Der Beitrag befasst sich mit den vielfältigen administrativen Reaktionsweisen auf das zunehmende Aufkommen binationaler bzw. interkultureller
Zur Begriffsunterscheidung siehe Christoph Lorke: Challenging Authorities through »Undesired« Marriages: Administrational Logics of Handling Cross-Border Couples in Germany, 1880–1930, in: Journal of Migration History 4 (2018), S. 54–78, siehe insgesamt zur Terminologie auch Dan Rodriguez-Garcia: Intermarriage and Integration Revisited: International Experiences and Cross-Disciplinary Approaches, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 662 (2015), S. 8–38. Vgl. Niklas Luhmann: Zum Begriff der sozialen Klasse, in: Ders. (Hg.): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 119–162; Rudolf Stichweh: Systemtheorie der Exklusion. Zum Konflikt von Wohlfahrtstaatlichkeit und Globalisierung der Funktionssysteme, in: Ders.: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000, S. 85–102. Siehe für Einzelheiten die einführenden Bemerkungen in Christoph Lorke: Liebe verwalten. ›Ausländerehen‹ in Deutschland (1870–1945), Paderborn 2020.
Hinsichtlich einer konkreten Umsetzung von Normen in der (Eheaufgebots-)Praxis werden die Ausführungen anhand ausgewählter Fälle und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Normenkonflikte, Strategien – etwa Verlangsamung und Verhinderung der Verwaltungshandlung – sowie administrative Verzögerungs- oder gar Ablehnungsmechanismen nachzeichnen. Dies allein zu betrachten, wäre allerdings verkürzt, blieben doch dadurch Formen der Generosität und Privilegierung ebenso unterberücksichtigt wie die verschiedenen Anpassungsleistungen und Handlungsmöglichkeiten ordnungsüberschreitender bzw. -entgrenzender Akteure. Somit blickt der Artikel auf normative Welten innerhalb wie abseits von Staatlichkeit und fragt nach den normativen Maßstäben, von denen sich das Verwaltungshandeln im personenstandsrechtlichen Kontext leiten ließ. Wie zu zeigen sein wird, bewegte sich standesamtliches Verwaltungshandeln in einem Bündel unterschiedlicher Normativitäten, sich teils überlagernder, miteinander kooperierender wie konfligierender Imperative und Handlungslogiken, was bisweilen widersprüchliche Verflechtungslagen und die Entstehung neuer normativer Arrangements nach sich zog. Nach einigen grundsätzlichen Vorbemerkungen hinsichtlich administrativen Verwaltungshandelns in einem interkulturellen Kräftefeld sowie Ausführungen zu den relevanten personenstandsrechtlichen Grundstrukturen werden anhand dreier Beispiele verschiedene normative Spannungsverhältnisse, aus denen handfeste Normenkonflikte entstehen konnten (aber nicht zwangsläufig mussten), beschrieben und in ihrer Bedeutung und Reichweite vorgestellt, um dadurch den Hintergründen konkreter normativer Praktiken »hinter« der juridischen Praxis sowie dem Verhältnis zwischen Normativitäten rechtlicher und nichtrechtlicher Natur nachzuspüren.
Wenn Entstehen, Fortleben und Verbreitung von »Fremdheit« in den Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern von Verwaltung und Öffentlichkeit in historischer Perspektive untersucht werden sollen, betritt man damit weitgehend Neuland. Zwar hat hierzulande die Migrationshistoriografie in jüngster Zeit mit dem Begriff »Migrationsregime« die Bedeutung verschiedener Aushandlungsformen zwischen staatlichen Stellen und migrantischen Akteuren gefordert, doch sind empirische Studien hierzu nach wie vor rar.
Siehe nur die Forderungen und einzelnen Aufsätze in Jochen Oltmer (Hg.): Migrationsregime vor Ort und lokales Aushandeln von Migration, Wiesbaden 2018; Andreas Pott / Christoph Rass / Frank Wolff (Hg.): Was ist ein Migrationsregime?, Wiesbaden 2018; vgl. außerdem Anne Friedrichs: Placing Migration in Perspective. Neue Wege einer relationalen Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 167–195. Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2002, S. 211. Siehe allen voran Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001; vgl. außerdem Andreas Fahrmeir: Citizenship. The Rise and Fall of Modern Concept, London 2007; Vito Francesco Gironda: Die Politik der Staatsbürgerschaft. Italien und Deutschland im Vergleich 1800–1914, Göttingen 2010. Kathrin Kollmeier: Eine »Anomalie des Rechts« als Politikum. Die internationale Verhandlung von Staatenlosigkeit 1919–1930, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 35/3–4 (2013), S. 193–208; vgl. zudem Doerte Bischoff / Miriam Rürup (Hg.): Ausgeschlossen. Staatsbürgerschaft, Staatenlosigkeit und Exil, München 2018; grundsätzlich zudem Victoria Redclift: Statelessness and Citizenship. Camps and the Creation of Political Space, London 2013. John Torpey: The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship and the State, Cambridge 2000. Christiane Reinecke: Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010. Roxana Banu: Nineteenth-Century Perspectives on Private International Law, New York 2018. Zu interpersonalen Kommunikationssituationen und kultureller Grenzüberschreitung Jürgen Osterhammel: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, in: Saeculum 46 (1995), S. 101–138; ganz allgemein auch Moritz Föllmer: Einleitung: Interpersonale Kommunikation und Moderne in Deutschland, in: Ders. (Hg.): Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 9–44. Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84.
(Standesamtliches) Verwaltungshandeln, das geprägt war und ist von Ordnung, Effizienz und Rationalität und mit bestimmten Verfahren und normsetzenden Praktiken Rationalitätsfiktionen und somit soziale Akzeptanz und Legitimität schuf, trug, so die These des vorliegenden Beitrages, hierdurch zur Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten in unterschiedlichen Dimensionen – insbesondere bezogen auf Geschlecht und soziale wie ethnische Herkunft – in erheblichem Maße bei. Doch was änderte sich im Untersuchungszeitraum, dem ausgehenden 19. Jahrhundert konkret? Mit der Säkularisierung der Eheschließung als normsetzender Praxis ist mit Max Weber die Expansion des Staates auch auf diesem Gebiet zu beobachten. Vor diesem Hintergrund erfolgte auch hier eine Verinnerlichung eingeübter bürokratischer Regeln, entwickelte sich eine vollständig ausgebaute Bürokratie zu einem »Kernstück des Machtsystems des modernen Staates schlechthin«.
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51976, S. 128. Anthony Giddens: Wandel der Intimität: Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1993, S. 39–43; vgl. auch die historischen Rückgriffe in Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994, bes. Kapitel 10. Siehe nur Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105/3 (2000), S. 807–831.
Wie vonseiten unterschiedlicher institutioneller Akteure auf diese neuen Fragen gesellschafts- und bevölkerungspolitischer Natur reagiert wurde, ist eine komplexe Frage und kann unmöglich pauschal beantwortet werden; freilich sind Annäherungen möglich. Nach Thomas Ellwein sind Behörden wie das Standesamt weniger als monolithische Blöcke, sondern als dynamisch-vitale Organismen zu verstehen; im Sinne einer Kulturgeschichte der Verwaltung und einer Annäherung an »Verwaltungskulturen«
Vgl. u. a. mit einer ersten konzeptionellen Vertiefung Roland Sturm: Verwaltungskultur, in: Dirk Berg-Schlosser / Jakob Schissler (Hg.): Politische Kultur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Opladen 1987, S. 422–428. Thomas Ellwein: Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, 2 Bde., Opladen 1997. Adrienne Windhoff-Héritier (Hg.): Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein, Opladen 1987. Peter Becker: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311–336, hier S. 313–315; vgl. Ders. (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, hier insbesondere die Einleitung, S. 9–42. John W. Meyer / Brian Rowan: Institutionalized Organizations. Formal Structures as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), S. 340–363; siehe grundsätzlich auch die wegweisende Studie von Herbert A. Simon: Administrative Behavior. A Study of Decision-Making-Processes in Administrative Organizations, New York 1997. Gemeint ist mit Alf Lüdtke die Mehrdeutigkeit von Handlungen, Haltungen und eigenen Bedeutungen, die Individuen in den herrschaftlich gedachten Sinn von Ordnungen hineinlegten. Hiervon ausgehend erscheint es als lohnendes Unterfangen, das interaktive Zusammenspiel zwischen Individuen und Organisation und die daraus resultierenden Folgen zu beleuchten. Siehe Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993: sowie zur »Herrschaft als soziale Praxis«: Alf Lüdtke (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991. Peter Collin: Treffräume von Regulierungsrationalitäten: Überlegungen zu Voraussetzungen und Typisierungen juristischökonomischer Kommunikation, in: Peter Collin (Hg.): Treffräume juristischer und ökonomischer Regulierungsrationalitäten, Frankfurt am Main 2014, S. 1–44. Johanna Braun: Leitbilder im Recht, Tübingen 2015. Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005; zum Begriff der normativen Wirklichkeit Peter Stemmer: Die Konstitution der normativen Wirklichkeit, in: Rainer Forst / Klaus Günther (Hg.): Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main 2011, S. 57–68.
Dieser skizzierten grundsätzlichen Ordnungsfunktion in der alltäglichen Standesamtspraxis kommt im interkulturellen Kontext eine zentrale Bedeutung zu. Institutionen wie das Standesamt können individuelles Verhalten und Kontingenzen der Akteure durch Regelsetzung und bestimmte Handlungsund Entscheidungsstrategien gezielt beeinflussen.
Holger Schulze: Neo-Institutionalismus. Ein analytisches Instrument zur Erklärung gesellschaftlicher Transformationsprozesse, Berlin 1997. Uwe Schimank: Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 79–88; 108.
Alltagskontakte mit der Verwaltung und somit Entscheidungssituationen, um die es hier geht, können dabei als ein Interaktionssystem zwischen Verwaltern und Verwalteten beschrieben werden. Innerhalb dieses Systems sind Regelhaftigkeiten und Eigendynamiken möglich, wobei insbesondere die gemeinsame Definition der Situation kaum zu unterschätzen ist. Diese Situationsdefinition muss eine ausreichende Übereinstimmung aufweisen; gerade jedoch im Falle interkultureller Konstellationen liegen häufig unterschiedliche Voraussetzungen vor, hinzu tritt die formale Restriktivität der Situation (Experten-Laien-Kommunikation mit asymmetrischer Machtverteilung, Ressourcenknappheit, beidseitiger Handlungs- und Zeitdruck, institutionelle und soziale Kontrolle),
Siehe auch allgemein Dieter Grunow: Alltagskontakte mit der Verwaltung, Frankfurt am Main, New York 1978; zuvor bereits Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1971, sowie ganz grundsätzlich Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981. Zu den Merkmalen von Kommunikationssituationen im interkulturellen Kontext Katharina Rosenberg: Interkulturelle Behörden-Kommunikation. Eine gesprächsanalytische Untersuchung zu Verständigungsproblemen zwischen Migranten und Behördenmitarbeitern in Berlin und Buenos Aires, Berlin, New York 2014, S. 37–45; siehe ferner Johanna Groß: Interkulturelle Kommunikation in der Verwaltung. Ansätze auf der soziologischen Makro-, Meso- und Mikroebene, in: Deutsche Verwaltungspraxis 66 (2015), 11, S. 461–464; Dian Ekawati: Interkulturelle Kommunikation in Institutionen. Deutsch-indonesische Kontaktgespräche im akademischen Bereich, Berlin, Münster 2014; vgl. außerdem erste Leitfäden zum Thema, wie beispielsweise Peter Raiser / Bernhard Ufholz: Interkulturelle Kompetenz für die öffentliche Verwaltung, Bielefeld 2009; zu Behördenkontakten im interkulturellen Kontext und den möglicherweise auftretenden verzerrten Kontakt- und Interaktionssituationen bereits Lutz Hoffmann: »Aber warum nix freundlich?«. Der Kontakt zwischen deutschen Behörden und ausländischen Klienten, Bielefeld 1982. Betty De Hart: Unlikely Couples. Regulating Mixed Sex and Marriage from the Dutch Colonies to European Migration Law, Amsterdam 2015, S. 8.
Eheschließungen mit AusländerInnen – die Entscheidungsprozesse bei diesen Konstellationen – fußten im Untersuchungszeitraum ganz grundsätzlich auf einem personenstandsrechtlichen Verfahren, das im Großen und Ganzen bis heute Gültigkeit besitzt:
Vgl. nur Thomas Rauscher: Internationales Privatrecht. Mit internationalem Verfahrensrecht, Heidelberg 52017 (§ 8, A., 1.1. e).
Die Gewährung zur Eheschließung als Gegenstand behördlicher Verwaltungsarbeit war nach den oben genannten Prinzipien strukturiert und umfasste vielfältige rechtliche, administrative und persönliche Anforderungen – was deutlich macht, inwiefern sich Standesämter und weitere Entscheidungsinstitutionen im Spannungsfeld konfligierender Anforderungen und Ansprüche von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung bewegten. Bei der Wissensgenerierung und für die Herstellung von Entscheidungswissen war es wichtig, dass die beteiligten Institutionen rechtlich bindende Entscheidungen treffen sollten, die es dem Paar garantierten, dass ihre Ehe auch im Heimatland des ausländischen Verlobten sowie in Drittstaaten Anerkennung fand. Verwaltungshandeln im standesamtlichen Kontext war folglich mit widersprüchlichen Anforderungen und Problemlagen konfrontiert, woraus sich Handlungsroutinen und Wissensbestände entwickelten. Das Personenstandswesen und die dort greifenden (bzw. herrschaftlich vorgesehenen) bürokratischen Routinen bildeten die Grundlage für den Staat, um bestimmte Normen durchzusetzen bzw. bei abweichenden Entwicklungen präventiv einzugreifen. Ständig wiederholte Praktiken – das Annehmen des Eheaufgebots, das Ausstellen von Heiratspapieren im Standesamt, das Vornehmen der Trauung – sind in ihrer Regelhaftigkeit und Wiederholung dazu da, Erwartungssicherheit zu generieren, und dies sowohl bei den Verlobten und künftig Heiratenden als auch bei den Standesbeamten.
Siehe hierfür die Überlegungen bei Rehberg: Institutionen.
Grundlage der nachfolgenden Analyse ist die Entscheidungsfindung in verschiedenen Einzelfällen, die sich in unterschiedlichen Orten in Deutschland zugetragen haben. Das globalisierte Lokale, die Überformung lokaler Gegebenheiten durch transnational-globale Einflüsse oder schlicht »Glokalisierung« (Roland Robertson): Der normative Umgang mit binationalen bzw. interkulturellen Eheschließungen (bzw. Eheschließungsanliegen) deutet auf die Rolle europäischer Rechtspraxis in globalhistorischer Hinsicht, die jedoch immer auf die konkrete lokale Rechtserzeugung zu blicken hat, die Thomas Duve insbesondere für den interkulturellen Raum als zentral herausgestellt hat.
Thomas Duve: Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, in: Rechtsgeschichte 20 (2012), S. 18–71, bes. S. 49–51. Vgl. hierfür mit Anlehnung an Max Weber Ellwein: Staat, Bd. 1, S. 74. Thomas Duve: Was ist Multinormativität? – Einführende Bemerkungen, in: Rechtsgeschichte 25 (2017), S. 88–101, bes. S. 93f.; siehe auch die früheren Ausführungen bei Miloš Vec: Multinormativität in der Rechtsgeschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.):, Jahrbuch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2008, Berlin, S. 155–166; siehe ferner einen Beitrag, der sich mit administrativer Differenzierung und den Folgen von Interessendivergenzen, Informationsmängeln oder auch vagen Zielvorgaben befasst: Theo Toonen: Administrative Plurality in a Unitary State. The Analysis of Public Organisational Pluralism, in: Policy and Politics 11 (1983), S. 247–271. Dabei ist davon auszugehen, dass das Recht – hier das internationale Personenstands- bzw. Privatrecht – diejenige Ebene war, die in hohem Maße andere normative Rationalitäten dominiert haben dürfte, doch erst in Kombination mit ihnen zur vollen, je spezifischen Geltung kam, abhängig von den konkreten organisatorischen Vorstrukturierungen und jeweiligen Machtkonstellationen. Siehe zu diesen Verhältnissen: Erk Volkmar Heyen: Amt und Rationalität, Legitimität und Kontrolle: Grundbegriffe historisch-komparativer Verwaltungsanalyse, in: Arthur Benz / Heinrich Siedentopf / Karl-Peter Sommermann (Hg.): Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung. Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 49–60.
Das Aufeinanderprallen von zwei nationalstaatlichen Eherechten, wie es in einer binationalen Eheschließung immer der Fall ist, konnte zu mitunter höchst diffizilen Fragen führen. Dieser Umstand setzte voraus, dass sich die Entscheider – die Standesbeamten selbst wie auch die Mitarbeitenden in den nachfolgenden Behörden – mit den Spezifika des ausländischen Privatrechts vertraut machen mussten. Multinormativ relevante Aspekte konnten etwa dann zur Geltung kommen, wenn in bestimmten Konstellationen verschiedene länderspezifische Gegebenheiten Anwendung fanden. Darunter zählten im ausgehenden 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert beispielsweise das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit, auf das bei der Beteiligung von PartnerInnen aus Bulgarien oder Österreich (zwischen Christen und Nichtchristen) oder aus Griechenland (zwischen Griechisch-katholischen und Nichtchristen) zu achten war. Kam der ausländische Verlobte hingegen aus Italien oder Ungarn, so war das Aufgebot auch im Ausland zu vollziehen, und bei Zuwiderhandlung konnte die Eheschließung angefochten werden. Französische, belgische oder niederländische Verlobte hingegen hatten ihren Eltern gegenüber bestimmte Ehrerbietungsakte zu vollziehen, über deren Erfüllung sich der Standesbeamte erkundigen musste.
Vgl. mit weiteren Beispielen Christoph Lorke: (Un-)Ordnungen in der mobilen Moderne. Grenzüberschreitungen von Paaren als nationalstaatliche Herausforderung (1900–1930), in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 259–279, hier S. 266; sowie Ders.: »Die schwierigste Aufgabe im ganzen Standesamtsbetrieb«. Ehepolitik und die Verrechtlichung binationaler Ehen in der Weimarer Republik, in: Meike Sophia Baader / Wolfgang Gippert / Petra Götte (Hg.): Migration und Familie. Historische und aktuelle Analysen, Wiesbaden 2018, S. 277–291.
Das Zusammenspiel von spezifischen landesrechtlichen Erfordernissen und religiösen Ehehindernissen war stets kompliziert, vor allem aber dann, wenn der nichtdeutsche Verlobte aus solchen Ländern stammte, die die kirchliche Eheschließung als obligatorisch verstanden. Diese Konstellationen und der behördliche Umgang deuteten auf das fundamentale Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Staat hin.
Das wurde bereits zeitgenössisch thematisiert, etwa bei Alexander Grünwald: Eheschliessung nach den Bestimmungen des österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, des Code Napoleon, des österreichischen Konkordats ... des englischen, des brasilianischen und des nordamerikanischen Gesetzes. Nebst einem Anhange: Die Ehehindernisse und ihre rechtliche Eintheilung, Wien 1881. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 84a, Nr. 11897, Abschrift des Regierungspräsidiums, betr. die von ungarischen Staatsangehörigen in Deutschland geschlossenen Ehen, 02.03.1896. N. N.: Bayern. Eheschließung bulgarischer Staatsangehöriger, in: Der Standesbeamte 35 (1909), S. 154. G. Klocke: Die Stellung von Staat und Kirche zu Mischehen in Bulgarien. Eine Abhandlung unter besonderer Berücksichtigung deutscher Interessen (1910), in: Bundesarchiv Berlin, R 901/28149. Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe, Best. 234 Nr. 3806, Auswärtiges Amt an das Badische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 10.04.1909.
Derartige Vorfälle begründeten sodann eine gewisse behördliche Skepsis in vergleichbaren Fällen, sodass sie die Standesbeamten zur Vorsicht mahnten. Die Rekonstruktion von Formen und Methoden der zeitgenössischen Wissensproduktion über national exogam heiratende Paare, die Aneignung und Nutzung von Wissensbeständen und ihre Relevanz gerade für die Standesbeamten als staatliche Funktionsträger lassen sich auf verschiedenen Ebenen beobachten, woraus ein umfassender Professionalisierungsprozess erkennbar ist. So kann seit der Jahrhundertwende die Veröffentlichung zahlreicher Handreichungen nachvollzogen werden, in denen handbuchartig die wichtigsten Vorschriften für verschiedene Staaten versammelt waren. Sie umfassten regelmäßig auch Übersichten über die jeweils beizubringenden Unterlagen sowie Fragebögen. Gleiches gilt für Fachzeitschriften, das Zentralorgan für deutsche Standesbeamte Vgl. nur Ludwig Schmitz: Fragebogen zur Vorprüfung der Eheerfordernisse der Ausländer in Preussen: Praktisches Handbuch für Standesbeamte, Meiderich 1899; Ders. / Albert Wichmann: Die Eheschliessung im internationalen Verkehr, 2 Bde., Bd. 1: Die Eheerfordernisse der Ausländer im Deutschen Reiche, insbesondere in Preußen. Praktisches Handbuch für Standesbeamte mit Musterbeispielen und Nachweisen; Bd. 2: Das internationale Eheschließungsrecht und die Rechte betreffend die Legitimation unehelicher Kinder, Meiderich 1905; Dies.: Musterbeispiele zu Eintragungen in die Standesregister sowie zu sonstigen Beurkunden, Verhandlungen, Zeugnissen für Ausländer, Eingaben usw. Praktisches Handbuch für Standesbeamte, Duisburg 31911. Hierzu und zu den Folgen Lorke: Moderne.
Wenn vom Wunsch nach Ordnung und Kontrolle sozialer Verhältnisse durch Verwaltungshandeln die Rede war, so sind damit nicht zuletzt Geschlechterbeziehungen gemeint. Diese Ebene rekurriert auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen und administrativer Praxis.
Siehe dazu für den kolonialen Kontext Ulrike Schaper: Sex Drives, Bride Prices and Divorces: Legal Policy Concerning Gender Relations in German Cameroon 1884–1916, in: Oliver Janz / Daniel Schönpflug (Hg.): Gender History in a Transnational Perspective, New York 2014, S. 243–269, hier S. 259. Laura Affolter: Asyl-Verwaltung kraft Wissen. Die Herstellung von Entscheidungswissen in einer Schweizer Asylbehörde, in: Christian Lahusen / Stephanie Schneider (Hg.): Asyl verwalten: Zur bürokratischen Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems, Bielefeld 2017, S. 145–171, bes. S. 154–156. Sehr pointiert und zutreffend auch für den hier gewählten Zugriff haben diese intersektionelle Überlagerung zuletzt die beiden Historikerinnen Sara McDougall und Sarah M. S. Pearsall auf den Punkt gebracht: »The history of marriage is centrally about how these many categories merge and pull apart in complicated, ever-changing and sometimes unexpected ways.«Sara McDougall / Sarah M. S. Pearsall: Introduction: Marriage’s Global Past, in: Gender & History 29/3 (2017), S. 505–528, hier S. 513. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung Frankfurt am Main 1992, S. 660; hierzu Peter Collin: Ehrengerichtliche Rechtsprechung im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Multinormativität in einer mononormativen Rechtsordnung? In: Rechtsgeschichte 25 (2017), S. 138–150. Was auch durch die Auswertung verschiedener Einzelfälle Bestätigung findet. Vgl. hierzu Ute Frevert: Ehre – männlich/weiblich. Zu einem Identitätsbegriff des 19. Jahrhunderts, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 21 (1992), S. 21–68; siehe zur Anwendung dieses Konzepts für spätere Zeiten auch Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 259; zur dichotomen Aufladung der Geschlechtercharaktere ist grundlegend Karin Hausen: Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.
Diese grundsätzliche »Ehren-Differenz« erklärt die argwöhnische Wachsamkeit aufseiten der ausschließlich männlich besetzten Entscheidungsinstanzen, die bemüht waren, »das Weib unter männlichen Solidaritätsschutz«
Hier seien nur exemplarisch die Darlegungen des Juristen und Kriminalisten Hans Schneickert genannt: Das Weib unter männlichen Solidaritätsschutz, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 5 (1919), S. 174f.; S. 236. Antje Harnisch: Der Harem in Familienblättern des 19. Jahrhunderts: Koloniale Phantasien und nationale Identität, in: German Life and Letters 51/3 (1998), S. 325–341. Paul Heiber: Die Eheschließung von Ausländern, in: Zeitschrift für Standesamtswesen 9 (1929), S. 63f., 77–79, 94–96, hier S. 94. Alexander Bergmann: Der Ausländer vor dem Standesamt. Ein Wegweiser für Standesbeamte bei der Eheschließung von Ausländern, Berlin 1926, S. 63f.
Solcherart Forderungen blieben nicht ungehört: So sollten seit 1921 neben der formal-rechtlichen Prüfung auch die sozialen und rechtlichen Folgen einer Eheschließung vom Standesbeamten mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dort, wo nicht die christlichen Bekenntnisse galten und keine »gleichberechtigte Gemeinschaft zwischen Mann und Frau« zu erwarten war und wo der Frau »in vielen Fällen […] eine Stellung« zugewiesen würde, »die die Ehe in unseren Augen als Konkubinat erscheinen läßt«,
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Rep. 168, 682, Ministerium der Justiz, »Richtlinien für die Behandlung von Befreiungsgesuchen aus Art. 43 § 4 AG z. BGB«, 15.10.1921. Schaarschmidt [ohne Vornamen]: Ergänzungen zu der in Nr. 15 vom 01.01.1921 dieser Zeitschrift veröffentlichten »Zusammenstellung der Übergangsbestimmungen und zeitgemäßen Verfügungen usw. bezüglich der jetzigen Neuordnung der Aufgebote und Eheschließungen«, in: Zeitschrift für Standesamtswesen 6 (1922), S. 61–67, hier S. 66f.
Es ließen sich zahlreiche Einzelfälle anführen, die belegen, inwiefern die institutionell-männliche Skepsis wichtige Entscheidungsstütze gewesen sein dürfte.
Vgl. nur Lorke: Authorities. Peter A. Hall / Rosemary C. R. Taylor: Political Science and the Three New Institutionalisms, in: Political Studies 44 (1996), S. 936–957, hier S. 951. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 84a, Nr. 11900, Note im Reichsinnenministerium, 07.01.1916. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Rep. 168, 682, »Runderlass des Reichsjustizministeriums an den Oberpräsidenten in Berlin und sämtliche Regierungspräsidenten«, 08.03.1916. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 84a, Nr. 11900, Schreiben im Reichsinnenministerium, 09.11.1916.
Auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieses Verfahren von einigen Behörden mitunter weiter praktiziert: Vorstrafen, eine Schwangerschaft, die Existenz unehelicher Kinder, das Vorhandensein eines gemeinsamen Haushalts, Aussagen über den »Leumund« des Antragstellers oder Fürsprechers wurden bei der Antragstellung binationaler Heiratsgesuche dokumentiert und konnten die institutionelle Entscheidungsfindung beeinflussen, und zwar in solchen Fällen, in denen (nach-)kriegsbedingt und/oder aufgrund territorialer Verschiebungen und Unklarheit über die behördliche Zustimmung ein wichtiges Dokument nicht beigebracht werden konnte.
Dafür vgl. etwa die Überlieferung in Hauptstaatsarchiv Darmstadt, Bestand G 21 A Nr. 1544/1. Helena Wray: An Ideal Husband? Marriages of Convenience, Moral Gate-Keeping and Immigration to the UK, in: European Journal for Migration and Law 8 (2006), S. 303–320. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 84a, Nr. 11900, Mecklenburgisch-Schwerinsches Ministerium des Innern an das Preußische Ministerium der Justiz, 30.11.1919; vgl. daneben ebenfalls die dort überlieferte Antwort vom 21.02.1920.
Wie beschrieben, sind Verschränkung und Interaktion zwischen dem System Bürokratie/Standesamt und der Umwelt anzunehmen; hinzu kommen immer auch institutionelle Spannungslinien, wodurch Praktiken der Normerzeugung beeinflusst werden konnten. Administrative Multinormativität konnte sich darüber hinaus auch im Umfeld von Ausnahmeregelungen zeigen, wie etwa in Kriegszeiten. Generosität bzw. Willkür im Behördenhandeln und ihre geografischen und sozialen Grenzen sowie Modi der Klassifizierungen grenzüberschreitender Akteure lassen das Standesamt als Aktions- und Erfahrungsraum hervortreten – für Standesbeamte und ‚fremde‘ Individuen gleichermaßen. Dadurch erscheinen Standesämter schlussendlich als »Möglichkeitsräume« für individuelle Handlungsentscheidungen und für das Hinterfragen oder Bestätigen sozialer Ordnungen.
»Eigen-sinnige« Reaktionen schließen selbstverständlich immer auch solche Verhaltensweisen ein, wenn etwa institutionelle Warnungen – beispielsweise vor dem Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit oder hinsichtlich einer zweifelhaften Rechtsgültigkeit der Eheschließung – von einzelnen Akteuren schlicht bewusst ignoriert worden sind. Eine deutsche Staatsangehörige, die im Jahr 1910 einen ägyptischen Mann heiraten wollte, wurde von Mitarbeitern des Kaiserlichen Deutschen Konsulats Kairo »auf ihre unsichere Stellung als Ehefrau eines Mohammedaners hingewiesen« und hörte sich die Belehrung aufmerksam an. Im Anschluss daran antwortete sie laut Aufzeichnungen des Konsulats lakonisch: »Wer A sage, müsse auch B sagen«. Da sie bereits mehrere Jahre mit dem Mann zusammenlebte und seinen Charakter also »genau« zu kennen glaubte, zeigte sich das Konsulat offenbar zufrieden und stimmte einer Verehelichung zunächst zu.
Ob die Eheschließung tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich allerdings aus der Überlieferung nicht rekonstruieren. Bundesarchiv Berlin, R 901/28224, Konsulat Kairo an Reichskanzler Bethmann Hollweg, 26.11.1910.
Andere Konstellationen legen nahe, wie wichtig außenpolitische Verhältnisse waren und auch, dass es »schlechtes Timing« für Eheschließungsanträge geben konnte. Besonders gut greifbar werden normative Überwölbungen am Beispiel deutsch-türkischer Paare, die in den Jahren um den Ersten Weltkrieg die Ehe schließen wollten. Lehnten die Behörden vor dem Krieg entsprechende Anträge türkischer Staatsangehöriger muslimischen Glaubens ab, weil sie eine ungünstige rechtliche und gesellschaftliche Stellung der deutschen Verlobten nach einer erfolgten Eheschließung befürchteten, wurde während des Krieges vor dem Hintergrund der außenpolitischen Beziehungen zur Türkei zunächst ein »milderer Standpunkt« verfolgt. Bestimmten Männern, insbesondere hochrangigen Militärs oder aus ökonomischer Sicht wichtigen Kaufleuten, wurden die Befreiungen durch die Behörden erteilt, jedoch erst, nachdem die jeweiligen Frauen »in eindringlicher Weise« auf die möglichen Folgen eines solchen Schrittes hingewiesen wurden. Nach dem Ende des Weltkrieges, als die »Waffenbrüderschaft« vorerst obsolet geworden war, kehrte man zu früheren Standpunkten zurück und lehnte Anträge zur Befreiung auf die Beibringung des Ehefähigkeitszeugnisses wieder ab.
Bundesarchiv Berlin, R 901/28225, Reichsministerium der Justiz an das Auswärtige Amt, 15.12.1918. Vgl. jenen Titel bei Sabine Mangold-Will: Begrenzte Freundschaft: Deutschland und die Türkei, Göttingen 2013.
Mitunter konnten bestimmte Fälle die Behörden über Jahre hinweg beschäftigen, wobei im folgenden Fall nicht nur die Rolle von eigen-sinniger Unnachgiebigkeit, sondern auch von normativen Konflikten deutlich wird. 1927 wollte ein marokkanischer Arbeiter in Fulda eine deutsche Staatsangehörige heiraten. Fünf Jahre zuvor war der Mann als französischer Soldat in das besetzte Rheinland gekommen, wo er 1924 desertiert hatte. Das Gesuch um Befreiung wurde vom Preußischen Justizministerium zunächst aus »grundsätzlichen Erwägungen« abgelehnt – ein übliches Verfahren, das sich auf Richtlinien zum Umgang mit Männern wie ihm stützte und als Begründung auch in vielen anderen Fällen herangezogen wurde.
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Rep. 168, 682, Ministerium der Justiz: Richtlinien für die Behandlung von Befreiungsgesuchen aus Art. 43 § 4 AG z. BGB, 15.10.1921. Alle Unterlagen sind im Brief des Preußischen Ministeriums der Justiz an das Auswärtige Amt überliefert, 17.12.1927, in: Bundesarchiv Berlin, R 901/26523. Bundesarchiv Berlin, R 901/26523, Konsulat Tetuán (Tétouan) an das Auswärtige Amt, 19. 1. 1928. Bundesarchiv Berlin, R 901/28186, Vorsitzender des Vorstandes des Reichsbund Deutscher Mieter Claus, Ortsverein Fulda, an die Liga für Menschenrechte Berlin, 08.07.1929. vgl. außerdem das Antwortschreiben vom 07.08.1929. Die Verheiratung fand gut zehn Wochen später statt; vgl. Stadtarchiv Fulda, Einwohnermeldekarte Stadt Fulda, Serie 2.
Bei anderen Paaren ergab sich eine nicht zu unterschätzende Nische der Ermöglichung dann, wenn ein ablehnendes Ehegesuch – zumindest aus Sicht der Behörden – außenpolitische Folgen zeitigen konnte. So vergewisserten sich die Behörden regelmäßig, ob im Falle der Versagung eines Ehegesuchs entsprechende Konflikte diplomatischer Natur zu befürchten waren, was im Übrigen auch bei muslimischen Männern der Fall war: Ein algerisch-stämmiger Moslem wollte 1930 in Bürgel, einem Ort zwischen Jena und Eisenberg, die Ehe mit einer Thüringerin eingehen. Zeigte sich das Thüringische Innenministerium unter Berufung auf das abweichende Eherecht zunächst skeptisch, wodurch der Braut nach der Eheschließung eine unsichere Lage drohte, so attestierte man dem Mann, der 1924 desertiert hatte, dennoch einen »guten, glaubhaften Eindruck« und wollte außerdem vermeiden, dass der Fall zu »unerwünschten« Folgen für das deutsch-französische Verhältnis führen könnte. Der Fall wurde letztlich an das Auswärtige Amt überstellt, wo man nach einigem Abwägen die Befreiung doch verwehrte – hier war man der Ansicht, die negativen Konsequenzen einer Ablehnung dürften angesichts der militärischen Vergangenheit des Antragstellers nicht ins Gewicht fallen.
Bundesarchiv Berlin, R 901/26523, Thüringisches Ministerium der Justiz an das Auswärtige Amt, 11. 7. 1930. Metzner: Geltendes Eherecht in Großbritannien, in: Zeitschrift für Standesamtswesen 2 (1922), S. 62; vgl. für die Zeit vor 1914 den Ratgeber E. Krafft: Die Eheschließung deutscher, österreichungarischer und schweizer Staatsangehöriger in England: Ein Führer durch die einschlägigen deutschen etc. u. englischen Gesetze und Ratgeber für eventuelle Eheschließungs-Reflektanten, London 1905.
Personenstandsrecht, zumal wie hier in internationaler Ausrichtung, war (und ist) ein komplexes gesellschaftliches Symbolsystem, das deutlich macht, auf welche Weise Normen und Handlungskonsequenzen ineinandergreifen und in bestimmten Situationen die »Logik der Angemessenheit« von der »Logik der Konsequenz« abwich
Vgl. Birgit Emich: Verwaltungskulturen im Kirchenstaat? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 163–180, hier S. 169; vgl. ferner die pointierten Überlegungen bei Wolfgang Seibel: Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin 2016. Duve: Multinormativität, S. 94. Therese Garstenauer: »Beamtengefühl«: Soziale Funktionen von Emotionen im österreichischen Staatsdienst der Zwischenkriegszeit, in: Administory 3 (2018), S. 61–79.
Letztendlich spielten die hier skizzierten normativen Konfliktkonstellationen auch in der Zeit nach 1930 eine wichtige Rolle, ungeachtet der zusätzlichen rassenpolitischen Aufladung von Liebesbeziehungen und Eheschließungen in der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Nicht nur die Regelungen bezüglich der Soldatenehen im Zuge des Zweiten Weltkrieges,
Vgl. Regina Mühlhäuser: Eine Frage der Ehre. Anmerkungen zur Sexualität deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkrieges, in: Wolfgang Bialas / Lothar Fritze (Hg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus, Göttingen 2014, S. 153–174; Maren Röger: Die Grenzen der »Volksgemeinschaft«. Deutsch-ausländische Eheschließungen 1933–1945, in: Klaus Latzel / Elissa Mailänder / Franka Maubach (Hg.): Geschlechterbeziehungen und »Volksgemeinschaft«, Göttingen 2018, S. 87–108. Lorke: Ausländerehen, Kapitel »Fremdblütig«, »fremdvölkisch«, »artfremd«. Harumi Shidehara Furuya: Nazi Racism Toward the Japanese. Ideology vs. Realpolitik, in: Nachrichten der Gesellschaft für Naturund Völkerkunde Ostasiens 157–158 (1995), S. 17–75. Dagmar Yu-Dembski: »Grundsätzlich unerwünscht…«. NSRassenpolitik und ihre Folgen für deutsch-chinesische Partnerschaften in Deutschland, in: Georg Armbruster (Hg.): Exil Shanghai: 1938–1947. Jüdisches Leben in der Emigration, Teetz 2000, S. 201–213; vgl. außerdem Christoph Lorke: Undesired Intimacy: German–Chinese Couples in Germany (1900s–1940s), in: The History of the Family 24 (2019), S. 560–584. Alexandra Przyrembel: »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003.
Deutlich geworden sein dürfte jedoch bereits für den hier gewählten Untersuchungsrahmen, inwiefern das Thema die Fragen von Entscheidungsabhängigkeiten und Entscheidungsautonomien ebenso berührt wie die nach bürokratischen Zuständigkeiten und Akteurskonstellationen, der Kommunikation nach außen und den Erwartungen der Öffentlichkeit. Dieses Wechselspiel deutet auf die mannigfaltige Interaktion von und Konfrontation zwischen unterschiedlichen normativen Vorstellungen. Zivilrechtlich gerahmte normative Systeme waren zwar bindender Handlungsrahmen, wurden aber von den jeweiligen Akteuren nicht nur reproduziert, sondern selbst geschaffen, modifiziert und hinterfragt. Analysiert man die Geschichte der Eheschließung mit AusländerInnen solcherart, werden verschiedentliche Widersprüche und Eigenlogiken von Normen, Deutungsmustern, Klassifikationen und damit verbundenen Ordnungsvorstellungen sichtbar (genannt seien nur gängige Wissensbestände über Sexualität und Geschlecht, national und/oder kulturell exogam agierende Paare oder zu ›fremden‹ Kulturen und Ländern). Durch standesamtliches Agieren und Entscheiden wurden