Innovation ist eines der schillernden Schlagworte der Gegenwart. Der Begriff birgt das verheißungsvolle und zugleich diffuse Versprechen von Produktivität, Kreativität, Effizienz und Fortschrittlichkeit.
Jan Fagerberg: Innovation Studies – the emerging structure of a new scientific field, in: TIK Working Papers on Innovation Studies No. 20090104, online unter: Das Gros der Arbeiten im Feld der innovation studies stammt traditionell aus den Wirtschaftswissenschaften, vgl. Fagerberg: Innovation Studies, S. 36. Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking: Einleitung, in: Johann Anselm Steiger/Sandra Richter/Marc Föcking (Hg.): Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kulturund geistesgeschichtliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa, Amsterdam 2010, S. 7–14, hier S. 8.
Nun kannte die Frühe Neuzeit durchaus den Innovationsbegriff in einem auf Neuerung abzielenden Sinn. So wird etwa bei Edmund Coote in seinem »The English School-Master« von 1596 Innovation als » Edmund Coote: The English Schoole-maister (1596), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: Samuel Johnson: A Dictionary of the English Language (1755), in: Lexicons of Early Modern English, online unter: Harald Müller/Florian Eßner: Wissenskulturen – Bedingungen wissenschaftlicher Innovation. Eine Einführung, in: Harald Müller / Florian Eßner (Hg.): Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation, Kassel 2012, S. 13–18, hier S. 13. Benoît Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation over the Centuries, London 2015. Vgl. zur Beschreibungssprache von Veränderungsprozessen etwa den kürzlich erschienenen Band Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020.
Ausgangspunkt des Beitrages ist die Annahme, dass sich der Innovationsbegriff in besonderer Weise als analytisches Instrument eignet, um die Besonderheiten frühneuzeitlicher Reform- und Veränderungsprozesse in den Blick zu rücken. Dem zugrunde liegt die Beobachtung, dass alle Veränderungsrhetorik grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu tatsächlichen Veränderungen, Wandel und Reformen steht. Aufgrund seiner normativen Aufladung in der Moderne wie der Vormoderne wird am Begriff der Innovation am eindrucksvollsten deutlich, dass analytische Veränderungsbeschreibungen einer sorgfältigen Kontextualisierung bedürfen. Der Blick auf Innovation als Begriff und analytische Kategorie erlaubt es entsprechend, in diachroner Perspektive grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Verwaltung und Veränderung aufzuwerfen. Statt »Innovationen« zu universalisieren, möchte der Beitrag den Begriff analysieren und damit verbundene Zeit- und Zukunftskonzeptionen freilegen. Zugleich sollen aus einer praxeologischen Mikroperspektive Wandlungsprozesse in Verwaltungen untersucht werden. Der Artikel ist damit auch ein Beitrag zur jüngeren Kulturgeschichte der Verwaltung, die zum einen zurecht vor älteren Narrativen der Modernisierung warnt und stattdessen ihr Augenmerk auf die Kontextualisierung einzelner Verwaltungspraktiken gerichtet hat.
Vgl. stellvertretend und neuere Ansätze summierend Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014.
Um das spannungsreiche Verhältnis von Innovation und Verwaltung in der Vormoderne zu untersuchen, rücken wir sprachliche, performative und dingbezogene Verwaltungspraktiken in den Mittelpunkt. Die Beispiele betreffen überwiegend England in der Frühen Neuzeit. Um das Verhältnis von Wandel, Zeitlichkeit und Innovationen zu vermessen, gehen wir in drei Schritten vor. Zunächst werden einige methodische und konzeptionelle Vorüberlegungen diskutiert, wohingegen wir uns in einem zweiten Schritt den Semantiken von Wandel nähern. In einem dritten Schritt schließlich werden Verwaltungspraktiken auf ihr Verhältnis zu Innovationen und Neuerungen untersucht. Methodisch orientiert sich der Beitrag an begriffsgeschichtlichen Befunden, an organisationssoziologischen Überlegungen zur Informalität beziehungsweise Formalisierung von Verwaltungshandeln und an jüngeren Arbeiten zur Praxeologie der Verwaltung. Mit diesem Zuschnitt verfolgt der Beitrag zwei Ziele: Zum einen soll ein tiefergehendes Verständnis für die Eigenlogiken und Dynamiken frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns gewonnen werden. Zum anderen kann auf diese Weise das Potenzial des Begriffsfeldes Innovation – Neuerung – Wandel für die historische Analyse ausgelotet werden.
Üblicherweise werden Innovationen als technologische oder soziale Neuerungen definiert.
Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, in: EconStor, online unter: Joseph Alois Schumpeter: The Creative Response in Economic History, in: The Journal of Economic History 7/2 (1947), S. 149–159, hier S. 151. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation; Wolf Rainer Wendt: Soziale Innovationen —Innovation des Sozialen. Begriff und Geschäft der Neuerung im Kontext der Sozialwirtschaft, in: Sozialer Fortschritt 65/1,2 (2016), S. 10–16. Für eine stärkere Integration des privaten und öffentlichen Sektors in das Feld der innovation studies plädiert auch Fagerberg: Innovation Studies, S. 38. Müller/Eßner: Wissenskulturen, S. 13.
Bekanntermaßen hat Reinhard Koselleck die Geburt der »offenen Zukunft« in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts und die Sattelzeit gelegt.
Reinhart Koselleck: Das 18. Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Koselleck / Reinhart Herzog (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269–82. bes. S. 278–281 sowie Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 21992. Siehe hierzu auch Christian Link: Zukunft, Vergangenheit in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 146–1436; Daniel Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die ›Sattelzeit‹ zu überwinden, in: Wolfgang Breul/Jan Carsten Schnurr (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Göttingen 2013, S. 141–172, bes. S. 141–147. Grundsätzlicher zum Problem Wandel und Zeitlichkeit Matthias Pohlig: Wandel und seine Repräsentation, in: Jörg Baberowski (Hg.): Arbeit an der Geschichte. Wie viel Theorie braucht die Geschichtswissenschaft?, Frankfurt am Main 2009, S. 37–61; Fulda: Wann begann die ›offene Zukunft‹, S. 147; Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller: Die Autorität der Zeit, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Münster 2007, S. 9–22, bes. S. 12; Stefan Hanß: The Fetish of Accuracy: Perspectives on Early Modern Time(s), in: Past and Present 243 (2019), S. 267–284. Godin: Innovation Contested.
Nimmt man diese Überlegung ernst, dann ergibt sich eine interessante kulturgeschichtliche Forschungsperspektive auf eine Geschichte der Innovation. Innovationen sind, so die Ausgangsüberlegung, keine objektiven und überzeitlichen Phänomene, die durch den findigen Historiker oder die findige Historikerin sichtbar gemacht werden müssen, sondern sie sind bereits auf der begrifflichen Ebene eng mit gesellschaftlichen Vorstellungen von Wandel, Veränderung und Neuerung verbunden. Denn Veränderungen im Allgemeinen und Innovationen im Besonderen entstehen selten aus dem Nichts, sondern es existieren gewisse normative Rahmungen, Ressourcen, Wissensordnungen und institutionelle Arrangements, die soziale und technische Neuerungen wahrscheinlicher machen.
Jan Fagerberg: Innovation. A Guide to Literature, Working paper version of the introductory chapter in »Oxford Handbook of Innovation«. Presented at the Workshop »The Many Guises of Innovation. What we have learnt and where we are heading«. Ottawa, October 23–24, 2003, organized by Statistics Canada, online:
Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei grundlegende methodische Konsequenzen: Zum einen müssen die institutionellen Rahmenbedingungen untersucht werden, die Veränderung, Wandel und Neuerung ermöglichen (oder verhindern). Zugleich bedeutet dies für historisch arbeitende Disziplinen aber eben auch, zeitgenössische Zeitkonzeptionen und Perspektiven auf Veränderung und Wandel zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass es nicht nur gewisser struktureller Rahmungen bedarf, die Innovationen begünstigen, sondern auch eines gewissen
Fragt man nach Innovationen in Verwaltungsorganisationen der Frühen Neuzeit, ergibt sich zunächst ein semantischer Befund: Wenig überraschend angesichts der fortschrittsaversen Haltung frühneuzeitlicher Gesellschaften war Innovation ein durchweg negativ besetzter Begriff. Er signalisierte den Bruch mit dem Hergebrachten und der Tradition zugunsten von Veränderungen, die, anders als das Bestehende, nicht durch die Prüfung der Zeit gegangen waren. Dieses konkrete Verständnis des Begriffs leitet sich aus dem klassischen Latein ab: Während Godin: Innovation Contested, Kapitel 4–6. Vgl. auch für die spezifisch englische Variante dieser Diskussion Phil Withington: Society in Early Modern England. The Vernacular Origins of Some Powerful Ideas, Cambridge 2010, S. 73–101. Joanna Innes: »Reform« in English Public Life. The Fortunes of a Word, in: Arthur Burns / Joanna Innes (Hg.): Rethinking the Age of Reform. Britain 1780–1850, Cambridge 2003, S. 71–97. Zur sich öffnenden Konnotationen des Reform-Begriffs auch in der außerenglischen Debatte siehe Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: GGb 5, S. 313–360. Vgl. zum weiteren Kontext der Reformdebatte Sebastian Meurer: The Dawning of the Age of Reform. Epistemic and Semantic Shifts in Georgian Britain, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 62–84.
Derlei Dynamiken zeigen sich nicht allein mit Blick auf Verwaltungsorganisationen, sondern in besonderer Klarheit im Umfeld politischer Reformprozesse. Parlamentsdebatten der 1780er-Jahre machen beispielsweise deutlich, welch glänzende rhetorische Effekte der Begriff erzielte, wie machtlos Reformanhänger gegenüber gerade diesem Begriff waren und gegen welche impliziten und expliziten Vorbehalte sie in diesem Zusammenhang zu argumentieren hatten. Deutlich wird all dies beispielsweise in der Debatte um einen Vorschlag zur Reform parlamentarischer Repräsentation im House of Commons, den William Pitt der Jüngere 1785 – in seiner Rolle als Prime Minister – einbrachte. In seiner Eröffnungsrede antizipierte Pitt zahlreiche Vorbehalte. Im Bewusstsein, dass zahlreiche Members of Parliament gegenüber » William Cobett (Hg.): The Parliamentary History of England from the Earliest Period to the Year 1803, Bd. XXV, London 1815, Sp. 432–434. Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 455. Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 463. Ähnlich auch die Einlassung von Lord Campbell: »The door once opened for innovation and experiment, the wisest among them could not say where it would end.« Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 470. Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 460.
Derlei Argumente wurden derweil außerhalb des Parlaments zusätzlich untermauert, etwa in einer Predigt, die Reverend George Berkeley im Januar 1785 in der Kathedrale von Canterbury hielt. Er zeigte darin » George Berkeley: The Danger of Violent Innovations in the State Exemplified from the Reigns of the two first Stuarts, in a Sermon preached at the Cathedral and Metropolitical Church of Christ, Canterbury, on Monday, Jan. 31, 1785, Canterbury 1785, S. 9–10. Cobett, Parliamentary History, XXV, Sp. 462 und Sp. 466.
Weisere Reformer zogen es darum vielfach vor, von der Verwendung des Begriffes abzusehen oder ihn immerhin in einen anderen Kontext zu setzen. Charles James Fox beispielsweise bevorzugte es, dem Kind einen anderen Namen zu geben. » Cobett: Parliamentary History, XXV, Sp. 466. Derek Beales: The Idea of Reform in British Politics, 1829–1850, in: Timothy Charles Willliam Blanning/Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 159–174, hier II, S. 162–3. Siehe auch zum Begriff »improvement« Innes: »Reform« in English Public Life. Samuel Romilly: Memoirs of the Life of Sir Samuel Romilly, 3 Bde., London 1840, S. 253–4. Anon.: Reform without Innovation: Or, Cursory Thoughts on the Only Practicable Reform of Parliament, Consistent with the Existing Laws, and the Spirit of the Constitution, London 1810.
In aller Regel waren die Debatten weniger hitzig, wenn es um administrative Reformen ging, doch auch hier lassen sich die selben rhetorischen Grundmuster und ideologischen Reflexe erkennen. Mit Blick auf die Reform der Treasury schien es etwa der Reformkommission der Public Accounts 1781 angeraten, ihre Vorschläge mit Rücksicht auf die » The Fifth Report of the Commissioners appointed to examine, take, and state, the Public Accounts of the Kingdom, 28 November 1781, in: The Journals of the House of Commons 38 (1803), S. 572–577, hier S. 577. The National Archives (Kew) [TNA], T1/123, no.4, Scottish Customs Commissioners to the Treasury, 31. 05. 1710. Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 2, Oxford 1979, p. 897. Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments, Cambridge 2002, S. 273.
Sieht man von der offenen semantischen Verhandlung von Neuerungsprozessen in frühneuzeitlichen Verwaltungsorganisationen ab, dann ergibt sich ein anderes Bild. Unterhalb der expliziten Thematisierungsschwelle fanden permanent und allenthalben zahlreiche Veränderungen kleineren und größeren Ausmaßes statt. Dies umfasste auch solche Veränderungen, die explizit Neues mit sich brachten, und gilt übrigens auch weit über den englischen Fall hinaus: Wenngleich der Begriff der Innovation im deutschsprachigen Raum eher unüblich war, ist auch hier – wie auch im französischen Fall – von einer Unterscheidung zwischen Reform als Wiederherstellung eines idealisierten Zustandes in der Vergangenheit und einer auf Veränderung und die Zukunft abzielenden Neuerung auszugehen.
Besonders gut untersucht im Kontext von theologischen Diskussionen, vgl. Pohlig, Wandel. Einen britisch-deutschen Vergleich zu Reformmaßnahmen im betrachteten Zeitraum bietet Eckhart Hellmuth: Why does Corruption Matter? Reforms and Reform Movements in Britain and Germany in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Timothy Charles Willliam Blanning / Peter Wende (Hg.): Reform in Great Britain and Germany, 1750–1850, Oxford 1999, S. 5–23; Thomas Maissen: Conclusion. Bringing a Despotic Agenda Into the Public Sphere – Concluding Remarks on Languages of Reform, in: Susan Richter/Thomas Maissen/Manuela Albertone (Hg.): Languages of Reform in the Eighteenth Century. When Europe lost its Fear of Change, London 2020, S. 405–424.
Im britischen Kontext werden konzertierte und zentral durchgeführte Reformen für gewöhnlich in den 1780er-Jahren verortet. Erstmals wurde im politischen Diskurs der Zeit offen von der Notwendigkeit administrativer und parlamentarischer Reformen gesprochen und über ihre konkrete Gestalt gestritten. Mit der Einführung neuer administrativer Rechenschaftstechniken, der Abschaffung von Sinekuren und der schrittweisen Überholung vermeintlich vormoderner Verwaltungslogiken markieren die parlamentarisch organisierten Reformen der Exekutive in diesen Jahren in vieler Hinsicht einen deutlich sichtbaren Bruch. Erkennbar ist dies auch an der Anwendung einer neuen politischen Sprache: Erst im Umfeld der Reformen zwischen 1780 und 1785 zeigten die Mitglieder der entsprechenden Reformkommissionen ein klares Bewusstsein für ideale, durch gesteuerte Veränderung zu verwirklichende bürokratische Formen und, davon abgeleitet, eine explizite Reflexion über den Neuheitsgehalt ihrer Vorschläge.
John Torrance: Social Class and Bureaucratic Innovation. The Commissioners for Examining the Public Accounts 1780–1787, in: Past and Present 78 (1978), S. 56–81; Philip Harling: The Waning of Old Corruption. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996, Kapitel 1; Innes: »Reform« in English Public Life.
The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.
Auf zentraler Regierungsebene, das heißt im Parlament und den führenden Organen der Exekutive, waren trotz aller Vorbehalte die Voraussetzungen gegeben, um aus heutiger Sicht mit einiger Zuversicht von einem Moment der Innovation zu sprechen. Tatsächlich werden auf der Basis solcher Befunde in der Forschungsliteratur eine ganze Anzahl von Transformationsprozessen gewöhnlich in diesem Zeitraum verortet. Dies betrifft auch die klassische verwaltungsgeschichtliche Frage nach dem Übergang vormoderner Amtsträgerschaft zum modernen Verwaltungsbeamtentum. Für die englische Zollbehörde sind beispielsweise seit Ende des 17. Jahrhunderts hier und dort Forderungen nach Maßnahmen belegt, die als wichtige Bausteine zu einem solchen Prozess interpretiert werden können: Anstatt durch den Bezug von Gebühren sollten Zollbeamte über ein festes Gehalt entlohnt werden; das Verbot politischer Betätigung sowie der Ausübung kommunaler Ämter und privater Nebenberufe sowie weitere Maßnahmen sollten schädliche soziale Bindungen vor Ort unterbinden; eigens eingeführte Amtstagebücher sollten eine ungebrochene Rechenschaftslegung erzwingen; und eine technische Ausbildung sowie die Beförderung auf der Grundlage von Erfahrung und Können sollten der allgegenwärtigen Patronage den Nährboden entziehen. Im Effekt zielte all dies, so der Tenor der relevanten Forschungsliteratur, auf das Weber’sche Ideal eines geschulten, rechenschaftspflichtigen, unabhängigen und allein der Verwaltungslogik folgenden Amtsträgers. Die Reformen der 1780er-Jahre bilden in diesem Narrativ darum einen geeigneten Kulminationspunkt solcher Prozesse, weil die parlamentarisch eingesetzten Kommissionen zur Reform des Zolls oder der Treasury viele dieser Aspekte in ihren Empfehlungen aufgriffen. Zudem wurde das technische Stückwerk einzelner Reformmaßnahmen nun erstmals in die Form eines zielgerichteten und absichtsvollen Prozesses gegossen, der Effizienzsteigerung und moderne Verwaltungsformen explizit zum Ziel hatte.
Vgl. Henry Parris: The Origins of the Permanent Civil Service, 1780–1830, in: Public Administration 46 (1968), S. 143–166; Gerald Edward Aylmer: From Office-Holding to Civil Service. The Genesis of Modern Bureaucracy, in: Transactions of the Royal Historical Society 30 (1980), S. 91–108; John Brewer: Servants of the Public – Servants of the Crown. Officialdom of Eighteenth-Century English Central Government, in: John Brewer/Eckhart Hellmuth (Hg.): Rethinking Leviathan. The Eighteenth-Century State in Britain and Germany, Oxford 1999, S. 127–47; Hannes Ziegler: The Preventive Idea of Coastal Policing. Vigilance and Enforcement in the Eighteenth-Century British Customs, in: Storia della Storiografia 74 (2018), S. 75–98. The Fifth Report of the Commissioners, S. 577.
Der unmittelbare Eindruck wirklicher, zielgerichteter Veränderung hin auf ein bestimmtes Ideal verschwindet schnell beim näheren Blick auf einzelne, unterhalb dieses Meta-Diskurses stattfindende Diskursfelder und zerfällt in die modern wie vormodern vertrauten Interessensfelder, in denen die betreffenden Akteursgruppen
Ähnliches galt für den Grundsatz, wonach Amtsträger halbjährlich auf einen neuen Posten versetzt werden sollten. Auch die Maßgabe, dass Amtsträger nur ein einziges Zollamt ausüben sollten, um Ämterhäufungen und Absentismus zu vermeiden, wurde in vielen Fällen unterlaufen und ignoriert.
Arthur L. Cross (Hg.): Eighteenth Century Documents relating to the Royal Forests, the Sheriffs and Smuggling, London 1928, S. 248–288.
Derlei Gewohnheitspraktiken orientierten sich dabei in aller Regel an einem routinehaften Gebrauch bestimmter Verwaltungsinstrumente, die eher traditionellen Zwecken der jeweiligen Entscheidungsträger folgten. Mochten administrative Reformregularien auf abstrakter Ebene auch einleuchten, so standen ihnen oft genug legitime soziale Interessen der beteiligten Akteure entgegen. Im Zweifel zogen es beispielsweise zentrale Behördenvertreter häufig genug vor, die Vergabe von Ämtern in einer der Patronagelogik gehorchenden Weise zu vollziehen. Derlei vermeintliche ›Rückfälle‹ in traditionale Verwaltungsmechanismen – etwa unter der Regierung Walpole – waren ebenso häufig wie tiefgreifend.
Harling: Waning of Old Corruption; Patrick Walsh: The Making of the Irish Protestant Ascendancy. The Life of William Conolly, 1662–1729, Woodbridge 2010, S. 125–152; David A. Fleming: Politics and provincial people. Sligo and Limerick, 1691–1761, Manchester 2010, S. 163–191.
Nicht vergessen werden sollte dabei zudem, dass auch die Einführung neuer und scheinbar moderner Formen und Regularien keineswegs allein oder vordringlich dem Diktat administrativer Effizienz folgen musste. Die Abschaffung von Zollgebühren zugunsten von Gehältern, die Beseitigung einer Anzahl von Sinekuren auf Lebenszeit und die damit verbundene Begrenzung des Dienstalters für Zollangestellte im Hafen von London – alles Maßnahmen eingeführt im Zuge der Zollreformen in den 1780er-Jahren – können zwar auf den ersten Blick als innovative Reformen zur administrativen Effizienzsteigerung verstanden werden. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass – wie Spike Sweeting gezeigt hat – derlei Maßnahmen auch darauf zielten, die Zollbehörde von alternden Sinekuristen zu befreien und als erneuertes Reservoir für Patronageakte für die Lords der Treasury zu erschließen.
Spike Sweeting: Capitalism, the State and Things. The Port of London, circa 1730–1800, unpublizierte Dissertation, University of Warwick 2014, S. 108–158.
All dies verdeutlicht, dass der eingangs dieses Abschnitts betrachtete Reformdiskurs der 1780er-Jahre, der auf zentraler Regierungsebene stattfand, in einem deutlichen Kontrast nicht nur zum Verwaltungsalltag, sondern auch zu den politischen und ökonomischen Absichten bestimmter Interessensgruppen in der Zentrale stand. Gerade darum erscheint es uns wichtig, prominente Reformdiskurse mit Vorsicht zu betrachten und vorschnelle Rückschlüsse auf zeitgenössisch stattfindende Innovationsprozesse zu vermeiden. Wandel und Veränderung in administrativen Kontexten folgte zeitgenössischen Spielregeln, die sich modernen Begrifflichkeiten vor allem dann widersetzen, wenn diesen eine normative Aufladung innewohnt, die sich nicht mit dem zeitgenössischen (Zeit-)Verständnis deckt; es gilt daher umso mehr, diese in ihren historischen Kontexten zu untersuchen. Die normative Diskursebene ist hiervon ein wichtiger Teil. Doch ist sie – in der Vormodere ebenso wie unter modernen Bedingungen – häufig nur Produkt, Spielball und rhetorisches Aushängeschild anderswirkender Kräfte und darum für sich betrachtet irreführend.
Ein weiterer Aspekt der Problematisierung des analytisch mitunter schwierigen Verhältnisses von Reformrhetoriken und administrativer Praxis im historischen Kontext ist die Erkenntnis, dass Wandel, Veränderungen und bürokratische Neuerungen in vormodernen administrativen Kontexten vielfach – und angesichts der politischen und gesellschaftlichen Belastung der Innovationssemantik vielleicht sogar in der Mehrheit der Fälle – in aller Regel nicht als Neuerungen oder Innovationen markiert wurden. Selbst im Binnendiskurs einzelner Verwaltungsorgane charakterisiert die Einführung von Neuerungen stattdessen häufig eine bemerkenswerte Beiläufigkeit. Mindestens vor Anbruch jener vielzitierten »Ära der Reformen« seit den frühen 1780er-Jahren verblieb die Einführung selbst tiefgreifender administrativer Maximen im Modus des Technischen. Die zitierte Bestimmung innerhalb des englischen Zolls etwa, dass Amtsträger niemals dort eingesetzt werden sollen, wo sie » Ziegler: Preventive Idea, S. 94. Zur Zollbehörde und bürokratischer Professionalisierung vgl. William B. Stephens: The Seventeenth-Century Customs Service Surveyed. William Culliford’s Investigation of the Western Ports, 1682–84, Farnham 2012; William J. Ashworth: Customs and Excise. Trade, Production, and Consumption in England 1640–1845, Oxford 2003; John Brewer: The Sinews of Power. War, Money and the English State, 1688–1783, London 1989.
Der Grund dafür ist schlicht darin zu suchen, dass solchen Reformvorhaben in aller Regel die zukunftsgerichtete Vision fehlte, die einer emphatischen Aufladung solcher Maßnahmen den Nährboden geboten hätte. Nirgends findet sich im Umfeld der Einführung dieser Regel die für ein Reformvorhaben typische Kontrastierung eines schlechten Ist-Zustandes mit einem zu erreichenden Ideal. Denn verhandelt wurde in den Augen der Beteiligten hier in aller Regel die Behebung eines konkreten Missstandes, nicht aber die Bewegung hin auf ein explizit formuliertes oder implizit mitgedachtes Idealziel. Es fehlte, mit anderen Worten, in der Regel die Zukunft als Abstraktum und damit die Markierung der Gegenwart als Bruch mit der Vergangenheit. Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass keinerlei Veränderung stattfand. War die Umsetzung, insbesondere in der Zollbehörde, auch bisweilen sporadisch und lückenhaft, so führte sie doch zu einer merklichen Veränderung administrativer Praxis auf Grundlage einer Regelung, die sich ohne Weiteres als Neuerung verstehen lässt – und die doch semantisch an keiner Stelle so verhandelt wurde.
Schließlich ist jenseits der expliziten sprachlichen Verhandlung von Reformen und der mehr oder minder beiläufigen Einführung von administrativen Neuerungen auch erkennbar, dass die Einführung bestimmter Verwaltungstechniken auf lokaler Ebene dem beständigen Spiel lokaler Aneignung ausgesetzt war. Aufgrund des geringen Grades bürokratischer Formalisierung insbesondere auf den unteren und dezentralen Ebenen der Zollverwaltung in den Außenhäfen Großbritanniens war beispielsweise der konkrete Umgang mit bestimmten Neuerungen ein durchaus kreativer Prozess. So führte die zitierte Maßgabe einer regelmäßigen Versetzung einzelner Amtsträger auf lokaler Ebene zu der Gewohnheit und dem Anspruch, einzelne Posten nach Belieben – und häufig gegen Geldzahlung – zu tauschen.
Vgl. beispielsweise TNA, CUST59/10, 24. 05. 1762, 2. 8. 1762; CUST59/76, 27. 7. 1762; CUST62/59, 28. 4. 1718. TNA, CUST59/71, 10. 6. 1735; TNA CUST97/2, 20. 10. 1708; CUST97/3, 13. 10. 1718, 23. 11. 1719; CUST97/4, 22. 2. 1720; CUST97/75, 22. 8. 1747.
Betrachtet man dementsprechend den hier auf mehreren Ebenen skizzierten Kontrast zwischen normativ verordneten administrativen Neuerungen mit dem alltäglichen Verwaltungshandeln, dann wird deutlich, dass der Sinn, der Verlauf und die Richtung solcher Prozesse kaum je mit jener teleologischen Eindeutigkeit und jener emphatischen Effizienzsteigerung in eins fallen, die uns ein modernes Verständnis von Innovation suggeriert. Veränderungsprozesse in vormodernen Bürokratien verliefen nicht geradlinig, sie verliefen nicht widerstandsfrei und sie nahmen nicht notwendigerweise die Richtung hin auf eine die Verwaltungseinheit verbessernde Gestalt. Mithin kennzeichnet sie gerade, dass diese Prozesse mit Blick auf die resultierende Form ergebnisoffen verlaufen und für allerlei Störungen anfällig sind, die außerhalb der Verwaltungseinheit selbst liegen. In funktional nicht voll ausdifferenzierten Gesellschaften ist die Beimengung fremder Handlungslogiken immer eine reale Möglichkeit. Die Heranziehung genuiner Verwaltungsressourcen zu Patronagezwecken ist hier sicherlich nur das offensichtlichste Beispiel. Selbst im lokalen und Mikro-Bereich ist immer damit zu rechnen, dass Erfordernisse des Verwaltungsapparates, die vorgeblich auf seine Effizienz zielen – Tagebücher, Postentausch, Gehälter – mit sozialen Zwecken der Akteure vermengt werden und in ihnen vollends aufgehen. Die Einführung einer der Innovation verdächtigen Technik – sei es eine Schreibtechnik oder eine Form der Professionalisierung von Amtsträgerschaft – ist darum keineswegs gleichbedeutend mit einem Innovationsprozess.
Zudem stellt sich die Frage nach der Skalierung von Innovation oder anders formuliert: Ist jede Neuerung, jede Veränderung auch eine Innovation? Um dieses Problem noch deutlicher zu fassen, soll ein letztes Mal die Perspektive gewechselt werden. Statt nach großen Reformen sollen nun kleine Variationen und Veränderung im Bereich administrativer Routinen in der städtischen Verwaltung Londons im 17. und 18. Jahrhundert untersucht werden, um gewissermaßen
Als Beispiel dient ein kleines und auf den ersten Blick eher unwahrscheinliches Phänomen: die sogenannten Wardmote Presentments. Die Wardmote Presentments entstanden im Rahmen der jährlichen Versammlung eines Londoner Stadtviertels (Wards), dem sogenannten Wardmote, auf dem die Repräsentanten und lokalen Ämter eines Wards für das kommende Jahr gewählt wurden und über verschiedene lokale Belange beraten und entschieden wurde.
Zu den Wardmotes siehe Charlotte Berry: ›To avoide all envye, malys, grudge and displeasure‹: sociability and social networking at the London wardmote inquest, c. 1470–1540, in: The London Journal 42/3 (2017), S. 201–217. Eine detaillierte Anweisung, wie das Wardmote abzuhalten sei, findet sich hier: London Metropolitan Archive (London) [LMA], COL/WD/02/011.
Die schriftliche Fixierung der Wardmotes geschah in zweifacher Weise: einerseits in Form von großformatigen einzelnen Bögen, den Wardmote Presentments, die zusammen mit den Presentments der anderen Wards an die Corporation of London gegeben wurden, und andererseits in Minute Books, die im Ward selbst verblieben und über mehrere Jahrzehnte die Ergebnisse des Wardmotes dokumentierten. Die Wardmote Presentments sind über einen langen Zeitraum seriell überliefert und ermöglichen einen einzigartigen Einblick in die Veränderung, Variation und Neuerung von schrift- und dingbezogenen Verwaltungspraktiken.
Zunächst einmal muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Art administrativer Schriftlichkeit unterschiedliche Funktionen besaß. Auf der einen Seite ging es um die Dokumentation und Speicherung von Informationen.
Diese Art von Schriftlichkeit wird üblicherweise unter der breiten Kategorie ›pragmatische‹ Schriftlichkeit verhandelt. Der Begriff pragmatische Schriftlichkeit geht auf den Münsteraner Sonderforschungsbereich 231 (Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter) zurück. Darunter werden jene Bereiche der Schriftlichkeit verstanden, die unmittelbar »zweckhaftem Handeln dienen oder menschliches Tun und Verhalten durch die Bereitstellung von Wissen anleiten wollen«, vgl. hierzu Hagen Keller: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Einführung zum Kolloquium in Münster, 17.–19. Mai 1989, in: Hagen Keller/Klaus Grubmüller/Nikolaus Staubach (Hg.): Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992, S. 1–7, hier S. 1. Ulla Kypta bemerkt, dass Studien zur pragmatischen Schriftlichkeit zwar die »performative Kraft« von Verschriftlichung konstatieren, dennoch häufig eine Differenz zwischen dem Objekt der Schriftlichkeit und dem Prozess des Verschriftlichens aufmachen. Vgl. Ulla Kypta: Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand, Göttingen 2014, S. 23. Zur symbolischen Funktion von Verwaltungsschriftgut siehe auch Paul Griffiths: Secrecy and Authority in Late Sixteenth- and Seventeenth-Century London, in: The Historical Journal 40/4 (1997), S. 925–951, bes. S. 933. Vgl. Markus Friedrich: Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540–1773, Frankfurt am Main 2011, S. 18, Anm. 21 mit weiterführender Literatur. Einschlägig etwa Gerd Spittler: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980), S. 574–604. Vgl. zudem Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009; Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008; Matthias Pohlig: Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg, Köln 2016; Megan Williams: »Zu Notdurfft der Schreiberey.« Die Einrichtung der frühneuzeitlichen Kanzlei, in: Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015, S. 355–373.; Megan Williams: Unfolding Diplomatic Paper and Paper Practices in Early Modern Chancellery Archives, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 496–508. Neben der klassischen Verwaltungsgeschichte steht in jüngerer Zeit das Archiv aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive im Fokus. Aus der Fülle an Literatur siehe etwa die umfangreiche Diskussion zum Verhältnis von Archiven, Schrift und Textproduktion in Alexandra Walsham: The Social History of the Archive. Record-Keeping in Early Modern Europe, in: Past & Present 230 (2016), S. 9–48; Markus Friedrich: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013; Griffiths: Secrecy and Authority. Unter Information kann dasjenige verstanden werden, »was an Repräsentationen der Welt in Hinsicht auf eine Aufgabe verfügbar ist.« Diese Definition orientiert sich an der durch Peter Burke eingeführten Unterscheidung zwischen Wissen und Informationen, wonach Informationen »roh, spezifisch, praktisch« sind, während Wissen das »gedanklich Verarbeitete oder Systematisierte« oder auch »das Gekochte« ist. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 32014, S. 18. Siehe hierzu auch Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich: Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung zum Wissensbegriff, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 11–44, S. 16. Kritisch in Bezug auf eine künstliche Unterscheidung zwischen Information als Substrat und Wissen als »Produkt systematischer Wirklichkeitsaneignung« ist Lars Behrisch: Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit: Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 455–474, S. 456.
Die zweifache Bestimmung der Wardmote Presentments als Speichermedium und Repräsentationsmedium manifestiert sich an ihrer zumeist aufwendigen Gestaltung. Beim Blick auf die lokalen Minute Books zeigt sich die Herausforderung für den Schreiber, unterschiedliche Informationen auf dem begrenzten Raum der Minute Books einerseits zu dokumentieren und anderseits eine Binnenstruktur und Hierarchie der Seiten zu entwickeln, die die Auffindbarkeit erleichtert und dem repräsentativen Charakter der Wardmote Presentments gerecht wurde. Diese Aufgabe konnte auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert werden. Alle Wards experimentierten über das gesamte 17. und 18. Jahrhundert mit verschiedenen Layouts und grafischen Elementen. So wurde in Farringdon Without, St. Dunstan West 1623 die Seite durch vertikale Trennlinien mit fett geschriebenen Überschriften strukturiert und durch ein eingeklebtes Bild des namensgebenden Patrons St. Dunstan repräsentativ ausgestaltet.
1643 wurde auf die Abbildung von St. Dunstan verzichtet, und die vertikalen Trennlinien wurden durch horizontale Linien ergänzt, wodurch sich eine tabellarische Grundstruktur der Seite ergab. Diese tabellarische Struktur wurde in der Folge beibehalten, wobei die Informationen im 18. Jahrhundert zunehmend auf einer Seite gebündelt wurden und nur sparsam mit Verzierungen gearbeitet wurde.
LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001, Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct, 1558–1823.
Völlig anders sah hingegen das Minute Book im Queen Hith Ward aus.
LMA, CLC/W/MA/002/MS04829, Queen Hith Ward Wardmote Minute Book, 1667–1746.
Ein drittes Beispiel hingegen verweist auf das kreative Potenzial, das Verwaltungsschriftgut entfalten konnte. Das Portsoken Wardmote Inquest Minute Book ist bevölkert von fantastischen Fabelwesen, kuriosen Gesichtern und kunstfertigen Arabesken.
LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, Portsoken Wardmote Inquest Minute Book, 1648–1798.
Die räumliche Organisation der Seite zeigt eine klare Schwerpunktsetzung auf der ästhetisch-repräsentativen Funktion der Presentments. Fische, Vögel und Fabelwesen konnten durchaus ein Drittel der Seite einnehmen, während umfangreiche Arabesken hingegen Schrift und Layout zu einer Einheit verbanden. Zudem zeichnet sich das Minute Book durch ein elaboriertes Spiel mit Farbe aus. Einzelne Wörter wurden durch die alternierende Verwendung von blauer, roter und schwarzer Tinte grafisch hervorgehoben; durch die zusätzliche Verwendung von Arabesken wurde das Presentment zu einem ästhetischen Gesamtkunstwerk. Inspirationen für diese kalligrafische Ausgestaltung administrativen Schriftguts konnte der Schreiber aus einem der zahlreichen Schreiblehrbücher des 17. Jahrhundert gewinnen.
Etwa Edward Cocker: The Pen’s Triumph: Being a Copy-Cook, London 1659.
Figure 1
Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1623 (Source: Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1558–1823, LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001. Photograph by Franziska Neumann)].

Figure 2
Portsoken Wardmote Inquest Book 1666 (Source: Portsoken Wardmote Inquest Minute Book 1648–1798, LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, ohne Paginierung. Photograph by Franziska Neumann)]

Diese kreative Ausgestaltung von Verwaltungsschriftgut zeigt sich auch auf der Ebene der großformatigen Presentments, die von den Wards an die Stadt gingen. Auch hier zeigt sich über das ganze 17. und 18. Jahrhundert eine große Flexibilität und Kreativität sowohl in Bezug auf das Layout als auch in Bezug auf die repräsentative Ausgestaltung. Von schlicht gestalteten Rubriken, die durch vertikale Linien und ein Item strukturiert wurden
LMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Aldgate, 1669. LMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Bishopsgate, 1670. Etwa LMA, COL/AD/04/001, Ward Presentments Dowgate, 1669, 1671, 1672; Aldergate, 1668, Cripplegate, 1670. Etwa LMA, COL/AD/04/031, Ward Presentments Portsoken, 1735.
Bei der vergleichenden Betrachtung der Wardmote Presentments zeigt sich, dass eine große Flexibilität in der Ausgestaltung formalen Verwaltungsschriftgut möglich war und durchaus die Möglichkeit zur kreativen Aneignung und Auslegung bestand. Letztlich blieb es dem einzelnen Schreiber überlassen, ob der Schwerpunkt eher auf die funktionale Ausgestaltung oder die repräsentativ-symbolischen Dimension der Presentments gelegt wurde und wie das Problem der Organisation von Information auf räumlich begrenzten Papiermedien gelöst wurde.
Was sagt uns nun dieser kleine Exkurs zu Schreibpraktiken und Dingen über Innovationen im Verwaltungskontext? So faszinierend die Vielgestaltigkeit der Wardmote Presentments auch ist, so würde man diese vermutlich weder im modernen Verständnis zwingend als Innovation bezeichnen noch scheint es sich um das zu handeln, worauf die frühneuzeitliche (negative) Innovationsrhetorik im Kern abzielt. Vielmehr handelt es sich um kleinste Variationen, Veränderungen und Neuerungen, die sich in der Ausgestaltung der Wardmote Presentment Minute Books über einen langen Zeitraum abzeichnen. Und genau in dieser sehr kleinen Skalierung von Neuerung zeigt sich ihr analytisches Potenzial: gerade, weil es sich nicht um bahnbrechende, aus dem Nichts heraus entstehende Neuerungen, die Verwaltung grundlegend veränderten, handelt, sondern um inkrementellen Wandel von Routinen, die Raum und Möglichkeit für kreative Veränderung, Wandel und Innovationen lassen.
In diese Richtung zielen die Befunde der Arbeit von Birgit Näther am Beispiel der bayerischen Visitationsverfahren zwischen 1574 und 1774. Dabei geht sie von einem dialogischen Verhältnis zwischen Norm und Routinepraxis aus. Mittelbehörden hätten über Jahre hinweg die Routinen den praktischen Erfordernissen angepasst und en passant neue Verfahrensziele etabliert, was sich in einer veränderten administrativen Schriftlichkeit niedergeschlagen habe. Die Mittelbehörden agierten dabei nach einer Art ›Baukastensystem‹, das bereits etablierte Verfahrenselemente aufgriff und situativ gemäß den sich verändernden Verfahrenszielen weiterentwickelte. Routinen sind also nicht nur in der Lage, Praktiken zu stabilisieren, sondern besitzen auch Veränderungspotenzial. Statt also normative Regel und Routinepraxis gegeneinander auszuspielen, ist vielmehr von einem dialogischen Verhältnis auszugehen. Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen. Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht, in: Stefan Brakensiek/Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 121–135, bes. S. 97.
Es ist bekannt, dass vormoderne Verwaltung in der Praxis in hohem Maße auf Routinen basierten, die flexibel sich verändernden Anforderungen und Rahmenbedingungen angepasst werden konnten. Routinen sind mit Ulla Kypta »selbststrukturierte und strukturierende Prozesse«, die hauptsächlich auf dem »impliziten Wissen der Akteure beruhen und wiederholt werden, ohne darüber zu reflektieren«.
Kypta: Autonomie der Routine, S. 12. Theodore Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002, S. 70–73; Marian Füssel: Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 21–33. bes. S. 26. Wichtige Impulse für die Praxeologie kommen von Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301. Einen Einstieg in die Vielfalt praxeologischer Ansätze und ihren Nutzen für die Geschichtswissenschaft liefert Arndt Brendecke: Von Postulaten zu Praktiken. Eine Einführung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 13–20, bes. S. 15; Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015; Lucas Haasis/Constantin Rieske (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015.
Routinen haben einige grundlegende Implikationen. Auf der einen Seite schaffen sie ein Mindestmaß an Stabilität. Die Clerks der Wards müssen nicht jedes Mal von vorne überlegen, wie sie Informationen in den Minute Books dokumentieren oder welche Art von Büchern auf welche Weise zu führen ist. In ihrer Regelhaftigkeit und Gleichförmigkeit machen Routinen – ebenso wie formale Regeln – gewisse Handlungen wahrscheinlicher als andere und stabilisieren somit Erwartungshaltungen.
Vgl. Niklas Luhmann: Lob der Routine, in: Ernst Lukas / Veronika Tacke: Niklas Luhmann: Schriften zur Organisation 1. Die Wirklichkeit der Organisation, Wiesbaden 2018, S. 293–332, wenngleich Luhmann hier vor allem gegen moderne Managementkonzepte argumentiert, die in Routinen eher ein Übel, denn einen funktionalen Bestandteil von Organisationen sehen.
Zugleich sind Routinen, so die zweite Überlegung, dynamisch an sich verändernde Umweltbedingungen anpassbar – gerade weil sie nicht schriftlich fixiert worden sind. Die grundsätzliche Flexibilität in Bezug auf Layout und Design sowie die Kreativität, die einzelne Clerks in der Ausgestaltung der Presentments an den Tag legten, verdeutlichen, dass vormoderne Verwaltungen gerade auf Grund ihrer geringen Formalisierung in der Praxis ein größeres Maß an Potenzial für Veränderung, Wandel und auch Neuerung zuließen, als dies in modernen, formalisierten Verwaltungen der Fall ist.
Damit erlauben es die Wardmote Minutes, eine andere Perspektive auf Innovationen in vormodernen Verwaltungen einzunehmen. Statt anachronistisch Hage: Innovation von Organisationen, S. 81. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 41995, S. 38; Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 96; Renate Mayntz: Soziologie der Organisation, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 81f.
Es sollte deutlich geworden sein, dass der Begriff der Innovation als analytische Kategorie für die historische Untersuchung von Verwaltungen seine Herausforderungen mit sich bringt. Eine Schwierigkeit liegt in der normativen Aufladung des Begriffs und der impliziten Gleichsetzung von Innovationen mit Fortschritt und Effizienz. Grob heruntergebrochen zeigt sich dabei ein gewisses heuristisches Dilemma: In der Beschreibung eines Prozesses wird das Ziel des Prozesses (etwa: Fortschritt) schon mitgedacht und beeinflusst darum auch, welche Prozesse überhaupt in Betracht geraten. Wie viel Veränderung und Neuerung sind also notwendig, um als Innovation kategorisiert zu werden? Dieses Problem gilt, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, sowohl für die Vormoderne wie auch für die Moderne, da der Begriff von seiner jeweiligen normativen Aufladung kaum entkoppelt werden kann und folglich keine neutrale Beschreibungskategorie darstellt.
Godin: Innovation Contested.
Zugleich müssen Innovationen in historisch je spezifische zeitgenössische Zeit- und Zukunftskonzeptionen eingebettet werden. Innovationen sind im modernen Verständnis eben nicht einfach nur synonym mit Neuerungen, sondern zielen auf eine positive Konzeption der Zukunft als plan- und gestaltbaren Raum ab. Diese Vorstellung ist, dies sollte deutlich geworden sein, der Frühen Neuzeit weitgehend fremd. Zugleich unterlagen natürlich auch frühneuzeitliche Verwaltungen Wandel und Neuerung. Und hier liegt unseres Erachtens auch die Stärke des Begriffs der Innovation. Dieser kann als Sonde dienen, um sich unterschiedlichen Konzeptionen von Veränderung und Zeitlichkeit zu nähern. In der hier vorgeschlagenen kritischen Wendung des Begriffes erlaubt solch ein Zugriff auch die kritische Hinterfragung jener normativen Implikationen, die dem Innovationsbegriff zugrunde liegen.
Vor diesem Hintergrund hat die empirische Auseinandersetzung mit Verwaltung und Innovationen im England des 17. und 18. Jahrhundert ein interessantes Paradox freigelegt: Wenngleich wir es diskursiv mit einer äußerst innovationaversen Gesellschaft zu tun haben, sind doch die institutionellen Rahmenbedingungen in gewisser Hinsicht günstiger für Veränderung und Neuerungen als in modernen administrativen Kontexten. Es ist davon auszugehen, dass frühneuzeitliche Verwaltungen mit ihrem geringeren Maß an Formalisierung, Standardisierung und formaler Regelung Akteuren im Einzelfall mehr individuellen Gestaltungsraum etwa in Bezug auf Verfahrensabläufe und Schreibpraktiken zugestanden. Verwaltungen, die im hohen Maße auf nicht schriftlich fixierten Routinen basieren, so könnte man zugespitzt behaupten, begünstigen die stillschweigende Veränderung und Neuerung. Damit bietet der Blick auf Innovationen in konzeptioneller Hinsicht neben einem vertiefenden Verständnis von Zeitlichkeit und Wandel eben auch die Chance, nach Möglichkeitsräumen und Bedingungen von Innovationen zu fragen. Und hierin liegt unseres Erachtens die große Stärke des Begriffs der Innovation als analytische Kategorie: Statt Innovationen als überzeitliche Größen zu konzipieren und zugleich institutionell und zeitlich zu dekontextualisieren, plädieren wir dafür, Innovationen als Sonde zu nutzen, um das historisch je variable Zusammenspiel von Wandel, Zeitlichkeit und institutionellen Rahmungen freizulegen.
Figure 1
![Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1623 (Source: Register of Presentments of the Wardmote Inquest St Dunstan in the West Precinct 1558–1823, LMA, CLC/W/JB/044/MS03018/001. Photograph by Franziska Neumann)].](https://sciendo-parsed.s3.eu-central-1.amazonaws.com/64707de171e4585e08a9e70a/j_adhi-2021-0002_fig_001.jpg?X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Date=20230930T114125Z&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Expires=18000&X-Amz-Credential=AKIA6AP2G7AKP25APDM2%2F20230930%2Feu-central-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Signature=d0fae3d0a95e93717e995b079f80775d993e1e2041393b39a7b70acbd42e8783)
Figure 2
![Portsoken Wardmote Inquest Book 1666 (Source: Portsoken Wardmote Inquest Minute Book 1648–1798, LMA, CLC/W/LA/003/MS02649/001, ohne Paginierung. Photograph by Franziska Neumann)]](https://sciendo-parsed.s3.eu-central-1.amazonaws.com/64707de171e4585e08a9e70a/j_adhi-2021-0002_fig_002.jpg?X-Amz-Algorithm=AWS4-HMAC-SHA256&X-Amz-Date=20230930T114125Z&X-Amz-SignedHeaders=host&X-Amz-Expires=17999&X-Amz-Credential=AKIA6AP2G7AKP25APDM2%2F20230930%2Feu-central-1%2Fs3%2Faws4_request&X-Amz-Signature=b73e87cb76f434966c3e0af9e06469a98f185020feebe59697e115b3675e585e)