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The influence of couple relationships on neurorehabilitation: Development of a practice-oriented concept based on empirical and theoretical foundations / Einfluss von Paarbeziehungen auf die Neurorehabilitation: Entwicklung eines praxisorientierten Konzepts auf empirisch-theoretischer Grundlage

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07. Mai 2025

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EINLEITUNG

Traumatische Ereignisse, wie schwere chronisch-neurologische Beeinträchtigungen, stellen Paare vor enorme Herausforderungen, die physische, kognitive und psychosoziale Aspekte betreffen und erhebliche Auswirkungen auf Beziehungsdynamiken haben (Randall & Bodenmann, 2009; von Bosse et al., 2025). Der Eintritt einer abrupt eintretenden Beeinträchtigung, beispielsweise infolge eines Schlaganfalls oder eines Unfalls, erschüttert oft das gewohnte Beziehungsgefüge und erfordert eine Neugestaltung der gemeinsamen Lebensrealität (Pfeffer, 2019). Betroffene Paare sind gezwungen, neue Strategien zu entwickeln, um sowohl die körperlichen und psychischen Belastungen der Beeinträchtigung als auch die Herausforderungen der Beziehung zu bewältigen (Jeyathevan et al., 2019; von Bosse et al., 2025). Die plötzlich eintretende Beeinträchtigung verändert das Leben beider Partner*innen oft grundlegend und wirft Fragen zur Anpassungsfähigkeit und Stabilität der Partnerschaft auf (Kreutzer et al., 2016). Diese neue Lebenssituation führt häufig zu einer Anpassung gemeinsamer Lebensziele und Zukunftspläne. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie die Unterstützung des/der erkrankten Partner*in organisiert werden kann, ohne das Wohlbefinden des/der unterstützenden Partner*in zu gefährden. Dabei beeinflussen die Qualität und Stabilität der Beziehung sowie soziale Netzwerke entscheidend die Bewältigung dieser Krise (Rönnau-Böse et al., 2022). Dies alles hat auch Auswirkungen auf die Therapie (von Bosse et al., 2025). Eine rein pathophysiologische Betrachtung erweist sich als unzulänglich, um eine effektive Behandlungsstrategie zu entwickeln, da der Rehabilitationsprozess in hohem Maße von psychosozialen Faktoren überlagert wird. Die Vernachlässigung psychosozialer Aspekte in der Behandlung birgt das Risiko, wesentliche Einflussfaktoren zu ignorieren, die sowohl den/die Patient*in als auch die An- und Zugehörigen (1) und deren gemeinsame Beziehung betreffen. Eine zeitgemäße Therapie muss demnach nicht nur die physischen Symptome, sondern vor allem die soziale und emotionale Dimension des Rehabilitationsprozesses berücksichtigen (Hall et al., 2010; Horton et al., 2021; Miciak et al., 2018). Die Qualität der Paarbeziehung kann dabei als wichtige psychosoziale Ressource dienen, um die Bewältigungskompetenzen beider Partner*innen zu stärken und den Therapieerfolg zu fördern.

Diese Arbeit zielt darauf ab, Paarbeziehungen systematisch zu analysieren und deren Dynamiken innerhalb des rehabilitativen Kontextes zu untersuchen. Darauf aufbauend werden konkrete therapeutische Strategien entwickelt, die Paarbeziehungen gezielt als Ressource im Rehabilitationsprozess nutzen.

FORSCHUNGSSTAND
Angehörige als zentrale Akteur*innen im Rehabilitationsprozess

Angehörige spielen eine zentrale Rolle im Rehabilitationsprozess, insbesondere als Co-Pflegende und Co-Therapeut*innen. Sie übernehmen Aufgaben wie die Unterstützung bei der Umsetzung von Therapieplänen, die Bereitstellung emotionaler Stabilität und die Unterstützung bei der Alltagsbewältigung der Betroffenen (Bivona et al., 2020; von Bosse et al., 2023; Lobo et al., 2023). Ihre Mitwirkung kann den Therapieerfolg erheblich fördern und das Wohlbefinden der Dyade steigern (von Bosse et al., 2023; Lobo et al., 2023; Matthys et al., 2022, 2023; van Delft et al., 2021). Allerdings geht diese Verantwortung häufig mit einer erheblichen Doppelbelastung einher, da Angehörige als Co-Betroffene selbst in einer vulnerablen Position sind und mit Fragen nach der Zukunft sowie ihren eigenen Belastungsgrenzen konfrontiert werden (Jeyathevan et al., 2019; Litzelman & Al Nassar, 2022; Pierce et al., 2012). Insbesondere Ehepartner*innen und Angehörige mit intensiven Pflegeaufgaben (>40 Stunden/Woche) sind einem erhöhten Risiko für Depressionen ausgesetzt (Chakraborty et al., 2023). Hier zeigt sich der Bedarf eines umfassenden Rehabilitationsansatzes, der auch die Unterstützung von Lebenspartner*innen in den Rehabilitationsprozess einbezieht.

Trotz der zentralen Rolle, die den Angehörigen zukommt, besteht Optimierungspotenzial hinsichtlich ihrer Einbindung in den Therapieprozess. Die gezielte Einbindung Angehöriger hat das Potenzial, sowohl die Rehabilitation und das Outcome des/der Betroffenen positiv zu beeinflussen, als auch die Gesundheit des/der nichtbetroffenen Partner*in zu fördern (Bivona et al., 2020; Parmar et al., 2022). Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) betont daher die Notwendigkeit, Angehörige systematisch in die therapeutische Arbeit einzubeziehen (DEGAM, 2020). Angehörige sind sowohl integraler Bestandteil der Paarbeziehung als auch wichtige Akteur*innen im Rehabilitationsprozess, wodurch sie den Therapieerfolg maßgeblich beeinflussen (Bivona et al., 2020; Hempler, 2021). Durch ihre gezielte Einbindung entsteht eine komplexere Therapiesituation in Form einer Triade.

Im Beziehungsdreieck zwischen Patient*innen, Angehörigen und Therapeut*innen bestehen wechselseitige Verknüpfungen, die den Verlauf der Rehabilitation, Kommunikationsmuster, emotionale Unterstützung und gemeinsame Entscheidungen beeinflussen (Bosse et al., 2023). Die Motivation der Betroffenen und ihre Offenheit gegenüber therapeutischen Maßnahmen wirken sich direkt auf den Therapieerfolg aus. Therapeut*innen unterstützen diesen Prozess, indem sie enge Beziehungen zu Betroffenen und Angehörigen aufbauen und beide bei der Krankheitsbewältigung begleiten (von Bosse et al., 2023; Hall et al., 2010; Miciak et al., 2018). Die Berücksichtigung der dyadischen Beziehung zwischen den Partner*innen innerhalb des Dreieckmodells kann die Resilienz der Betroffenen stärken und als zentrale Ressource im Rehabilitationsprozess dienen (von Bosse et al., 2025). Dennoch wird die Paarbeziehung im Beziehungsdreieck oft vernachlässigt, obwohl sie eine der wichtigsten Quellen für Unterstützung und Anerkennung darstellt, die für die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse unabdingbar sind (Dette-Hagenmeyer & Reichle, 2014).

Paarbeziehungen und ihre Dynamik im Rehabilitationskontext

Paarbeziehungen entstehen durch die Interaktion zweier Individuen mit unterschiedlichen Biografien und Sozialisationserfahrungen, wodurch eine eigenständige Dynamik entsteht. Diese Verbindung geht über die Summe der Eigenschaften der beteiligten Personen hinaus und formt eine eigene Paarrealität, in der sich die Partner*innen sowohl im Selbstverständnis als auch in der Außenwirkung als Einheit definieren (Burkart, 2018). Die Qualität und Stabilität einer Paarbeziehung ist dynamisch und unterliegt ständigen Veränderungen (Lenz, 2009).

Gemäß dem symbolischen Interaktionismus (Mead, 1903) und dem dynamisch-interaktionistischen Paradigma (Lerner, 1978) werden sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die partnerschaftliche Beziehung durch die Interaktion beider Partner*innen sowie äußere Einflüsse geprägt (Neyer & Asendorpf, 2017). Essenzielle Fähigkeiten wie ein konstruktiver Umgang mit Konflikten, offene Kommunikation, frühzeitiges Erkennen von Problemen und kontinuierliche Beziehungsarbeit bilden zentrale Faktoren für eine erfolgreiche Beziehung (Burkart, 2018). Im Kontext der neurologischen Rehabilitation werden diese Dynamiken durch spezifische Herausforderungen verstärkt. Kommunikationsmuster, individuelle und dyadische Bewältigungsstrategien sowie Machtstrukturen beeinflussen nicht nur die Beziehungsqualität, sondern auch den Erfolg des therapeutischen Prozesses. Positive Bewältigungsstrategien, wie emotionale Unterstützung und gemeinsames Planen, steigern die Beziehungszufriedenheit und fördern den Therapieerfolg. Im Gegensatz dazu erhöhen negative Verhaltensmuster, wie Konflikte oder fehlendes Commitment, das Risiko von Unzufriedenheit oder Trennung (Dette-Hagenmeyer & Reichle, 2014; Rusu et al., 2020).

Machtstrukturen in Paarbeziehungen reichen von Gleichberechtigung bis zu asymmetrischer Machtverteilung, wobei Gleichberechtigung ein zentraler Faktor für die Partnerschaftszufriedenheit ist (Dette-Hagenmeyer & Reichle, 2014). Abbildung 1 zeigt, wie die individuellen Eigenschaften und gemeinsamen Ressourcen der Partner*innen sowie ihre Beziehungsebene den Rehabilitationsprozess beeinflussen. Diese Dynamiken prägen die Anpassungsfähigkeit und die affektive Interaktion, welche wiederum maßgeblich die Motivation und den Therapieerfolg bestimmen. Daher ist es entscheidend, diese systematisch in den Prozess einzubeziehen (von Bosse et al., 2025).

Figure 1:

Einflussfaktoren von Patient*innen, Angehörigen und ihrer Beziehung auf den Rehabilitationsprozess, eigene Abbildung. Diese lehnt sich an die Generierung der Patient*innen-, Angehörigen- und Beziehungstypen aus von Bosse et al. (2025) an

Rollenverteilungen innerhalb der Dyade (z. B. dominant, gleichberechtigt, devot) beeinflussen die Paardynamik und die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen bei chronischer Langzeitbetroffenheit. Eine Studie von McCarthy et al. (2020) zeigt, dass bis zu 54% der betroffenen Familien nach einem Schlaganfall Beziehungsschwierigkeiten erleben, wobei 38% der Paare von offenen Konflikten berichten (McCarthy et al., 2020). Diese Schwierigkeiten erfordern häufig eine kontinuierliche therapeutische Begleitung, die regelmäßige Sitzungen und die Zusammenarbeit mit Therapeut*innen umfasst. Die Wünsche, Erwartungen und Einstellungen zur Therapie werden maßgeblich durch die Persönlichkeiten der Beteiligten sowie ihre Interaktionsprozesse geprägt (Bosse et al., 2023). Eine gegenseitige Unterstützung und eine konstruktive Beziehungsdynamik sind entscheidend, um die Motivation zu fördern und die Therapie-Compliance zu erhöhen (Segev et al., 2018).

ZENTRALE FRAGESTELLUNG UND METHODEN

Diese Arbeit geht der Frage nach, wie Paare im Kontext der Neurorehabilitation mit den veränderten Lebensbedingungen und der chronischen Langzeitbeeinträchtigung eines/einer Partner*in umgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Gestaltung der Paarrollen und deren Einfluss auf den Verlauf der Rehabilitation. Ausgangspunkt ist folgende Forschungsfrage: Welche praktischen Implikationen ergeben sich für die Rehabilitation, um unterschiedliche Beziehungsdynamiken angemessen zu berücksichtigen und aus Sicht der Patient*innen sowie ihrer Partner*innen eine bestmögliche Lebensqualität zu fördern? Grundlage der Analyse bildet eine qualitativ-empirische Studie, die im Rahmen eines Dissertationsprojekts durchgeführt wurde.

Zur Datenerhebung wurde eine rekonstruktiv-hermeneutische Methodik angewandt, bei der narrative Interviews (n=15) mit Paaren geführt wurden, um differenzierte Einblicke in die Beziehungsgestaltung, den Umgang mit Herausforderungen und die Integration der Betroffenheit in den Alltag zu erhalten. Die Datenerhebung erfolgte in einem iterativen Verfahren, bei dem Teilnehmer*innen nach Differenzierungsmerkmalen wie Schwere der Betroffenheit, Bildungsstand und Lebenssituation ausgewählt wurden (von Bosse et al., 2025). Dieses Vorgehen zielte auf eine breite Heterogenität der Stichprobe ab. Die Stichprobe umfasste insgesamt 30 Personen, bestehend aus 15 Ehepaaren, die jeweils in einem gemeinsamen Haushalt leben. Das durchschnittliche Alter der Patient*innen lag bei 61,5 Jahren, mit einer Altersspanne von 47 bis 75 Jahren. Alle Patient*innen wohnen gemeinsam mit ihren Ehepartner*innen in ländlichen Regionen oder in klein- bis mittelgroßen Städten. Die durchschnittliche Ehedauer betrug 33 Jahre, wobei die Spannbreite zwischen 15 und 52 Jahren lag. Ein Großteil der Partner*innen übernimmt unterstützende Aufgaben im häuslichen Umfeld, insbesondere in der pflegerischen Versorgung sowie bei therapeutischen Maßnahmen im Alltag. Die Paarinterviews fanden im häuslichen Umfeld der Paare statt und beleuchteten zentrale Themen, wie die Alltagsorganisation vor und nach dem traumatischen Ereignis, prägende gemeinsame Lebensereignisse sowie die Erfahrungen innerhalb professioneller Versorgungsstrukturen. Ein gesprächsstrukturierender Zeitstrahl diente dabei als Orientierungshilfe, Struktur und Erzählstimulus für die Interviews (vgl. Abb. 2).

Figure 2:

Paarbeziehung im zeitlichen Verlauf. Bedeutsame Ergebnisse können z.B. sein: Heirat, Kinder, Hausbau, Unfall, Akutphase nach Trauma, Frührehabilitation, Umzug etc., eigene Abbildung

Die Datenauswertung erfolgte mittels der dokumentarischen Methode (DM) (Bohnsack et al., 2010), um die impliziten Deutungsmuster der Paare zu rekonstruieren und deren individuelle sowie kollektive Bedeutungszuschreibungen im Kontext der Rehabilitationsprozesse zu ermitteln. In diesem Zusammenhang wurden drei zentrale Beziehungstypen identifiziert, die in unterschiedlicher Weise mit der veränderten Lebenssituation und den Herausforderungen des Rehabilitationsprozesses umgehen. Eine ausführliche Darstellung des methodischen Vorgehens sowie der Ergebnisse ist in einer gesonderten Publikation verfügbar (von Bosse et al., 2025). Im Folgenden werden die drei Beziehungstypen kurz vorgestellt.

Maintainers (Aufrechterhaltende)

Diese Paare behalten ihre etablierten Rollen innerhalb der Beziehung bei, wobei eine Person in einer dominanten und die andere in einer passiveren Rolle verbleibt oder eine Symmetrie der Mitbestimmung aufrechterhalten wird. Der Alltag wird vor allem durch die Anpassung gemeinsamer Aktivitäten an die Einschränkungen bewältigt (z.B. Aufrechterhalten von gemeinsamen Spaziergängen, jedoch mit verringerter Gehstecke), wodurch Stabilität und Kontinuität in der Beziehung erhalten bleiben. Diese Orientierung an vor der Krankheit bestehenden Strukturen bietet in belastenden Situationen Sicherheit und Unterstützung, da sie eine Verlässlichkeit innerhalb der Beziehung schafft. Obwohl die Rollen an die veränderten Umstände angepasst werden können, bleibt ihre grundlegende Struktur unverändert. Diese Konstanz stellt eine zentrale Ressource im Bewältigungsprozess dar. Allerdings birgt dieser Ansatz die Herausforderung, dass notwendige Veränderungen und eine kritische Auseinandersetzung mit der neuen Realität möglicherweise nicht in ausreichendem Maße erfolgen, da zu sehr an alten Strukturen und Routinen festgehalten wird, was die Anpassungsfähigkeit der Beziehung langfristig beeinträchtigen kann.

Transformers (Transformierende)

Dieser Paar-Typ strebt an, die Beziehung konstruktiv und aktiv an die veränderte Lebenssituation anzupassen und sieht die Krise als Chance für persönliches und gemeinsames Wachstum. Transformers zeichnen sich durch hohe Resilienz, Anpassungsfähigkeit und die bewusste Integration neuer Rollen aus, was oft zu einer stärkeren emotionalen Bindung und symmetrisch verteilten Verantwortlichkeiten führt. Ein offener Kommunikationsraum ermöglicht beiden Partner*innen, ihre Gedanken und Wünsche gleichberechtigt einzubringen, was die Mitbestimmung und Entscheidungsfindung stärkt. Angepasste neue Aktivitäten, wie z.B. Theaterbesuche oder Wellness-Urlaube fördern nicht nur die Freizeitgestaltung, sondern auch neuartige Formen der Interaktion, die die Beziehung stabilisieren. Trotz der Vorteile dieses Ansatzes bringen die Veränderungen auch Herausforderungen mit sich, da nicht alle angestrebten Anpassungen langfristig umsetzbar sind. Dies erfordert flexible und individuell zugeschnittene Ansätze, um die Beziehung auch langfristig stabil zu halten.

Disengagers (Aufgebende)

Dieser Beziehungstyp ist dadurch gekennzeichnet, dass die Partner*innen ihre zugeschriebenen oder erworbenen Rollen nicht erfolgreich in das Beziehungsleben integrieren. Das führt zu einem Verlust gemeinsamer Aktivitäten und einer zunehmenden Machtasymmetrie, die das Beziehungsgefüge erheblich belastet. Disengagers zeigen eine Tendenz zur emotionalen und/oder physischen Distanzierung sowie zu einem geschlossenen Kommunikationsraum, was den Rehabilitationsprozess zusätzlich erschwert. Ein zentraler Aspekt ist der vollständige Verzicht auf frühere gemeinsame Aktivitäten, wie beispielsweise Urlaube. Paare, die in der Vergangenheit Aktivurlaube bevorzugt haben, erleben diese Form des Reisens aufgrund der Einschränkungen als nicht mehr durchführbar und empfinden dabei eine Alternativlosigkeit. Dieser Verlust gemeinsamer Erlebnisse verstärkt die Distanz zwischen den Partner*innen und reduziert die Gelegenheiten für positive Interaktion und gemeinschaftliches Erleben. Die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Beziehung hin zu einer reziproken Asymmetrie (umgekehrte Machtverteilung, bei der sich die dominante Rolle zwischen den Partner*innen im Vergleich zur Zeit vor dem Trauma umkehrt) stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Dabei kann durch die Betroffenheit sowohl der/die Hauptbetroffene als auch der/die Panter*in die dominantere Rolle innehaben. Diese ungewohnte Dynamik und neue Machtverteilung verstärkt eine Entfremdung, kann zu Spannungen führen und wird durch fehlende verbale Kommunikation zusätzlich verstärkt. Ohne die Möglichkeit, diese neue Realität offen zu reflektieren und die Machtasymmetrie auszugleichen, entsteht ein erhebliches Risiko für die Beziehung sowie den Rehabilitationserfolg.

Die entwickelten Beziehungstypen verdichten zentrale Erfahrungen von Paaren sowie deren Orientierungen in der Beziehungsgestaltung und Krankheitsbewältigung. Sie bieten eine analytische Grundlage, um Dynamiken in Paarbeziehungen in der Neurorehabilitation differenziert zu betrachten. Unterschiede zeigen sich in der Wahrnehmung der Beziehungssituation, der Motivation, erbrachten Unterstützungsleistungen und Problemlösekompetenzen sowie der Nutzung der Partnerschaft als Ressource im Rehabilitationsprozess. Aufbauend auf den vorangestellten theoretischen Modellen sowie den empirischen Ergebnissen lässt sich eine praxisorientierte Konzeptualisierung zum Umgang mit den vorgestellten Paarbeziehungstypen vornehmen.

PRAXISTRANSFER
Übertragung von Paarbeziehungsmodell und Beziehungsdreieck in die therapeutische Praxis

Die Langzeitrehabilitation von Patient*innen mit neurologischen Beeinträchtigungen stellt hohe Anforderungen an interdisziplinäre medizinisch-therapeutische Teams. Eine effektive Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen, Therapeut*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen und Pflegefachkräften ist essenziell, um den komplexen und dynamischen Bedürfnissen von Patient*innen und deren Angehörigen gerecht zu werden. Sowohl Hauptbetroffene als auch deren Angehörige sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden und benötigen umfassende Unterstützung und Anleitung durch Therapeut*innen (Pollock et al., 2021). Neben der Behandlung der physischen und kognitiven Einschränkungen gewinnen psychosoziale Faktoren in der Behandlung zunehmend an Bedeutung (Miciak et al., 2018). Therapeut*innen treten bereits beim Erstkontakt in die Beziehung von Betroffenen und deren Partner*innen ein und agieren auch innerhalb dieser Beziehung. Dabei ist es entscheidend, sowohl medizinische Aspekte als auch psychologische Dimensionen, wie Persönlichkeitsmerkmale und Beziehungsdynamiken zu berücksichtigen. Diese Faktoren beeinflussen die Therapieergebnisse maßgeblich und erfordern daher eine enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit, um eine ganzheitliche Behandlung sicherzustellen (von Bosse et al., 2023). Die Zufriedenheit mit der Versorgung erweist sich dabei als signifikanter Indikator für die Lebensqualität sowohl der Hauptbetroffenen als auch ihrer Lebenspartner*innen, was die Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Versorgung für die Verbesserung des Wohlbefindens beider Partner*innen unterstreicht (Cramm et al., 2012).

Die Verbindung des Dreieckmodells (Patient*in – Angehörige*r – Therapeut*in) mit dem Paarbeziehungsmodell (Maintainers, Transformers, Disengagers) auf konzeptioneller und Handlungsebene bietet einen tiefgehenden Ansatz zur Betrachtung der komplexen Dynamiken im Rehabilitationsprozess. Beide Modelle fokussieren auf unterschiedliche, aber miteinander verbundene Dimensionen der Therapie (vgl. Abb. 3).

Figure 3:

ntegration des Paarbeziehungsmodells in das Beziehungsdreieck: Dynamische Wechselwirkungen zwischen Patient*in, Angehörigen, Therapeut*in sowie der Dyade innerhalb rehabilitativer Prozesse, eigene Abbildung

Therapiemanagement und beziehungsorientiertes Clinical Reasoning

Clinical Reasoning (CR) stellt ein zentrales Instrument zur Gestaltung einer individuell angepassten, reflektierten und evidenzbasierten Therapie dar. Als dynamischer und interaktiver Denkprozess ermöglicht es Therapeut*innen, Daten aus unterschiedlichen Perspektiven systematisch zu erheben, zu analysieren und zu integrieren (Klemme, 2015). Die Anwendung verschiedener Reasoning-Formen fördert eine standardisierte und gleichzeitig differenzierte Entscheidungsfindung, die sowohl situativ angemessen als auch zukunftsorientiert ist. Die vorgestellten Beziehungstypen stellen einen wertvollen und ersten Zugang zur Hypothesenbildung im CR-Prozess dar (Falldurchdringung). Davon ausgehend lassen sich individuelle Dynamiken der Paare verstehen und entsprechende Handlungsstrategien und Interventionen ableiten. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass diese Typen nicht als starre Paar-Konstruktion verstanden werden. Vielmehr ist eine individuelle Betrachtung jeder Dyade erforderlich, da eine pauschale Antwort im Sinne eines modernen Therapieansatzes nicht zielführend wäre. Im CR-Prozess müssen Therapeut*innen die verschiedenen Reasoning-Formen gezielt nutzen, um die Therapie dynamisch zu gestalten und die Paare in ihrer Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen bestmöglich zu unterstützen. Therapeut*innen müssen in der Lage sein, kontinuierlich Hypothesen über die Beziehungsdynamiken der Paare zu entwickeln und diese regelmäßig zu überprüfen, um die therapeutischen Interventionen flexibel und situationsgerecht anzupassen.

Anamnese, Hypothesen, Ziele

In der Anamnese erhebt der/die Therapeut*in grundlegende Informationen zur Lebenssituation, zum Alltag und zur Beziehungsgestaltung des Paares, um Hypothesen über den Beziehungstyp zu formulieren. Stabile Routinen könnten auf Maintainers, eine aktive Alltagsneugestaltung auf Transformers hinweisen. Das narrative Reasoning, das die Erzählungen der Paare über ihre Erlebnisse und Bewältigungsstrategien einbezieht, ermöglicht Therapeut*innen tiefere Einblicke in dyadische Beziehungsmuster und deren Dynamik. Diese narrativen Darstellungen fördern ein vertieftes Verständnis der Strategien, mit denen betroffene Paare Herausforderungen bewältigen. Auf Grundlage der Anamnese wird von dem/der Therapeut*in eine erste Arbeitshypothese über den Beziehungstyp erstellt. Diese dient als Ausgangspunkt für die Planung weiterer therapeutischer Schritte. Dabei ist es wichtig, dass die Hypothesen flexibel bleiben und auf veränderte Situationen angepasst werden. Therapeut*innen sollten stets bereit sein, ihre Annahmen zu hinterfragen und gegebenenfalls einer Neuevaluation zu unterziehen. Die Therapieplanung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den betroffenen Dyaden. Therapeut*innen und Paare definieren realistische, individuell angepasste Ziele, die sowohl die Bedürfnisse der einzelnen als auch die Dynamik der Paarbeziehung berücksichtigen.

Planung, Umsetzung und Evaluation

Auf Basis der verifizierten Hypothesen entwickeln Therapeut*innen spezifische Behandlungsstrategien, die konditionales Reasoning nutzen, um zukunftsorientierte Anpassungen zu fördern. Dabei ist es entscheidend, ethische Aspekte wie unterschiedliche Bedürfnisse, kulturelle Unterschiede und Therapieerwartungen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Der Prozess der therapeutischen Begleitung sollte darauf ausgerichtet sein, eine Balance zwischen individueller Unterstützung und gemeinschaftlicher Entscheidung zu wahren. Das interaktive Reasoning befähigt Therapeut*innen im Versorgungskontext, flexibel auf Veränderungen innerhalb der Beziehungsdynamik zu reagieren. Da sich Paare im Verlauf der Therapie weiterentwickeln, erfordert der Rehabilitationsprozess eine kontinuierliche Evaluation der Beziehungsgestaltung und der Zielerreichung. Dabei werden sowohl der Fortschritt in der Umsetzung der Therapieziele als auch die Entwicklung der Paarbeziehung systematisch reflektiert. Der therapeutische Prozess folgt einem iterativen Ansatz, der eine regelmäßige Überprüfung und Anpassung der Therapieziele einschließt. Gemeinsam reflektieren Therapeut*innen und Paare die Fortschritte und dokumentieren relevante Erkenntnisse, um die Interventionen an die sich wandelnden Anforderungen und Lebensrealitäten anzupassen. Durch diese flexible und individualisierte Vorgehensweise können Therapeut*innen kontinuierlich auf neue Herausforderungen reagieren.

Nachfolgend werden praxisorientierte Strategien für die einzelnen Beziehungstypen vorgestellt.

Umgang mit Maintainers (Aufrechterhaltenden)

Für Paare des Maintainer-Typs ist es essenziell, dass die therapeutische Herangehensweise sowohl die Bedeutung von Stabilität und Kontinuität als Ressourcen anerkennt als auch die Notwendigkeit zur Flexibilität berücksichtigt, um Anpassungen an veränderte Lebensumstände zu ermöglichen. Dabei können die Erzählungen der Paare wichtige Hinweise auf stabilisierende Elemente in ihrem Alltag liefern (narratives Reasoning). Wenn Paare beispielsweise berichten, dass sie frühere gemeinsame Spaziergänge, die vor allem als Zeit für Gespräche dienten, auf kürzere, barrierefreie Routen anpassen, um diese Aktivität beizubehalten, kann dies als Ausgangspunkt dienen, um therapeutisch wertvolle, bedeutungsvolle Handlungsfelder zu identifizieren. Therapeut*innen sollten die bestehende Beziehungsdynamik als Bestandteil des Therapieprozesses thematisieren und darüber reflektieren, wie sich die Rollen innerhalb der Partnerschaft darstellen und welche Machstrukturen vorherrschen (z.B. Symmetrie oder Asymmetrie). Fachpersonal könnte z.B. beobachten, ob ein*e dominante Partner*in den anderen ungewollt einschränkt, und dies behutsam thematisieren (interaktives Reasoning). Zudem sollten Therapeut*innen das Risiko der Stagnation im therapeutischen Prozess erkennen, das durch das Festhalten an starren Routinen ohne neue Aktivitäten entstehen kann. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, können gezielte Interventionen im Bereich der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) der Paare in Betracht gezogen werden. Hierzu zählen kleine, schrittweise Anpassungen, wie die Einführung neuer Aktivitäten, die nicht nur als stabilisierende Elemente fungieren, sondern auch die Weiterentwicklung der Beziehung und der individuellen Lebensqualität unterstützen.

Insbesondere in Fällen, in denen die neue Lebensrealität eine Fortführung früherer gemeinsamer Aktivitäten erschwert, sollte ein offener Kommunikationsraum geschaffen werden. Hierfür bieten sich gemeinsame triadische Besprechungen an, in denen die Paare gemeinsam Lösungen für notwendige Anpassungen entwickeln können. Diese Vorgehensweise fördert eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Veränderungen und stärkt die Handlungsfähigkeit der Paare im Umgang mit den Herausforderungen der Rehabilitation.

Umgang mit Transformers (Transformierenden)

Transformers profitieren von einem therapeutischen Ansatz, der ihre Anpassungsfähigkeit stärkt und die Integration neuer Rollen sowie Aktivitäten fördert. Diese Paare zeichnen sich durch eine hohe Reflexivität aus, die ihre Bereitschaft zur kontinuierlichen Anpassung und Verbesserung unterstreicht. Therapeut*innen sollten dieses Potenzial gezielt nutzen, indem sie Paare bei der Planung und Umsetzung alltagsnaher Aktivitäten unterstützen. Beispielhaft ist das Üben von Transfers in den PKW, um Ausflüge oder Theaterbesuche zu ermöglichen, sowie die Entwicklung von Strategien zur Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung. Der bereits etablierte offene Kommunikationsraum innerhalb der Dyade ermöglicht Therapeut*innen eine gemeinsame Zielformulierung und dient als Grundlage für konstruktive Dialoge, selbst bei unterschiedlichen Vorstellungen. Rückschläge im Rehabilitationsprozess sollten von der Triade dabei als integrale Bestandteile des Prozesses verstanden, offen reflektiert und gemeinsam angepasst werden (kollaboratives Reasoning). Diese Paare weisen aufgrund ihrer Offenheit für Veränderungen und ihrer Kommunikationsbereitschaft die größten Chancen auf einen erfolgreichen Rehabilitationsverlauf und eine erfolgreiche Anpassung an die neue Lebenssituation auf.

Umgang mit Disengagers (Aufgebenden)

Dieser Beziehungstyp zeichnet sich durch die zentrale Bedeutung der Wiederherstellung von Nähe und Kommunikation aus, da Distanzierung sowohl die Rehabilitation als auch die partnerschaftliche Beziehung erheblich beeinträchtigen kann. Eine geringe intrinsische Motivation, fehlende Eigeninitiative und das Empfinden von Scham führen häufig zur Aufgabe gemeinsamer Aktivitäten, wodurch erzielte Fortschritte, beispielsweise in der Mobilität, nicht in den Alltag überführt werden. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sollten Therapeut*innen gezielt Kommunikationsräume öffnen und Reflexion sowie dyadischen Austausch fördern. Mittels narrativem Reasoning können die spezifischen Lebenssituationen sowie Barrieren – etwa der Verzicht auf Reisen – exploriert und gezielt adressiert werden. Übungen zur Förderung gemeinsamer Interaktionen sowie die Formulierung erreichbarer Ziele, wie kurze Ausflüge, tragen zur Stärkung der Beziehung als Ressource bei und fördern gleichzeitig die Motivation der Paare (interaktives Reasoning). Da Machtasymmetrien und divergierende Bedürfnisse bei diesem Beziehungstyp häufig auftreten, ist es essenziell, beide Partner*innen gleichwertig in Entscheidungsprozesse einzubeziehen (ethisches Reasoning). Reflexion und Akzeptanz der neuen Lebensrealität sind hierbei zentrale Elemente, um eine konstruktive Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die Aussage von Carl Rogers (1902–1987) „Das seltsame Paradoxon ist, dass, wenn ich mich so akzeptiere, wie ich bin, ich die Möglichkeit erlange, mich zu verändern“ verdeutlicht die Bedeutung dieser Akzeptanz für die persönliche und dyadische Weiterentwicklung. Interdisziplinäre Unterstützung durch Psycholog*innen oder Sozialarbeiter*innen kann helfen, positive Coping-Strategien zu entwickeln und die Krankheitsverarbeitung zu fördern. Ein Fokus auf machbare Schritte und zukünftige Möglichkeiten trägt dazu bei, negative Emotionen abzubauen und die Lebenszufriedenheit zu steigern (konditionales Reasoning). Aufgrund des geschlossenen Kommunikationsraums und einer begrenzten Anpassungsfähigkeit weisen Paare dieses Typs die schlechtesten Prognosen hinsichtlich Therapieerfolg und Lebensqualität auf.

Paarbeziehung und Therapie: Herausforderungen, Steuerungs-möglichkeiten und Veränderungspotenziale

Die Paarbeziehung ist ein zentraler Faktor für den Therapieerfolg, da sie die Motivation der Betroffenen und die familiäre Dynamik erheblich beeinflusst. Eine stabile Dyade erleichtert den Rehabilitationsprozess, während Konflikte oder Überforderungen, etwa durch Doppelrollen als Pflegeperson oder Co-Therapeut*in, diesen beeinträchtigen können. Besonders belastete Beziehungen vor Eintritt der Betroffenheit (vgl. Abb. 2: Zeit vor Trauma) bergen ein erhöhtes Risiko für negative Entwicklungen (z.B. bei Disengagers). Erfahrungen in der Akutphase prägen die Erwartungen an die Therapie und beeinflussen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in hohem Maße (von Bosse et al. 2025). Erwartungen können dabei ein Katalysator für Veränderung sein, indem sie den Handlungsspielraum der Dyade erweitern (Luhmann, 2018). Beziehungstypen wie Maintainers, Transformers oder Disengagers sind dynamisch und durch gezielte therapeutische Unterstützung veränderbar. So können Maintainers, die an alten Strukturen festhalten, im Laufe des Rehabilitationsprozesses zu Transformern werden. Dieser Wandel erfordert jedoch gezielte therapeutische Unterstützung, um die Transformation in eine konstruktive Richtung zu lenken. Dabei sollte klar herausgearbeitet werden, in welche Richtung die Transformation führt, welche Ziele angestrebt werden und wie die Beziehung für beide Partner*innen erfüllend gestaltet werden kann, um bestehende Herausforderungen als Chance für Wachstum und Entwicklung zu nutzen. Das Fachpersonal nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Es ist essenziell, zu erheben, ob die Dyade eine aktive Einbindung des Fachpersonals wünscht – beispielsweise durch gemeinsame Ideenentwicklung Problemlösung – oder eine passivere Rolle bevorzugt, bei der konkrete Vorschläge und Anleitungen durch Therapeut*innen gegeben werden. In beiden Fällen fungiert das Fachpersonal idealerweise als Mediator*in, um die Kommunikation zwischen den Partner*innen zu erleichtern und den Dialog auf eine konstruktive Ebene zu lenken, insbesondere wenn emotionale Spannungen und Konflikte die Interaktion überlagern. Shared Decision-Making (SDM) im Sinne eines collaborativen Reasonings spielt hierbei eine entscheidende Rolle, um individuelle Erwartungen und Bedürfnisse in den therapeutischen Prozess zu integrieren. Das Bildungsniveau der Betroffenen beeinflusst dabei deren Krankheitsbewältigung (Laratta et al., 2021) und die Umsetzung von SDM. Eine wesentliche Barriere für SDM ist die Unfähigkeit der Betroffenen, Entscheidungen zu ihrer eigenen Situation zu treffen (Wang et al., 2021). Zusätzlich erschweren Faktoren wie ein niedriger sozioökonomischer Status (vgl. Abb. 1), Komorbiditäten, Sprachbarrieren und negative Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem die Implementierung von SDM. Diese Hindernisse sollten von Therapeut*innen erkannt und bei der Entwicklung von Therapiestrategien angemessen berücksichtigt werden (Waddell et al., 2021). Durch aktives Zuhören und gezielte Moderation können Therapeut*innen die Perspektiven aller Beteiligten koordinieren und eine gemeinsame Entscheidungsbasis schaffen (Abb. 4) (Rijken et al., 2021; Sagen et al., 2024). Dies fördert nicht nur die Paarbeziehung, sondern stärkt auch die therapeutische Zusammenarbeit zwischen Patient*innen, Angehörigen und Therapeut*innen.

Figure 4:

Zyklus der Beziehungsdynamik unter Berücksichtigung triadischer Entscheidungsprozesse, eigene Abbildung

Ein zentrales Element der Neurorehabilitation ist die kontinuierliche Steuerung des Behandlungsprozesses über einen längeren Zeitraum. Dies erfordert eine gezielte Berücksichtigung der sich verändernden Bedürfnisse und Erwartungen aller Akteur*innen in den verschiedenen Phasen der Rehabilitation, da langfristige Motivation und aktive Mitwirkung entscheidend für den Erfolg der Therapie sind und im Verlauf der Therapie möglicherweise sinken (Washington & Langdon, 2022). Zudem erfordert die Begleitung der Paare eine kontinuierliche Selbstreflexion der Therapeut*innen, um zu erkennen, in welcher Beziehungskonstellation sich das Paar gerade befindet (z.B. als Maintainers, Transformers oder Disengagers). Nur durch fortwährende Selbstreflexion können geeignete Interventionen und Unterstützungsmöglichkeiten erarbeitet werden, die den individuellen Bedürfnissen und Herausforderungen des Paares gerecht werden und die Therapie langfristig erfolgreich gestalten.

SCHLUSSFOLGERUNGEN

Die Berücksichtigung von Paarbeziehungen ist in der Neurorehabilitation entscheidend für den Therapieerfolg, da Paare traumatische Ereignisse auf verschiedene Weise bewältigen und ihre Beziehungsgestaltung den Rehabilitationsverlauf maßgeblich beeinflusst. Die Therapeut*innen kommen im Rahmen des Therapieprozesses als dritte Akteur*innen in diese Beziehung hinzu. Ein integratives Konzept, das psychosoziale und pathophysiologische Aspekte einbezieht, bildet die Grundlage für individualisierte und nachhaltige Therapien. Die Verbindung des Beziehungsdreiecks mit dem Paarbeziehungsmodell ermöglicht eine ganzheitliche Betrachtung der Dynamiken im Rehabilitationsprozess. Ein strukturierter anamnestischer, diagnostischer und analytischer Prozess ist dabei unverzichtbar, um die Therapie an die spezifischen Bedürfnisse und die Persönlichkeit der Betroffenen anzupassen. Angesichts der einzigartigen Dynamiken jeder Beziehung und der individuellen Lebenskontexte der Paare ist es im Rahmen eines modernen, personenzentrierten Therapieansatzes unerlässlich, dass Therapeut*innen keine generische Therapie nach „Schema F überstülpen“. Vielmehr müssen Therapeut*innen die Beziehungsstruktur der Dyade analysieren sowie die Hoffnungen, Wünsche und Bedürfnisse beider Partner*innen wiederkehrend erfassen. Die Identifikation des jeweiligen Beziehungstyps im Rahmen des CR-Prozesses kann dabei unterstützend auf die Hypothesenbildung wirken und eine erste Annäherung darstellen, aus der sich Handlungsstrategien und Interventionen ableiten lassen. Die gezielte Berücksichtigung dynamischer Beziehungsaspekte kann durch Maßnahmen wie die Beratung von Angehörigen, das Einbinden der Partner*innen in therapeutische Interventionen und die Förderung eines offenen Dialogs zwischen den Partner*innen erfolgen. Es ist entscheidend, dass beide Partner*innen die neuen Rollen als Anpassung und nicht als Verlust begreifen. Durch die Förderung von Kommunikation, Entscheidungsfindung und der Neugestaltung gemeinsamer Verantwortlichkeiten kann der Rehabilitationsprozess positiv beeinflusst und das Wohlbefinden beider Partner*innen gestärkt werden. Eine Validierung der Beziehungstypen sowie kontinuierliche Evaluation und Weiterentwicklung psychosozialer Ansätze mit einem Fokus auf die dyadische Beziehung im Kontext der Neurorehabilitation sind erforderlich, um deren Wirksamkeit weiter zu optimieren.

In diesem Beitrag wird nachfolgend von Angehörigen gesprochen. Dies schließt auch nahestehende Zugehörige der/des Betroffenen ein, die nicht direkt zur Kernfamilie gehören.

Sprachen:
Englisch, Deutsch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
1 Hefte pro Jahr
Fachgebiete der Zeitschrift:
Medizin, Klinische Medizin, Klinische Medizin, andere