit zu ermüden. Die Blätter müssen besonders glatt sein, um dem fliegenden Kiel keinen Widerstand zu bieten, sie müssen dünn sein, denn wie viele hat er noch zu beschreiben in dieser Nacht, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig! Ebenso sorglich sind die Federn vorbereitet, Rabenfedern (er will keine andern); neben dem Tintenfaß – nicht dem kostbaren aus Malachit, das ihm Verehrer geschenkt haben, sondern dem einfachen seiner Studentenjahre – stehen noch zur Reserve ein bis zwei Flaschen Tinte. Jede Vorsorge muß getroffen werden, damit der ständige Fortgang der Arbeit nicht Abbruch leide.

(Zweig 1990 [1946]: 183)

Vorbildlich werden an dieser Stelle alle seitens der Schreibinstrumente zu befürchtenden Widerstände, die sich bei der Arbeit unter Umständen bieten, evoziert und zugleich wird der Versuch inszeniert, diesen Widerständen durch eine plan-mäßige, vorsorgliche Vorbereitung der Werkzeuge und mit diversen Kniffen und Schlichen die Stirn zu bieten. Alle mate-rialen Grundlagen, das Papier, die Tinte, die Schreibfedern, werden genau beschrieben und auf ihre Zweckdienlichkeit geprüft. Der Zweck, den sie erfüllen sollen, ist es, möglichst nicht den Schreibvorgang, der quasi als écriture automatique abrollt, daran zu hindern, sich zu vollziehen. Doch gerade die akribische Beschreibung all der materialen Voraussetzungen ist ein unübersehbarer Hinweis auf das insgeheime Wissen um und die Angst vor dem dynamischen Eigenleben der Körper, die Illusion einer erhöhten Kontrolle projiziert gerade die „nicht-kontrollierbare Instabilität in diesem Beziehungsgefüge“ (Giuriato 2005: 14) des Schreibens als Spiegelreflexion auf Zweigs eigene Schreib-Szene.

Mit solchen narrativen Ausgestaltungen wie dieser umfangreichen Balzac-Schreib-Szene, aus der hier lediglich zwei Ausschnitte zitiert werden konnten, will Zweig den schriftstellerischen Schreibakt, eine Handlung, die sich in ihrer Prozessualität grundlegend im Unsichtbaren abspielt, anderen nahebringen und vermitteln. Er tut dies in seiner Funktion als Literat, aber er be-schreibt gerade nicht seine eigene Schreib-Szene, sondern die von anderen: Balzac, Dickens, Dostojewski, Tolstoi, Stendhal, Goethe, Kleist und Hölderlin figurieren als wichtige Beispiele für bewunderte ‚Genies‘, denen Zweig sein Schreiben widmet. Es ist eine Form des „nachschöpferischen Gestaltens“, das Zweig jenen Künstlern zuteilwerden lässt, die ihn im Rahmen des „Faszinosum[s] des geheimnisvollen Schöpferischen [...] nicht loslassen“ (Müller 2008: 14). Dass er dabei Formen eines Personenkults tangiert, klingt schon bei Daniela Strigl an, wenn sie schreibt, dass Zweig nicht nur den Künstler, sondern immer auch den Menschen bewundert (Strigl 2017: 272), und wird jüngst von Herwig Gottwald unter Bezugnahme auf Edgar Zilsel noch eindeutiger herausgestellt (Gottwald 2022: 84). An obiger Aufzählung fällt auf, dass alle genannten Autoren mit Friedrich Kittler gesprochen in das „Aufschreibesystem 1800“ gehören, wohingegen Zweig selbst dem „Aufschreibesystem 1900“ angehört (Kittler 1985). Den Postulaten Kittlers folgend, zeichnet sich mit diesem poetologisch-praxeologischen Epochenbruch eine interessante Linie in Zweigs Sujetfindung ab, die es unter Beibehaltung der Fokussierung auf Schreibbedingungen zu vertiefen gilt. Zu hinterfragen ist unter Einbezug seiner Sammelpraxis und der sich daraus ergebenden historischen Perspektivierung, ob der Wandel der Produktionsverhältnisse und des ‚Zeitgeistes‘ bei Zweig ihre Berücksichtigung finden und inwiefern Bezugnahmen auf veränderte Verhältnisse im Vergleich zur eigenen Gegenwart überhaupt eine Rolle spielen. Umgekehrt bieten Zweigs kreative Explorationen des Arbeitsprozesses früherer Autoren die Möglichkeit, Kittlers Konzept der Aufschreibesysteme von der Zweig-Philologie her kommend kritisch zu betrachten oder gegebenenfalls anhand von Zweig als einem bisher im Kontext von Aufschreibesystemen und Schreibszenen noch nicht berücksichtigten Autor zu bestätigen.

Da sich die Thematisierung von Kunstwerken und künstlerischer Produktivität wie ein roter Faden durch Zweigs Schreiben zieht, käme für nähere Untersuchungen des Komplexes bei Zweig eine kaum enden wollende Reihe an Texten verschiedenster Genres und Entstehungszusammenhänge in Frage. Für das Dissertationsvorhaben wurde eine engere Auswahl nicht nur im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung getroffen, sondern vor allem auch unter Berücksichtigung möglicher materieller Basisstudien anhand von Archivmaterial Zweigs und nach wie vor archivierter Dokumente seiner ehemaligen Autographensammlung (dokumentiert in Matuschek 2005) sowie außerdem im Hinblick auf die in diesem Zusammenhang sehr spannende Kritik an Zweigs anscheinend aus der Zeit gefallenem affirmativen Genieglauben. Das Verhältnis von Zweig zur Genieästhetik wurde bisher noch nicht tiefgreifend untersucht, einzelne Bemerkungen dazu finden sich etwa bei Rüdiger Görner (2008: 40) und Karl Müller (2008: 15, 24). Eine erste umfassendere Beschäftigung mit diesem Themenkomplex liegt nun in Form von Einzelaufsätzen im Sammelband Figures de l’artiste dans l’esthétique de Stefan Zweig / Stefan Zweigs Künstlerästhetik vor (Larcati / Pesnel 2022; darin besonders Gottwald 2022). Dass Zweig leidenschaftlich Autographen sammelte, ist ein wichtiges Indiz in diesem Kontext, hat doch das Sammeln erst durch die Geniebewegung im 18. Jahrhundert einen merklichen Aufschwung erfahren (Plachta 2010: 82).

Teil der Textauswahl für das Dissertationsprojekt sind die Künstlertrilogie Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin, Kleist, Nietzsche (1925), die Beschäftigung Zweigs mit Balzac, wozu neben kleineren Aufsätzen der Essay Drei Meister. Balzac, Dickens, Dostojewski (1920) sowie vor allem die darauf aufbauende fragmentarisch gebliebene Balzac-Biographie gehören, und – als einziges nicht historisch-biographisch angelegtes Projekt – das letzte, ursprünglich unbetitelte Romanfragment, das von Knut Beck 1991 erstmals unter dem Titel Clarissa herausgegeben wurde. Die Textauswahl für das Dissertationsprojekt versteht sich aber nicht als exkludierend, vielmehr ist durchaus die Option eines Einschlusses weiterer im gegebenen Zusammenhang interessanter Bezugstexte mitbedacht. Der Schwerpunkt der Auswahl auf fragmentarische Arbeiten deutet an, dass in Verbindung mit den Untersuchungen von Schreibszenen/Schreib-Szenen in Zweigs Texten auch eine grundlegend materialorientierte und an editionsphilologischen Fragestellungen interessierte Zugangsweise von zentraler Bedeutung ist.

Für die Künstlertrilogie Der Kampf mit dem Dämon, die mit Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist und Friedrich Nietzsche ausschließlich deutschsprachige Autoren versam-melt, sind neben den Genannten auch Sigmund Freud und Johann Wolfgang von Goethe von Bedeutung. Freud, weil das Buch ihm gewidmet ist und Goethe, weil er für Zweig das auch bildlich veranschaulichte Gegenprinzip zum dämonisch geprägten Kunstschaffen repräsentiert. Zur Widmung an Freud wurde bereits kritisch angemerkt, dass sie inso-fern irreführend ist, als sie eine enge Ausrichtung an Freuds Psychoanalyse suggeriert, die allerdings in Der Kampf mit dem Dämon vergeblich zu suchen ist: „Tatsächlich könnte nichts weiter von Freuds analytischem Ansatz entfernt sein als Zweigs Versuch, das Schöpferische auf der Grundlage der Empathie in Hölderlin, Kleist und Nietzsche freizulegen“ (Görner 2018: 658). Freud umgekehrt lobte Zweigs literarische Verfahren mehrfach und grenzte ihn gerade dadurch von seinen eigenen Methoden ab:

Freud, nicht gerade bekannt für seinen intensiven Austausch mit zeitgenössischen Künstlern, schätzte, um nicht zu sagen: überschätzte Stefan Zweig als Schriftsteller. Die Überschätzung hat indes Methode, denn Freud lobt den Schriftsteller Zweig, der mit großer Geläufigkeit das Terrain psychologischen Erzählens beherrscht, während er dessen psychologisches Wissen als vor-analytisch laienhaft einstuft und ihn so auf Distanz zur eigenen Domäne hält.

(Wagner 2003: 213)

Bezüglich der Modellierung Goethes als Antagonisten und Bezugspunkt ist in erster Linie die Einleitung von Der Kampf mit dem Dämon heranzuziehen, die hauptsächlich aus einem kontrastiven Vergleich des Lebenswandels und Kunstschaffens von Goethe mit jenen der drei titelgebenden Künstler besteht. Gegen Ende dieses Textes zieht Zweig zur Veranschaulichung geometrische Beispiele heran. Goethes Leben und Schaffen sei demnach als Kreis auszudrücken: „Goethes Lebensformel bildet der Kreis: geschlossene Linie, volle Run-dung und Umfassung des Daseins, ewige Rückkehr in sich selbst, gleiche Distanz zum Unendlichen vom unverrückbaren Zentrum, allseitiges Wachstum von innen her“ (Zweig 2004 [1951]: 23). Hölderlin, Kleist und Nietzsche finden dagegen in der Parabel die geometrische Entsprechung ihrer Wesenhaftigkeit: „Die Form der Dämonischen dagegen deutet die Parabel: rascher, schwunghafter Aufstieg in einer einzigen Richtung, in der Richtung gegen das Obere, Unendliche empor, steile Kurve und jäher Absturz“ (Zweig 2004 [1951]: 23). Nicht zuletzt mit Blick auf Kittlers Aufschreibesysteme ergibt sich hinsichtlich des zentralen Postulats einer Zäsur respektive eines Epochenbruchs um 1900 aus der Figurenkonstellation in Der Kampf mit dem Dämon – die sich auch versuchsweise dramaturgisch begreifen ließe – eine spannungsvolle Ausgangslage zur Betrachtung Zweigscher produktionsästhetischer Prämissen und Theoreme vor dem Hintergrund von Expressionismus und Psychoanalyse. Ein weiterer Aspekt, dessen nähere Betrachtung in Bezug auf dieses Werk fruchtbar erscheint, ist die Frage nach Zusammenhängen von Stefan Zweigs Schreiben mit Theorien und Ansatzpunkten, welche für die Germanistik um die Jahrhundertwende und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts von Bedeutung waren. Anders gesagt, geht es um die Frage nach der Verortung seiner Studie zwischen philologischem Positivismus einerseits und Geistesgeschichte Diltheyscher Prägung andererseits. Auf Berührungen Zweigs mit Positivismus und Geistesgeschichte haben Karl Müller (2018: 34) und Werner Michler (2017) hingewiesen. In einem früheren Beitrag Müllers finden sich zudem zahlreiche Hinweise auf die Forschungslage zu Hölderlin, Kleist und Nietzsche Mitte der 1920er-Jahre, worunter sich einige Vertreter der Geistesgeschichte befinden, und auch Zweigs Auseinandersetzung mit dieser Literatur wird angesprochen (Müller 2008: 22f.).

Bezüglich der Balzac-Rezeption Zweigs lassen sich die beiden Hauptinteressen des Dissertationsvorhabens idealtypisch miteinander verbinden, nämlich die Frage nach Schreibszenen und nach produktionsästhetischen Explorationen Zweigs, die auch den Rückgriff auf erhaltene Balzac-Archivalien aus Zweigs ehemaliger Sammlung miteinschließen, sowie materialorientierte Untersuchungen anhand von Zweigs eigenen textuellen Hinterlassenschaften. Für letztere sollen besonders die fragmentarische Balzac-Biographie sowie das Clarissa-Romanfragment herangezogen werden, entsprechendes Archivmaterial befindet sich in Fredonia (Daniel A. Reed Library) und in Salzburg (Literaturarchiv Salzburg). Im Falle des Romanfragments gewinnen die Materialstudien und dazugehörige editionsphilologische Überlegungen durch eine geplante Neuedition innerhalb der Salzburger Ausgabe des erzählerischen Werkes von Stefan Zweig an praxisbezogener Relevanz.

eISSN:
2545-3858
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