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Current practice of physical therapists in outpatient stroke rehabilitation: a cross-sectional survey in Baden-Württemberg and Thuringia / Arbeitsweise von Physiotherapeut*innen in der ambulanten Schlaganfallrehabilitation: eine Querschnittsumfrage in Baden-Württemberg und Thüringen


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EINLEITUNG

Nach einem Schlaganfall treten häufig motorische Defizite auf (Langhorn 2009), die die Aktivitäten des täglichen Lebens, die Lebensqualität und Teilhabe der betroffenen Personen negativ beeinflussen können (Godwin, 2013, Heuschmann 2010, Ward 2005, Töns et al 2009). Die Gehfähigkeit – hier vor allem die Gehgeschwindigkeit und die Gehdistanz – ist dabei besonders häufig beeinträchtigt (Brogärdh et al. 2012). Dementsprechend nennen Menschen nach Schlaganfall die Verbesserung der Mobilität als ein zentrales Ziel in der Rehabilitation (Rice et al. 2017, Paanalahti et al. 2018, Lee et al. 2010). Dabei sind die Verbesserung von Einschränkungen der Mobilität, wie sich bewegen, im Stehen Gleichgewicht halten, selbstständiges Gehen oder Autofahren, besonders wichtige Ziele von betroffenen Personen und deren Angehörigen (Krishnan et al. 2018). Zur Verbesserung solcher Mobilitätseinschränkungen werden in nationalen und internationalen Leitlinien Behandlungsmethoden empfohlen, die Prinzipien des motorischen Lernens integrieren, vor allem das hoch-repetitive, aufgabenorientierte Training (Dohle et al., 2015; Royal Dutch Society for Physical Therapy, 2014). In Leitlinien wird außerdem empfohlen, eine auf standardisierten Assessments beruhende Untersuchung und Verlaufsdokumentation auf Basis der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) durchzuführen (Deutsche Gesellschaft für Neurologie, 2018; Royal Dutch Society for Physical Therapy, 2014). Die Umsetzung von Empfehlungen aus Schlaganfall-Leitlinien gehen u. a. mit einer verbesserten Mobilität einher (Pogrebnoy & Dennett, 2020). Die ärztliche Verordnung von ambulanter Physiotherapie für Menschen nach einem Schlaganfall in Deutschland erfolgt nach dem Heilmittelkatalog. Dieser sieht für Personen mit Erkrankungen des Zentralnervensystems die Heilmittel Krankengymnastik – Zentrales Nervensystem (KG-ZNS nach Bobath, Vojta, Propriozeptiver neuromuskulärer Fazilitation PNF) oder Allgemeine Krankengymnastik (KG) als vorrangige Heilmittel vor (Heilmittel-Richtlinie und Heilmittelkatalog, 2020). Im Gegensatz zur Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie und Ergotherapie ist eine Erstuntersuchung in der Leistungsbeschreibung für die Physiotherapie derzeit nicht vorgesehen (Verband der Ersatzkassen e. V. vdek, 2021). Inwiefern unter den durch den Heilmittelkatalog vorgegebenen Rahmenbedingungen eine leitliniengerechte und evidenzbasierte Physiotherapie erfolgen kann, ist fraglich. Die Diskrepanz zwischen den Vorgaben des Heilmittelkatalogs und den Empfehlungen der Leitlinien könnte eine suboptimale ambulante Versorgung von Menschen nach Schlaganfall implizieren. Ergebnisse einer Umfrage zur therapeutischen Arbeitsweise aus dem Jahr 2005 zeigen, dass Physio- und Ergotherapeut*innen, die im ambulanten Setting Menschen nach Schlaganfall behandeln, vor allem die traditionellen Ansätze Bobath und PNF anwenden (Barzel et al., 2007). Seit der Datenerhebung von Barzel und Kolleg*innen aus dem Jahr 2005 wurden in Deutschland zahlreiche Bachelor-Studiengänge für Physiotherapie etabliert (Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe e. V. HVG, 2018). Dies könnte zu einer Veränderung in der Praxis hin zu einer evidenzbasierten Therapie geführt haben. Zum Beispiel zeigen aktuelle – nicht auf Schlaganfall bezogene – Daten aus dem deutschsprachigen Raum, dass Physiotherapeut*innen mit einem akademischen Abschluss, Leitlinien oder standardisierte Assessments häufiger anwenden als Therapeut*innen mit Ausbildung (Braun et al., 2018; Diermayr et al., 2015). Dementsprechend zeigt sich auch in Ländern mit einer akademischen Tradition, dass Therapeut*innen mehrheitlich leitlinienkonform arbeiten; u. a. wenden Ergo- und Physiotherapeut*innen in Dänemark primär Maßnahmen aus der nationalen Schlaganfall-Leitlinie (Kristensen et al., 2016) und 97 % indischer und 89 % kanadischer Physiotherapeut*innen standardisierte Assessments in der Behandlung von Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen an (Demers et al., 2019).

Auch die Veröffentlichung einer nationalen Leitlinie in Deutschland, der Leitlinie zur Rehabilitation der Mobilität nach Schlaganfall (ReMoS), im Jahr 2015 (Dohle et al., 2015) könnte das leitlinienorientierte Arbeiten gefördert haben (Lynch et al., 2021).

Das Ziel der vorliegenden Studie war daher, Daten zur aktuellen Arbeitsweise von Physiotherapeut*innen in der ambulanten Schlaganfallrehabilitation in Deutschland am Beispiel der Bundesländer Baden-Württemberg und Thüringen zu erheben. Konkret erfasst die Studie anhand eines Fallbeispiels das Vorgehen in der physiotherapeutischen Untersuchung und Behandlung. Kenntnisse der therapeutischen Arbeitsweise sind ein erster, notwendiger Schritt, eine mögliche Lücke zwischen Forschung und Praxis bezogen auf therapeutische Inhalte zu schließen.

METHODE

Eine Online-Umfrage wurde als Querschnittuntersuchung durchgeführt. Die Methodik und Resultate sind in Anlehnung an die Checklist for Reporting Results of Internet E-Surveys (CHERRIES) dargestellt (Eysenbach, 2004). Die Studie folgt den Vorgaben der Deklaration von Helsinki (2013). Sie wurde der Ethikkommission des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK) e. V. zur ethisch-rechtlichen Begutachtung vorgelegt und von dieser bewilligt (Ethikkommissionsvorlagenummer: 2018–01).

Teilnehmende und Rekrutierung

Eingeschlossen wurden (1) staatlich anerkannte Physiotherapeut*innen, die in Baden-Württemberg bzw. Thüringen arbeiten, (2) in der ambulanten physiotherapeutischen Versorgung tätig sind und (3) pro Jahr mindestens drei Patient*innen mit Schlaganfall behandeln. Dieses relativ niedrige Kriterium wurde gewählt, um die Anzahl potenziell Teilnehmender, gerade aus Praxen ohne Schwerpunkt bzw. aus Praxen in kleineren Ortschaften, zu erweitern. In einer breit gestreuten Stichprobenauswahl wurden (1) E-Mail-Einladungen versendet sowie (2) Facebook-Posts in relevanten physiotherapeutischen Gruppen (Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK) e. V., Anatomie & Physiotherapie, Thiemeliebtphysiotherapeuten, Physiotherapie Deutschland, physiotherapeuten.de) und (3) Posts auf physiotherapeutischen Webseiten (Webseite der Landesverbände des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK) e. V. Baden-Württemberg und Thüringen) gesetzt. Die E-Mail-Adressen wurden über die Therapeut*innen-Suchmaschine der Webseiten des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK) e. V. (n=2807) und des Bundesverbandes selbstständiger Physiotherapeuten (IFK) e. V. (n=294) extrahiert. Zusätzlich wurden E-Mail-Adressen von Physiotherapie-Praxen über das Register der Gelben Seiten identifiziert (n=2831), um auch Nicht-Mitglieder der Berufsverbände zu erreichen.

Entwicklung des Fragebogens

Der Fragebogen wurde über ein mehrschrittiges Verfahren und vor dem Hintergrund entwickelt, Daten für ein anschließendes Implementierungsprojekt zu generieren mit dem Ziel, die ambulante Versorgung von Menschen mit Schlaganfall zu optimieren. Der knowledge-to-action-Zyklus diente hierbei als theoretischer Rahmen (Graham et al., 2006).

Am Beginn dieses Zyklus steht die Identifikation des Problems (identify problem) und die Beschreibung einer möglichen Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis (determine know-do gap) (Graham et al., 2006).

Grundlage für die erste Fragebogenversion waren dementsprechend Umfragen zur Umsetzung der evidenzbasierten Praxis in der Physiotherapie (u.a. Diermayr et al., 2015), psychologische Konstrukte zur Verhaltensänderung (Michie et al., 2005), Richtlinien aus dem Heilmittelkatalog (Heilmittel-Richtlinie und Heilmittelkatalog, 2020) sowie aktuelle deutsche und niederländische Leitlinien (Dohle et al., 2015; Royal Dutch Society for Physical Therapy, 2014). Die niederländische Leitlinie wurde einbezogen, da sie ausschließlich und konkrete physiotherapie-spezifische Empfehlungen ausspricht.

In Expert*innen-Interviews wurden die Augenschein- und Inhaltsvalidität des Fragebogens etabliert. Dafür wurden fünf Physiotherapeut*innen mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Schlaganfallbehandlung und aktueller Lehr-/Fortbildungstätigkeit mittels eines halbstrukturierten Interviewleitfadens persönlich oder telefonisch befragt. Nach einer offenen Frage zu relevanten Faktoren und Aspekten für die Darstellung der derzeitigen physiotherapeutischen Praxis wurden die Expert*innen gebeten, Feedback auf die erste Fragebogenversion zu geben. Hierbei wurde die Technik des Lauten Denkens aus dem Kognitiven Interview verwendet (Lenzner et al., 2014). Außerdem wurde die Relevanz der einzelnen Fragebogen-Items über eine Skala von 1 (= sehr relevant) bis 6 (= irrelevant) erhoben. Die Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufgenommen. Kommentare der Expert*innen sowie Items mit einer Bewertung von ≥ 3 wurden in der Autor*innen-Gruppe diskutiert und entsprechende Änderungen in eine zweite Fragebogenversion eingearbeitet.

In einer Pilottestung wurde diese Version mithilfe einer Fokusgruppendiskussion mit fünf Physiotherapeut*innen, die der späteren Zielgruppe entsprachen, auf Verständlichkeit und Benutzerfreundlichkeit geprüft. Die offene Gruppendiskussion wurde ebenfalls mit einem Diktiergerät aufgenommen. Zwei Autor*innen hörten die Audiodateien und notierten die Änderungsvorschläge und Bedenken der Gruppe. Diese Notizen wurden anschließend verwendet, um in der Autor*innengruppe über die Änderungen zu entscheiden und die finale Fragebogenversion zu erstellen. Abschließend wurde diese finale Fragebogenversion von zwei unabhängigen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen auf deren Benutzerfreundlichkeit, technische Funktionalität und Ausfülldauer überprüft.

Fragebogen

Der finale Fragebogen bestand aus 39 Fragen, die auf 22 Seiten angeordnet waren (1–6 Fragen/Seite). Der Fragebogen enthielt Filterfragen; die einzelnen Fragen wurden nicht randomisiert.

Zu Beginn wurden die Teilnehmenden gebeten, anhand eines konkreten Fallbeispiels (siehe Abbildung 1) bis zu drei Methoden in Bezug auf die Untersuchung sowie die Behandlung zu nennen, die sie auf den Fall anwenden würden. Im Fokus des fiktiven, jedoch typischen Falls standen Einschränkungen der Mobilität mit positiven („verkrampft“) und negativen („schwach“) Ausprägungen innerhalb des Upper Motor Neuron Syndroms, zu dem auch der Schlaganfall gezählt wird (Thibaut et al., 2013). Die Darstellung des Falles orientierte sich an der ICF. Fallbeispiele mit Fragen zum therapeutischen Vorgehen sind eine nützliche und valide Methode, die Arbeitsweise in der Praxis darzustellen (Peabody et al., 2000) und werden auch in internationalen Umfragen zur Darstellung der physio- und ergotherapeutischen Praxis eingesetzt (Holden et al., 2019; Korner-Bitensky et al., 2011).

Abbildung 1

Fallbeispiel.

Der Fragebogen beinhaltete außerdem Items zu Kenntnis und Anwendungshäufigkeit von Assessments und Behandlungsmaßnahmen in Bezug auf das aufgabenorientierte Zirkeltraining in der Gruppe, Fragen zu organisatorischen Ressourcen, zum Heilmittelkatalog und zu demografischen Daten. Die vorliegende Arbeit fokussiert auf die Ergebnisse der offenen Fragen zum Fallbeispiel.

Datenerhebung

Der Fragebogen wurde mit dem Online-Tool „SoSci Survey“ erstellt. Zur Erhöhung der Rücklaufquote wurde ein mehrstufiges E-Mail-Kontaktierungsverfahren eingesetzt; auch die Facebook-Posts wurden mehrmals gesetzt. Die Umfrage war vom 14.09.2018 bis zum 19.10.2018 geöffnet. Die Teilnahme an der offenen Umfrage war freiwillig; finanzielle Anreize gab es keine. Die IP-Adressen der Teilnehmenden wurden nicht gespeichert; außerdem wurden keine Cookies gesetzt. Daher konnte die Kennzahl des einmaligen Website-Besuchers nicht errechnet werden. Die Umfrage wurde anonymisiert durchgeführt. Nach dem Anklicken des Fragebogen-Links wurden die Teilnehmenden über die vorliegende Studie aufgeklärt und um das elektronische Einverständnis zur Teilnahme gebeten. Anschließend wurde die Liste der Einschlusskriterien präsentiert. Bei Erfüllen dieser wurden die Teilnehmenden zur ersten Frage weitergeleitet. Die Teilnehmenden hatten nur im zweiten Teil des Fragebogens die Möglichkeit, ihre Antworten über den „Zurück-Button“ zu ändern. Neben den optionalen Filterfragen mussten alle Fragen vor dem Übermitteln der Seite beantwortet werden.

Datenanalyse

Es wurden nur vollständig ausgefüllte Fragebögen von Teilnehmenden in die Datenanalyse einbezogen. Die Daten wurden manuell auf Mehrfacheintragungen anhand der Antworten zu den offenen Fragen geprüft. Die Abschlussrate wurde über das Verhältnis von Personen, die die letzte Fragebogenseite erreichten, zu Personen, die den Einschlusskriterien entsprachen und ihr Einverständnis gaben, bestimmt.

Die Antworten der offenen Fragen wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring, 2016). Dafür wurden jeweils deduktiv zwei Kategorien gebildet: „standardisierte Assessments“ und „physiotherapeutische Basisuntersuchung (nicht standardisiert)“ für die Frage nach den Untersuchungsmethoden; „traditionelle Ansätze“ und „andere Maßnahmen“ für die Frage nach den Behandlungsmethoden. Anhand des Datenmaterials wurden induktiv Subkategorien gebildet. Zwei Autor*innen ordneten unabhängig voneinander die Nennungen der Teilnehmenden den Kategorien und Subkategorien zu. Die Kategorienbildung sowie die Zuordnung der Nennungen wurden in der Autor*innen-Gruppe abgestimmt. Anschließend wurde die Anzahl der Nennungen pro Kategorie und Subkategorie deskriptiv dargestellt. In der tabellarischen Darstellung der Ergebnisse wurden die Nennungen zu Untersuchungsmethoden den ICF-Komponenten Körperfunktionen und -strukturen sowie Aktivitäten und Partizipation zugeordnet. Für Nennungen der Kategorie „standardisierte Assessments“ folgte dies weitgehend der Einteilung aus dem Fachbuch „Assessments in der Rehabilitation“ (Schädler et al., 2020) sowie der Einteilung aus der niederländischen Leitlinie (Royal Dutch Society for Physical Therapy, 2014). Die Nennungen der Kategorie „physiotherapeutische Basisuntersuchung (nicht standardisiert)“ wurden in einem iterativen Prozess im Autor*innen-Team den ICF-Komponenten zugeteilt.

Die Nennungen zu Behandlungsmethoden wurden mit den Empfehlungen aus der deutschen und niederländischen Leitlinie abgeglichen (Deutsche Gesellschaft für Neurologie, 2018; Royal Dutch Society for Physical Therapy, 2014) und dementsprechend als „empfohlen“ oder „nicht empfohlen“ gekennzeichnet („empfohlen“: Eine oder beide Leitlinien sprechen eine eindeutige Empfehlung für die Anwendung der entsprechenden Maßnahme im chronischen Stadium (siehe Fallbeispiel), für die mobilitätsbezogenen Endpunkte Gehstrecke, Gehdistanz oder Balance, aus).

Bei den demografischen Fragen wurden absolute und relative Häufigkeiten sowie Mittelwerte und Standardabweichungen (SD) ermittelt. Für die Datenanalyse wurde Microsoft Excel 2010 verwendet.

ERGEBNISSE

Der Umfrage-Link wurde 1296 Mal angeklickt. Ihr Einverständnis zur Teilnahme gaben 285 Physiotherapeut*innen. Davon wurden 112 ausgeschlossen, da sie die Einschlusskriterien nicht erfüllten; 74 Personen beendeten die Umfrage direkt nach den Fragen zu den Einschlusskriterien, 20 innerhalb der ersten Hälfte des Fragebogens und 16 vor dem Block zu soziodemografischen Daten. Dreiundsechzig Physiotherapeut*innen erfüllten die Einschlusskriterien, schlossen den Fragebogen ab und wurden damit in die Analyse aufgenommen. Die Abschlussrate beträgt somit 36,4%.

Charakteristika der Teilnehmenden

Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 50 (SD 11) Jahren, die Berufserfahrung im Durchschnitt bei 25 (SD 12) Jahren. Über 2/3 der Teilnehmenden waren weiblich (n=45) und knapp 15% der Stichprobe war akademisiert (n=9). Außerdem gaben 92% der Teilnehmenden (n=58) an, mindestens eine Fortbildung in einem der traditionellen Ansätze Bobath, Vojta oder PNF absolviert zu haben. Die demografischen Daten sind detailliert in Tabelle 1 dargestellt.

Demografische Daten der Teilnehmenden.

Item, (n=63) n (%) MW (SD)
Frauen 45 (71.4)
Alter 49, 8 (10.5)
Arbeitserfahrung 25,1 (11.6)
Tätigkeitsort in % der Gesamtarbeitszeit
Freie Praxis 68,4 (25.9)
Krankenhaus 0,7 (3.3)
Rehabilitationseinrichtung 2,7 (12.3)
Hausbesuch 28,1 (23.7)
Gemeinde- & Vereinsarbeit (z.B. Rehasport) 0,6 (3.1)
Ausbildungseinrichtung/Hochschule 0,0 (0.0)
Sonstiges 0,9 (4.5)
Höchster Berufsabschluss
Ausbildung PT 54 (86.8)
Bachelor (PT, fachfremd) 6 (9.5)
Master (PT, fachfremd) 3 (4.8)
Promotion/PhD (PT oder fachfremd) 0 (0)
Abgeschlossene neurologische Fortbildung 58 (92)
Art der Fortbildung (n=79)*
Bobath 49 (62.0)
PNF 13 (16.5)
Vojta 8 (10.1)
Evidenzbasierte neurologische Fortbildungen (z.B. CIMT) 3 (3.8)
Allgemeine neurologische Fortbildungen (z.B. Neuroorthopädie, NOI) 5 (6.3)
Unterricht/Fortbildungen in EBP 33 (52.4)
Klinischer Schwerpunkt der Einrichtung
Orthopädie/Chirurgie 18 (28.6)
Neurologie (+ Orthopädie/Chirurgie bzw. Pädiatrie) 40 (63.5)
Sonstiges 5 (7.9)
Lage der Einrichtung
Landgemeinde (< 5.000 Einwohner) 21 (33.3)
Kleinstadt (5.000 – 20.000 Einwohner) 21 (33.3)
Mittelstadt (20.000 – 100.000 Einwohner) 15 (23.8)
Großstadt (>100.000 Einwohner) 6 (9.5)
Arbeitsposition
Arbeitgeber*in/Praxisinhaber*in 39 (61.9)
Arbeitnehmer*in/Angestelle*r 12 (19.1)
Selbstständig 12 (19.1)
Sonstiges 0
Forschung in Einrichtung 5 (7.9)
Betreuung Studierender/Schüler*innen im Praktikum 25 (39.7)

Mehrfachantworten möglich

CIMT = Contraint-Induced Movement Therapy; EBP = Evidenzbasierte Praxis; MW = Mittelwert; NOI = Mobilisation des Nervensystems; PNF = Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation; PT = Physiotherapie; SD = Standardabweichung

Neurologische Untersuchung und Behandlung zur Verbesserung der Mobilität

Die Nennungen zur Untersuchung und Behandlung waren inhaltlich und auch die Terminologie betreffend breit gefächert.

Untersuchung

Die insgesamt 186 Nennungen zu favorisierten Untersuchungsmethoden in Bezug auf das Fallbeispiel wurden in Tabelle 2 in den Kategorien „standardisierte Assessments“ (n=28, 15,1 % der Nennungen) und „physiotherapeutische Basisuntersuchung (nicht standardisiert)“ (n=158, 84,9 %) zusammengefasst. Innerhalb der standardisierten Testverfahren wurde der „Timed-Up and Go Test“ am häufigsten genannt (n=13, 7,0 %). In der Kategorie „physiotherapeutische Basisuntersuchung (nicht standardisiert)“ waren (visuelle) Ganganalyse (n=43, 23,1 %) und Testung der Muskelkraft (n=29, 15,6 %) die häufigsten Nennungen. Sechzehn Teilnehmende (25,4 %) nannten standardisierte Testverfahren. Knapp die Hälfte der Nennungen (n=95, 51,1 %) wurde den beiden ICF-Komponenten Körperfunktionen und -strukturen sowie Aktivität und Partizipation zugeordnet.

Nennungen der favorisierten Untersuchungsmethoden.

Favorisierte Untersuchungsmethoden, (n=186)* n (%) ICF-Einordung
Standardisierte Assessments n=28 (15.1)
Mobilitätstests 14 (7.5)
Timed-Up and Go Test 13 AP
Short Physical Performance Battery 1 KFS & AP
Gehtest mit Zeitnahme 7 (3.8)
10-Meter-Gehtest 3 KFS & AP
20-Meter-Gehtest 1 KFS & AP
6-Minuten-Gehtest 3 KFS & AP
Gleichgewichtstests 6 (3.2)
Berg-Balance-Skala 2 KFS & AP
Einbeinstand 1 KFS & AP
Functional Reach-Test 1 KFS & AP
Mini-BESTest 1 KFS & AP
Unterberger-Tretversuch/Romberg-Test 1 KFS
Sonstiges 1 (0.5)
EDSS 1 KFS
Physiotherapeutische Basisuntersuchung (nicht-standardisiert), (inkl. Beispiele für Nennungen) n=158 (85.0)
(Visuelle) Ganganalyse 43 (23.1) KFS & AP
z.B. Ganganalyse (mit und ohne Hilfsmittel), (visuelle) Ganganalyse
Testung der Muskelkraft 29 (15.6) KFS
z.B. Krafttest (von Quadriceps, Abduktoren, Hüftextensoren), Muskelwertprüfung, Maximalkrafttest
Testung der Gelenkbeweglichkeit 15 (8.1) KFS
z.B. Beweglichkeitsprüfung einzelner Gelenke, Kontrakturen überprüfen, Passive Beweglichkeit, Mobilitätsprüfung der Gelenke
Testung des Gleichgewichts 12 (6.5) KFS & AP
z.B. Gleichgewichtstestung, Balancereaktionen, Stabilitätstests
Testung des Muskeltonus 8 (4.3) KFS
z.B. Spastik-Test, Posturale Tonus Aktivität, Tonussituation
Nicht-standardisierte Mobilitätstests 8 (4.3) KFS & AP
z.B. Treppe, Mobilitätstest, Laufbandtest
Sensibilitätstestung 6 (3.2) KFS
z.B. Test der Sensibilität, Tiefen -u. Oberflächensensibilität, Sensomotorischer Befund
Funktion und Dynamik neuraler Strukturen 6 (3,2) KFS
z.B. Nervus femoralis/ischiadicus Mobilisation, Peroneus-Funktionstests, Neurologische Tests
Testung der Koordination 5 (2.7) KFS
z.B. Koordinationstests, Koordination
Nicht standardisierte Testung der Gehgeschwindigkeit und –strecke 4 (2.1) KFS & AP
z.B. Messung der Gehstrecke bis Kraftverlust anfängt, Gehgeschwindigkeit
Testung der Muskellänge 3 (3.2) KFS
z.B. Prüfung der Elastizität, Muskelverkürzungen, Muskellängentest
(Visuelle) Analyse von Bewegungsübergängen 2 (1.1) KFS & AP
z.B. Visuelle Bewegungsanalyse
Sonstiges 8 (4.3) NA
z.B. Test nach Bobath über die allgemeinen Fähigkeiten des Patienten, Sicht-/Tastbefund, Orthopädische Einschränkungen
Nicht zuordenbar 9 (4.8) NA
z.B. Fragebogen, Step by Step, visuell, Funktionstests, Test

Mehrfachantworten möglich

AP =Aktivitäten und Partizipation; BESTest = Balance Evaluation Systems Test; EDSS = Expanded Disability Status Scale; ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health; KFS= Körperfunktionen und –strukturen; NA=nicht anwendbar

Behandlung

Die insgesamt 182 Nennungen zu favorisierten Behandlungsmethoden in Bezug auf das Fallbeispiel wurden in Tabelle 3 in den Kategorien „Traditionelle Ansätze“ (n=69, 35,2 % der Nennungen) und „andere Maßnahmen“ (n=113, 64,8 %) zusammengefasst. Das Bobath-Konzept wurde am häufigsten genannt (n=46, 25,3 %). In der Kategorie „andere Maßnahmen“ entfielen die meisten Nennungen auf die Subkategorie „Kraft- und/oder Ausdauertraining“ (n=31, 17,0 %). Das aufgabenorientierte Training wurde nicht genannt.

Nennungen der favorisierten Behandlungsmethoden.

Favorisierte Behandlungsmethoden, (n=182)* n (%) Von Leitlinien empfohlen (ja) / nicht empfohlen (nein)
Traditionelle Ansätze 69 (37.9)
Bobath 46 nein
PNF 17 nein
Vojta 4 nein
Sonstiges (z.B. Bahnungssystem nach Brunkow) 2 nein
Andere Maßnahmen 113 (62.1)
(Gerätegestütztes) Kraft- und Ausdauertraining 31 (17.0) ja
Kraft- und Ausdauertraining 3
Gerätetraining (z.B. Laufband, KGG, MTT) 10
Krafttraining 18
Gleichgewichtstraining 11 (6.0) ja
Gleichgewichtstraining 6
(Rumpf-) Stabilisation 5
Manuelle Therapie 14 (7.7) nein
Propriozeptions- und Koordinationstraining 8 (4.4) nein
Propriozeptionstraining 4
Koordinationstraining 4
Muskeldehnung und -detonisierung 5 (2.7) nein
Muskeldehnung 3
Muskeldetonisierung 2
Gangschule 8 (4.4) ja
Funktionelles Training 5 (2.7) ja
ADL-Training 4 (2.2) ja
FBL 4 (2.2) nein
Eigentraining 2 (1.1) nein
„Forced Use“-Therapie 2 (1.1) nein
Wohnraumanpassung & Hilfsmittelversorgung 2 (1.1) ja
Nervenmobilisation 2 (1.1) nein
Massage 1 (0.5) nein
Sonstiges (z.B. Beckenstabilisation, selektives Bewegen, KG, Testverfahren) 14 (7.7) nein

Mehrfachantworten möglich

ADL= Activities of daily living; FBL = Funktionelle Bewegungslehre; KG = Krankengymnastik; KGG = Krankengymnastik am Gerät; MTT = Medizinische Trainingstherapie; PNF = Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation

Einundfünfzig Teilnehmende (80,9 %) nannten traditionelle Konzepte. Von den 182 Nennungen entsprechen 71 (39,0 %) den Empfehlungen aus Leitlinien.

DISKUSSION

Ziel dieser Studie war, die physiotherapeutische Arbeitsweise bei schlaganfall-bezogenen Mobilitätseinschränkungen im ambulanten Setting darzustellen. Die teilnehmenden Physiotherapeut*innen wenden vorwiegend nicht standardisierte Untersuchungsmethoden sowie erfahrungsbasierte Behandlungsmethoden an; am häufigsten die Ganganalyse in der Untersuchung und das Bobath-Konzept in der Behandlung. Im Vergleich zu den Leitlinien stellt sich hier eine Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis dar.

Charakteristika der Teilnehmenden

Die Teilnehmenden der vorliegenden Umfrage zeichnen sich durch langjährige Berufserfahrung aus. Der klinische Schwerpunkt liegt bei mehr als 60 % der Teilnehmenden in der Neurologie und mehr als 90 % verfügen über eine abgeschlossene neurologische Fortbildung, am häufigsten im Bobath Konzept. Dies lässt eine hohe fachliche Expertise der Teilnehmenden im Bereich Neurologie vermuten.

Die langjährige Berufserfahrung und der Altersdurchschnitt mit knapp 50 Jahren sind relativ hoch im Vergleich zu anderen Umfragen unter (Physio-) Therapeut*innen in Deutschland (Braun et al., 2018; Braun et al., 2019). Dies könnte durch unser Einschlusskriterium bezogen auf die Behandlung von mindestens drei Personen mit Schlaganfall pro Jahr erklärt werden: Es ist wahrscheinlich, dass Therapeut*innen mit einer abgeschlossenen KG-ZNS-Fortbildung die Behandlung der Personen mit Schlaganfall in einer Praxis übernehmen. Diese Fortbildungen setzen Berufserfahrung voraus und erstrecken sich zum Teil über ein bis zwei Jahre. Daraus ergibt sich, dass Berufsanfänger*innen möglicherweise nicht unseren Einschlusskriterien entsprachen und damit deren Arbeitsweise und Sicht in unserer Studie eventuell unterrepräsentiert sind. Gleichzeitig liegt die Akademisierungsquote mit knapp 15 % akademisierten Teilnehmenden – wie auch in anderen Umfragen (z. B. Braun et al., 2018; Braun et al., 2019; Diermayr et al., 2015) – über der gesamt-deutschen Quote von 2,75 % (Physiodeutschland Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK) e. V., 2017). Akademisierte (vs. nicht akademisierte) Therapeut*innen nehmen eher aktuelle Erkenntnisse in ihre praktische Tätigkeit auf (Braun et al., 2018; Diermayr et al., 2015). Der hohe Akademisierungsgrad unserer Stichprobe könnte damit das Verzerrungsrisiko durch das höhere Alter und die längere Berufserfahrung reduzieren, da die letzteren Merkmale in zwei internationalen Studien mit einer geringeren Anwendung aktueller Erkenntnisse assoziiert sind (Jette et al., 2003; Salbach et al., 2007).

Untersuchung

Von den 186 Nennungen zu Untersuchungsmethoden entfielen nur 28 auf standardisierte Assessments; standardisierte Assessments nannten 25 % der Teilnehmenden. Eine Umfrage zur allgemeinen Anwendung von Assessments in der deutschen Physiotherapie bestätigt unsere Daten: Nur knapp ein Drittel der Teilnehmenden gab an, regelmäßig (bei ≥ 80 % der Patient*innen) standardisierte Assessments zu verwenden (Braun et al., 2018). Im Gegensatz zu den Daten aus Deutschland zeigt eine Umfrage bei kanadischen Physiotherapeut*innen, dass 2010 50 % das „Chedoke McMaster Stroke Assessment“ anwandten und über 50 % der Teilnehmenden die Gehgeschwindigkeit regelmäßig im ambulanten Schlaganfall-Setting standardisiert erhoben (Salbach et al., 2011). Die geringe Nennung von standardisierten Assessments in der vorliegenden Studie könnte unter anderem am vergleichsweise geringen Akademisierungsgrad der deutschen Stichprobe liegen (Braun et al., 2018; Diermayr et al., 2015). Zum Beispiel verfügten knapp 90 % der Teilnehmenden an der kanadischen Studie 2010 über einen akademischen Abschluss (Salbach et al., 2011). Ob die Verankerung der Erstuntersuchung im Heilmittelkatalog einen Förderfaktor für die Anwendung von Assessments in der Routineversorgung mit Logopädie und Ergotherapie in Deutschland darstellt, kann aufgrund mangelnder Daten derzeit nicht beurteilt werden. Eine multi-nationale Umfrage bei Gesundheitsberufen zeigt jedoch, dass bindende Richtlinien als Förderfaktor für die Umsetzung von Leitlinien-Empfehlungen in der Schlaganfallrehabilitation empfunden werden (Lynch et al., 2021).

In der Umfrage von Braun und seinen Kolleg*innen fiel die Mehrheit der Nennungen zu Messinstrumenten in die Komponente Körperfunktionen und -strukturen (z. B. Goniometermessung) (Braun et al., 2018). Die Subgruppe der Physiotherapeut*innen aus dem neurologischen oder internistischen Bereich gab jedoch überwiegend Messinstrumente aus der Komponente „Aktivitäten und Partizipation“ an (Braun et al., 2018). Anhand der vorliegenden Daten konnten wir knapp 50 % der Nennungen beiden Komponenten (Körperfunktionen und -strukturen sowie Aktivitäten und Partizipation) zuordnen. Möglicherweise ist im Bereich der neurologischen Physiotherapie bereits ein Trend in Richtung ICF-basierte Untersuchung sichtbar. Wir können allerdings nicht schlussfolgern, dass die Teilnehmenden bewusst beide ICF Komponenten in ihrer Untersuchung berücksichtigen. Zum Beispiel wurde die Ganganalyse von den Autor*innen beiden Komponenten zugeordnet. Wird diese jedoch ausschließlich verwendet, um die Qualität des Gehens zu beurteilen, so wäre eine Zuordnung zu Körperfunktionen/Körperstrukturen (b770 Gangmuster) passender. In der Ganganalyse können jedoch auch Parameter wie Gehfähigkeit oder benötigte Hilfestellung – und somit die Aktivität „Gehen und sich Fortbewegen“ (d450–d469) – beurteilt werden.

Behandlung

Vor dem Hintergrund der ärztlichen Heilmittelverordnung in Deutschland spiegeln unsere Ergebnisse eine Kombination aus Verordnungspraxis der Ärzte bzw. den Vorgaben des Heilmittelkatalogs und der eigenverantwortlichen Auswahl der konkreten physiotherapeutischen Maßnahmen wider (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2021). Entsprechend dem Heilmittelkatalog nannten über 80 % der Teilnehmenden traditionelle Ansätze (Bobath, Vojta, PNF) als Behandlungsmethoden in Bezug auf das Fallbeispiel. Unsere Ergebnisse sind damit vergleichbar mit einer Umfrage aus dem Jahr 2005, in der die meisten Therapeut*innen angaben, Bobath oder PNF anzuwenden (Barzel et al., 2007). Die Ähnlichkeit der Ergebnisse der beiden Umfragen lässt darauf schließen, dass es in der ambulanten Schlaganfallbehandlung in den letzten 15 Jahren keine substanziellen Änderungen gab. Auch im Heilmittelkatalog gab es, bezogen auf die Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems, in diesem Zeitraum keine inhaltlichen Änderungen (Heilmittel-Richtlinie und Heilmittelkatalog, 2020). Dies könnte im Widerspruch zu sich ändernden wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen.

Mit 46 Nennungen wurde Bobath am häufigsten genannt. Während das Bobath-Konzept im traditionellen Ansatz eine „Hands-On“ Therapie, eine Reduzierung der Plus-Symptome und die Wiederherstellung der normalen Bewegung propagierte (Mayston, 2008), zeigen aktuelle Daten, dass nun auch neue Erkenntnisse wie das aufgabenorientierte Training von Shepherd und Carr im Rahmen der Bobath-Fortbildungen vermittelt werden (Hengelmolen-Greb, 2016). Es ist also möglich, dass Teilnehmende aufgabenorientiertes Training anwenden und dies in der Umfrage als Bobath-Konzept benannten. Auffallend ist jedoch, dass es keine explizite Nennung zu aufgabenorientiertem Training gab. Welche Inhalte eine Therapie nach Bobath in der Praxis tatsächlich beinhaltet, ist derzeit also unklar. Konkretes Wissen und eine Benennung der Inhalte des Bobath-Konzepts in der Praxis wäre für zukünftige Wirksamkeitsstudien relevant; außerdem könnten diese Daten auch einen Beitrag zur Frage leisten, ob traditionelle Ansätze auch zukünftig als Abrechnungsposition im Heilmittelkatalog gerechtfertigt sind. Eine leitlinienorientierte Alternative wäre u. a. das repetitive aufgabenorientierte Training im Einzel- oder Gruppen-Setting.

Unsere Daten zeigen aber auch, dass erste Ansätze einer leitlinienorientierten Therapie im ambulanten Setting sichtbar sind; immerhin konnten 39 % der Nennungen zu therapeutischen Maßnahmen als von Leitlinien empfohlen klassifiziert werden. Mit 18 Nennungen wurde das Krafttraining am häufigsten genannt. Zahlreiche aktuelle Studien belegen, dass durch Krafttraining die Muskelkraft und die Durchführung funktioneller Aktivitäten verbessert werden kann (Harris & Eng, 2010; Saunders et al., 2016). Während das Krafttraining eine basale Intervention der Physiotherapie darstellt, wurde es traditionell – vor allem im Rahmen des Bobath-Konzepts – nicht in der Behandlung von Menschen mit Schlaganfall angewendet (Harris & Eng, 2010; Mayston, 2008). Möglicherweise spiegeln diese Resultate die beginnende Akademisierung und die damit größere Bereitschaft und vermehrte Kompetenz, evidenzbasiert zu arbeiten, wider.

Stärken und Schwächen der vorliegenden Studie

Das Fallbeispiel diente als anschaulicher und gleichzeitig standardisierter Stimulus und ermöglichte mit den dazugehörigen offenen Fragen die Darstellung der Breite angewendeter therapeutischer Maßnahmen, bezogen auf ein reales klinisches Bild (Holden et al., 2019; Korner-Bitensky et al., 2011; Peabody et al., 2000). Die Verwendung des Fallbeispiels wurde von den Expert*innen und Teilnehmenden an der Pilottestung positiv bewertet. Es könnte sein, dass die so generierten Daten näher an der tatsächlichen Praxis sind als Daten mit geschlossenen Fragen zu einer allgemeinen Diagnose (z. B. Rückenschmerzen, Schlaganfall).

Gleichzeitig ermöglichten die Daten auch, den Sprachgebrauch der teilnehmenden Physiotherapeut*innen darzustellen. Es zeigte sich eine zum Teil unpräzise Fachterminologie, z. B. „Koordinationstest“ oder „sensomotorischer Befund“. Ebenso unklar ist, ob die Nennungen „funktionelles Training“ oder „Gangschule“ aufgabenorientiertes Training darstellen. Außerdem können wir nicht ausschließen, dass es durch unpräzise Terminologie in den Antworten zu suboptimalen Zuordnungen zu den Kategorien kam. Die Verwendung einer präzisen Fachterminologie wäre auch für den interprofessionellen Austausch relevant (Kerna, 2018).

Die Teilnehmendenzahl der vorliegenden Studie ist mit n=63 relativ gering, eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist daher nur eingeschränkt möglich. Vergleichbare Studien aus Deutschland zum Thema evidenzbasierte Physiotherapie konnten 889 (Braun et al., 2019) bzw. 522 Teilnehmende (Braun et al., 2018) gewinnen. Diese beiden Studien rekrutierten in allen Bundesländern, während die vorliegende Studie nur in Baden-Württemberg und Thüringen rekrutierte. Die Grundgesamtheit zur Rekrutierung wurde in dieser Arbeit im Gegensatz zu den beiden Studien von Braun und Kolleg*innen weiter reduziert durch unsere Fokussierung auf Physiotherapeut*innen, die Personen nach Schlaganfall im ambulanten Setting behandeln. Diese Aspekte könnten die relativ geringe Anzahl der Teilnehmenden erklären. Auch die Länge des Fragebogens könnte Physiotherapeut*innen gehindert haben, den (gesamten) Fragebogen auszufüllen.

Neben einer kurzen Ausfülldauer steigt die Teilnahmebereitschaft an Umfragen mit der Bedeutung, die mögliche Teilnehmende dem Thema der Umfrage beimessen (Groves et al., 2004). Die überdurchschnittlich hohe Akademisierungsquote in aktuellen Umfragen im deutschsprachigen Raum (Braun et al., 2018; Braun et al., 2019; Diermayr et al., 2015) lässt darauf schließen, dass die Umfrage-Themen – vorwiegend die evidenzbasierte Praxis – vor allem akademisierte und weniger nicht akademisierte Therapeut*innen ansprechen. Es braucht also Bemühungen, die Themen so auszuwählen und darzustellen, dass diese für die gesamte Berufsgruppe bedeutsam sind.

Unsere Rekrutierungsstrategie (Versendung von E-Mail-Einladungen, Facebook-Posts und Posts auf physiotherapeutischen Webseiten) war breit gestreut mit dem Ziel, möglichst unterschiedliche Gruppen innerhalb der Physiotherapie anzusprechen. Gleichzeitig können wir durch unsere Strategie eine Stichprobenverzerrung nicht ausschließen. Außerdem war die Berechnung einer Rücklaufquote – wie bei vergleichbaren Studien (Braun et al., 2018; Braun et al., 2019) – nicht möglich. Ein deutsches Gesundheitsberuferegister, wie es dies unter anderem in Österreich, der Schweiz oder den USA gibt (eGesundheit.nrw, n.d.), würde zumindest einen Abgleich der Proband*innenzahl mit der Anzahl der in Baden-Württemberg und Thüringen arbeitenden Therapeut*innen ermöglichen.

Die Einschränkung der Datensammlung auf Baden-Württemberg und Thüringen ist vor allem unserem Rekrutierungsansatz (Adressensuche in Gelben Seiten) und den damit verbundenen Ressourcen geschuldet. Eine Übertragbarkeit der Daten der beiden Bundesländer auf Gesamt-Deutschland ist somit eingeschränkt. Baden-Württemberg kann allerdings als Vertreter der westlichen Bundesländer mit höheren Gehältern für Physiotherapeut*innen und einer niedrigeren Inanspruchnahme physiotherapeutischer Leistungen, Thüringen als ein östliches Bundesland mit niedrigeren Gehältern und einer für die neuen Bundesländer typischen höheren Inanspruchnahme physiotherapeutischer Leistungen gesehen werden (Rommel & Prütz, 2017).

Schlussfolgerung

Während die geringe Teilnehmendenzahl die Aussagekraft der vorliegenden Daten limitiert, geben unsere Ergebnisse Hinweise auf eine eingeschränkte Umsetzung von Leitlinienempfehlungen in der ambulanten, physiotherapeutischen Schlaganfallrehabilitation in Deutschland. Mögliche Barrieren für die mangelnde Umsetzung könnten unter anderem die Ausbildungsstruktur aber auch die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems (z. B. Heilmittelkatalog) sein. In Folgeprojekten sollten diese Barrieren fokussiert werden. Zukünftige Studien sollen außerdem durch direkte Beobachtung und Interviews im Feld die konkrete Arbeitsweise in der Routineversorgung erfassen. Darauf aufbauend können setting-abhängige, theoriebasierte Implementierungsstrategien initiiert werden, um das volle Potenzial der Physiotherapie für Menschen nach einem Schlaganfall auch in Deutschland auszuschöpfen.

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2296-990X
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Inglés, Alemán
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Volume Open
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Medicine, Clinical Medicine, other