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Opportunities and challenges for home care services in implementing the Buurtzorg model in Switzerland: results of an exploratory case study / Chancen und Herausforderungen für häusliche Pflegedienste bei der Umsetzung des Buurtzorg-Modells in der Schweiz: Ergebnisse einer explorativen Fallstudie


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EINLEITUNG

Eine der aktuell größten Herausforderungen des Gesundheitswesens ist der Wunsch der Bevölkerung, bei langdauernder gesundheitlicher Einschränkung umfassende häusliche Pflege in Anspruch nehmen zu können. Diese Ausgangslage ist begleitet von einer stetig steigenden Zahl an Menschen mit Mehrfacherkrankungen, verbunden mit komplexen sozialen Schwierigkeiten (Ilinca et al., 2018). Dies führte in der Schweiz in den letzten Jahren zu einem starken Leistungswachstum in der häuslichen Pflege (Bundesamt für Statistik, 2021; Lazzeri, 2020). Gleichzeitig sank die Aufenthaltsdauer in Spitälern (Bundesamt für Statistik, 2020) und Pflegeheimen kontinuierlich, was einen höheren Bedarf an prä- und poststationärer Symptomkontrolle und Therapiebegleitung nach sich zog (Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2020). Erschwerend kommt der Fachkräftemangel hinzu. Bis im Jahr 2029 wird der Bedarf an Pflege- und Betreuungspersonal im Privathaushalt um geschätzt rund 20 % ansteigen. Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage ist dabei vor allem auf das frühzeitige Ausscheiden oder den Nicht-Einstieg in den Beruf, vor allem in die Diplompflege (Tertiärstufe), zurückzuführen (Merçay et al., 2021).

Buurtzorg-Modell

Vor diesem Hintergrund des rasch steigenden Leistungsvolumens in einer gleichzeitig angespannten Personalsituation wird der Handlungsbedarf deutlich, Prozesse und Produktivität in der häuslichen Pflege in der Schweiz grundlegend zu überdenken. Das Buurtzorg-Modell setzt hier an: Orientiert an Ansätzen der Holokratie bzw. Evolutionären Organisation (Laloux, 2015; Robertson, 2015) verspricht es «Menschlichkeit vor Bürokratie». Dies wird mithilfe zweier Strategien umgesetzt: Erstens beruht das Pflegeethos auf einer ganzheitlichen und personenzentrierten Förderung der Autonomie und der Befähigung der Klient:innen. Kernprinzipien sind die Kontinuität der Pflege, der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen und nachbarschaftlicher Netzwerke sowie die Heranführung der Klient:innen an bestehende Angebote im Quartier oder in der Gemeinde. Zudem werden selbstverwaltete Teams mit bis zu 12 Pflegefachpersonen aufgebaut, von denen in den Niederlanden 70 % ein Pflegediplom und rund 40 % einen Bachelor-Abschluss haben (Drennan et al., 2018). Die Teams werden einerseits von Coaches im agilen Arbeiten begleitet und andererseits von einem nutzerfreundlichen IT-System und Back-Office unterstützt, das sich zentral um Finanzen und Verwaltung kümmert (Monsen & de Blok, 2013b). Buurtzorg verhandelte für seine Dienstleistungen mit den Kostenträgern einen pauschalierten Stundentarif. Die Pflegeteams bestimmen im Rahmen der Pauschale die Aufgaben und den Umfang der erforderlichen Pflege und Alltagsbegleitung. In Bezug auf die Kosteneffizienz und die Zufriedenheit von Klient:innen und Pflegekräften erzielte Buurtzorg über mehrere Jahre hinweg positive Ergebnisse und erhielt Preise als ausgezeichneter Arbeitgeber (KPMG Plexus, 2015).

Buurtzorg im Schweizer Kontext

Das Buurtzorg-Modell stößt auch außerhalb der Niederlanden auf reges Interesse (Hegedüs et al., 2022) und erscheint ebenso für die Schweiz vielversprechend, um die Zufriedenheit im Beruf und die Kontinuität der Pflege zu fördern. Bei einer Implementierung sind insbesondere die zwei folgenden, von den Niederlanden abweichenden Kontextbedingungen relevant: Erstens haben häusliche Pflegedienste traditionell einen heterogenen Qualifikationsmix bei ihren Mitarbeitenden, resultierend aus dem ausdifferenzierten Bildungssystem der Schweiz (Ausbildungen auf Tertiär- und Sekundarstufe sowie kurze Pflegehilfekurse). Je nach Abschluss dürfen die Mitarbeitenden aufgrund regulatorischer Bestimmungen unterschiedliche Leistungen erbringen. So ist es Berufspersonen der Sekundarstufe 2 nicht erlaubt, bestimmte gesetzlich definierte Aufgaben auszuüben, z.B, die Bedarfsermittlung, die Koordination oder die Angehörigenberatung.

In häuslichen Pflegediensten arbeiten 39 % der Vollzeitäquivalente mit einem Tertiärabschluss und 29 % mit einem Sekundarabschluss (Lazzeri, 2020). In den Niederlanden gibt es zwar ein ähnlich ausdifferenziertes Bildungssystem der Pflegeberufe, jedoch stellen die Buurtzorg-Betriebe in Bezug auf den Grade-Mix deutlich homogener ausgebildete Mitarbeitende ein, d. h. hauptsächlich mit Bachelor-Abschluss.

Der zweite bedeutsame Unterschied zwischen der Schweiz und den Niederlanden betrifft die Finanzierung von Pflege und Betreuung im häuslichen Bereich. Während im Buurtzorg-Modell mit verhandelten Pauschalen gearbeitet wird, sind die Vergütungen der Krankenversicherungen für pflegerische Leistungen in der Schweiz als Zeittarif durch den Bundesrat (d. h. der höchsten Regierungsinstanz des Landes) in einer Verordnung geregelt. Diese Beiträge sind nicht verhandelbar. Neben den Krankenversicherern und der öffentlichen Hand müssen sich auch die Privathaushalte finanziell an den gesetzlich festgelegten Pflegeleistungen beteiligen. Im europäischen Vergleich ist diese Selbstbeteiligung für die Langzeitpflege hoch (OECD, 2017).

Die häusliche Langzeitpflege ist subsidiär organisiert. Das heißt, auf nationaler Ebene werden die Bedingungen der Finanzierung und Zuständigkeiten geregelt. Auf kantonaler Ebene sind die Planung, Aufsicht und auch Restfinanzierung angesiedelt. Letzteres führt dazu, dass je nach Wohnkanton andere Kosten für die Leistungsbezüger:innen anfallen.

Auf kommunaler Ebene werden die Leistungen der Langzeitpflege angeboten (häusliche Pflegedienste, Pflegeheime etc.). Häusliche Pflegedienste benötigen eine kantonale Bewilligung, und sie handeln – sofern sie Subventionen beziehen – einen Leistungsvertrag mit Gemeinden oder Kantonen aus. Mit einem solchen Leistungsauftrag besteht eine Versorgungspflicht, der Bedarf muss ermittelt und gestützt darauf müssen Leistungen erbracht werden. Im Gegenzug erhalten die Spitex-Betriebe Steuerbeiträge, insbesondere für nicht verrechenbare Leistungen wie beispielsweise Wegkosten. Die Betriebe verantworten schließlich die Qualität der erbrachten Leistungen. Dazu existieren bisher keine verbindlichen Qualitätskriterien und auch kein unabhängiges Organ für die Überwachung der Versorgungsqualität.

Vor diesem Hintergrund setzte das Forschungsprojekt «Die Buurtzorg-Idee in der Schweiz» an und untersuchte den Wandel hin zur Organisation gemäß Buurtzorg Prinzipien in drei häuslichen Pflegediensten. Diese waren bereits vor Projektbeginn daran, Buurtzorg für die eigenen Prozesse zu eruieren und Elemente zu implementieren. Das Ziel des Forschungsprojekts war, Veränderungen, welche durch die Umstrukturierung ausgelöst wurden, zu erfassen. Durch den Einblick in die aktuelle betriebliche Situation sollten Hinweise zum Umgang mit diesen Veränderungen – auch unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen in der Schweiz – aus Sicht von unterschiedlichen Mitarbeitenden-Gruppen gewonnen werden.

METHODE

Um die komplexen Vorgänge der Umstrukturierung bestehender Organisationsstrukturen umfassend und effizient zu erheben, wurde eine multimethodische explorative Fallstudie mit zwei Erhebungszeitpunkten konzipiert. Dazu hatten die an der Datenerhebung und -analyse beteiligten Forschenden unterschiedliche disziplinäre Hintergründe (Pflegewissenschaft, Soziologie, Ethnologie).

Studien-Setting

An dem Forschungsprojekt nahmen drei Spitex-Organisationen aus der Deutschschweiz teil, die ihre Praxis entsprechend dem Buurtzorg-Modell reorganisierten (Tabelle 1). Alle drei Organisationen haben eine Betriebsbewilligung der Kantone, einen öffentlichen Leistungsauftrag und agieren als Non-Profit-Organisationen. Um die demografischen Gegebenheiten in der Deutschschweiz auch in den Daten berücksichtigen zu können, wurde darauf geachtet, dass sowohl der ländliche als auch der städtische Raum für die Leistungserbringung einbezogen war.

Übersicht des Studien-Settings.

Mitarbeitende Kund:innen Betreuungsgebiet
Organisation A Ca. 1050 Ca. 6500 Städtisch
Organisation B Ca. 120 Ca. 820 Städtisch + 1 Gemeinde
Organisation C Ca. 150 Ca. 3900 11 Gemeinden

Dabei verfolgten die drei Spitex-Organisationen nicht den Anspruch, das niederländische Modell zu kopieren, sondern die geeigneten Elemente für ihre Betriebe innerhalb des schweizerischen pflegepolitischen und kulturellen Kontexts zu adaptieren. Tabelle 2 liefert einen Überblick über die zentralen Veränderungen in den drei Spitex-Organisationen.

Zentrale Veränderungen (vorher/nachher).

VORHERklassisch-hierarchisches Organisationsmodell NACHHERSelbstorganisation mit Buurtzorg-Modell
Arbeitsabläufe und -organisation

Arbeitsabläufe vorgegeben

Starre(re) Routen- und Aufgabenvorgaben

Arbeitsteilung/Übernahme von Funktionen durch Berufsabschluss bestimmt

Aufgabenerfüllung gemäß Funktion

Selbstständige, flexible Organisation der Arbeitsabläufe

Individualisierter(er) Tagesablauf der einzelnen Mitarbeitenden

Flexiblere Arbeitsteilung aufgrund von Interessen, Ressourcen (innerhalb des gesetzlichen Rahmens)

Information zu bzw. Mitverantwortung für betriebswirtschaftlichen Erfolg

Mitwirkung bei Personalrekrutierung

Neue Rollen für alle Mitarbeitenden (nicht funktionsbezogen), regelmäßige Rollenwechsel

Neue Funktion der internen Coaches

Kommunikation und digitale Tools

Gewisse Tools nur für bestimmte Funktionen

Klassische Kommunikationsformen und -Tools (v. a. Telefon, E-Mail)

Klientenkontakt via zentrale Telefonnummer

Höhere digitale Anforderungen für alle

Neue digitale Tools für Kommunikation

Telefonische Erreichbarkeit direkt/jederzeit

Zusammenarbeit im Team

Hierarchie durch Bildungsabschluss bestimmt

Informationssitzungen für größere Gruppe

Neue Formen der Hierarchisierung

Solidarische Verpflichtung

Geteilte Verantwortung als Team

Alternative Sitzungsformate und weniger informeller Teamkontakt und -austausch

Datenerhebung

War ursprünglich ein zeitlicher Abstand von einem Jahr zwischen den Erhebungen geplant, musste dieses Vorhaben aufgrund der Corona-Pandemie im Projektverlauf angepasst werden. Sitzungsausfälle bzw. die Notwendigkeit von Ad-hoc-Umstellungen auf virtuelle Teamsitzungen sowie die zugespitzte Personalknappheit und Überlastung bedingten in beiden Erhebungsphasen Verzögerungen. Der zeitliche Abstand von t1 und t2 betrug schließlich neun Monate.

Zur Erhebung möglichst vielseitiger Forschungsdaten wurden mehrere Formen der qualitativen Forschungsmethodik ergänzend miteinander kombiniert und ein differenzierter Feldzugang konzipiert (vgl. Tabelle 3).

Gesamtheit der Datenerhebungen aus drei häuslichen Pflegediensten.

Methode N t1 N t2
Expert:inneninterviews 7 4
Fokusgruppengespräche 3 4
Problemzentrierte Interviews 0 12
Teilnehmende Beobachtungen 3 2

Während sich die Forschenden durch Expert:inneninterviews mit Leitungspersonen und Coaches Zugang zu Betriebs- und Kontextwissen verschafften (Meuser & Nagel, 2009), wurden die Erfahrungen der Mitarbeitenden im Kontext des Reorganisierungsprozesses in Fokusgruppengesprächen erhoben. Dieses Vorgehen ermöglichte Einblicke in kollektive Orientierungsrahmen und Thematiken, welche die Mitarbeitenden beschäftigten (Kruse, 2015). Das individuelle Erleben der Mitarbeitenden unterschiedlicher Qualifikationsstufen und mit ihren neuen Aufgabenfeldern wiederum wurde anschließend mithilfe von problemzentrierten Interviews kritisch ausdifferenziert (Witzel, 2000). Teilnehmende Beobachtungen an Teamsitzungen ergänzten die erhobenen Interviewdaten mit dem Ziel, in die lebensweltliche Praxis der Mitarbeitenden einzutauchen und diese losgelöst von sprachlichen Äußerungen zu erfassen (Legewie, 1995). Um dem differenzierten Methodendesign in allen Facetten gerecht werden zu können, wurden für jede Form der Datenerhebung offene Leitfäden entwickelt. Tabelle 4 zeigt die unterschiedlichen Erhebungsmethoden und ihre inhaltliche Fokussierung.

Datenerhebung und zentrale Erhebungsfragen

Methode Zentrale Fragestellungen
Expert:inneninterviews mit Führungspersonen und Coaches

Wie wird die Umstellung hinsichtlich externer und interner Bedingungen sowie Wirkungen beurteilt?

Welche Erfahrungen wurden gemacht?

Fokusgruppen mit Mitarbeitenden unterschiedlicher Qualifikationsstufen

Wie deuten, diskutieren und bewerten Mitarbeitende gemeinsam die Umstellung zu selbstorganisierten Teams?

Welche Erwartungen bestanden anfänglich und welche Erfahrungen wurden gemacht?

Welche Auswirkungen auf die (gesamte) Arbeitssituation werden festgestellt?

Problemzentrierte Interviews mit ausgewählten Mitarbeitenden

Wie deuten und bewerten Mitarbeitende aus individueller Sicht die Umstellung zu selbstorganisierten Spitexteams?

Welche Erwartungen bestanden anfänglich und welche Erfahrungen wurden gemacht?

Welche Auswirkungen auf die (individuelle) Arbeitssituation werden festgestellt?

Teilnehmende Beobachtungen bei Teamsitzungen

Wie wird Selbstorganisation in den Spitexteams umgesetzt und hergestellt?

Welche zentrale Themen zeigen sich dabei?

Datenanalyse

Die Interviewsituationen gestalteten sich flexibel und liessen, neben generalisierten Themenblöcken, genügend Raum für freie Erzählpassagen. Alle Gespräche wurden mit dem Einverständnis der Teilnehmenden aufgenommen sowie ad verbatim transkribiert. Die teilnehmenden Beobachtungen wurden mit einer Ausnahme immer von zwei Mitarbeitenden durchgeführt, die unabhängig voneinander Beobachtungsprotokolle erstellten, die ebenfalls in die Auswertung eingeschlossen wurden. Die Auswertung der gesamten Daten gründet auf der strukturierten Inhaltsanalyse nach Mayring. Entsprechend wurde das Kategoriensystem, in dem alle erhobenen Daten miteinander vereint sind, hierarchisch sowohl anhand deduktiver als auch induktiver Kategorien entwickelt (Mayring, 2015). Die Analyse-Software MaxQDA 2020 wurde für das Datenmanagement und die -analyse eingesetzt.

Die drei beteiligten häuslichen Pflegedienste wurden nach der ersten Phase schriftlich über den Projektstand informiert. Nach Abschluss der Synthesephase und kurz vor Projektende wurden zwei diskursive Phasen integriert. Zum einen wurde eine Zusammenfassung der Ergebnisse von je einem Coach bzw. einer Führungsperson schriftlich kommentiert. Zum andern präsentierte das Forschungsteam den drei häuslichen Pflegediensten in einem Online-Workshop die zentralen Studienergebnisse. Vertreten waren Mitarbeitende, Coaches und Geschäftsleitende. Mithilfe von Break-out-Sessions wurde zunächst eine Einschätzung der Teilnehmenden zu den präsentierten Forschungsergebnissen abgeholt. Das Forschungsteam achtete darauf, dass sich die Gruppen sowohl institutionell als auch in Bezug auf die vorhandenen Rollen im Betrieb durchmischten. Im Anschluss folgten zwei moderierte Diskussionsrunden. Diese dienten dazu, die präsentierten Forschungsergebnisse diskursiv zu validieren, indem die Coaches die präsentierten Chancen und Herausforderungen der Umstrukturierung beurteilten sowie die Teilnehmenden die zukünftige Entwicklung einschätzten. Daraus wurden Gewichtungen und Relevanzsetzung aus den drei Betrieben ersichtlich.

ERGEBNISSE

Die Ergebnisse zeigen ein vielschichtiges Bild der Selbstorganisation im Wandel. So werden maßgebliche Veränderungen deutlich, die Anpassungsleistungen sowohl auf individueller als auch auf Team- und Organisationsebene erforderten.

Veränderungen für die Mitarbeitenden

Für die Mitarbeitenden ergaben sich durch die Umstellung neue Aufgaben und Rollen. Dies zog auch Veränderungen in der Teamzusammenarbeit und der Arbeit bei den Klient:innen nach sich.

Neuverteilung der Aufgaben und Rollen

Die Mitarbeitenden berichten, dass ihnen im Zuge der Reorganisation grundlegend neue Aufgaben übertragen wurden, die mit mehr Verantwortung einhergehen. Sie organisieren ihre Arbeitsabläufe nun selbstständig, leiten Sitzungen, rekrutieren neue Mitarbeitende und planen Einsätze bei den Klient:innen. Dies findet Anklang und entspricht dem Wunsch nach persönlicher und betrieblicher Weiterentwicklung, wie das folgende Zitat illustriert: «Ich finde es sehr spannend, weil man ganz viel Neues dazulernt und das, ja, finde ich wirklich schön, dass man sich weiterentwickeln kann und neue Kompetenzen eigentlich auch bekommt und einen viel weiteren Einblick hat ins ganze (...) Geschäftsgeschehen.» (Fokusgruppengespräch, t1).

Durch die Übernahme neuer Rollen vertieft sich auch das Verständnis für bisher eher fremde Aufgabenbereiche. Dies wurde sowohl in den Beobachtungen als auch in den Interviews deutlich. So beschreibt eine ehemalige Führungsperson, dass es «auf der einen Seite natürlich unruhiger und nicht einfacher geworden ist, je mehr Leute planen.» (Fokusgruppengespräch, t2). Andererseits wüssten nun mehr Mitarbeitende «wie komplex das Ganze ist. Ich habe vorher auch geplant, ich kenne das sehr gut. Es ist so komplex. Und auch dort, je mehr, die das wissen, umso mehr gibt es einen Boden. Wenn es nur drei wissen, dann heißt es 〈ja, die Planung, die können nicht und schauen die nicht, und schauen die nicht besser〉 Wenn acht, neun das wissen, dann wissen neun, wie schwierig das ist.» (Fokusgruppengespräch, t2).

Angesichts der verschiedenen Rollenveränderungen – vor allem der Verlagerung von Managementaufgaben von der Linie in die Teams – stellen sich auch Fragen nach einer angemessenen Entlohnung für diese neuen Aufgaben und die damit verbundene Verantwortung. Dies geht auch einher mit betriebswirtschaftlichen Vorgaben, die es zu erfüllen gilt: «Bei uns hiess es immer, schaut, das sind eure Zeiten, das ist eure Zahl, Kennzahl, interne Zeit, oder. Ihr seid auf 56, (…) ihr müsst rauf auf 69 Prozent.» (Fokusgruppengespräch, t2). Damit wird von Mitarbeitenden auch eine erwartete Wertschätzung für diese anspruchsvollen betrieblichen Ziele angesprochen, für die sie ein Entgegenkommen im Lohn wünschen.

Die Berufserfahrung spielt bei der Teamentwicklung eine interessante Rolle. Es gab Teams in denen vermehrt jüngere Mitarbeitende tragende Rollen übernahmen, denn sie hatten eine tiefere Anfangsschwelle für die vermehrt benötigten Anforderungen für digitale Tools, z. B. für die Einsatzplanung. Längere Berufserfahrung erwies sich hingegen als Resilienzfaktor, um Krisen im Team auszuhalten und Lösungen mitzugestalten.

Die Interviews verdeutlichten auch, dass die Verteilung der bisherigen Aufgaben und Verantwortlichkeiten auf das ganze Team Grenzen hat. Rollenveränderungen brauchen Zeit zum Lernen und um Routine zu gewinnen. Ein erschwerender Faktor sind die zahlreichen Teilzeitmitarbeitenden, v. a. diejenigen mit niedrigen Stellenprozenten. Wer weniger mit den neuen Regeln der Selbstorganisation arbeitet, hat auch weniger Möglichkeiten, Verantwortung und neue Rollen zu übernehmen und diese zu trainieren. So wurden aufgrund verschiedener Faktoren wie Personalmangel, Ausbildungsstufen oder persönlichen Präferenzen Routinen und Rollenwechsel flexibilisiert und der im niederländischen Modell praktizierte regelmäßige Rollenwechsel in den Teams nicht konsequent übernommen: «Ich mache die Einsatzplanung und die Dienstplanung seit Beginn und wieso soll jetzt das jemand anderes machen, der nachher schlaflose Nächte hat, wie du sagst, und nachher nicht mehr – dann fällt der nur aus und kündet am Schluss. Was nützt das? Dann ist auch niemandem geholfen.» (Fokusgruppengespräch, t1). Allerdings können Teams und einzelne Mitarbeitende nur dann in der Entwicklung voranschreiten, wenn sie regelmäßige Erfahrungen mit den neuen Rollen ermöglichen und entsprechende Schwächen oder Unruhen erkennen und auch auffangen können.

Loslösung der Aufgabenteilung von Berufsabschlüssen

Die Neuverteilung der Rollen in den nun auch stark verkleinerten Teams führte dazu, dass den Mitarbeitenden mit Ausbildungen auf Sekundarstufe oder auch kurzen Pflegehilfekursen von den auf Tertiärstufe qualifizierten Kolleg:innen verschiedene Aufgaben mit größeren Handlungsspielräumen und Verantwortlichkeiten zugetraut und zugeteilt wurden. Früher erfolgte die Arbeitsteilung eher entlang der vom Berufsabschluss bestimmten Funktion. Dieser Wandel kann insbesondere zu einem größeren Verständnis des Pflegeprozesses – Kernauftrag der Klient:innenbetreuung – führen. Diese Perspektivenerweiterung wird als berufliche Herausforderung aufgefasst, um mit einem so erweiterten Blick die gesamte gesundheitliche und psychosoziale Versorgung zu verstehen und zu verbessern: «Also eben durch das, dass wir so verschiedene Rollen haben, also habe ich persönlich, wirklich einen viel tieferen Einblick bekommen in die Spitex-Organisation, aber auch in den Pflegeprozess. Es hat mir wirklich noch einmal ein bisschen den Horizont erweitert.» (Fokusgruppengespräch, t1).

Die ausdifferenzierten Bildungsabschlüsse der Mitarbeitenden führen in einem egalitär aufgestellten Team zu anderen und neuen Formen der Hierarchisierung, wie dies eine Mitarbeitende beschreibt: «Ich weiss auch nicht, vielleicht auch noch von früher, gewisse Hauswirtschafterinnen fühlen sich gerade schon untergeordnet und auch gewisse FaGe [Abk. für Fachfrau/-mann Gesundheit als Abschluss der Sekundarstufe 2] zu der Fallführung. Das merkt man einfach. Die kommen immer irgendetwas fragen. Es hat einfach automatisch diese Hierarchie, und es haben nicht alle die gleichen Kompetenzen.» (Fokusgruppengespräch, t1). Besonders deutlich wurde dies auch in den teilnehmenden Beobachtungen, sowohl zu t1 als auch t2. Speziell Mitarbeitende mit tertiären Ausbildungsabschlüssen haben dabei ein Gleichgewicht zwischen teaminterner Egalität und einem größeren fachlichen und regulatorischen Radius ihrer Berufsausübung zu halten. Diese Herausforderung beschreibt eine Mitarbeitende mit tertiärer Ausbildung wie folgt: «Also es haben ja auch nicht alle die gleiche Ausbildungsstufe, wie das im ursprünglichen Modell eigentlich gedacht wäre und durch das hast du trotzdem eine gewisse Verantwortung als Tertiäre und Fallführung und musst dann trotzdem deine Ideen so mitteilen können, dass der andere das nicht als von oben herab oder so anschaut. Wir haben dort zum Teil ein bisschen Schwierigkeiten, dass man nicht in so eine Rolle herein gedrückt wird auch vom Chef quasi.» (Fokusgruppengespräch, t1). Als Folge davon erzeugt diese gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsteilung, die auch aus Qualitätsgründen in den Betrieben aufrechterhalten werden muss, bei Pflegefachpersonen einen größeren Zeitdruck im Tagesablauf.

Austausch und Zusammenarbeit im Team

Der Wandel zur Selbstorganisation verändert auch die Beziehungen unter den Mitarbeitenden. Gerade durch die direktere Zusammenarbeit untereinander ohne die direktive Funktion der Vorgesetzen, berichteten Mitarbeitende, sei die Entwicklung einer ausgeprägten Solidarität möglich. Diese Solidarität und das Wir-Gefühl waren auch in den Beobachtungen deutlich spürbar. Die kollektive Bewältigung und gemeinsame Ausgestaltung des herausfordernden und teils auch überfordernden Umstellungsprozesses bietet zudem die Chance, den Zusammenhalt zu stärken – was wiederum für eine erfolgreiche Selbstorganisation hilfreich ist. Andererseits kann dieses Aufeinander-angewiesen-Sein den Zusammenhalt auch belasten und die Solidarität für die einzelnen Teammitglieder auf die Probe stellen: «Wenn du eben Teamplayer bist, und du siehst, dass irgendetwas, irgendein Notfall oder so ist, und du springst nicht ein, dann hast du fast ein schlechtes Gewissen, oder.» (Fokusgruppengespräch, t2). Somit kann mit der Selbstorganisation auch ein höheres Abgrenzungsvermögen der einzelnen Mitarbeitenden nötig sein.

Herausfordernd wurde der geringere informelle Austausch unter den Mitarbeitenden und auch mit ehemals Vorgesetzte beschrieben, denn dies erschwert die Zusammenarbeit. «Dass man dann merkt, dass man halt dann - noch mehr auf sich selber gestellt ist. Ich meine, in der Spitex arbeitet man ja schon für sich. (…) Also ich sehe da manchmal Leute, da muss ich sagen: Arbeiten die jetzt bei uns oder kommen die aushelfen?» (Problemzentriertes Interview, t2). Zwar sei die Zeit für den informellen Austausch schon seit Längerem knapp bemessen und Klient:innentermine seien eng getaktet gewesen – nun zusätzlich durch die coronabedingten Zusatzaufwendungen akzentuiert. Neu scheint zu sein, dass die selbstorganisierte Arbeit den Mitarbeitenden das Gefühl vermittelt, weniger mit Teammitgliedern zusammenzukommen, weil jedes einzelne Teammitglied den Tagesablauf nach den gemeinsamen Absprachen und gemäß Wünschen von Klient:innen meist eigenständig organisiert. «Und dass man das halt irgendwie auch akzeptiert und respektiert.» (Fokusgruppengespräch, t2). Offenbar können auch die im Rahmen der Reorganisation eingeführten digitalen Kommunikations-Tools oder alternative Sitzungsformate dieses Bedürfnis nicht für alle befriedigend erfüllen.

Als wichtig erachteten die interviewten Personen, dass diese neu geltende Eigenständigkeit bereits bei den Personalrekrutierungen berücksichtigt und die neuen Mitarbeitenden darin gefördert werden. Dabei – dies verdeutlicht die folgende Aussage einer älteren Mitarbeitenden – spielt die Berufsbiografie und -sozialisierung eine wichtige Rolle: «Weil wir ja eben eine lange (lacht) Hierarchieprägung (…) im Sinne von - ja, ich denke, einfach auch unsere Jahrgänge halt. Dort war man halt wirklich auch einfach Oberschwester und Stationsleiter (…). In jeglichem Beruf war das so. Ich merke, das bringt sicher auch unser Jahrgang - oder einfach unsere Generation noch etwas mehr. Dass es wirklich einfach sehr viel gebraucht hat, dass man wie - ‘ah jetzt können wir selber’ oder ‘jetzt können wir eigentlich mitreden’ oder so. Das braucht schon noch einen richtigen Prozess.» (Fokusgruppengespräch, t2). Selbstorganisation fordert und fördert demnach eigenständig denkende und handelnde Mitarbeitende. Wer diesen Prozess nicht mittragen könne oder wolle, sei in einem Betrieb mit traditioneller Arbeitsweise besser aufgehoben, so das Zitat einer Mitarbeiterin in der Rückschau zu einer ehemaligen Kollegin, die nach dem Weggang gesagt habe, dass für sie «nun eine riesige Belastung weg ist: Ich muss nicht mehr planen und nicht mehr nachdenken. Nur arbeiten gehen.» (Problemzentriertes Interview, t2). Diese Aussage «nur arbeiten gehen» verdeutlicht die (noch bestehende) Trennung zwischen den mit der Selbstorganisation einhergehenden «neuen» Rollen und der «eigentlichen Arbeit», d. h. der Pflege und Zusammenarbeit mit Klient:innen oder Angehörigen.

Perspektivenerweiterung in der Klient:innenarbeit

Aus der Reorganisation und insbesondere durch die Perspektivenerweiterung der Mitarbeitenden auf Sekundarstufe resultierte eine teils verstärkte Zusammenarbeit mit Klient:innen und eine erhöhte Pflegekontinuität, um die gesteckten Ziele im Pflegeprozess zu erreichen. Allerdings erwähnen Mitarbeitende auch Effekte von neuen administrativen Änderungen, wie z. B. die abgeschaffte zentrale Telefonnummer des Teams. So sind neu die Mitarbeitenden individuell für die Klient:innen erreichbar. Dies schmälert möglicherweise den positiven Kontinuitätseffekt, wenn Mitarbeitende unterwegs direkt Anrufe erhalten und so während Einsätzen – also auch in den Wohnzimmern der Klient:innen – die Pflegetätigkeit unterbrechen und die Anrufe beantworten müssen.

Reorganisationsprozess initiieren und begleiten

Für die Gesamtorganisationen war die Umstellung auf selbstorganisierte Pflegeteams ein fundamentaler Struktur- und Kulturwandel. So wurden bspw. neue IT-Applikationen eingeführt, Teamgrössen angepasst und Personen in Vorgesetztenfunktionen übernahmen die Rolle von Coaches. Für diesen Prozess ist gemäß den beteiligten Betrieben ein Commitment zum neuen Modell auf allen Ebenen wichtig. Dieser Notwendigkeit begegneten die Betriebe mit einem schrittweisen Vorgehen. Dies betraf ausgewählte Teams, in denen Pilotprojekte umgesetzt und erprobt wurden, einschließlich der Übergabe von Aufgabenbereichen und -kompetenzen in bestimmten Rollen bis hin zur Umstellung auf selbstorganisierte Teams im gesamten Betrieb. Unterstützt wurde der Prozess von internen und externen Schulungen der Mitarbeitenden, um Haltung und Praxis weiterzuentwickeln. Für die Betriebsleitung war dieser fundamentale Reorganisationsprozess herausfordernd, denn sie muss Kompetenzen und Verantwortung an die Teams übertragen. Dies ist paradox, wie ein Betriebsleiter formulierte: «Theoretisch brauchst du am Anfang hochqualifizierte Leitende, die bereit sind, sich selber abzuschaffen.» (Expert:inneninterview, t1).

Der Entscheid zur Umstellung hin zur Selbstorganisation wurde in Expert:inneninterviews als wichtiger Meilenstein und partizipativ-demokratischer Schritt geschildert. Dem steht gemäß Aussagen von Mitarbeitenden gegenüber, dass dieser Entscheid je nach Betrieb von der Führungsebene gefällt wurde. So konnten Mitarbeitende im Vorfeld von Pilotprojekten zwar in strategischen Entscheidungsprozessen partizipieren, in der Umsetzung ihrer Präferenzen war die Beteiligung dann jedoch je nach Betrieb weniger möglich.

Vom Vorgesetzten zum Coach

Um die in den vorigen Abschnitten beschriebenen Spannungsfelder und damit verbundene Veränderungsund Anpassungsprozesse zu unterstützen, sind interne Coaches wichtige Vermittlungspersonen. Dies erlebte das Forschungsteam konkret in einer Diskussion während einer Beobachtung zum Zeitpunkt t1. Auch in den Interviews lobten Mitarbeitende ausdrücklich die Unterstützung durch die Coaches auf individueller und Teamebene. Dabei unterscheidet sich die Arbeitsweise der Coaches maßgeblich von jener der früheren Vorgesetzten. Ein Coach, früher in Vorgesetztenrolle, formuliert es so: «Ich sage jetzt nicht mehr 〈Okay, dann machst du das jetzt einfach so und so und so〉 sondern sie sage nun eher 〈Hey, wir bringen das zusammen oder bringe das gerade selber in die Teamsitzung, ich bin ja dabei〉.» (Expert:inneninterview, t1). Dieser Wechsel im Stil und in der Arbeitsbeziehung zu den Mitarbeitenden ist nicht einfach und fordert sowohl Coaches wie auch Mitarbeitende heraus. So zeigte auch eine Beobachtungssituation zu t1, dass gewisse Mitarbeitende gerne Verantwortung an die ehemalige Vorgesetzte zurückgegeben hätten. Der Rollenwechsel erfordere «ein großes Umdenken», so ein anderer Coach: «Also von 〈Ich sage, was richtig ist〉 zu 〈komm zu mir, wenn du eine Frage hast und ich unterstütze dich.〉 Das ist ein Riesenunterschied.» (Expert:inneninterview, t1). Dabei lassen sich alte Strukturen und Denkweisen mit einer neuen Funktion nicht über Nacht beseitigen – weder auf Führungs- noch auf Mitarbeitendenebene. Zum einen ist es für Coaches, v.a. für ehemalige Vorgesetze, schwierig, sich in dieser neuen, unterstützenden Rolle zurechtzufinden – umso mehr im Rahmen eines laufenden Umstellungsprozesses. Zum anderen finden sich Coaches zum Teil in einem Rollenkonflikt wieder, in dem sie von den Mitarbeitenden noch immer mit ihrer leitenden Position wahrgenommen werden, z. B. wenn diese eine konkrete Hilfestellung erwarten. So beschreibt eine Mitarbeiterin ihre Zusammenarbeit mit einer ehemaligen Vorgesetzten, die nun eine Coaching-Rolle hat, und um kompetent beraten zu können, nun zahlreiche Kontexterläuterungen benötigt: «Aber man muss auch viel erklären, den Coaches. Weil sie sind ja nicht im Kundengeschehen involviert, oder. Man muss ganz viel erklären, ganz viel auseinandernehmen. Und wenn ich ein Problem habe und am Anschlag bin, denn nachher, früher konnte ich zu Frau T. und sie war im Kundengeschehen involviert. Sie wusste genau, wer wer ist, und wie wer tickt.» (Fokusgruppengespräch, t2). Auch laut der Aussage von Coaches besteht diese Ambivalenz, wenn sie sich in eine neue, herausfordernde Rolle einarbeiten müssen. Einerseits sind sie v. a. in einer Übergangsphase (noch) Vorgesetzte, oder sie werden als solche wahrgenommen und angefragt. Andererseits sollten sie die Mitarbeitenden und Teams sich selber organisieren lassen. Dabei ist die durch das vorige Zitat deutlich gewordene Distanz der Coaches zum Kundengeschehen durchaus gewollt – schließlich sollen die Mitarbeitenden selbstständig oder im Team Lösungen finden.

DISKUSSION

Die Reaktionen der befragten und beobachteten Personen auf die vielfältigen Veränderungen reichten von Freude über die Perspektivenerweiterung zu Vorbehalten in der Rollen- und Teamentwicklung bis hin zu Ernüchterung in Bezug auf die als ungenügend erachtete monetär ausgedrückte Wertschätzung des Engagements. Es zeigte sich, dass sowohl die betriebliche Führung als auch die Teams permanent gefordert waren, sich in einem Spannungsfeld zwischen tradierten Rollenverteilungen und Hierarchien (Grades, Skills, Erfahrung/Seniorität) einerseits sowie einer im Buurtzorg-Modell bestimmten Egalität andererseits zurechtzufinden.

Insgesamt spielten für den Reorganisationsprozess und die Adaption des Buurtzorg-Modells drei Faktoren eine entscheidende Rolle: der betriebsweit erforderliche Kulturwandel, die u. a. auch bildungsbedingt unterschiedlichen Ressourcen der Mitarbeitenden und die Widersprüchlichkeit von agilem Arbeiten in einer stark regulierten und personell unterdotierten Branche.

Gesamtbetrieblicher Kulturwandel und Lernprozess

Für einen umfassenden Kulturwandel in Richtung Buurtzorg-Modell ist ein Commitment auf allen betrieblichen Ebenen erforderlich. Während im operativen Alltag Anpassungsleistungen für kurz- und mittelfristige Veränderungen erforderlich sind, ist eine auf allen Ebenen geteilte Vision für einen zukunftsfähigen Betrieb unabdingbar. Denn die im Change-Prozess notwendige betriebliche Re-Stabilisierung entsteht weniger durch die Gestaltung und Verinnerlichung bestimmter Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse, sondern auf der Ebene von Normen und Werten bzw. von Kultur und Identität (Gergs et al., 2018). Das Ziel der Betriebe ist es demnach, einen gut etablierten Konsens zu den Werten und Normen des neuen Organisationsmodells zu finden (Au, 2017). Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass durch Agilität und Flexibilität die soziale Integration der Organisation gefährdet werden kann (Gergs et al., 2018) und dass dauerhaft agile Organisationen zu Desintegration und Selbstauflösung tendieren. Wandel und Stabilität sind also dauernd in Balance zu halten. Damit einher geht die Notwendigkeit eines fortlaufenden betriebsinternen Diskurses über Spielräume und Grenzen der zentralen Konzepte wie «Selbstorganisation» und «Autonomie» oder zu formalen und informellen Hierarchien (Laib et al., 2020). Dies bedingt eine Team-, Kommunikations- und Entscheidungskultur mit vertrauensvollem Umgang und der zeitnahen Möglichkeit für Feedback. Ebenso wichtig ist eine Fehler- und Konfliktkultur, die Fehler und Unsicherheit tatsächlich zulässt, da gerade dies Veränderung ermöglicht (Au, 2017). All dies muss Teil einer Qualifikationsstrategie sein, mit der die Mitarbeitenden und Coaches das Mindset der Selbstorganisation und die nötige Veränderungskompetenz entwickeln können. Eine solche Strategie setzt möglichst nah am Betriebsalltag an und führt Mitarbeitende individuell an die verlangten Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten heran (Laloux, 2015). Angestrebt ist ein kollektiver Lernprozess, der überindividuelle Kompetenzen bildet und sich dauerhaft in die Organisationsstruktur und -kultur einschreibt.

Fähigkeiten und Befugnisse durch Bildungsabschlüsse

Im Unterschied zum niederländischen Modell sind in der Schweiz heterogene Bildungsabschlüsse bei Mitarbeitenden in häuslichen Pflegeteams üblich. Die Spannweite reicht von Master-Abschlüssen in Pflegewissenschaft (derzeit in der Branche zwar zunehmend, aber insgesamt noch selten) bis zu Pflegehilfekursen. Diese Heterogenität ist herausfordernd für die bedarfsgerechte und regelkonforme Personalplanung in den Teams, gleichzeitig aber auch eine Chance. Gerade weniger qualifizierte Mitarbeitende können in kleineren überschaubaren Teams gezielt(er) eingebunden und in ihren Kompetenzen gestärkt werden. Mit Blick auf das in den Niederlanden praktizierte Modell mit hohem Anteil an tertiär ausgebildeten Pflegemitarbeitenden bleibt zu fragen, inwiefern die Fähigkeit zu selbstorganisierter und selbstverantwortlicher Arbeitsweise wirklich mit individuellem Engagement und Lern- und Anpassungsschritten gefördert werden kann oder ob tertiäre Bildungsabschlüsse mit einem breiteren Verständnis für methodisches und systemisches Handeln noch stärker gefördert werden müssten. Martela (2019) zufolge funktioniert Selbstorganisation in den Branchen besser, in denen das Fachwissen, die Motivation und Arbeitsmoral der Mitarbeitenden hoch sind. Um in der Schweiz einen ähnlichen Personalmix wie in den Niederlanden zu erreichen, bedarf es einiger Anstrengungen seitens der häuslichen Pflegedienste sowie einen Imagewandel. Derzeit arbeiten nach dem ersten Berufsjahr nur 4 % der Absolvent:innen einer Diplomausbildung in Pflege in der Spitex. Nach 6 Jahren sind es 8 % (Schaffert & Golz, 2020). Um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und häusliche Pflege auch für Berufseinsteiger:innen attraktiver zu machen, wären vor allem Veränderungen im Hinblick auf Lohn und Arbeitsbelastung sowie bei den Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie angezeigt (ebd.). Das heißt, auch Spitex-Organisationen, die nach dem Buurtzorg-Modell arbeiten, sollten explizit Veränderungen vorsehen, wenn sie einen höheren Anteil an Tertiärmitarbeitenden anstreben. Denn deren Kompetenzen für systemisches und systematisches Denken und Handeln entlang des Pflegeprozesses und darüber hinaus der Vernetzung im sozialen Nahraum und mit Leistungserbringern – also der Koordinationsleistungen – zugunsten von Klient:innen wie auch der Befähigung und Unterstützung von Angehörigen – d. h. der Beratungsleistungen – sind zentrale Aufgaben im Buurtzorg-Modell, die gemäß gesetzlicher Grundlagen in der Schweiz auch vergütungsfähig sind.

Selbstorganisiertes Arbeiten innerhalb regulierter Rahmenbedingungen

Für die Teams ist die Umsetzung einer agilen Arbeitsweise innerhalb von stark regulierten Rahmenbedingungen besonders herausfordernd, denn diese Bedingungen entziehen sich ihrer Kontrolle. Ein bedeutender regulatorischer Unterschied zwischen Holland und der Schweiz ist der im Buurtzorg ausgehandelte pauschalierte Stundentarif im Unterschied zur Schweiz mit einer nicht verhandelbaren Mischfinanzierung von gesetzlich definierten pflegerischen Einzelleistungen, die darüber hinaus auch in der Ausübung, bzw. der Qualifikation der ausübenden Berufsperson geregelt ist. Zudem kommt im Buurtzorg-Modell dem Assessment und der Vorbereitung und Vernetzung des informellen und formellen Netzwerks von Klient:innen – insbesondere auch im umliegenden Wohnquartier – große Bedeutung zu. In der Schweiz ist der finanzierte Zeitumfang für solche Leistungen gering (60 Std. im Quartal für Abklärung, Beratung und Koordination) und für das grundlegend wichtige Initial-Assessment hinsichtlich des Aufbaus eines engmaschigen Betreuungsnetzes zu knapp bemessen. Dieselbe Finanzierungslogik betrifft das früh im Pflegeprozess zu fördernde Selbstmanagement (Haslbeck & Schaeffer, 2007) als zentrales, präventives Korrelat für die Ermöglichung des Lebens zuhause mit chronischer Krankheit (MacLean et al., 2014; Zanoni et al., 2018). Der Nexus zur Leistung «Beratung» ist bislang für die Spitex-Branche kaum herausgearbeitet.

Ein weiteres Spannungsfeld im Kontext von Regulierung und agiler Arbeitsweise eröffnet sich aufgrund des taylorisierten Tätigkeits- und Abrechnungssystems. Die Ausübung der pflegerischen Tätigkeiten, v. a. der Maßnahmen zur Untersuchung und Behandlung fußen zwar auf der Bedarfsabklärung, können aber nur mit ärztlicher Verordnung und gesetzlich festgeschriebenem Zeittarif abgerechnet werden. Diese Regulierungen beim von der Grundversicherung gedeckten Tätigkeitskatalog bergen die Gefahr einer Tick-box-Mentalität. Wenn Pflegende nur noch überlegen «Was ist verordnet?» und «Welche Einzelleistung ist abrechenbar?», widerspricht dies dem agilen, personenzentrierten und ganzheitlichen Grundgedanken von Buurtzorg (Monsen & de Blok, 2013a). Mitarbeitende bewegen sich täglich im Spannungsfeld von ausgeprägten Regulierungen auf der Makroebene und geforderter Agilität auf der Meso- und Mikroebene der Teams bzw. einzelner Mitarbeitender. Sie erleben paradoxe Situationen und berichten von Skepsis und Überforderung durch neue Arbeitsbereiche oder der geforderten Eigenständigkeit, aber auch von veränderter Austauschkultur, welche einiges Abgrenzungsvermögen erfordert. Im Buurtzorg-Modell ist Flexibilität als Erfordernis akzentuiert. Jedoch ist bekannt, dass die Kombination von flexiblen Arbeitsformen, hoher Verausgabungsbereitschaft und fehlender Abgrenzungskompetenz sich negativ auf die Gesundheit auswirken (Mache & Harth, 2016). Es kann zu Frustration, krankheitsbedingten Ausfällen und einer höheren Fluktuationen führen. Hier sind die Fähigkeiten der Coaches gefragt, die Motivation und Einsicht in die Sinnhaftigkeit neu zu erlangender Kompetenzbereiche zu schärfen und ausbalancieren zu helfen und auch den Nutzen des Change-Prozesses für Klient:innen und Angehörige zu verdeutlichen. Dazu gehört auch, dass sie Mitarbeitende dazu anhalten, das Potenzial der sogenannten A-Leistungen – Abklärung, Beratung und Koordination – auszuschöpfen, denn diese Leistungen lassen Spielraum, etwa für (Sekundär-)Prävention, Selbstmanagementförderung wie auch die Befähigung von pflegenden Angehörigen. Lassen sich hierdurch vermeidbare Hospitalisationen realisieren, so weckt dies den Berufsstolz und trägt zum Erkennen der Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit bei (Jenkins et al., 2021).

Limitationen

Die Ergebnisse dieser Studie beziehen sich auf öffentlichrechtliche traditionsreiche häusliche Pflegedienste in der Deutschschweiz. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf private Spitex-Organisationen oder jene in der Westschweiz und dem Tessin ist limitiert. Weiter war der Abstand zwischen den zwei Erhebungen für eine Darstellung des organisationskulturellen Wandels eher kurz. Außerdem wurde die Datenerhebung und -analyse zu t1 und t2 von unterschiedlichen Mitarbeitenden durchgeführt. Der Einfluss des Personalwechsels auf die Datenqualität kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

EMPFEHLUNGEN FÜR PRAXIS UND FORSCHUNG

Basierend auf den dargelegten Forschungsergebnissen und der Diskussion lassen sich folgende Empfehlungen für Praxis und Forschung ableiten: Eine von oben «verordnete» Selbstorganisation widerspricht den Grundprinzipien der Selbstorganisation und sollte möglichst vermieden werden. Für die betriebliche Praxis wichtig sind genügend und geeignete Reflexionsmöglichkeiten und Austauschgefäße, um die diskutierten Spannungsfelder auszuloten und aufzufangen. So können die neuen Verantwortungsbereiche und Rollen kontinuierlich entwickelt, geschärft und im Alltag erprobt werden. Hier sind fortlaufende Reflexion und Kommunikation unabdingbar, damit sie als zentrale Ressource für eine lernende Organisation flexibel und agil zur Verfügung stehen.

Außerdem braucht es den Auf- und Ausbau einer breit verankerten betrieblichen Lernkultur mit kontinuierlichen Angeboten zur Unterstützung sämtlicher Mitarbeitenden, damit sie begleitet in die neue Arbeitsweise hineinwachsen können. Die Mitarbeitenden selbst sind gefordert, sich dieser persönlichen und professionellen Weiterentwicklung zu stellen. Gleichzeitig ist aber auch zu respektieren, wenn es Mitarbeitende gibt, die sich nicht auf dieses Arbeitsmodell einlassen können oder wollen. All dies erfordert zusätzliche finanzielle Ressourcen: sei es für den Einkauf oder die interne Bereitstellung von Befähigungsmaßnahmen oder aber um der Frage der höheren Entlöhnung bei erweitertem Verantwortungsprofil nachzukommen.

Für die regulierten Prozesse und die Finanzierung der pflegerischen Leistungen wirken sich nichtverhandelbare Zeit- und Vergütungstarife einschränkend auf die sichere Leistungserbringung aus. Gesetzlich finanzierte Leistungen wie Beratung und Koordination, die in der entsprechenden Verordnung sprachlich und inhaltlich nicht ausdifferenziert sind, lassen zwar reichlich Spielraum für professionelles Handeln. Allerdings führt dies auch dazu, dass Kostenträger eben diesen Spielraum mit Finanzierungskürzungen beschneiden können, wenn sie nicht hinreichend argumentiert und im Berufsalltag integriert sind. Hier liefert Buurtzorg mit verhandelten Tarifen und einem Fokus auf vernetzte und integrierte Leistungen Impulse für eine Finanzierungs- und Regulierungsreform in der hiesigen häuslichen Pflege. Wie diese Verhandlungsposition in den Niederlanden bespielt wurde und in die Tarifdiskussionen übertragen wird, wäre ein weiteres Lernfeld für die Umsetzung von Buurtzorg in der Schweiz.

Im Hinblick auf zukünftige Forschung verdeutlicht dieses Forschungsprojekt, dass neben der betrieblichen Reorganisation weitere für das Buurtzorg-Modell integrale Elemente wie die stärkere Einbindung und Befähigung von Klient:innen und Angehörigen sowie die Aktivierung des Nachbarschafts- und Quartierraumes im Zentrum zukünftiger Forschungsaktivitäten stehen sollten. Hier gilt es auch explizit, das Potenzial partizipativer Ansätze auszuschöpfen. Denn die Orientierung am Buurtzorg-Modell bietet die Möglichkeit, die Verantwortung für Teams auch in der Zusammenarbeit mit Klient:innen und Angehörigen neu zu denken und partizipative Denkund Handlungsweisen zu erproben und zu etablieren. Begleitet durch Forschende, kann dieser Prozess z. B. mit Methoden der Aktionsforschung zu einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung und Personenzentrierung beitragen.

eISSN:
2296-990X
Sprachen:
Englisch, Deutsch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Medizin, Klinische Medizin, andere