»Gefühlskalt« ist sie, wahlweise auch »menschverachtend«, »unmenschlich« oder gar ein »Monster«. So jedenfalls lauten aktuelle Urteile in Medien ganz unterschiedlicher Couleur in Deutschland, Frankreich oder dem Vereinigten Königreich, sei es bei der Bewertung der Europäischen Kommission oder des administrativen Umgangs mit Geflüchteten: Vgl. Philipp Woldin: »Erster Ausreisegewahrsam hat sogar ein Raucherzimmer«, online unter: Zu Kafkas Bürokratiekritik vgl. Burkhardt Wolf: »Kafka in Habsburg. Mythen und Effekte der Bürokratie«, in: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 1 (2016), S. 193–221. Zur Bürokratiekritik bei The Wire vgl. Andrew Moore: »History, Freedom and Bureaucracy«, in: Arin Keeble / Ivan Stacy (Hg.): The Wire and America’s Dark Corners. Critical Essays, Jefferson, North Carolina 2015, S. 13–30; vgl. David Simon: »Letter to HBO«, in: Rafael Alvarez/David Simon (Hg.): The Wire. Truth to Be Told, Edinburgh 2009, S. 32–36, hier S. 33. Vgl. Karl Marx: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 203–333, hier S. 242–256.
Der Topos von der ›gefühlskalten Bürokratie‹ lässt sich, so wird im Folgenden zu sehen sein, bereits im frühen 19. Jahrhundert beobachten. In dieser Zeit verstärkte sich die Bürokratisierung in vielen europäischen Staaten. Reformkräfte implementierten vielerorts neue Organisationsstrukturen, Rekrutierungssysteme und Formen der Vergütung, die allesamt der legal-rationalen Herrschaft zuzurechnen sind, wie sie Max Weber etwa einhundert Jahre später beschreiben sollte. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51972 (EA 1921), S. 122–140, auch S. 551–653. Zum Prozess vgl. Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 26–32, S. 76–93. Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, München 2010, S. 82–94, 109–125. Vgl. Robert Bernsee: Moralische Erneuerung. Korruption und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820, Göttingen 2017, hier v. a. S. 71–161.
Mit der Bürokratisierung einher ging nicht nur ein professionalisiertes und gut besoldetes Berufsbeamtentum. Vielmehr schien es den Reformern notwendig, ein strenges Regel-, Überwachungs- und Kontrollsystem zu entwickeln, um potenzielle Missbräuche seitens der Beamtenschaft zu minimieren. Diese Maßnahmen resultierten aus der Korruptionskritik am Ancien Régime. Sie galten den Reformern nicht als problematisch, sondern zweckmäßig: Verwaltung hatte nunmehr einem abstrakten Gemeinwohl zu dienen, weshalb jedwede Verwendung öffentlicher Finanzmittel formal strikten Kontrollen unterlag. Vgl. ebd., S. 197–217. Es gab Regeln, ihre Durchsetzung erfolgte jedoch nur selten. So war z. B. der Rentmeisterumritt ein Instrument der Kontrolle in Bayern, fand aber oft nur alle zehn bis zwanzig Jahre statt. Vgl. Helmut Rankl: »Der bayerische Rentmeister in der frühen Neuzeit. Generalkontrolleur der Finanzen und Justiz, Mittler zwischen Fürst und Bevölkerung, Promoter der ›baierischen Libertät‹«, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 60 (1997), S. 617–648, hier S. 638.
Ziel des Aufsatzes ist es zu zeigen, dass die neuartige Bürokratie mitsamt ihren Regel- und Kontrollsystemen mit bis dahin virulenten Emotionspraktiken der höheren Beamtenschaft kollidierte. Insbesondere widersprach sie dem Konzept von Ehre, das in der alten Verwaltung als Regulator fungierte und zumal unter der adeligen Elite vorherrschte. Nach diesem Ehrkonzept kennzeichneten Kontroll- und Regulierungsmaßnahmen ein fehlendes Vertrauen seitens der Obrigkeit; sie galten den Vertretern des alten Ehrkonzepts als ein systemisch angelegtes, ›institutionelles‹ Misstrauen gegenüber deren Person. Dieser Widerspruch führte sowohl innerhalb als auch außerhalb der Verwaltung zu Konflikten und zu einer Negativdeutung des bürokratischen Systems, nämlich als ›kaltes, seelenloses Maschinenwesen‹. Als Beispiele dienen mehrere Fälle in der bayerischen Verwaltung und bürokratiekritische Autoren in der deutschsprachigen Publizistik des frühen 19. Jahrhunderts.
Um zu zeigen, welchen Einfluss das neuartige bürokratische System auf die Emotionspraktiken der höheren Staatsdiener nahm, sind vier Schritte notwendig: Zunächst gilt es, die hier relevanten Phänomene Emotionspraktiken, Ehre und Patronage zu erläutern. Im zweiten Teil kontextualisiere ich den Widerspruch zwischen den Ehrvorstellungen und dem bürokratischen System, indem ich auf die alte Struktur, die Kritik daran und den anschließenden Reformprozess zumal in Bayern eingehe. Im dritten Abschnitt thematisiere ich diese Konflikte im Innern der bayerischen Reformverwaltung anhand von Gabentauschpraktiken. Abschließend folgen Ausführungen zur frühen Bürokratiekritik, die zeitgenössische Reflexionen über das Verhältnis von Emotionspraktiken und dem neuen Verwaltungssystem darstellen.
›Gefühlskalt‹ impliziert einen Begriff von Emotionen, der erklärungsbedürftig ist. Zum Problem der Definition von Emotionen vgl. Birgit Aschmann: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung«, in: dies. (Hg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier S. 12–18; vgl. auch Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 20–34. Vgl. Monique Scheer: »Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understanding emotion«, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220. Scheers Zugriff richtet sich gegen die Dichotomie, die in der Forschung bislang dominierte. Demnach seien Emotionen entweder neurobiologische oder soziokulturelle Erscheinungen. Eine ähnliche Entwicklung, Emotionen übergreifend zu denken, scheint sich in der Psychologie etabliert zu haben: Vgl. Hilde Haider: »Emotionen als Steuerungselemente menschlichen Handelns«, in: Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül, S. 33–47. Scheer: »Are emotions a kind of practice«, S. 193. Vgl. ebd., S. 201–204.
›Ehre‹, um die es in diesem Text vor allem gehen wird, ist keine Emotionspraxis im vorgenannten Sinne. Sie fungiert nachfolgend als analytischer Begriff für einen bestimmten Typus symbolischen Kapitals nach Pierre Bourdieu. Vgl. Pierre Bourdieu: »Ehre und Ehrgefühl«, in: ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Übersetzt von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1979, S. 11–47, hier S. 21–23. Vgl. Ronald G. Asch: »›Honour in all Parts of Europe will be ever like itself.‹ Ehre, adlige Standeskultur und Staatsbildung in England und Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert: Disziplinierung oder Aushandlung von Statusansprüchen?«, in: Ronald G. Asch / Dagmar Freist (Hg.): Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 353–379; vgl. diverse Aufsätze in Sylvia Kesper-Biermann / Ulrike Ludwig / Alexandra Ortmann (Hg.): Ehre und Recht. Ehrkonzepte, Ehrverletzungen und Ehrverteidigungen vom späten Mittelalter bis zur Moderne, Magdeburg 2011; vgl. auch Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Vgl. Sharon Kettering: »Gift-Giving and Patronage in Early Modern France«, in: French History 2 (1988), S. 131–151. Es entstand gewissermaßen ein ›Ethos‹ der Patronage: Vgl. Hillard von Thiessen: Diplomatie und Patronage. Die spanisch-römischen Beziehungen 1605–1621 in akteurszentrierter Perspektive, Epfendorf 2010, S. 382–385. Vgl. auch Birgit Emich: Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom, Stuttgart 2001, und – fast schon klassisch – Wolfgang Reinhard: »Freunde und Kreaturen. Historische Anthropologie von Patronage-Klientel-Beziehungen«, in: Freiburger Universitätsblätter 139 (1998), S. 127–141. Neuerdings für die Weimarer Republik: Volker Köhler: Genossen – Freunde – Junker: Mikropolitik personaler Beziehungen im politischen Handeln der Weimarer Republik, Göttingen 2018. In diesem Sinne handelte es sich um eine Ökonomie der ›Ehre‹: Vgl. Andreas Pečar: Die Ökonomie der Ehre. Der höfische Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711–1740), Darmstadt 2003, S. 20–140. Derlei Handlungen erfüllten damit Vertrauensfunktionen. Allein dadurch rücken sie in die Nähe jüngerer Forschungen der Emotionsgeschichte: Vgl. Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Claudia Benthien / Anne Fleig / Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 178–197; vgl. auch, mit zeithistorischem Bezug, diverse Aufsätze in Reinhild Kreis (Hg.): Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2015. Vgl. Roland Mousnier: Les institutions de la France sous la monarchie absolue 1598–1789, Bd. 1: Société et Etat, Paris 1974, S. 85–93. Vgl. Sharon Kettering: »Patronage in Early Modern France«, in: French Historical Studies 17 (1992), S. 839–863. Vgl. Heiko Droste: »Patronage in der Frühen Neuzeit – Institution und Kulturform«, in: Zeitschrift für historische Forschung 30 (2003), S. 555–590; vgl. Birgit Emich et al.: »Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste«, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 233–265.
Der Ansatz Monique Scheers ist nicht nur kompatibel mit den methodologischen Prämissen der Patronageforschung. Vielmehr liefert dieser einen Analyserahmen, mittels dessen sich Praktiken des Gabentauschs und der Patronage emotionshistorisch möglichst weitreichend erfassen lassen. Dazu ist zu verdeutlichen, welche Gefühlszustände mit diesen Praktiken verbunden sind oder, präziser formuliert, aufgrund dieser Handlungen kommunikativ verhandelt werden. ›Vertrauen‹ und ›Ehrgefühl‹ fallen offensichtlich darunter. Hinzu kommen ›Treue‹, ›Nächstenliebe‹ und ›Pflichtgefühl‹ beim Gebenden, aufgrund des Gebotes zur Mildtätigkeit. ›Treue‹ und ›Pflichtgefühl‹ sind auch beim Gabenempfänger zu erwarten, genauso wie ›Dankbarkeit‹. Ein Verbot von Gabentauschpraktiken kann nun dazu führen, dass diese Gemütszustände unerreichbar werden, mit negativen Folgen für das Selbstbild der beteiligten Akteure. Und genau diese Konfliktsituation birgt Erkenntnispotenziale für die Erforschung von Emotionspraktiken. Hierzu ist hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass derlei Konflikte um Gabentausche und Patronage sämtliche der zuvor genannten Kategorien berühren: Gabentauschpraktiken rufen Gefühlszustände hervor (mobilizing), die Geber und Empfänger offen bekunden (naming), sie erfordern reziprok eine Reaktion auf diese Gefühlsbekundungen (communicating) und unterliegen schließlich sozialen Handlungsschemata (regulating), die die Operation des Schenkens und folglich angemessene ›Gefühlsreaktionen‹ codieren. Diese Komponenten von Emotionen orientieren sich an den Kategorien aufgeführt bei: Scheer: »Are emotions a kind of practice«, S. 209–217.
Gabentauschpraktiken sind aber nicht unumstritten, sondern können als illegitim (oder illegal) bewertet werden. Dann gelten sie Zeitgenossen in vielen Fällen als korrupte Praktiken, deren Ausführung als gemeinwohlschädlich gedeutet wird. In den Aushandlungen um die Legitimität von Gabentauschpraktiken geht es damit folglich auch um Handlungsspielräume für Emotionspraktiken. Die Legitimität dieser Praktiken hing und hängt ihrerseits von den Wertmaßstäben des Referenzrahmens ab. Eine Änderung jener Werte zieht unter Umständen auch eine Delegitimierung von Gabentauschen nach sich. Und genau dies geschah in der Korruptionskritik, die eine wichtige Grundlage für die Bürokratisierung mitsamt Regel- und Kontrollinstrumenten bildete.
Im vorliegenden Fall geht es einerseits darum, wie mit dem Gabentausch verbundene Emotionspraktiken an Legitimität in Verwaltungszusammenhängen verloren gingen und wie sich der verwaltungsinterne Umgang damit ausgestaltete, zumal im Zuge der Bürokratisierung. Andererseits handelt er davon, wie betroffene Amtsträger mit dieser Entwicklung umgingen und wie sie diese bewerteten. Darauf aufbauend soll mit Blick auf die ›gefühlskalte Bürokratie‹ geklärt werden, welche Konsequenzen daraus für die Deutung der Bürokratisierung im Allgemeinen hervorgingen. Es handelte sich um einen Konflikt über die Legitimität von Emotionspraktiken, ja sogar emotional styles, und damit um ein historisches Ereignis, wie es Monique Scheer als besonders aufschlussreiches Anschauungsobjekt identifiziert hat. Vgl. ebd., S. 218.
Zum Kontext der alten Verwaltung und dem Niedergang derselben gehört die spezifische Zeit- und Raumkonstellation. Sie lässt sich für Europa um 1800 folgendermaßen beschreiben: Zunächst ist festzuhalten, dass es sich um eine politisch und gesellschaftlich dynamische Zeit handelt, weshalb sie seit Reinhart Koselleck als »Sattelzeit« bezeichnet wird. Reinhart Koselleck rückte später vom Sattelzeitbegriff ab: Vgl. Reinhart Koselleck/Christof Dipper: »Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhard Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper«, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205, hier S. 194–196. In jüngeren Studien ist daher die Rede von ›Sattelzeit‹ im Plural: Vgl. Jörn Leonhard: »Grundbegriffe und Sattelzeiten – Languages and Discourses. Europäische und anglo-amerikanische Deutungen des Verhältnisses von Sprache und Geschichte«, in: Rebekka Habermas (Hg.): Interkultureller Transfer und nationaler Eigensinn. Europäische und anglo-amerikanische Positionen der Kulturwissenschaften, Göttingen 2004, S. 71–86. Vgl. Stefan Jordan: »Die Sattelzeit als Epoche«, in: Klaus E. Müller (Hrsg.): Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machten, Freiburg 2003, S. 188–203. Zur Entwicklung Bayerns in dieser Phase vgl. Walter Demel: Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08–1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, München 1983; vgl. auch Hans-Peter Ullmann: Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780–1820, Göttingen 1986. Dementsprechend lautet das Urteil in etablierten Handbüchern: Vgl. Hans-Werner Hahn / Helmut Berding: Reformen, Restauration und Revolution. 1806–1848/49, Stuttgart 2010, S. 62–72; vgl. Walter Demel: Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus, München 1993, S. 31–34.
Damit wäre das bayerische Verwaltungssystem angesprochen, das sich in vielerlei Hinsicht nicht von demjenigen anderer frühneuzeitlicher Monarchien des Ancien Régime unterschied. Zur Ausgestaltung der Verwaltung frühneuzeitlicher Monarchien vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte, München 32002. Vgl. Manfred Rauh: Verwaltung, Stände und Finanzen. Studien zu Staatsaufbau und Staatsentwicklung Bayerns unter dem späteren Absolutismus, München 1988, S. 14; vgl. Volker Press: »Die wittelsbachischen Territorien. Die pfälzischen Lande und Bayern«, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 552–599. Dieser Umstand lässt sich vor allem an der Konstitution der Hausgesetze erkennen, in denen die Verfügungsgewalt der Fürsten – und dementsprechend der Familienoberhäupter – festgelegt wurde. Zu den Hausgesetzen allgemein vgl. Heinz Mohnhaupt: »Die Lehre von der ›Lex Fundamentalis‹ und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien«, in: Heinz Mohnhaupt: Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 2000, S. 1–33. Darauf deuten die Aussagen in einzelnen Verordnungen etwa der 1780er hin, nach denen das Verhältnis zum Fürstendiener »eine bloße Gnaden- und willkürliche Sache« des Fürsten sei: Vgl. »Verordnung vom 23. 8. 1784, Nr. 54«, in: Georg Karl Mayr (Hg.): Sammlung der Kurpfalz-Baierischen allgemeinen und besonderen Landes-Verordnungen, Bd. 3: Von Justiz-, Finanz-, Landschafts-, Maut-, Accis-, Kommerzien-, Manufactur- oder Fabriquen-Sachen, München 1788, S. 312–314, hier S. 314. Vgl. Rauh: Verwaltung, Stände und Finanzen, S. 73, 90. Ferner vgl. Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830), Göttingen 1999, S. 159f; vgl. Angela Stirken: Der Herr und der Diener. Friedrich Carl von Moser und das Beamtenwessen seiner Zeit, Bonn 1984, S. 116–120. Vgl. Thomas Gross: Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, Tübingen 1999, S. 111f. Zum Kollegialprinzip als typisches Phänomen frühneuzeitlicher Verwaltungen Europas vgl. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, S. 171–179. Vgl. dazu Birgit Näther: »Pragmatismus, Delegieren und Routinebildung. Zum Verhältnis vormoderner Verwaltungspraxis und Herrschaftsausübung«, in: Administory. Zeitschrift für Verwaltungswissenschaft 2 (2017), S. 35–48; vgl. Stefan Brakensiek: »Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit«, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 9–24; Luise Schorn-Schütte: »Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit: Obrigkeitskritik im Alten Reich«, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 273–314.
›Ehre‹ übernahm in diesem Zusammenhang wichtige Funktionen. Sie bildete die Richtschnur für das Handeln der (zumeist adeligen) Akteure vor Ort, die danach strebten, das symbolische Kapital ihrer Personen und Familien zu erhöhen. Vgl. Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, S. 132–140. Sie hatte damit eine ähnliche Funktion, wie sie Susanne Schattenberg für russische Beamte im 19. Jahrhundert beschrieben hat: Vgl. Susanne Schattenberg: »Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren. Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert«, in: Jens Ivo Engels / Andreas Fahrmeir / Alexander Nützenadel (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 203–227; vgl. Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008.
Das vorgenannte Verwaltungssystem geriet ab den 1770er-Jahren in eine nachhaltige Legitimitätskrise. Es hatte schon zuvor je nach Interessenlage der Herrschaftsträger entweder Kritik an Ämterkauf, Ämtervererbung und Patronage gegeben. Vgl. etwa Niels Grüne: »›Gabenschlucker‹ und ›verfreundte rät‹. Zur patronagekritischen Dimension frühneuzeitlicher Korruptionskommunikation«, in: Ronald G. Asch et al. (Hg.): Integration – Legitimation – Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt am Main 2011, S. 215–246; vgl. Ronald G. Asch: »Anfechtung und Legitimation. Beobachtungen zum Vergleich politischer Korruptionsdebatten in der Frühen Neuzeit«, in: Niels Grüne / Simona Slanička (Hg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010, S. 409–425. Damit knüpft die Studie an die jüngere historische Korruptionsforschung an: Vgl. Jens Ivo Engels: Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014; vgl. Toon Kerkhoff: Hidden Morals, Explicit Scandals. Public Values and Political Corruption in the Netherlands (1748–1813), Diss., Leiden 2013; Christian Ebhardt: Interessenpolitik und Korruption. Personale Netzwerke und Korruptionsdebatten am Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (11830–1870), Göttingen 2015; vgl. Ronald Kroeze / André Vitória / Guy Geltner (Hg.): Anti-Corruption in History. From Antiquity to the Modern Era, Oxford 2017.
Mit dem Regierungswechsel verschärfte sich der Ton gegen die alten Strukturen weiter. Es kam zudem sehr rasch zu einer Umgestaltung des Verwaltungssystems. Nach und nach erfolgte die formale Implementierung von einzelnen Elementen einer bürokratischen Struktur: Vgl. Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, S. 21–68; vgl. auch Reinhard Wendt: Die bayerische Konkursprüfung der Montgelas-Zeit. Einführung historische Wurzeln und Funktion eines wettbewerbsorientierten leistungsvergleichenden Staatsexamens, München 1984. Vgl. Rainer Silbernagl: »Die Entwicklung der Systematik der Amtsdelikte und Gedanken zur Korruption im 18. und 19. Jahrhundert in der habsburgischen Gesetzgebung«, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series, No. 2017-09.
Hinzu kamen umfassende Kontrollmechanismen, die die Regulationsfunktion von Ehre weitgehend ersetzten. Sie waren eine Folge des zentral organisierten Kassenwesens, das das bisherige ersetzte, und damit Ausdruck einer verstärkten Arbeitsteilung innerhalb der Verwaltung. Zu den Veränderungen in der bayerischen Verwaltungsstruktur vgl. Wilhelm Volkert: »Bayern«, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 503–550.
Der Reformregierung in Bayern war es rasch gelungen, das bürokratische Organisationsgefüge zu entwerfen und in rechtliche Form zu gießen. Dieses Gefüge in die Praxis umzusetzen, bildete eine Herausforderung ganz eigener Art. Wie würden die Beamten und Verwalteten reagieren? In diesem Abschnitt wird zu sehen sein, dass beide das neue Verwaltungssystem nicht unbedingt als ›Segen‹ für sich empfanden. Im Gegenteil, es stand den bis dahin üblichen Emotionspraktiken, wie sie bisher den administrativen Alltag bestimmten, entgegen. Die Ausführungen erfolgen anhand mehrerer Fallbeispiele: Zentral ist der Fall um den Grafen Reisach, die kleineren Fälle zu dessen Bruder, zu Mertz und Gropper sollen die daraus gewonnenen Erkenntnisse weiter vertiefen.
Graf Karl August von Reisach-Steinberg (1774–1846) ist par excellence ein Repräsentant der ›alten Elite‹ und damit auch der alten Praktiken. Er entstammte einer aufstrebenden Familie, die erst 1790 in den Reichsgrafenstand aufgestiegen war. Ausgestattet mit derlei symbolischem Kapital, sein Pate war zudem der Herzog von Pfalz-Zweibrücken, startete Reisach eine vielversprechende Karriere als Fürstendiener: Sein Vater, selbst Oberjagdamtkommissär in Pfalz-Neuburg, übertrug ihm per Ämtervererbung die eigene Stelle. Reisach, gerade 20-jährig, gelang es rasch, durch Kauf und Heirat innerhalb der Verwaltung aufzusteigen. Vgl. Otto Rieder: »Karl August Graf von Reisach, der ehemalige Generalkommissär des Lech- und Illerkreises. Mit zwei Porträts. Hauptsächlich nach archivalischen, bisher unbenutzten Quellen bearbeitet«, in: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte 59 (1915), S. 189 –382, hier S. 191–207. Es war in Bayern üblich, dass Pfleger ihr Amt auf ihre Nachkommen vererbten. Zuvor wurden derlei Ämter und andere käuflich erworben – u. a., um eigene Töchter zu einer ›guten Partie‹ zu machen. Vgl. etwa Reinhard Wendt: Die bayerische Konkursprüfung, S. 21.
Diese Praktiken scheinen Reisach als karriere- oder prunksüchtigen Mann zu enttarnen. So jedenfalls die bisherige Forschung, etwa Otto Rieder, der dieses Handeln als »Prunksucht« begreift: Rieder: »Graf von Reisach«, S. 208. Am Beispiel des preußischen Adels vgl. Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786, Paderborn 2013, S. 32; am Beispiel Englands vgl. Linda Levy Peck: Court Patronage and Corruption in Early Stuart England, Boston, Massachusetts 1990, S. 12–29.
Die Ankunft der Reformregierung tat seiner Karriere keinen Abbruch, sondern das Gegenteil war der Fall: Reisach war Mitglied der Landschaft und deshalb für die neue Regierung höchst interessant. Die Landschaft vertrat die Landstände und war damit (noch) an der Herrschaftsausübung Altbayerns beteiligt. Allerdings erfolgte 1806 ihre Auflösung. Vgl. Walter Demel: »›Revolution von oben‹? Verfassungs- und Verwaltungsreformen in der Zeit des Aufgeklärten Absolutismus«, in: Michael Hochedlinger / Thomas Winkelbauer (Hg.): Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, Wien 2010, S. 213–228, hier S. 218f. Zur Korruptionskritik in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Robert Bernsee: »Corruption in German Political Discourse between 1780 and 1820: A Categorisation«, in: Journal of Modern European History 11 (2013), S. 54–73. Vgl. dazu Margot Hamm: Die bayerische Integrationspolitik in Tirol 1806–1814, München 1996, S. 312–320.
Schon vor seiner Beförderung zum Generalkommissär, nämlich 1805, kam es zu Unregelmäßigkeiten in der Amtsführung. Reisach hatte offenbar aus Kassenbeständen unzulässig Beträge entnommen, um damit seinen Untergebenen höhere Diäten und Gratifikationen zu bezahlen. Er leistete damit seiner Pflicht als Patron Folge. In der Zentrale hatte man diese Unregelmäßigkeiten registriert, zumal in der Belegführung. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt; doch Reisach widersetzte sich der Überprüfung. Er wertete dieses Vorgehen als Angriff auf seine Ehre und beschwerte sich darüber direkt beim König, der daraufhin einlenkte und die Gratifikationen genehmigte. Vgl. Rieder: »Graf von Reisach«, S. 233f.
»Brief von Reisach an Montgelas vom 21. 6. 1808«, in: BHStA MInn 44799, 2vr.
Dem König empfahl er gar die Entlassung seiner Person, sofern kein Vertrauen mehr bestünde. An diesem Zitat wird deutlich, wie sehr Reisach die Untersuchungskommission eo ipso als persönliche Kränkung empfand oder, präziser, eine solche offen bekundete. Er kommunizierte eine Verletzung seines Ehrgefühls und die Empfindung, dass ihm Misstrauen entgegengebracht wurde, sowohl seitens des ersten Ministers als auch des Königs. Zugleich bekundete er seine Treue und seine Traurigkeit über den Umgang mit seiner Person. Im Umkehrschluss heißt dieser Umstand, zumal er die eigentlichen Taten gar nicht bestritt, dass er die Qualität seiner Praktiken gänzlich anders bewertete als die Münchner Zentrale. Nach seiner Argumentation waren die Gabentauschakte mit Verwaltungsexternen genauso legitim, wie die Patronagebeziehungen zu seinen Untergebenen – und dem König. Persönliche Nahbeziehungen konnten nach dieser Auffassung nicht nur Bestandteil von Verwaltungspraktiken sein, sondern waren sogar ein wichtiges Ziel derselben. Der König entschied sich interessanterweise nicht nur gegen eine Entlassung Reisachs, sondern beförderte ihn sogar zum Generalkommissär. Damit reagierte er auf Reisachs offene Gefühlsbekundungen, wie man es von einem Patron erwarten durfte – mit Handlungen, die Respekt und Vertrauen implizierten. Der König folgte damit dem üblichen emotional style und bestätigte mit seiner Handlung dessen Legitimität in Verwaltungszusammenhängen.
Angesichts dieser Entwicklung ist kaum verwunderlich, dass Reisach sein Vorgehen nicht veränderte. Insbesondere behielt er sein freigiebiges Gebaren gegenüber Untergebenen bei, ohne es sich von der Zentrale genehmigen zu lassen. Auch im Zusammenhang mit Verwaltungsexternen agierte er nicht anders: Nach eigenem Ermessen interagierte er mit einheimischen Eliten, d. h., er unterhielt Gabentauschpraktiken mit ihnen im Namen der Krone. Dabei handelte es sich durchaus um einen traditionellen Umgang mit neu erworbenen Territorien. Als ranghöchster Staatsdiener – quasi Gouverneur – und zudem hochadelig war ein solches Agieren für Reisach habitusgemäß und damit legitim. Für die bürokratische Zentrale galt dieser Umstand längst nicht mehr, sie monierte 1810 erneut seine Handlungen. Reisachs Ehrverweise nützten ihm diesmal nichts; er hatte einen Teil der entstandenen Kosten zu erstatten. Und es kam noch schlimmer für ihn: Die nun eingesetzte Untersuchungskommission stellte fest, dass er Unterschlagungen in enormer Höhe während seiner Tätigkeit als Generalkommissär vorgenommen hatte. Offenbar hatte er Schuldverschreibungen an gutgläubige Bürger ausgegeben, ohne die vereinnahmten Gelder weiterzureichen. Der Rechenschaft entzog sich Reisach diesmal, indem er Bayern verließ und über Sachsen nach Preußen flüchtete. Vgl. Rieder: »Graf von Reisach«, S. 291–319.
Reisachs Praktiken waren, abgesehen von dieser exorbitanten Unterschlagung, kein Einzelfall, sondern kennzeichnend für eine Verwaltungskultur, in der administrative Praktiken, zumal der Gabentausch, zugleich einen bestimmten emotional style codierten. Diesen Befund legen auch andere Fälle nahe, etwa derjenige Franz von Groppers. Jener war Kanzleidirektor des Illerkreises und bekleidete damit ebenfalls eine ranghohe Position. Gropper, so lautete 1815 das Ergebnis einer Routineüberprüfung, war mit Diäten und Reisegeldern offenbar ›großzügig‹ umgegangen. »Brief von Joseph von Stichaner an Montgelas vom 13. 7. 1815«, in: BHStA MInn 43560, unfoliiert. »Brief von Gropper an Montgelas vom 16. 6. 1815«, in: BHStA MInn 43560, unfoliiert. Vgl. »Brief von Montgelas an Gropper vom 5. 8. 1815«, in: BHStA MInn 43560, unfoliiert. Vgl. etwa Heinz Duchhardt: »Das diplomatische Abschiedsgeschenk. Herrn Prof. Dr. Eberhard Kessel zum 70. Geburtstag gewidmet«, in: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), S. 345–362.
Ungeachtet dieses Falls lohnt es sich, auf die vermeintlichen ›Ehrverletzungen‹ Reisachs zurückzukommen. Gegen die hier verfolgte Argumentation ließe sich einwenden, die Betroffenen würden Ehrverletzungen nur taktisch einsetzen, um von der eigentlichen Tat abzulenken. Demnach handele es sich dabei lediglich um einen Wechsel des Kommunikationsmodus und nicht um die ›echte‹ Reflexion von Gemütszuständen. Dieser Einwand lässt sich theoretisch nicht zurückweisen: Der Verweis auf eine Ehrverletzung war schwerwiegend. Er konnte seitens der Akteure taktisch eingesetzt werden, um persönliche Angriffe abzuwehren. Allerdings ginge eine solche Interpretation letztlich von einer Binarität von emotional/rational aus, da sie eine ›rationale‹ Instrumentalisierung vermeintlicher Gefühlszustände seitens der beteiligten Akteure annimmt. Abgesehen von der methodologischen Problematik, diese Binarität ex ante anzunehmen oder überhaupt eine ›echte‹ Reflexion eines Gefühlszustandes historiografisch zu ermitteln, sei an das hier verfolgte Erkenntnisziel erinnert: Es geht darum, die Konflikte um den Gabentausch – und damit Patronage – als Aushandlung über die Zulässigkeit von Emotionspraktiken im Sinne Monique Scheers zu begreifen und die Folgen dieser Aushandlung für die beteiligten Akteure einzubeziehen. Wie der kommunizierten Verletzung des Ehrgefühls und der damit verbundenen Demütigung seitens beteiligter Akteure begegnet werden konnte, vermitteln die nachfolgenden Fälle. Nachdem ein ›Ehrverlust‹ aufgrund eingeleiteter Untersuchungsvorgänge eingetreten war oder wenigstens einzutreten drohte, töteten sich die Protagonisten in beiden Fällen selbst. Florian Kühnel etwa betont, dass (drohender) Ehrverlust zu Selbsttötungen unter Adeligen führen konnte. Vgl. Florian Kühnel: Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne, München 2013, S. 312–314. Vorgang dokumentiert in: BHStA MA 39404, unfoliiert. Vgl. BHStA, MF 2287, fol. 3.
Die hier vorgestellten Fälle bayerischer Spitzenbeamter belegen, so lässt sich festhalten, dass der bis dahin übliche emotional style in Konflikt mit den bürokratischen Reformen geriet. Im Zentrum standen dabei Gabentauschpraktiken, die als Medium für Bekundungen der Dankbarkeit, des Pflicht-oder Treuegefühls fungierten und einem sozialen Handlungsschema folgten. Der Gabentausch diente letztlich dem Aufbau und Erhalten von Ehre. Dieser Umstand galt nicht nur für die Amtsträger, sondern auch für deren Klienten und Verwaltungsexterne. Die bürokratischen Maßnahmen sollten bestimmte, nun ›korrupte‹ Gabentauschpraktiken unterbinden helfen und eine ordnungsgemäße Durchführung administrativer Praktiken gewährleisten. Sie zielten keineswegs darauf ab, Verwaltungsmitglieder zu demütigen. Dennoch trat dieser Umstand ein: Die Betroffenen deuteten die Kontrollmechanismen als ›institutionelles Misstrauen‹ und damit als ehrenrühriges Instrument, weil es ihrem Handeln zuwider stand, das dem dominierenden emotional style folgte.
Diese Konflikte um emotional styles, wie sie sich im Innern der Verwaltung ereigneten, hinterließen eine Spur in der publizistischen Debatte. Sie führten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zu einer Deutung der Bürokratie als einem Ort, der aufgrund seiner Negation von bisher etablierten Emotionspraktiken unmenschlich geworden sei. Zeitgleich mit der Bürokratisierung entstand in der Publizistik eine Kritik daran sowie dem Verwaltungssystem als solchem. Zur Geschichte der frühen Bürokratiekritik vgl. auch Pascale Cancik: »Zuviel Staat? – Die Institutionalisierung der ›Bürokratie‹-Kritik im 20. Jahrhundert«, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht 56 (2017), S. 1–38, hier vor allem S. 3–5. Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986, S. 203–216.
Den Schriften war der Vorwurf gemeinsam, dass die Beamtenschaft durch die Bürokratisierung systematisch ›verdorben‹ wurde. Laut August Rehberg (1757–1836) erziehe das neue System jeden Beamten gewissermaßen zu einem »Werkzeug« innerhalb einer wohlgeordneten »Maschine«. August Wilhelm Rehberg: Ueber die Staatsverwaltung deutscher Länder und die Dienerschaft des Regenten, Hannover 1807, S. 49. Ebd., S. 81. Adam Heinrich Müller: Die Elemente der Staatskunst, 1. Theil, Berlin 1809, S. 3; vgl. ders.: Die Elemente der Staatskunst, 2. Theil, Berlin 1809, S. 195. Diese Bezeichnung wählt ein anderer bürokratiekritischer Autor, nämlich Ernst Moritz Arndt: Ueber künftige ständische Verfassungen in Teutschland, s. l. 1814, S. 25. Rehberg: Ueber die Staatsverwaltung, S. 12.
An diesem Umstand änderten nach Auffassung der Autoren auch die bürokratischen Schutzmechanismen nichts, die hier bislang analytisch unter das ›institutionelle Misstrauen‹ gefasst wurden. Im Gegenteil, sie seien nur wenig schlagkräftig: »Vergebens ordnet man Revisionen und SuperRevisionen an, und häuft Controlen auf Controlen«, heißt es bei Rehberg, doch Missbräuche der Beamten seien damit keineswegs zu verhindern. Ebd., S. 52.
Ernst von Bülow-Cummerow: Ueber die Verwaltung des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Fortsetzung der Schrift: Ein Punkt auf’s I, Zerbst 1821, S. 90.
Bülow zufolge ziehe das ›institutionelle Misstrauen‹ eine Reihe von Kontrollen nach sich; es unterliege einer Art Rekursion, dessen Auflösung mit den Mitteln der bürokratischen Verwaltungsstruktur logisch nicht möglich war. Damit widerspricht Bülow im Übrigen den Kritikern der alten Verwaltungspraktiken, die die Bürokratie als Lösung für die endemische Korruption sahen. Denn bürokratische Kontrollmechanismen könnten Missbräuche niemals vollständig eliminieren, würden jedoch zwangsläufig zu einer permanenten Ausdehnung der Verwaltung führen. Bülow vertrat damit eine allzu vertraute Argumentation, nach der Bürokratien einer ständigen Expansion ausgesetzt sind – obwohl die Verwaltungen der Reformzeit, etwa in Preußen, im frühen 19. Jahrhundert keineswegs außergewöhnlich stark wuchsen – im Gegenteil. In Preußen etwa, woher Bülow kam, wuchs bis 1850 die Bevölkerung durchschnittlich um gut 1,3 Prozent per annum, während das Personal in der Administration nur um knapp 0,2 Prozent zunahm. Vgl. Hansjoachim Henning: Die deutsche Beamtenschaft im 19. Jahrhundert. Zwischen Stand und Beruf, Stuttgart 1984, S. 33.
Die Autoren kritisierten nicht nur die Verwaltungsstrukturen mit ihren impliziten Annahmen und kontrollierenden Mechanismen. Ein wichtiges Argument war die ›kalte Rationalität‹ des neuen Verwaltungssystems, die bereits bei Rehberg und Müller angeklungen war. Die Schriften von keinem Geringeren als Karl August Reisach illustrieren diesen Sachverhalt in hohem Maße: Reisach war nach seiner Flucht aus Bayern zunächst in Sachsen und dann vor allem in Preußen aktiv. Er gelangte in den engeren Kreis um den preußischen Reformer Karl vom und zum Stein (1757–1831). Jener hatte ein publizistisches Netzwerk aufgebaut, dessen Mitglieder gegen Napoleon und seine Verbündeten skandierten. Zu Stein während dieser Zeit vgl. Heinz Duchhardt: Stein. Eine Biographie, Münster 2007, S. 261–324. Zur Etablierung dieser pressepolitischen Instrumente vgl. Wolfgang Piereth: Bayerns Pressepolitik und die Neuordnung Deutschlands nach den Befreiungskriegen, München 1999, passim.
Karl August von Reisach: Der Graf Karl August von Reisach-Steinberg an das teutsche Volk, Teutschland 1814, S. 51.
Reisach beschreibt die neue Verwaltung als einen Ort, an dem persönliche Beziehungen oder emotionale Bekundungen unerwünscht – oder gar unmöglich – sind. Die Administration ist nach seiner Auffassung ein Ort geworden, der den Menschen feindlich ist, obwohl er ihnen dienen soll. Nimmt man diese Aussagen ernst und verknüpft sie mit den Befunden zu seinen Praktiken, dann wird klar: Reisach versucht hier, seine Gabentauschakte zu Untergebenen und lokalen Eliten nicht nur zu legitimieren. Er zielt vielmehr darauf, die Praxis als zentrale Kategorie administrativen Handelns zu etablieren. Nach seiner Auffassung waren diese Emotionspraktiken notwendig, um das Vertrauen der Untertanen zu gewinnen und persönliche Bande zu ihnen zu knüpfen. Gabentauschakte waren demnach Ausdruck eines emotional style, den Reisach zugleich als unabdingbar für eine ›gute Regierungsführung‹ verstanden wissen will. Anders gesagt, es sei für die Erhöhung des ›allgemeinen Besten‹ – mithin des obersten Verwaltungszwecks – zwingend notwendig, soziale Handlungsschemata zuzulassen, die persönliche Bindungen zwischen Amtsträgern und Untergebenen erlaubten und förderten. Ähnliche Auffassungen lassen sich bei Müller und Rehberg finden: Ersterer sah in der ›Vergötterung des Sächlichen statt Persönlichen‹ eine zentrale Ursache dafür, dass sich die zeitgenössische Verwaltung im Niedergang befinde. Vgl. Müller: Die Elemente, 2. Theil, S. 123. Zur frühen Chronologie der amtlichen Statistik in Bayern vgl. Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hrsg.): 200 Jahre amtliche Statistik in Bayern 1808 bis 2008. München 2008, S. 9–13. Über Entwicklung des statistischen Diskurses in Bayern im späten 18. Jahrhundert vgl. Lars Behrisch: Die Berechnung der Glückseligkeit. Statistik und Politik in Deutschland und Frankreich im späten Ancien Régime, Ostfildern 2016, S. 193–316. Rehberg: Ueber die Staatsverwaltung, S. 14.
Die bisherigen Ausführungen deuten an, was diese Autoren der von ihnen geschmähten Verwaltung positiv entgegensetzten: Die Antwort lautet schlicht – Ehre und Tugend. Sie forderten ziemlich einhellig, dass jede Verwaltung tugendhafter Personen bedarf, um wirkungsvoll dem Gemeinwohl dienen zu können. Gemeint waren tugendhafte Adelige: Reisach hob hervor, dass insbesondere adelige Beamte mit lokalen Kenntnissen notwendig waren und kein akademisch geschultes Personal. Vgl. [Karl August von Reisach]: Baiern unter der Regierung des Ministers Montgelas, [Landshut] 1813, S. 35f. Bülow: Verwaltung, S. 94. Rehberg: Ueber die Staatsverwaltung, S. 159.
Ebd., S. 107.
Die Autoren der frühen Bürokratiekritik verstanden folglich ›Einfühlungsvermögen‹, ›Kenntnisse lokaler Praktiken‹, ›Leidenschaft‹ und ›Herzlichkeit‹ als Kriterien, die für die Einstellung von Staatsdienern zentral sein sollten. Diese Eigenschaften waren nach ihrer Auffassung unabdingbar, um notwendiges Vertrauen zu den Verwalteten aufzubauen und damit dem Gemeinwesen tatsächlich dienen zu können. Sie forderten demnach Spielräume für die Beamten, die genannten Eigenschaften zu entfalten, um damit das Gemeinwohl erhöhen zu können. Damit forderten sie eine (Re-)Integration von Praktiken, die den Amtsträgern die Möglichkeit gaben, auf Gefühlsbekundungen zu reagieren, ohne ihre eigene Ehre oder diejenige des Gegenübers negativ zu beeinflussen. Diese Forderung lief notwendigerweise auf die Re-Etablierung von Gabentauschpraktiken hinaus.
Der geschmähten Bürokratie setzten die Autoren zudem ein self government nach britischem Vorbild entgegen. Sie bezogen sich in ihren Ausführungen direkt und indirekt auf die Schriften Edmund Burkes. Beispielhaft: Vgl. Müller: Die Elemente, Theil 1, S. 26, 29–33; vgl. Reisach: Baiern unter der Regierung, S. 50. Zur frühen Rezeption Edmund Burkes in Deutschland: Vgl. László Kontler: »The Ancien Régime in Memory and Theory. Edmund Burke and his German Followers«, in: European Review of History 4 (1997), S. 31–43.
Die Bürokratiekritiker mussten einigen Widerspruch aushalten. Zumal in Bayern erschienen Rechtfertigungsschriften, übrigens anonym verfasst von Reformbeamten, in denen die ebenerwähnten Eigenschaften nur zwei Zuschreibungen erhielten: Willkür und Missbrauch. Die Autoren griffen auf die Korruptionskritik wider das Ancien Régime zurück und versuchten zu verdeutlichen, dass erst das neue System »Ordnung und Klarheit« verschaffe Christoph von Aretin: Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatsverfassung und Staatsverwaltung mit besonderer Rücksicht auf Bayern, München 1816, S. 155. Ebd., S. 150. Vgl. ebd., S. 86.
Allein an dem Vorhandensein dieses Konflikts lässt sich erkennen, dass die Debatte längst nicht an ihr Ende gekommen war – im Gegenteil: Sie hatte gerade erst begonnen. In den nachfolgenden Jahren jedenfalls sollten die Kritiker der Bürokratisierung insofern an diskursivem Einfluss gewinnen, als ihre Kritik in vielen Zusammenhängen aufgegriffen und formuliert wurde. Vgl. Cancik: »Zuviel Staat«, S. 5–7; vgl. auch Raphael: Recht und Ordnung, S. 194–198.
Im Zuge der bürokratischen Reformen im frühen 19. Jahrhundert entstand im Innern der Verwaltung ein ausgeprägtes Kontroll-, Etats- und Belegwesen, das von Amtsträgern als ein ›institutionelles Misstrauen‹ wahrgenommen wurde. Das Ziel des Artikels bestand darin zu zeigen, dass dieses ›institutionelle Misstrauen‹ einen Bruch mit den Emotionspraktiken der höheren Beamtenschaft darstellte, die ihr Verwaltungshandeln bis dahin bestimmten. Es widersprach dem Konzept von Ehre, das die Amtshandlungen bis dahin regulierte, aber vor allem durch Gabentauschpraktiken und Patron-Klient-Beziehungen zum Ausdruck kam. Letztere implizierten Emotionspraktiken im Sinne Monique Scheers, da sie Bekundungen zu ›Treue‹, ›Dankbarkeit‹, ›Pflichtgefühl‹ etc. sowie praktische Reaktionen darauf provozierten und einem sozialen Handlungsschema folgten. Zwei Ebenen fanden Berücksichtigung: zum einen der inneradministrative Raum und zum anderen die publizistische Kritik an den neuen Verwaltungsstrukturen.
Die Fallbeispiele auf der inneradministrativen Ebene legten dabei offen, dass höhere Beamte ihre althergebrachten Praktiken beibehielten und so in einen Konflikt mit der Reformregierung um den althergebrachten emotional style gerieten. Gabentauschpraktiken mit Untergebenen und lokalen Eliten, die zuvor zum Selbstverständnis höherer Fürstendiener gehörten, standen dabei im Mittelpunkt. Mittels dieser Praktiken erhöhten und bezeugten Fürstendiener ihre persönliche Ehre und diejenige ihrer Familie. Ihre Ehre war zudem bestimmt von ihrem sozialen Rang, der auch in der Verwaltung eine Rolle spielte, und von der persönlichen Treuebeziehung zum Fürsten. Mit der Bürokratisierung ging eine Reihe einschneidender Neuerungen einher: Erstens verloren ständische Hierarchien inneradministrativ an Bedeutung, vor allem infolge der Abschaffung des Kollegialprinzips und der Etablierung verwaltungsinterner Hierarchien. Zweitens etablierte sich ein routinemäßig eingerichtetes Revisions- und Kontrollwesen, infolge eines auf Etats basierenden Rechnungswesens. Drittens erfolgte eine Umcodierung bisher gestatteter Gabentausche: Die Beamten unterlagen einer Genehmigungspflicht, um Subordinierten Gratifikationen zu erteilen, es war ihnen untersagt, persönlich mit Verwaltungsexternen in Gabentauschbeziehungen einzutreten. Jede dieser Neuerungen provozierte Bekundungen eines verletzten Ehrgefühls vonseiten der höheren Staatsdiener: Genehmigungspflichten und Verbote kriminalisierten deren Gabentauschpraktiken und damit ihre Möglichkeiten, adäquat auf Gefühlsbekundungen von Verwaltungsinternen und -externen zu reagieren; das monokratische System konnte dazu führen, dass sozial gleichrangige oder gar niedergestellte Personen ihnen gegenüber weisungsbefugt waren; Untersuchungskommissionen suggerierten implizit Untreue gegenüber dem Fürsten. Diese Neuerungen hatten zugleich Konsequenzen für die Handlungsspielräume von Emotionspraktiken der höheren Beamtenschaft. Denn in dem persönlichen Wertehorizont der Akteure spielte symbolisches Kapital in Form von Ehre nach wie vor eine herausragende Rolle. Hielten sie sich an die Regeln, so war ihr Spielraum für Ehrerwerb und damit zugleich für Emotionspraktiken beschränkt. Behielten sie ihre Praktiken bei, nicht zuletzt deshalb, weil die Gegenseite – etwa Untergebene und lokale Eliten – diese einforderte, so konnte es zu persönlichen Demütigungen durch das ›institutionelle Misstrauen‹ kommen. Die Bürokratie verhinderte demnach die Ausübung eines althergebrachten emotional style auf die eine oder andere Weise, solange die Beamten ihr Verständnis von Ehre und den damit verbundenen Praktiken nicht aufgaben.
Diesen Konflikt um den emotional style griffen bürokratiekritische Publizisten auf. Sie schlussfolgerten, dass Staatsdiener in den neuen Strukturen zu gefühlskalten Kreaturen degenerieren würden, die nur nach ihrem Eigennutz streben. Die verwaltungsinternen Disziplinierungsmechanismen, in denen sich das ›institutionelle Misstrauen‹ manifestierte, seien letzten Endes wirkungslos. Sie würden nur mehr Ressourcen beanspruchen und den Verwaltungsapparat weiter aufblähen. In der Summe, so die Kritiker, führe das Verwaltungssystem zu einem moralischen – und finanziellen – Niedergang des Gemeinwesens. Deshalb sei es notwendig, Staatsdiener nicht primär aufgrund intellektueller Fähigkeiten auszuwählen. Vielmehr seien Tugend und Ehre die entscheidenden Rekrutierungskriterien. Ihre Voraussetzungen seien ›Einfühlungsvermögen‹, ›Herzlichkeit‹ und andere ›edle Gefühle‹, die sie der ›toten‹ und ›kalten‹ Bürokratie entgegenstellten. Damit rekurrierten sie zugleich auf jene Gefühlsbekundungen, die im Zusammenhang mit Gabentauschpraktiken standen, welche Staatsdiener im alltäglichen Geschäft weiter ausführten, aber inkommensurabel mit dem Grundwert der bürokratischen Verwaltung geworden waren, nämlich einem abstrakten Gemeinwohl zu dienen. Ihre Kritik lässt sich als Versuch deuten, die bürokratische Verwaltung als menschenfeindlich und gemeinwohlschädlich zu delegitimieren. Zugleich versuchten sie damit, die althergebrachten Praktiken und die Autonomie höherer Staatsdiener zu legitimieren. Inwiefern auch diese Debatte zur Dichotomie emotional/rational beitrug, die Verwaltung und Gesellschaft fortan prägte, muss an dieser Stelle offenbleiben. Es spricht aber einiges dafür.
Emotionsgeschichte, so ließen sich die Befunde verallgemeinern, kann von der historischen Korruptions- und Patronageforschung profitieren: Konflikte um korrupte Handlungen sind zumeist Aushandlungen über die Legitimität von Gabentauschpraktiken, welche zugleich ein Anschauungsobjekt für bestimmte Emotionspraktiken darstellen. Korruptionsdebatten sorgen nicht nur für kollektive Empörung im öffentlichen Raum, etwa bei großen Medienskandalen. Vgl. dazu etwa Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, S. 421–468.
Der Topos von der ›gefühlskalten‹ oder ›unmenschlichen‹ Bürokratie, um abschließend zum Ausgangspunkt zurückzukehren, lässt sich demnach bereits im frühen 19. Jahrhundert beobachten. Er war das Ergebnis eines Konfliktes um einen auf Gabentausch basierenden emotional style und enthielt bereits diejenigen Elemente, die wir heute kennen: gesichtslose Bürokraten, düstere Zukunftsprojektionen oder zahlenfixierte Leblosigkeit.