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Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.), Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie. Perspektiven aus der Wissenschaft, transcript Verlag, Bielefeld, 2020

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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Vom Umgang mit Krankheit im öffentlichen Raum. Ein internationaler Blick. De la gestion de la maladie dans l’espace public.Un regard international

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„Das vermeintliche ‚Ende der Geschichte‘ hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt.“ Dieser Satz aus dem Geleitwort zur Reihe X-Texte zu Kultur und Gesellschaft bei transcript lässt sich auch als Motto für den 2020 erschienenen Band lesen.

Über 30 renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler großer Disziplinen folgten der Einladung der Herausgeber, des anglistischen Linguisten Bernd Kortmann und des Spezialisten für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik Günther G. Schulze, um schon damals die Welt nach Corona analytisch und pointiert zu erkunden. Entstanden ist ein Kaleidoskop unterschiedlicher Blicke auf das, was die Herausgeber als die schwerste Krise der Bundesrepublik und einen multiplen Systemschock bezeichnen (S.9), was die Autorinnen und Autoren jedoch zurecht in einer globalen und historisierenden Perspektive problematisieren und dabei die (westliche) Moderne als Horizont aufrufen. Alltag mit und nach Corona, die (Nach)Corona-Gesellschaft, Religion, Kirche und Philosophie, Politik, Wirtschaft, Staat, Wissenschaft, Erkenntnis und ihre Kommunikation und die Weltordnung nach Corona sind die großen Kapitel dieses Buches, das lesenswert, informativ, mitunter provokativ und insgesamt erhellend ist. Es besticht nicht in erster Linie durch die Antworten, sondern durch die Fragen, die hier aufgeworfen werden. So mag sich auch der Titel rechtfertigen, der in die Zukunft weist.

Den Interessen unserer Zeitschrift gemäß, sollen hier kulturwissenschaftlich besonders affine Beiträge interessieren. Die vorzustellende Auswahl solcher Texte stammt aus der Feder von Politikwissenschaftlern, Soziologen und Literaturwissenschaftlern. Ihnen ist gemeinsam, dass sie auf Einschnitte im gesellschaftlichen Leben in den modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften rekurrieren, die durch die Pandemie hervorgerufen bzw. besonders sichtbar wurden, die nun ein Nachdenken provozieren.

Herfried Münkler und Marina Münkler reflektieren die Folgen des geschwundenen Vertrauens in die wissenschaftliche Prognostik, die durch den Einbruch des Unvorhersehbaren hervorgerufen worden ist. Ausgehend von der These, dass die Wissenschaft und ihre Prognostik in der modernen Gesellschaft jene Rolle übernommen haben, die zuvor das Gottvertrauen in der alten Gesellschaft gehabt habe, wiegt der Vertrauensverlust, den die Pandemie hervorgerufen hat, schwer. Dabei war es das „Beherrschbarkeitsnarrativ“, das in der öffentlichen Wahrnehmung dominierte, obwohl Wissenschaftler vor einer Pandemie gewarnt hatten (S. 103). Von diesem Befund ausgehend, reflektieren die Autoren die Herausforderungen, die sich für die Wissenschaften nunmehr ergeben. Die Perspektive wird darin gesehen, dass wissenschaftliche Modelle mit größerer Kontingenzresilienz entwickelt werden müssen und auf ein arbeitsteiliges Vorgehen von Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu setzen ist. Letzteren wird die Aufgabe zuteil, über fortbestehende Kontingenzen und Kontingenztoleranzen nachzudenken, was von dem radikal Unvorhersehbaren zu unterscheiden ist. Damit öffnet sich ein Feld der wissenschaftlichen Kooperation, bei dem über bestimmte Zuständigkeitsverteilungen zwischen Planung und Strategie, Zukunftsberechnung und Prognose, Risikoanalyse und Ungewissheitstoleranz nachzudenken sein wird (S. 104). Ihr Plädoyer gilt einer Wissenschafts-kommunikation, die in Zeiten einer neuen Ungewissheit „das Ungewisse zulässt und nicht von Gewissheitsarroganz“ geprägt ist (S. 105). In diesen Kontext gehört auch die Einschätzung der Verschwörungstheorien, denen gemeinsam ist, dass das Ungewisse durch alte und vermeintliche Gewissheiten ersetzt wird. Hervorzuheben ist dabei der Gedanke, der bereits an den aus der Forschung zur interkulturellen Kommunikation erinnert, nämlich dass durch Aufklärung solchen vermeintlichen Gewissheiten nicht beizukommen ist, sondern dass es darum gehen muss, Ungewissheitstoleranz einzuüben. Unsicherheitstoleranz, die noch stärker auf leibliche Erfahrungen abhebt, hat sich bereits seit längerer Zeit als eine Kernkompetenz in unseren modernen Gesellschaften herauskristallisiert. Wenn Münkler und Münkler schreiben, dass das Fehlen von Ungewissheitstoleranz die Funktions-voraussetzungen moderner Gesellschaften in Frage stellt (S. 106), so gilt dies in einem noch weiteren Sinn auch für die Unsicherheitstoleranz. Die Pandemie hat insofern ein Problem deutlich gemacht, das bereits seit längerer Zeit existierte, ohne dass es tatsächlich bearbeitet worden sei.

Die Soziologin Vera King setzt an einem anderen Punkt der Einschnitte an, die die Pandemie herbeigeführt hat: Ihr geht es um die Unterbrechung eines kulturellen Musters der Moderne durch die Pandemie, nämlich des Lebens „im Modus des Aufbruchs, der Steigerungen, Dringlichkeiten und damit verbundener Orientierungszwänge“ in vielen Lebensbereichen. Altersunterschiede und Generationendifferenz traten in der Pandemie auf neue und unhintergehbare deutliche Weise hervor. „Die Figur des ewigen Aufbruchs als kulturelles Muster der Verarbeitung und Abwehr von Vergänglichkeit hat auf unterschiedlichen Ebenen Risse bekommen: moralisch oder normativ, lebenspraktisch und damit auch im psychischen und psychosozialen Sinne“ (S. 123). Die Friktionen, so diagnostiziert die Autorin, sind auf verschiedene Weise spürbar, wenn fortwährende Steigerung und Grenzüberschreitung keine selbstverständlich mögliche Lösung mehr zu sein scheinen. Und schließlich sei die Figur der permanent „manischen Überschreitung der vereinzelten Einzelnen durch die Ansteckungsgefahr der Pandemie mit einer fundamentalen Abhängigkeit vom Anderen konfrontiert, die nicht nur Nahbeziehungen betrifft“ (S.124). Das Aufbegehren, die Verwirrungen und Irritation in der Pandemie haben insofern ihre Ursache nicht nur in den existenziellen gesundheitlichen und sozio-ökonomischen Gefahren. Vielmehr geht es auch um die Erschütterung eines kulturell, psychosozial und psychisch hochgradig bedeutsamen und wirkmächtigen Musters der Verarbeitung und Abwehr von Vergänglichkeit. Für die Zeit nach Corona ergibt sich deshalb die Frage, ob diese Erschütterungen und Risse des Musters ‚ewiger Aufbruch‘ auch produktive Wirkungen haben, was für die Autorin bedeutet, die Fähigkeiten zur Anerkennung von Begrenztheit und Vergänglichkeit freizulegen und nachhaltigere soziale Praxen und Lebensgestaltungen zu stützen.

In den Kulturwissenschaften haben Untersuchungen zu Formen von Artekfakten und Praxen eine wichtige Funktion. Verstanden werden sie hier durch Eva von Contzen und Julika Griem nicht nur in der herkömmlichen Form, wie sie in der Literaturwissenschaft untersucht werden. Sie plädieren im Anschluss an Caroline Levines dafür, Formen als dynamische und flexible Kategorien aufzufassen, die sowohl ästhetische als auch soziale Kontexte umfassen. „Form meint demnach […] auch soziale Figurationen wie Klassenzimmer, Einbauküche Oder Stundenplan“ (S. 243). Für jede Form wird nach bestimmten Affordanzen (engl. affordance), also Angeboten, Handlungsanregungen bzw. Aufforderungen gefragt, die sich mit einem Gegenstand oder einer Materialität verbinden und Handlungen generieren. Formen interessieren hier insofern als Handlungsangebote bzw. Aufforderungen. Liste und Kurve sind nun jene beiden Formen, die in der Pandemie eine besondere Bedeutung erlangt haben, denn durch sie wurde nahegelegt, das Pandemiegeschehen auf objektive Weise wiederzugeben. Die Autorinnen verweisen jedoch auf den beiden Formen innewohnenden Angebots-charakter zum Erzählen, zum Dramatisieren von Verläufen, zum Generieren von Handlungen aus Zahlen. Listen sind eben keine neutralen Darstellungsformen, denn sie verleiten z.B. dazu, Korrelationen als Kausalitäten zu lesen.

Für die Autorinnen entscheidet der Umgang mit diesen beiden Formen nicht unwesentlich darüber, wie wir die Corona-Pandemie verarbeiten und bearbeiten. Der Aufsatz ist ein Plädoyer, die analytischen Potentiale der Kulturwissenschaften für die Erforschung der Pandemie und ihrer Konsequenzen zu mobilisieren. Eindrücklich sind in diesem Zusammenhang die Fragen, die die Autorinnen anregen, die hier abschließend zitiert werden sollen, denn sie treffen u. E. in das Herzstück der soziokulturellen Veränderungen durch die Pandemie: „Wie reorganisieren der Mundschutz und das Home Office unsere Wahrnehmungs- Erfahrungs- und Deutungsgewohnheiten? Wie verschieben sich durch veränderte Formen der Interaktion Einschätzungen von Präsenz und Absenz, von Gemeinschaftlichkeit und Geselligkeit? Wie lassen sich diese Formen, ihre spezifischen Architekturen, Materialitäten und Semantiken lesen und inwiefern beeinflussen sie unser Verständnis von Arbeit, Bildung und Freizeit, von Nähe und Distanz, von Konfliktfähigkeit und Zivilisation? Welche Formen hat die Krise überhaupt hervorgebracht, welche hat sie verändert?“ (S. 250). Schließlich bleibt auch die Frage zu stellen, von welcher Dauer diese Veränderungen sind und welche Bedeutungen wir ihnen angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit geben werden.

eISSN:
2545-3858
Languages:
German, English, French