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Dimitri Almeida, ein Europäer mit mehreren wissenschaftlichen Heimaten

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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Vom Umgang mit Krankheit im öffentlichen Raum. Ein internationaler Blick. De la gestion de la maladie dans l’espace public.Un regard international

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Lächelnd gegen einen Tisch gelehnt, redete Dimitri Almeida mit einer Gruppe Studierender, die, ebenfalls lächelnd, an seinen Lippen hingen. Dies war mein erster Eindruck, als ich ihm vor mehr als einem Dutzend Jahren an der Universität Freiburg, unser beider alma mater, begegnete. Er arbeitete damals im Sprachlabor, ich war Universitätsdozentin am Seminar für Wissenschaftliche Politik. Meine Kollegin Ingeborg Villinger, eine Expertin für die politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, hatte uns damals miteinander in Kontakt gesetzt. Sie hatte ihn mir als ungewöhnlich wachen und sprachgewandten klugen Kopf empfohlen. Dimitri hatte die Idee, im Bereich der vergleichenden Politikwissenschaft und möglichst mit Bezug auf Frankreich zu promovieren, und dies entsprach meinen Forschungsschwerpunkten. Ingeborgs geradezu überschwänglichen Worte hatten mich sehr neugierig gemacht. In den folgenden Jahren sollte ich sie bestätigt finden.

Nach meiner Berufung auf die Professur für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Kassel war Dimitri dort mein erster Doktorand (mit dem Prädikat „summa cum laude“) und übernahm bald auch Lehraufträge in seinem Forschungsgebiet, der Politik in Europa. Als Lehrbeauftragten erlebte ich ihn tatsächlich so, wie ich ihn schon bei der ersten Begegnung wahrgenommen hatte: eloquent, freundlich, hoch aufmerksam und auf den Punkt argumentierend. Bei der Durchführung seines Dissertationsprojekts stellte Dimitri dann eindrucksvoll unter Beweis, dass er von einem genuin wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse getrieben war und es verstand – mit Max Webers Worten – mit großer Souveränität „dicke Bretter zu bohren“. Er befasste sich in seiner umfassenden Studie mit den Auswirkungen des Euroskeptizismus auf die Entwicklung der Parteiensysteme der EU-Mitgliedsstaaten. Das von ihm gewählte aufwändige Untersuchungsdesign erforderte eine Kombination quantitativer und qualitativer Methoden der empirischen Sozialforschung, denn Dimitri nahm in einem ersten großen Schritt die strukturelle Entwicklung der Parteiensysteme in den Blick, und fokussierte in einem zweiten Schritt die Entwicklung innerhalb der einzelnen Parteifamilien. Es war nicht nur vom Gegenstand her ein zutiefst europäisches Projekt, sondern auch in seinem Entstehungsprozess: Dimitri suchte aktiv und erfolgreich den Austausch mit europäischen Fachkolleginnen und Fachkollegen im Rahmen des European Consortium of Political Research (ECPR). Die Freude an diesem Austausch und die Leichtigkeit, mit der er sich in diesem internationalen Kontext bewegte, waren sicherlich auch durch seine eigene Biographie und seine Sprachkenntnisse begünstigt: Immerhin besaß er drei Staatsbürgerschaften (Portugal, Frankreich, Deutschland) und beherrschte damit souverän mehrere in Europa gesprochene Sprachen, darunter auch das Englische als die wissenschaftliche lingua franca der Gegenwart.

Hinzu kam in seinem Fall eine echte Disposition für die Wissenschaft. Durch den Austausch im Netzwerk der ECPR erweiterte und vertiefte Dimitri sehr zielstrebig seine Methoden-Kompetenz, und stellte sein Projekt im Rahmen von ECPR-Tagungen zur Diskussion. Dass ein junger Wissenschaftler so selbstbewusst und offen die kritische Auseinandersetzung mit der Fachwelt sucht, ist ungewöhnlich, und spricht für seinen Wissensdrang und seine Freude an der wissenschaftlichen Forschung. Sein mit hohem Engagement durchgeführtes Promotionsprojekt erbrachte einen wissenschaftlich exzellenten Ertrag: Seine Dissertation, die beim renommierten Routledge-Verlag auf Englisch erschien, stellt heute einen Referenzpunkt der europäischen Parteienforschung dar und erreichte bald – für eine Dissertation bemerkenswert – eine zweite Auflage.

Unmittelbar nach seiner Promotion musste Dimitri allerdings erst einmal feststellen, dass in der deutschen Politikwissenschaft sein methodisch breites, sozial- wie kulturwissenschaftliches Profil an einigen sozialwissenschaftlichen Fachbereichen offensichtlich eher skeptisch betrachtet wurde. Inzwischen wird – zumindest vom deklarierten Anspruch her – an deutschen Universitäten interdisziplinäre Forschung gefordert und wertgeschätzt, aber damals zeigte sich, dass Wissenschaftler:innen mit einem durchgängig fachdisziplinären Werdegang an den Universitäten leichter in die akademischen Stellen, jedenfalls der empirischen Sozialwissenschaften, einfädeln konnten. Dimitri, diesen offenen und kreativen Geist, konnte dies allerdings nicht auf seinem eigenen wissenschaftlichen Weg abbremsen. Er verfolgte sein Interesse an der Entwicklung der europäischen Gesellschaften und Kulturen an der Universität Göttingen nun aus einer stärker kulturwissenschaftlich-romanistischen Perspektive weiter. Seine Veröffentlichung im Jahr 2017 unter dem Titel „Laizität im Konflikt – Religion und Politik in Frankreich“ liefert eine differenzierte Analyse der geistesgeschichtlichen wie politischen Wurzeln dieses Konflikts und zeigt zudem die Auswirkungen der Politisierung von Religion auf die französische Gesellschaft. Im Jahr 2017 hatte mich Dimitri an das Max Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen eingeladen, um die politischen Entwicklungen im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen zu diskutieren. Sein eigener Beitrag behandelte die Resonanz der rechtspopulistischen Front national im ländlichen Raum. Sein hervorragender Sensor für aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zeigte sich auch in den wissenschaftlichen Artikeln, die er in den Jahren danach veröffentlichte, und zuletzt auch in seiner Antrittsvorlesung an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, die er am 23. Mai 2023 zu „Hijab stories“ hielt, zu einem neuen Genre, das, wie er erläuterte, helfen kann, Laizität und die Identitätskonstruktion junger Muslima in der Gegenwart zu verstehen. Dieser so inspirierende Vortrag kostete ihm sichtlich Kraft. Der Krebs, gegen den Dimitri schon seit langem kämpfte, und gegen den er mit unglaublicher Willenskraft seinen Schaffensdrang behauptet hatte, setzte dem Weg dieses europäischen Ausnahme-Talents kurze Zeit nach seiner Antrittsvorlesung am 12. Juni 2023 brutal ein Ende. Alle, die ihn kannten, werden sein freundliches, helles und erhellendes Wesen vermissen. Es schmerzt ungemein mit Gewissheit zu wissen, wie viel mehr Dimitri noch hätte beitragen können zur europäischen Kultur und Politik sowie ihrer Analyse, wenn ihm mehr Jahre vergönnt gewesen wären.

eISSN:
2545-3858
Languages:
German, English, French