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Nachwort / Postface

   | Jul 06, 2021
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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Expression artistique et cicatrices de la Première Guerre mondiale : continuités et discontinuités (1919-2019). Künstlerischer Ausdruck und die Narben des Ersten Weltkriegs: Kontinuitäten und Zäsuren (1919-2019)

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Der Erste Weltkrieg hat Wunden geschlagen und Narben hinterlassen, die noch heute sichtbar sind – etwa auf dem Schlachtfeld von Verdun – und nach wie vor in weiten Teilen der Welt als schmerzhaft empfunden werden. Die Wunden des Krieges waren zunächst und in erster Linie die unermesslich vielen Toten. Heute gehen wir von mindestens 10 Millionen gefallener, also im Kriege umgekommener, Soldaten aus. Allein für die deutsche Seite haben die Schlachten in Ost und West mehr als 2 Millionen Tote zurückgelassen und mehr als 4 Millionen z.T. entsetzlich Verwundete.

Von diesem Desaster zeugen als Narben in der Landschaft die unzähligen Soldatenfriedhöfe in aller Welt. Die vielleicht eindrücklichsten traumatisch intensiven Bilder unter ihnen im Bereich der Westfront habe ich gemeinsam mit Stéphane Audoin-Rouzeau und Jean Richardot vor einigen Jahren unter dem Namen Cicatrices (2008) veröffentlicht.

Erschienen im Verlag Tallandier.

Aber jenseits der Toten und ihrer Ruhe- bzw. Gedenkstätten gab es andere noch offene Wunden und weiter wuchernde Narben. Die Welt nach 1918 war voll mit Männern, die ein Bein, einen Arm oder auch beide Beine und Arme verloren, wenn sie nicht sogar Teile des Gesichts oder das ganze Gesicht eingebüßt hatten. Schrecklichste literarische Verarbeitung ist für mich nach wie vor das Süß und ehrenvoll (1962)

Originaltitel Johnny got his gun, 1939.

von Dalton Trumbo, dicht gefolgt von Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege von 1924, der zum ersten Mal für ein breites Publikum die zerfetzten Gesichter mit einem für uns ganz unerträglich gewordenen ironischen Kommentar veröffentlichte.

Letzte Neuauflage hg. von Gerd Krumeich, Berlin, 2008.

Die menschlichste und am ehesten lesbare Variante der Geschichte der gueules cassées ist heute die Offizierskammer (Dugain 2000).

Lange, viel zu lange haben sich Geschichtsschreibung und die anderen Kulturwissenschaften nicht um diese Welt gekümmert oder sie, wie Theweleits vielleicht zu berühmte Männerphantasien (1980), abgewertet oder verächtlich gemacht. So konnte es geschehen, dass die wohl beste geschichtswissenschaftliche Darstellung der deutschen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, nämlich Jürgen Kockas Klassengesellschaft im Krieg (1973) vollständig ohne Tote und Verwundete auskam. Nichts, aber auch gar nichts war in diesem sozialstatistisch fundierten Werk, das heute in dieser Hinsicht noch unübertroffen ist, auf die psychischen Extremsituationen des Kampfes, des Verlustes, der Trauer und des Hasses ausgerichtet. Diese Dimensionen existierten nicht oder kaum in der gesamten Historiographie bis in die 1980er Jahre.

Zur Entwicklung der Historiografie vgl. Gerd Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel, in Hirschfeld, Gerhard u.a. (Hg.) (1993), Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch, Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen, Klartext Verlag.

Die ungestüme Bewegung, die sich dann hin zur Mentalitätenund Kulturgeschichte des Weltkrieges ergab, wie eine Sturzflut der Erneuerung des Wissens um den Krieg, haben wir dann ab Mitte der 1980er Jahre erlebt.

Auch und gerade das Historial von Péronne hat mit seinem internationalen Forschungszentrum zu dieser Entwicklung, an deren Ende wir heute noch nicht stehen, beigetragen. Seit 1992 hat eine internationale Forschergruppe im Historial damit begonnen, die vielen tausend Objekte des Museums kulturgeschichtlich auszuwerten. Ergebnis dieser international vergleichenden Recherche ist unter vielem anderen ein neuer Blick auf „Der Krieg und die Kinder”, konnte man doch verschiedenstes Spielzeug der am Krieg beteiligten Nationen auswerten. Auch die Frage nach den Motiven der deutschen Kriegsführung konnte hier mit einer Vielzahl von Objekten neu gestellt und beantwortet werden. Jetzt ließ sich auch begreifen, wie die Deutschen dazu kamen, sich trotz ihres Krieges in Frankreich, Belgien usw. stets im Stande der legitimen „Verteidigung“ des Vaterlands zu befinden (Hirschfeld 2016).

Auf diese Weise ist es in den letzten 20 Jahren gelungen, ein sehr viel authentischeres Bild über das ‚Kriegserlebnis‘ in seinen vielfältigsten Formen auch im internationalen Zusammenhang und im Vergleich zu gewinnen.

Trotz aller Fortschritte in der „transnationalen“ Geschichtsschreibung stehen wir aber erst am Anfang einer die nationalen Befindlichkeiten, Stereotypen und Selbstgewissheiten überwindenden Sicht auf den Ersten Weltkrieg. Dies zeigt sich beispielsweise an der Welle der Empörung, die in Belgien (und z.T. in Frankreich) durch neue Untersuchungen über die „deutschen Gräuel“ gegen vorgebliche „Franktireurs“ ausgelöst wurde. Es ist keine Frage, dass die deutschen Soldaten sich abscheulicher Verbrechen an Zivilisten schuldig gemacht haben. Aber warum sie in eine solche Wut verfielen, dass sie auch Frauen und Kinder erschossen, lässt sich wohl – wenn man die neuen Dokumentationen ansieht – nicht mehr einfach mit einer Franktireur-Psychose begründen, wie dies die bislang herrschende Forschungsmeinung ist (Keller 2017; Horne/Kramer 2004). Man wird wohl auch erwägen müssen, dass sich die durch Belgien marschierenden Truppen im August/September 1914 doch weit mehr Angriffen von Zivilisten ausgesetzt sahen, als bislang zugestanden worden ist. Aber es war nicht möglich, diese Fragen sine ira et studio zu diskutieren. Ein vom deutschen Botschafter in Brüssel geplantes „Kamingespräch“ musste abgesagt werden, weil die hierzu eingeladenen belgischen Kollegen und Kolleginnen sich weigerten, mit solch abstrusen Wissenschaftlern überhaupt zu diskutieren.

Hier sind die Wunden des Krieges offensichtlich überhaupt nicht vernarbt, sondern noch so weit offen, dass jede Form des Forschungs-Fragens (nicht der nationalistischen Polemik!) auf erbitterten Widerstand trifft. Denn die Schmerzen über das erlittene Unrecht in der Zeit der deutschen Besatzung von 1914 bis 1918 sind in den verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften noch allzu groß.

Die Erfahrung, dass es solche Empfindsamkeiten mehr als 100 Jahre nach dem Geschehen immer noch gibt, mag den Blick darauf öffnen, wie viel schwerer dieselben Ereignisse für die Menschen von damals gewogen haben können. Es geht also darum, die traumatischen Strukturen, die sich aus dem in den Köpfen fortwirkenden Krieg ergaben, differenzierter und gerechter zu beurteilen, als dies bislang der Fall gewesen ist.

Die Geschichte der Weimarer Republik ist für uns Deutsche offensichtlich noch lange keine rein historische Vergangenheit, sie betrifft uns immer noch im Kern unseres Gemeinwesens. Deshalb drohen auch die Narben, die diese Zeit im kollektiven Bewusstsein hinterlassen hat, immer noch aufzubrechen. Wie sich das heute abspielt, war bei den Publikations-Ergüssen der letzten beiden Jahre über die Revolution von 1918 und deren Folgen zu beobachten. Es wurden geradezu messianische Buchtitel gewählt, wie etwa Die größte aller Revolutionen (Gerwarth 2018)

Die englische Originalausgabe des Buches hat den sehr viel schlichteren Titel: 1918 and the Making of Modern Germany.

oder Der wahre Beginn unserer Demokratie (Niess 2019). Und mit größtem Eifer wird eine Gewissheit immer neu variiert: Die Revolution war notwendig und gut, und wer daran zweifelt, könnte gar zum Hitler-Apologeten werden oder zumindest der AfD und dem neuen Nationalismus dienen. Die Gefahr besteht in der Tat, sollte aber ernsthafte Geschichtsschreibung nicht davon abhalten, sich der Frage zu widmen, wie groß damals das Entsetzen über die Kriegsniederlage war und wie die Frage aufkommen und sich hartnäckig halten konnte, ob und was die Revolution mit dieser Niederlage zu tun gehabt hat. Ich habe in meiner „Unbewältigten Niederlage“ versucht, eine erste provisorische Antwort jenseits des Parteienstreits zu geben. Ich musste aber feststellen, dass sogar die quellengestützte Vermutung, dass die Antikriegs-Kampagne der Linken und dann die Revolution aus dem Waffenstillstand eine Kapitulation machten, die sonst vielleicht noch hätte vermieden werden können, zu einem Aufschrei vieler Historiker und Journalisten führte. Nicht nach der Qualität des Arguments und der Quellenkritik wurde dabei gefragt, sondern nur noch über die politische Gefährlichkeit solchen Nachdenkens lamentiert (Krumeich 2019). Auf diese Art kann es aber keinen Fortschritt im historischen Wissen geben. Wir müssen endlich aus den Schützengräben der Kriegserinnerung heraussteigen. Dazu gehört unbedingt, dass man auch als demokratisch gesinnter Historiker fähig werden sollte nachzuvollziehen, was damals nicht nur die fortschrittlichen, sondern auch die reaktionären und extremistischen Kräfte in so starke Bewegung gesetzt hat. Man kann, so meine Überzeugung, genau nachvollziehen, warum Ernst Friedrich in seinem „Antikriegsmuseum“ in Berlin auch die verwundeten und verstümmelten Soldaten als „Mörder“ verspottete, die im Grunde nur eine gerechte Strafe erlitten hatten. Extremer Pazifismus musste damals wohl so weit gehen. Aber müsste es nicht genau so möglich sein, denjenigen gerecht zu werden, die regelmäßig die Fensterscheiben dieses Museums einwarfen, weil dieser Vorwurf für jemanden, der etwa vier Jahre vor Verdun und an der Somme die Haut hingehalten hatte, schlicht unerträglich war?

Zum Teil mag diese mangelnde Fähigkeit der Historiker zur Abstraktion vom eigenen „Standpunkt“ auch darin begründet sein, dass es eine Kontinuität in der rein historiografischen Aufarbeitung jener Zeit gibt, deren Stereotype und allgemein geteilte Überzeugungen nur schwer oder gar nicht aufzubrechen sind. Der immer wieder vernehmliche Ruf nach einer pluridisziplinären Aufarbeitung hat wohl mit einem latenten Missbehagen an dieser Verengung von Fachwissenschaft zu tun.

Es ist wohl auch diese nationalpädagogische Ausrichtung einer demokratieaffinen Geschichtswissenschaft, die dazu geführt hat, dass man bislang nicht hinreichend in die Tiefen der allgemeinen Traumatisierung durch diesen unendlichen, in vieler Hinsicht totalen Krieg vorgedrungen ist. Es gibt zwar einige Bücher, die das Wort „Trauma“ sogar im Titel tragen, inhaltlich aber nicht vorstoßen zu dem, was den hauptsächlichen Schmerz und dessen Folgen vor allem in den Verlierer-Nationen des Großen Krieges ausgemacht hat (z.B. Beaupré 2009). Nur die individuellen Traumata der sogenannten „Kriegszitterer“ und deren Behandlung während und nach dem Krieg sind bislang untersucht worden (Crouthamel 2014; Kienitz 2008; Riedesser/Verderber 1996). Nur ganz ansatzweise finden sich hingegen Untersuchungen und Überlegungen zum Phänomen der kollektiven Traumatisierung (Werberg 2020). Für mich stellt diese aber die größte und am schlechtesten verheilte Narbe des Großen Krieges dar. Denn die Deutschen, die doch zwischen 1914 und 1918 kollektiv überzeugt waren, einen legitimen Verteidigungskrieg gegen „eine Welt von Feinden“ zu führen, konnten nach Kriegsende nicht verkraften, dass sie alleinschuldig am Tode so vieler Millionen Menschen und an der Verwüstung Europas sein sollten. Der Versailler Vertrag, der im Grunde genau dieses behauptete, wurde zähneknirschend unterzeichnet, weil die Sieger dies mit vorgehaltener Pistole forderten und man sich militärisch nicht mehr wehren konnte. Viele Deutsche versuchten dann, mit der sogenannten „Erfüllungspolitik“ das Beste aus der Situation zu machen und durch ein konstruktives Verhalten gegenüber den Siegernationen zu einem neuen europäischen Miteinander zu gelangen. Um dies zu erreichen, wurde auch möglichst wenig in die Erinnerung an diesen Krieg investiert, denn man wollte die Geister bannen, denen man doch täglich ausgesetzt war. Konkret bedeutete dies den weitestgehenden Verzicht des Staates auf die Ehrung der gefallenen Soldaten und der nach so vielen Jahren des Opfers für das Vaterland heimgekehrten Krieger. Man versicherte ihnen immer wieder, dass „kein Feind Euch besiegt“ habe. Man bedankte sich artig und forderte gleichzeitig unverblümt, dass die Soldaten doch aufhören sollten, sich als etwas Besonderes zu fühlen und zu gerieren, und dass sie sich schlicht und einfach in die neue Demokratie einordnen sollten, die das Wort Krieg nicht mehr hören mochte. Ich habe diese Situation und ihre Konsequenzen an anderer Stelle ausführlich analysiert. Hier sei nur in Erinnerung gerufen, dass die Weimarer Republik sich nicht auf einen gemeinsamen Trauerkult um die Gefallenen verständigen konnte, wie er in den anderen Nationen üblich war und blieb, trotz aller Abstufungen zwischen den Erinnerungsformen bei Siegern und Besiegten. Es gab auch auf Dauer keine Ehrung des „unbekannten Soldaten“ und in den verschiedenen Regionen und Städten kein staatlich oktroyiertes und organisiertes Gedenken. Der Unterschied zu Frankreich ist sehr deutlich, wo seit 1920 jede Gemeinde ihr Ehrenmal hatte, gleichgültig, ob von der Aussage her links oder rechts orientiert. Auch in Deutschland gab es eine Vielzahl von Totenehrungen und Gedenksteinen, aber diese blieben privater Initiative überlassen. Aus diesem Versagen des Staates ergab sich ein ständiger Kampf um die Formen des Kriegsgedenkens und der Kriegserinnerung. Für Berlin hat man zu Recht vom „Stellungskrieg der Denkmäler“ gesprochen, weil das Errichten von Denkmälern stets mit politischen Auseinandersetzungen verbunden war, die nicht selten brutale Formen annahmen und immer wieder zur Zerstörung der Denkmäler der jeweils anderen Ideologie führte (Saehrendt 2004). Dieser Prozess dauerte bis in die dreißiger Jahre an und wurde erst vom Nationalsozialismus nach der „ Machtergreifung“ 1933 in ein regelmäßiges Gedenken überführt – wobei die Nazis klug oder schlau genug waren, auf ihren Kriegerdenkmälern auf spezifische NS-Symbolik zu verzichten und sich auf diese Weise als die wahren Sachwalter der Trauer aller Deutschen um die Gefallenen zu präsentieren. Aus diesem Grund haben im Übrigen trotz aller Reinigungsmaßnahmen nach 1945 eine Vielzahl dieser NS-Denkmäler bis heute Bestand.

Ohne all diese Probleme hier weiter vertiefen zu können, sei nur festgehalten, dass es in Deutschland zweifellos das kollektive Trauma des verlorenen Krieges gegeben hat, dass dessen verschiedene Formen und Ausdrucksweisen bislang aber nur sehr unzureichend erforscht sind.

Das Straßburger Kolloquium und in dessen Folge diese Publikation erscheinen mir als ein gelungener Beitrag, die Enge eines rein geschichtswissenschaftlichen Diskurses über die Narben des Ersten Weltkrieges zu überwinden. Sicherlich haben auch die Fächer der Germanistik, der Romanistik und der Kunstwissenschaften ihre speziellen Idiosynkrasien, aber in dieser thematischen Fokussierung überwiegen zweifellos die gegenseitig befruchtenden An- und Einsichten. Ein Germanist oder Romanist (Frauen sind bei mir immer mitgedacht), der sich mit den literarischen Produktionen der 1920er Jahre beschäftigt, ist wohl weniger zur Aufrechterhaltung des demokratischen Konsenses verpflichtet bzw. verdammt als sein Historiker-Kollege. Er sieht sich nicht in dem gleichen Maße berechtigt oder genötigt, für die Erziehung des Volkes zu sorgen und deshalb mit seiner Analyse auch gleich Gesamterklärungen für jene Zeit zu liefern, historisches Fehlverhalten zu beklagen und zu zeigen, wie man sich anders und besser hätte verhalten können. Zu einem solchen freieren Blick verhilft sicherlich der permanente Vergleich und die zumindest bi-nationale Ausrichtung des Dossiers. So zeigt es in einer großen Anzahl seiner Beiträge Wege, hier zu einem tieferen Verstehen zu gelangen. Nicht von ungefähr ist „Trauma“ bzw. „Traumata“ ein Leitwort, das immer wieder vorkommt und ja auch direkt zum Titel des Dossiers, „Narben“, hinführt.

Ich fand in dieser Hinsicht besonders die Ausführungen von François-Charles Gaudard interessant, der das Verhältnis der bildenden Künste zu den Narben des Krieges als konstitutiv für deren Irrungen und Wirrungen ansieht und die These äußert, dass angesichts des Massentodes Heldengedenken und traditionelle Dankbarkeitsbezeugungen gegenüber den „Helden“ nicht mehr zur Heilung der Wunden führen können und dass die Narben deshalb wucherten. Vielleicht könnte man ja seine Hinweise, dass sich weder DADA noch der Surrealismus von althergebrachten Formen lösen konnten, auch mit dem Problem korrelieren, dass der Umgang der Künstler mit den Kriegsopfern, ihre radikale Negierung der Sinnhaftigkeit des Opfers, auch mit diesem Rückzug auf Kunsttraditionen bzw. auf der Unfähigkeit, diese zu überwinden, zusammenhängt?

In diese Richtung weist auch der Beitrag von Hélène Leclerc über den Versuch, die Leiden der zu Kriegszeiten unerwünschten Ausländer in den damals „ Konzentrationslager“ genannten Auffanglagern durch ein Lächeln zu überwinden. Helene Fürnkranz, Insassin eines solchen Lagers, hat dort eine Operette geschrieben, die ihr und den Mitgefangenen helfen sollte, das Leid zu überwinden. Wie H. Leclerc in Anlehnung an Volker Klotz schreibt: „Das Publikum soll lachen. aber nicht über harmlose Nebensachen, sondern darüber, dass gefährliche Hauptsachen sich bezwingen lassen.“ Und dies, ohne dass die „Hauptsachen“, etwa die unmenschlichen Transportbedingungen, der Sadismus des Lagerkommandanten u.a. heruntergespielt würden. Aber diese Idee war so ungewöhnlich und originell, dass die Operette nie zur Aufführung gelangte, denn offensichtlich war dieses „thème cicatriciel“ auf diese Weise nicht zu vermitteln. Auch sonst hatte die Kunst größte Schwierigkeiten bei dieser Aufgabe. Wie Olaf Peters in seiner Analyse der „ Reflexe“ in der Kunstkritik zeigt, gab es unendlichen Streit und Hass zwischen den verschiedenen sich revolutionär dünkenden Richtungen. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass im Grunde alle den Anspruch erhoben, „mit ihren Bildern eine neue Kirche zu bauen“, wie Peters pointiert über Max Beckmann urteilt. Interessant ist auch seine Feststellung, dass die künstlerische Moderne, in welcher Form auch immer, sehr stark am Massengeschmack vorbei operierte. Aber das war wohl weniger wichtig als der Angriff der neuen Kunst auf alles, was mit einer Verherrlichung von Krieg und Militär zusammenhängen konnte. Die Berliner Ausstellung von 1920, wo die Dadaisten die Attrappe eines Schweins unter die Zimmerdecke hängten, welches mit Uniform und Mütze nicht etwa als Offizier, sondern als einfacher Soldat gekennzeichnet war, erregte die Öffentlichkeit so sehr, dass die DADA-Helden schließlich ganz unheroisch zum Rückzug blasen bzw. sich entschuldigen mussten. Man sollte sich auch heute außerhalb der Gewohnheiten der Kunstkritik die Mühe machen, historisch zu ergründen, was solche Angriffe für jene bedeuteten, die vor Verdun oder an der Somme im Dreck gelegen hatten und deren einziges Motiv zum Durchhalten die Überzeugung war und blieb, dass sie auf diese Weise die Heimat schützten.

O. Peters hat hier auf etwas aufmerksam gemacht, was sich der kritischen Kunstgeschichte bisher weitgehend entzogen hat, nämlich die fundamentale Ambivalenz in den Bildern, die Otto Dix zum Krieg gemalt hat. Natürlich liegen Welten zwischen dem DADA-Dix und dem Künstler, der sich nur kurze Zeit später, in seiner Düsseldorfer Phase, unter der Ägide von “Mutter Ey“ und sicherlich auch durch die Nähe zu Max Wollheim, dem leidenden Soldaten zuwandte. Noch das Triptychon „Der Krieg“ spiegelt, so die zutreffende Bemerkung von O. Peters, ein Schwanken zwischen pazifistischer Idee (die Dix immer sehr distanziert betrachtete) und einer regelrechten Besessenheit vom Krieg, wie sie für mich ganz besonders deutlich in der berühmten Sammlung der 50 Radierungen mit diesem Titel zum Vorschein kommt.

Die Literatur zu Otto Dix ist sehr umfangreich, vgl. die aktuell letzte Publikation: Historial de la Grande Guerre (Hg.) (2015), Otto Dix. La guerre. L′Intégrale des 50 eaux-fortes, Paris.

Ähnliches gilt auch für die von Dominique Huck untersuchten Spuren des Großen Krieges in der elsässischen Literatur. Das Elsass und die Elsässer hatten es besonders schwer, sich überhaupt noch im Reigen der Annexionen, Desannexionen und Re-Annexionen zurechtzufinden. Weshalb sie mehr und mehr gezwungen waren, sich in ihre eigene Identität zwischen Deutschland und Frankreich zu flüchten. Konnte man aber einen eigenständigen, nicht-politischen Humor schaffen? Ein Ausweg war, wie D. Huck zeigt, den Krieg ganz aus der Erinnerung auszusparen und damit die „absence criante“ des Leidens sowohl der Soldaten als auch der Zivilisten in Kauf zu nehmen. Das hatte aber offensichtlich zur Folge, dass die Traumatisierung nur noch verstärkt wurde.

Ina Ulrike Paul hat in ihrem vergleichenden Beitrag über die Rezeption von Antikriegsromanen auch ein „elsässisches“ Beispiel gewählt, nämlich Die Katrin wird Soldat von Hertha Lesser, unter dem nom de plume Adrienne Thomas. Das Buch wurde Anfang der 1930er Jahre ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt, bevor es dann wenige Jahre später unter dem NS verboten wurde. Allerdings war die Rezeption in Frankreich schwierig, weil die in diesem Buch thematisierte „deutsche“ Vergangenheit des Elsass ungern und sehr verhalten erinnert wurde. Mehrere neue Auflagen erhielt es kurioserweise erst nach dem Verbot in Deutschland. So sehr konnten politische Verhältnisse und besonders der deutsch-französische Antagonismus auf Gestalt und Rezeption von Literatur zurückwirken!

Schon in jener Zeit deutete sich also an, was Gilles Buscot in seinem Beitrag über die Chansons als eine Art „subversives Überleben des Ersten Weltkriegs“ bis in die heutige Zeit anmerkt. Interessant in diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf Brechts Legende vom toten Soldaten aus dem Jahre 1918. Diese lange Ballade ist ganz unzweifelhaft mehr als nur ein Aufschrei über den kriegerischen Gestus, der den verlorenen Krieg noch lange überlebt hat. Der aus dem Grabe geholte und mit Weihrauch durch die Straßen der Städte und Dörfer geführte Soldat wird umjubelt: Und wenn sie durch die Dörfer ziehn Waren alle Weiber da Die Bäume verneigten sich, Vollmond schien Und alles schrie hurra. Mit Tschindrara und Wiedersehn! Und Weib und Hund und Pfaff! Und mitten drin der tote Soldat Wie ein besoffner Aff. Und wenn sie durch die Dörfer ziehn Kommt‘s, daß ihn keiner sah So viele waren herum um ihn Mit Tschindra und Hurra. So viele tanzten und johlten um ihn Daß ihn keiner sah. Man konnte ihn einzig von oben noch sehn Und da sind nur Sterne da.

Einzigartig ist, wie es Brecht hier gelingt, die Polarität zwischen dem armseligen zerfetzten und stinkenden – und deshalb mit Weihrauch odorierten – Leichnam des durch die Straßen geschleppten Soldaten und dem Jubel der Verherrlichung des Krieges durch alle möglichen Bourgeois-Gestalten zu schildern. Ähnlich sah es der DADA-Dix in seinen „ Kriegskrüppeln“ usw. Aber Brechts Gedicht ist von 1918, also noch aus der Kriegszeit. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass die Väter der Weimarer Republik 1919 einen Paragrafen in die Verfassung aufnahmen, der genau dieses Gebrüll abstellen sollte, aber sicherlich das Gegenteil bewirkte. Nämlich der § 109, der es der Republik untersagte, Orden zu verleihen, auch wenn es möglich blieb, dass man auf Antrag für Verdienste im Krieg geehrt wurde, allerdings nicht öffentlich oder gar feierlich, sondern per Verwaltungsakt. Um dem militaristischen Gebrüll endgültig den Garaus zu machen, wurden die verwundeten Soldaten rechtlich den zivilen Unfallopfern gleichgestellt, und immer wieder wurden Kriegerdenkmäler abgelehnt bzw. deren Bau verschleppt, weil es eben Wichtigeres zu tun gab. Solche Maßnahmen sollten den Vorrang des zivilen Denkens stärken, hatten aber massiven Protest zur Folge und eine bleibende Distanzierung der großen Frontkämpferverbände von dieser als jämmerlich empfundenen „Republik der Zivilisten“, die nicht genug tat, um die Wunden des gerade überstandenen Krieges richtig verheilen zu lassen.

Hätte die Republik aber mehr und Besseres tun können? Von heute her betrachtet traf dies sicherlich zu. Aber es war ja nicht gerade einfach, gegen die überall noch klaffenden Wunden des Krieges wirksame Heilmittel zu finden.

Aber es war offensichtlich unmöglich, sich am französischen Beispiel der Verehrung und des Gedenkens der gefallenen Poilus zu orientieren und in jeder Stadt, jedem Dorf ein Monument aufzustellen. Denn allzu sehr hatte die Frage, wie es zu dieser unerwarteten Niederlage gekommen war, die politische Welt der Deutschen zerklüftet. Hinzu kam, dass sich Deutschland und Frankreich noch bis 1923 und im Rahmen des Ruhrkampfs in einer hasserfüllten und immer wieder gewaltsamen Auseinandersetzung befanden und dass von einer friedfertigen Gesinnung überhaupt noch keine Rede sein konnte. Versailles galt den Deutschen als vor allem französische Untat.

Wie stark der Zorn und Schmerz über den „Schandfrieden“ war und lange blieb, zeigt der Beitrag von Bérénice Zunino über die Berliner Illustrirte Zeitung. Die detaillierte Untersuchung einiger Jahrgänge nach 1919 erweist, dass selbst ein solches Massenblatt, welches unmittelbar nach Kriegsende eigentlich in eine neue Zeit aufbrechen wollte und einem discours pacifiste et républicain verpflichtet war, seine ursprüngliche Friedfertigkeit verlor und Frankreich und den Franzosen nur noch mit ätzender Kritik begegnete.

Aber auch die Franzosen konnten trotz des schließlichen Sieges den Krieg nicht ad acta legen. Hier blieb die Überzeugung absolut vorherrschend, dass der boche keineswegs genug bestraft sei, dass er alle Tricks nutze, um die geschuldeten Reparationen und den Wiederaufbau des von ihm zerstörten Frankreich eben nicht zu leisten. Hinter jedem Geschäftsreisenden konnte sich ein fürchterlicher boche verbergen, der aus Lust am Verbrechen die Reimser Kathedrale angezündet hatte, so die Aussage eines weit verbreiteten Plakates aus der Nachkriegszeit:

Laurent Véray (2008) hat beschrieben, wie stark auch das wichtigste öffentliche Medium der damaligen Zeit, das Kino, in Frankreich von den Kriegstopoi beherrscht blieb. Und der brillante Beitrag von Louise Dumas in diesem Band zeigt, wie auch in den späteren Filmen von Georg Wilhelm Pabst die Kriegswunden auf der Leinwand zu Narben wurden. Für Pabst ist der Krieg in jeder Hinsicht „une expérience traumatique qui blesse l′individu autant que le collectif.“ Ein Trauma, das Pabsts Filme auch in die zerstörte Landschaft einschreiben.

Sehr zu Recht spricht L. Dumas auch von den „blessures sonores“, die der Tonfilm Ende der 1920er Jahre in die Kriegserzählung einbrachte und die das Publikum mit einem ganz neuen Schrecken über die nunmehr viel direkter erlebte Wirklichkeit des Krieges erfüllte (Müller 2009). Pabst war ein Meister dieser „Vertonung“ des Krieges, der es auch verstand, durch seine filmischen Inszenierungen nicht allein des Krieges, sondern auch der freundschaftlichen Zusammenarbeit von Deutschen und Franzosen in der Not eines Grubenunglücks zur Versöhnung der Völker beizutragen.

Die Frage ist nur, ob solches Gebrüll der Stimmen, solches Knattern von Maschinengewehren und das Zischen der Sprenggranaten vor ihren lautstarken Explosionen eher zur Vernarbung oder nicht doch eher zum Aufbrechen der alten Wunden beitrug. Öffnung der alten Wunden, aber auch Eröffnung eines neuen selbstbewussten und „jugendlichen“ Militarismus. Es ist in der Tat heute noch erschreckend, wenn man feststellen muss, wie stark die Jugendlichen der End-20er Jahre wieder auf Kampf, Heldentum und Bewährung im Kriege orientiert waren. Das gilt natürlich besonders für den nationalistischen Teil der Jugend, interessanterweise aber auch für diejenigen, die sich keineswegs als kriegslüstern empfanden, jedoch jederzeit bereit waren, sich zu uniformieren und im Gleichschritt durch die Straßen zu ziehen. Dagegen hatten die pazifistischen Dichter und Schriftsteller keine Chance. Der Massenerfolg von Remarques Im Westen nichts Neues scheint zwar dieser These zu widersprechen, aber es bleibt zweifelhaft, ob dieses Buch wirklich eine radikal pazifistische Aussage hatte und nicht doch eher ein Loblied auf die verzweifelte, aber beständige Schützengrabengemeinschaft war. Ähnliches gilt ja auch für Ludwig Renns Kriegsromane. Anders allerdings war die Intention und Rezeption der Pflasterkästen von Alexander Moritz Frei gelagert, wozu der Beitrag von Ina Ulrike Paul viele Aufschlüsse gibt. Freys Roman war schon damals sensationell, weil in ihm Adolf Hitler in kaum verschleierter Form eine (negative) Rolle spielte, war doch Hitler als Gefreiter Angehöriger desselben Regiments gewesen wie Alexander Moritz Frey (Weber 2011).

Seine Konkurrenten auf der Rechten, Werner Beumelburg und die vielen anderen nationalistischen Schriftsteller, pochten auf die erlebte und unvergängliche Kameradschaft in den ausweglosen Situationen des Krieges, auf den individuellen Mut und die Hingabe der soldatischen Gruppe für höhere Ziele. Und solche gab es Ende der 1930er Jahre reichlich.

Sybille Große und Lena Sowada haben in ihrem Beitrag über die Soldatensprache und deren Adaptierung in heutigen Comics diese Argumentation in gewisser Weise fortgeführt. Sie zeigen, dass es bei solchen Prozessen der Wiederholung ganz allgemein nicht allein um Tradition, also Wiederaufnahme des Alten geht, sondern dass solche Wieder-Aneignung auf jeweils zeittypische Weise geschieht. Die interessante Beobachtung, wie durch die Comics etwas verallgemeinert wird, was eigentlich nur Ausdruck einer ganz speziellen Situation war, lässt sich in demselben Maße für die „soldatische“ Literatur der End-20er Jahre festhalten.

Um Wiederherstellung, „Reparation“, ging es im Grunde auch schon in den seit 1917 von Michelin herausgegebenen Schlachtfeldführern, deren Entstehung und internationale Wirkung Françoise Knopper umfassend und eindringlich beschreibt. Besonders wichtig daran erscheint mir das Spannungsverhältnis zwischen „tourisme de pèlerinage“ und „tourisme d′histoire“. Ihr Hinweis, dass trotz aller Geschäftstüchtigkeit bei den von Michelin begleiteten Schlachtfeld-Reisen immer der Aspekt des Pilgerns überwog, ist eine notwendige Korrektur des allzu weit verbreiteten Bildes der De-Sakralisierung durch die reine Geschäftemacherei auf den Schlachtfeldern. F. Knopper zeigt, dass die fotografierten und dann besuchten Orte der Schlachten des Krieges trotz aller „touristischen Fehlgriffe“ sanctuarisés waren und geblieben sind. Jeder, der wie ich vielfach Studierende verschiedener Generationen nach Verdun und an die Somme begleitet hat, kann das bestätigen. Alle sind sie trotz zwischenzeitlicher Ablenkungen immer und vor allem daran interessiert, die Narben des Krieges zu erkennen. Vor dem Beinhaus von Douaumont habe ich noch nie erlebt, dass auch die animiertesten Studierenden nicht in tiefes Schweigen verfallen wären, wenn sie die Gebeine der wohl 140.000 unbekannten französischen und deutschen Soldaten sehen, die dort aufgeschichtet worden sind.

Allerdings zeigt dieser Beitrag über die Guides Michelin auch, dass die „Verheiligung“ der Orte der Schlachten die Kehrseite hatte, dass sie auch über eine lange Zeit Anklage blieben gegen die Deutschen, die angeblich allein an dieser Zerstörung schuld waren. Wo sie wie Balsam auf die Wunden der Franzosen wirkten, rissen sie die ohnehin schwärenden Wunden der Deutschen immer wieder aufs Neue auf. Und als wie stark diese empfunden wurden, mag die Tatsache verdeutlichen, dass noch Ende der 1920er Jahre die deutsche Regierung gegen den „Schuldartikel“ des Versailler Vertrages feierlich protestierte und Hitler bereits 1933 die deutsche Unterschrift unter diesen Artikel zurückzog. Das war natürlich nur eine symbolische Aktion ohne Rechtswirkung, die dem „Führer“ aber viel Zustimmung einbrachte.

Auf der Straßburger Tagung haben wir gesehen und jetzt in dieser Synthese vertieft, dass es exakt die symbolische Aktion auf allen Ebenen ist, die entscheidend dazu beiträgt, ob und wie die Wunden des Krieges vernarben können. Ob Literatur und Kunst fähig sind, zur endgültigen Heilung beizutragen, hängt dann davon ab, welche Emotionen sie hervorrufen, bestätigen oder abbauen wollen. Und das ist, wie gezeigt, gerade im deutschen und französischen Beispiel auf ganz unterschiedliche Weise der Fall gewesen.

Aber wir sind nun auf dem Weg zu einer gemeinsamen Erinnerung, wie nicht zuletzt die Errichtung des Historial franco-allemand vom Hartmannswillerkopf zeigt. Auch das Mémorial von Verdun ist nach den langen Jahrzehnten, wo es vor allem zur Heilung der französischen Kriegswunden beitragen wollte, eine Stätte der gemeinsamen Erinnerung geworden – insbesondere natürlich der Ossuaire vom Douaumont mit seiner 2016 angebrachten riesigen Inschrift in der Deckenwölbung der Vorhalle: „Hier ruhen französische und deutsche Soldaten. Lasst es uns niemals vergessen / Ici reposent des soldats français et allemands. N′oublions jamais.“

eISSN:
2545-3858
Languages:
German, English, French