Bei Innovationen wird im Kontext von Armeen zumeist an technologische Phänomene gedacht. Jedoch unterliegen Armeen, sofern sie als Organisationen ›wettbewerbsfähig‹ sein sollen, in allen Bereichen einem hohen Wettbewerbsdruck: Um im Kriegsfall siegreich zu sein, gilt es nicht nur waffentechnische Neuerungen rechtzeitig zu implementieren, sondern ebenso über eine bestmögliche Versorgung und Ausbildung sowie effiziente Verwaltungs- und Kommunikationsstrukturen zu verfügen. So unterscheidet etwa Ulf von Krause drei Bereiche militärischer Innovationen: primär technologische Innovationen, Innovationen im strategischen und operativen Denken und militärische Innovationen in der Organisation.
Vgl. Ulf von Krause: Innovation im Militär, in: Manfred Mai (Hg.): Handbuch Innovationen. Interdisziplinäre Grundlagen und Anwendungsfelder, Wiesbaden 2014, S. 299–317, hier S. 301–312.
Im Folgenden sollen eben diese intentionalen und prozesshaften Aspekte von militärischen Innovationen in der Organisation im Fokus stehen, wobei im Konkreten das Vorgehen der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung bei der Ausgestaltung von Innovationen untersucht wird. War die Hauptaufgabe der Militärverwaltung neben der Verwaltung des Nach Fabrizio Battistelli changieren militärische Organisationen zwischen den Polen Innovationsfreude und Konservatismus, denn die permanente Vorbereitung auf zukünftige Kriege, deren Prämissen bestenfalls antizipiert werden können, ist im hohen Grad mit Unsicherheit behaftet. Diese steigt mit der Dauer der Friedenszeit bezüglich der Art der zukünftigen Kriegsführung, wobei gleichzeitig aber Möglichkeiten der Rückkoppelungen, also der Leistungsüberprüfung, fehlen. Vgl. Fabrizio Battistelli: Four Dilemmas for Military Organizations, in: Jürgen Kuhlmann / Christopher Dandeker (Hg.): Stress and Change in the Military Profession of Today: Papers Presented at the XIIth World Congress of Sociology, International Sociological Association, Madrid, Spain, July 1990, Sessions of Research Committee 01: Armed Forces and Conflict Resolution, München 1991, S. 1–19, hier S. 11–13. Vgl. etwa Walter Wagner: Die k. (u.) k. Armee – Gliederung und Aufgabenstellung, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. V: Die bewaffnete Macht, Wien 1987, S. 142–633. Zur Ausrichtung der ›Neuen Militärgeschichte‹ vgl. Thomas Kühne / Benjamin Ziemann: Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte, in: Thomas Kühne / Benjamin Ziemann (Hg.): Was ist Militärgeschichte? Paderborn 2000, S. 9–46. Vgl. hierzu auch Christoph Nübel: Armee und Bürokratie. Zur historischen Analyse einer Herrschaftskonstellation im neuzeitlichen Staat, in: Portal Militärgeschichte (2020), Themenschwerpunkt: Armee und Bürokratie. Organisationsgeschichtliche Perspektiven auf das Militärische im 20. Jahrhundert, URL: Als eine der wenigen Ausnahmen sei hier auf die Arbeit von Jonathan Gumz verwiesen, der die Besatzung Serbiens im Ersten Weltkrieg aus der Sicht der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung untersucht und dabei auch Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse in den Blick nimmt. Vgl. Jonathan E. Gumz: The Resurrection and Collapse of Empire in Habsburg Serbia, 1914–1918, Cambridge 2009. Hinsichtlich der Fokussierung auf die oberste Führungsebene sei für Österreich-Ungarn etwa auf die Studie von Günther Kronenbitter verwiesen: »Krieg im Frieden«. Die Führung der k. u. k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914, Oldenburg / München 2003. Stellvertretend für die zahlreichen Biographien vgl. etwa J. P. Harris: Douglas Haig and the First World War, Cambridge 2012 und Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, Berlin 2011.
Die Militärverwaltung des österreichisch-ungarischen Heeres wird im vorliegenden Beitrag als ein Mehrebenensystem verstanden. Der Begriff des Mehrebenensystems wurde bisher vornehmlich von der Politikwissenschaft zur Untersuchung von komplexen Beziehungsgefügen bei politischen Entscheidungen herangezogen, wobei vor allem die Verwaltungen der Europäischen Union und internationalen Organisationen in der Zusammenarbeit mit nationalen Verwaltungen als Mehrebenenverwaltungen charakterisiert wurden.
Zur politikwissenschaftlichen Verwendung des Konzepts vgl. Arthur Benz: Politik im Mehrebenensystemen, Wiesbaden 2009. Vgl. etwa Jana Osterkamp: Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020; Felix Selgert: Die politische Entscheidungsfindung im Mehrebenensystem des Deutschen Kaiserreiches am Beispiel des Aktienrechts (1873–1897), in: Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch (Hg.): Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 6: Integrieren durch Regieren, Baden-Baden 2018, S. 151–196; Jana Osterkamp: Föderale Schwebelage – Die Habsburgermonarchie als politisches Mehrebenensystem, in: Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch (Hg.): Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 2: Föderale Systeme. Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-Baden 2015, S. 221–246.
Nach Arthur Benz ermöglicht die Untersuchung von nationalen Verwaltungen als Mehrebenensysteme, »das überkommene Konzept einer hierarchischen Verwaltungsorganisation, in der die dezentralen Einheiten Anweisungen der Zentrale vollziehen, […] zu ersetzen« und den Blick auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Ebenen zu richten.
Arthur Benz: Verwaltung als Mehrebenensystem, in: Sylvia Veit / Christoph Richard / Göttrik Wewer (Hg.): Handbuch zur Verwaltungsreform, Wiesbaden 2019, S. 87–98, hier S. 89. Vgl. Benz: Verwaltung als Mehrebenensystem, S. 90–91.
Die Militärverwaltung des österreichischungarischen Heeres agierte in einem vertikalen und horizontalen Mehrebenensystem. Die vertikale Ausrichtung bestand in einem territorial gegliederten, dreistufigen Verwaltungsaufbau, an dessen oberster Stelle das Kriegsministerium mit seiner Leitungsfunktion stand. Die unterste Ebene bildeten die Truppenkörper und Anstalten, deren Verwaltungsvollzug durch die Mittelbehörden, die 16 Militärterritorialbereiche, koordiniert und überwacht wurde. Die funktionsdifferenzierte dreistufige Militärverwaltung des österreichisch-ungarischen Heeres war zugleich in einem horizontalen Mehrebenensystem eingebettet. So bestanden neben dem österreichischungarischen Heer als überstaatliche Einrichtung beider Reichshälften die organisatorisch eigenständigen Landwehren Österreichs und Ungarns, wodurch eine Koordination des Kriegsministeriums mit den beiden Landesverteidigungsministerien erforderlich war. Die österreichisch-ungarische Marine war jedoch Teil der dualistischen Einrichtungen des Gesamtstaates und formal als Sektion im Kriegsministerium eingegliedert, wenngleich sie von den Landstreitkräften getrennt organisiert wurde. Dem Mehrebenensystem übergeordnet, stand die Allerhöchste Militärkanzlei, die zwischen dem Oberbefehlshaber, Kaiser Franz Joseph, und den Zentralstellen vermittelte. Zuletzt sei auch auf die Delegationen, also die parlamentarischen Vertretungskörper der beiden Reichshälften, hingewiesen, die durch ihre Budgethoheit in gemeinsamen Angelegenheiten weitere Akteurinnen im Mehrebenensystem der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung waren.
Bezüglich der Verortung der einzelnen Akteurinnen und Akteure im Mehrebenensystem siehe unten im passim.
Die vertikalen und horizontalen Ebenen waren durch Kommunikationsprozesse verbunden, anhand derer der vorliegende Beitrag die Gestaltung von Wandel und Innovation im österreichisch-ungarischen Heer untersuchen möchte, wobei drei übergeordnete Aspekte fokussiert werden. Erstens soll das Vorgehen der Militärverwaltung bei der inhaltlichen Ausgestaltung von Neuerungen beleuchtet werden, wobei insbesondere die einzelnen Schritte und ihre Funktionen von Interesse sind. Zweitens soll der Blick auf Formen der Kooperation im Mehrebenensystem gelegt und insbesondere nach der Rolle und Gestaltungskraft der unteren Verwaltungsebenen in der Ausgestaltung von Wandel und Innovation gefragt werden. Drittens sollen die Beziehungen zwischen den Ebenen, die durch rechtliche Rahmenbedingungen strukturiert sind, und ihre Funktionen im Ausgestaltungsprozess beleuchtet werden.
Im Konkreten wird der Beitrag mittels einer mikrohistorischen Analyse das Zustandekommen neuer Disziplinarstrafnormen im Jahr 1903, die erstmals Körperstrafen in Friedenszeiten weitestgehend verboten, untersuchen. Als Sanktionsmittel der Kommandanten gegenüber ihren Untergebenen dienten Disziplinarstrafen der Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin in den Truppenkörpern, also der Sanktionierung von Fehlverhalten im militärischen Alltag. Die Disziplinarstrafnormen definierten die Strafarten (Verweis, Ordnungsstrafen, Arreststrafen und Degradierung), den Strafumfang und die Strafbefugnisse.
Vgl. Dienst-Reglement für das kaiserlich-königliche Heer, Wien 1873, 1. Teil, § 87, 88 und 89. Vgl. Christa Hämmerle: »… dort wurden wir dressiert und sekiert und geschlagen…« Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen im Heer (1868–1914), in: Laurence Cole / Christa Hämmerle / Martin Scheutz (Hg.): Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918), Essen 2011, S. 31–54, hier S. 33–34. Vgl. Dienstreglement von 1873, 1. Teil, § 86, Punkt 648.
Im Folgenden wird die Entstehung der neuen Disziplinarstrafnormen in ihrem chronologischen Verlauf untersucht, wobei nach einem externen Anstoß zur Innovation aus der Zivilgesellschaft vier Phasen der Ausgestaltung – erste Meinungsbildung, das Involvieren der mittleren und untersten Verwaltungsebene, die Inklusion der Expertenstimmen und die Beschlussfassung – identifiziert werden können. Bei der Betrachtung der einzelnen Phasen werden zunächst die Vorgänge anhand der binnenadministrativen Kommunikation dargelegt, anschließend die Akteure im Mehrebenensystem verortet und hinsichtlich ihrer Gestaltungskraft diskutiert. Den Abschluss der Untersuchung bildet die Darstellung des Zustandekommens der neuen Disziplinarvorschrift in der Öffentlichkeit und damit wieder ein Blick auf das Zusammenspiel von Militär und Zivilgesellschaft. Wie der Beitrag zeigen wird, waren die verschiedenen vertikalen und horizontalen Ebenen in der Ausgestaltung der neuen Normen in unterschiedlicher Weise involviert. Der Prozess war dabei in einem hohen Maße von Kooperation geprägt, wobei vor allem die Rolle der unteren Verwaltungsebenen der hierarchisch strukturierten Militärverwaltung durch ihre Gestaltungskraft überrascht.
Aufgrund der Fokussierung des Beitrages auf die binnenadministrative Perspektive bei gleichzeitig hoher Komplexität des Mehrebenensystems der Militärverwaltung bleiben nicht-staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure in der vorliegenden Fallstudie weitgehend unberücksichtigt, da sie in den Prozess der Ausgestaltung der neuen Normen nicht direkt involviert wurden. Dies gilt jedoch nicht unbedingt für alle militärischen Innovationen, sodass die Analyse des Mehrebenensystems erweitert um nichtstaatliche Akteure in anderen Bereichen fruchtbare Erkenntnisse verspricht.
So erkannten etwa Firmen der modernen Lebensmittelindustrie die Militärverpflegung als Markt für ihre innovativen Produkte und versuchten dementsprechend auf die Militärverwaltung einzuwirken. Vgl. Elisabeth Berger: Ernährung im österreichisch-ungarischen Heer. Militärwissenschaftlicher Diskurs, Ernährungsvorschriften und Ernährungspraxis (1868–1914), in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 35 (2017), S. 67–96, hier S. 69, Fußnote 10. Die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren in der Militärverwaltung im Allgemeinen, auch abseits von Innovationen, ist nahezu unerforscht. Fruchtbare Untersuchungsgegenstände abseits von Rüstungsfirmen und Industriebetrieben könnten möglicherweise das Rote Kreuz, die Anti-Duell-Liga oder Religionsgemeinschaften sein. Die stärkere Berücksichtigung von nicht-staatlichen Akteuren in der Forschung würde interessante Einblicke hinsichtlich des zivilmilitärischen Verhältnisses im Allgemeinen versprechen.
Am Beginn der neuen Normen stand eine Intervention von außen: die Resolution des Delegierten Enrico Conci »die Strafe des Eisens und des Anbindens an die Säule abzuschaffen«, angenommen von der Delegation des Reichsrates am 7. Juni 1902.
Vgl. Stenographisches Protokoll der Delegation des Reichsrates, 38. Session, 7. Sitzung, Budapest, 7. 6. 1902, S. 327–516, hier S. 329. Im Jahr 1869 wurde eine entsprechende Disziplinarvorschrift erlassen, welche auf die körperliche Züchtigung durch Stockstreiche und das Kurz- oder Langschließen bei Arreststrafen verzichtete, im Gegenzug jedoch eine erhebliche Ausweitung der Dauer der Arreststrafen normierte. Vgl. Disciplinar-Strafvorschrift für das k. k. Heer, in: Armeeverordnungsblatt, 36. Stück, 22. 4. 1869, Zirkularverordnung vom 21. 4. 1869, Präs. Nr. 1366. Vgl. Dienstreglement von 1873, 1. Teil, § 87 und 89. Allgemein zum komplexen System des Disziplinarstrafrechts vgl. Dienstreglement von 1873, 1. Teil, XIII. Abschnitt. Vgl. Dienstreglement von 1873, 1. Teil, Beilage: Bestimmungen über das Anbinden und das Schließen in Spangen.
Nach Conci sei es »überflüssig, Worte zu verlieren, um zu beweisen, daß diese Strafarten, welche an die mittelalterliche Tortur erinnern, und die in keinem anderen Staate mehr vorkommen, auch nur aus Humanitätsrücksichten beseitigt werden sollen.« Dabei zeigte er sich überzeugt, dass ihm »niemand widersprechen [wird], wenn [er] sage, dass diese Strafarten mit den gegenwärtigen Kulturverhältnissen nicht in Einklang zu bringen sind, […].«
Stenographisches Protokoll der Delegation des Reichsrates, 38. Session, 6. Sitzung, Budapest, 6. 6. 1902, S. 273–325, hier S. 319. Vgl. Stenographisches Protokoll der Delegation des Reichsrates, 38. Session, 7. Sitzung, Budapest, 7. 6. 1902, S. 327–516, hier S. 330. Grundlegend zur Häufigkeit der Disziplinarstrafen in der militärischen Praxis das Dissertationsprojekt der Autorin »Militärkultur und Soldatenleben in Österreich-Ungarn anhand der Garnison Graz«. Für einen Einblick in den Diskurs über Disziplinarstrafen im Allgemeinen und den Körperstrafen im Speziellen vgl. Hämmerle: Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen, S. 35–41.
Als gesamtstaatliche Einrichtung fiel das österreichisch-ungarische Heer in die Kompetenz der Delegationen, die gemäß dem Ausgleich von 1867 für die gemeinsamen Angelegenheiten der Doppelmonarchie zuständig waren und von den parlamentarischen Vertretungskörpern der österreichischen und ungarischen Reichshälfte beschickt wurden. Der Kriegsminister hatte das Recht und die Pflicht bei den einmal jährlich getrennt tagenden Sitzungen vor den Delegationen zu erscheinen, um sich zu Fragen zu äußern und die Anträge bezüglich der gemeinsamen Angelegenheiten vorzulegen. Alle Angelegenheiten betreffend den militärischen Oberbefehl, wie etwa Heeresorganisation, Ausbildung und innerer Dienstbetrieb, gehörten zu den Prärogativen der Krone, ebenso die Bestellung des Kriegsministers. Dieser wäre im Bereich der Militärverwaltung zwar grundsätzlich den Delegationen gegenüber verantwortlich gewesen, jedoch fehlten die diesbezüglichen Durchführungsbestimmungen. Zudem verfügten die Delegationen über keine Gesetzgebungsbefugnisse, konnten jedoch über ihr Budgetbewilligungsrecht indirekt auf das gemeinsame Heer gestaltend einwirken. Während die Delegationen versuchten, die Erfüllung von Sonderwünschen als Gegenleistung zur Bewilligung des Budgets durchzusetzen,
Vgl. Éva Somogyi: Die Delegation als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, Zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 1107–1176, hier S. 1130–1149; Karin Olechowski-Hrdlicka: Die gemeinsamen Angelegenheiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Vorgeschichte – Ausgleich 1867 – Staatsrechtliche Kontroversen, Frankfurt am Main 2000, S. 266–270. Vor seiner Berufung in das Amt des Kriegsministers 1893 diente Krieghammer durchgehend als Truppenoffizier und verfügte damit über wenig Erfahrung für diese Position. Es gelang ihm nicht, die großen Herausforderungen seiner Amtszeit, wie die waffentechnische Aufrüstung und die Wehrfrage, zu bewältigen. Zunehmend kam es zu Auseinandersetzungen mit den parlamentarischen Vertretungskörpern, wobei das Verhältnis zur ungarischen Delegation besonders angespannt war. Vgl. Rainer Egger: Krieghammer, Edmund Freiherr von (1832–1906), in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 4: Knolz–Lan, Wien 1968, S. 271–272, URL: Im Gegensatz zu Krieghammer diente FML Pitreich ab 1876, nur durch kurze Phasen von Truppendienst unterbrochen, auf verschiedenen Positionen im Kriegsministerium und ab 1883 in leitenden Funktionen. In seiner Amtszeit von 1902 bis 1906 gelangen ihm wesentliche Schritte zur Modernisierung der Armee, jedoch scheiterte auch er schlussendlich am Widerstand Ungarns bei einem Wehrgesetz mit einer Erhöhung des Rekrutenkontingents. Vgl. Peter Broucek: Pitreich, Heinrich Freiherr von (1841–1920), in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 8: Pet–Raz, Wien 1983, S. 105, URL:
Als erste Reaktion auf die Forderung der Delegation ließ das Kriegsministerium ab Juli 1902 die Begründung, dass es bei fremden Heeren keine Körperstrafen mehr gebe, überprüfen.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Bericht des Militärattachés für Frankreich und Belgien an das Kriegsministerium, Nr. 107, Paris, 6. 10. 1902. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Gutachten der 4. Abteilung, Präs. Nr. 6348 ex 1902, 11. 11. 1902.
Ausgestattet mit dieser Information, begann im Kriegsministerium im November 1902 ein erster Meinungsbildungsprozess mittels eines schriftlichen Rundlaufs zwischen den Ressortabteilungen.
Bezüglich der einzelnen Stellungnahmen vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902). ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Stellungnahme des Präsidialbüros, 13. 12. 1902.
Ebenfalls wurde die Einführung der bei fremden Heeren üblichen Korrektionsabteilungen diskutiert, jedoch aufgrund eigener Erfahrungen respektive Bedenken bezüglich ihrer Wirkung auf die militärische Disziplin und Kultur abgelehnt. So brachte die 5. Abteilung in ihrem Gutachten vor, dass sich Disziplinarabteilungen gemäß Aktenlage während ihres Bestehens im österreichischen Heer von 1850 bis 1868 respektive 1870 nicht bewährt hätten. Das Präsidialbüro gab zu bedenken, dass gegen sie zudem die Erfahrung spreche, dass »moralisch minderwertige Individuen bei der Unterabtheilung besser geleitet und überwacht werden können, als durch das Zusammensein mit lauter disqualificierten Personen, wobei der angestrebte Zweck moralischer Besserung meist illusorisch« sei. Bezüglich der Errichtung von Arbeitsabteilungen, also der Heranziehung von Disziplinararrestanten zu »beschwerlichen, lästigen oder niederen Diensten«, erinnerte das Präsidialbüro an ein diesbezügliches Gutachten von 1901, wonach Arbeitsabteilungen dem Wesen der meist kurzen Disziplinarstrafen widersprechen würden. Zudem müssten alle für den Dienst erforderlichen Tätigkeiten geleistet werden und »[w]as in dem einen Falle Pflicht ist, darf im anderen Falle nicht zur Strafe werden.«
ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Stellungnahme des Präsidialbüros, 13. 12. 1902.
In der ersten Phase des Innovationsprozesses wurde also nach einem externen Innovationsanstoß aus der Zivilgesellschaft eine gemeinsame Position gesucht, wobei Informationen über vergleichbare Organisationen, vorangegangene Erfahrungen und auch Überlegungen zur militärischen Kultur eine Rolle spielten. Der Rundlauf stellte ein Koordinierungsverfahren dar, um die unterschiedlichen Interessen jener Abteilungen, in deren Ressort die Angelegenheit fiel, zu wahren.
Bezüglich der Geschäftsbereiche der Abteilungen vgl. Normalverordnungsblatt, 4. Stück ex 1877, Zirkularverordnung Präs. Nr. 494, Geschäftsordnung für das k. k. Heer, II. Abschnitt: Für das Reichskriegsministerium und dessen Hilfsorgane, Beilage: Geschäftseinteilung im Reichskriegsministerium, 23–37. Vgl. Walter Wagner: Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2: 1866–1888, Wien 1971, S. 128.
Aufgrund des sehr übereinstimmenden Meinungsbildes wäre eine Abänderung der Disziplinarstrafen bereits in dieser ersten Phase naheliegend gewesen, jedoch fiel eine gänzlich andere Entscheidung, wofür das abschließende Gutachten des Chefs des Generalstabes FZM Beck ausschlaggebend gewesen sein dürfte. Er enthielt sich weitestgehend einer Position und stellte fest, dass bezüglich einer Aufhebung von Körperstrafen in Friedenszeiten, die Gutachten der Militärterritorialkommandanten und eventuell erfahrener Truppenkommandanten einzuholen wären und begründete dies damit, dass »[d]ie große Verschiedenheit der Charakter-Eigenschaften und des Bildungsgrades unserer Nationalitäten […] einen directen Vergleich dieses Strafverfahrens mit jener in den übrigen Staaten […] nicht zu[lässt].«
ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Stellungnahme des Chefs des Generalstabes, Res. Nr. 2829, 23. 12. 1902. Die Option, die unteren Ebenen in die Ausgestaltung der neuen Disziplinarstrafnormen miteinzubeziehen, wurde bereits von der 4. Abteilung als mögliche Vorgehensweise vorgeschlagen, aber etwa von der 5. Abteilung als nicht unbedingt erforderlich abgelehnt.
Die Diversität innerhalb des österreichischungarischen Heeres wie auch die Heterogenität des Staates waren Aspekte, die von der Militärverwaltung bei der Adaption von Innovationen in einheitlichen Standards und Normen stets bedacht werden mussten.
Dieser Umstand zeigte sich nachdrücklich etwa im Bereich der Ernährung der Soldaten, vgl. Berger: Ernährung, S. 86–90. So kamen etwa auf hundert Soldaten durchschnittlich 25 Deutsche, 23 Magyaren, 13 Tschechen, neun Serben und Kroaten, je acht Polen und Ruthenen, sieben Rumänen, vier Slowaken, zwei Slowenen und ein Italiener. Vgl. Christoph Allmayer-Beck: Die bewaffnete Macht in Staat und Gesellschaft, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. V: Die bewaffnete Macht, Wien 1987, S. 1–141, hier S. 93. Für das Jahr 1910 vgl. István Deák: Der k. (u.) k. Offizier 1848–1918, Wien / Köln / Weimar 1995, S. 216, Tabelle 10.4. Die Verknüpfung von Ehr- und Feingefühl mit dem Bildungsgrad war eine Vorstellung, die sich über Jahrzehnte trotz teilweise gegenteiliger Diskurse hielt. So wies etwa das Kriegsministerium bereits beim Verbot der Stockstrafe 1867 die Vorstellung zurück, dass den Personen mit geringem Bildungsgrad »nur durch den Stock aufzukommen sei«, weil auch diesen das Ehrgefühl nicht fremd sei. Vgl. Präsidialerlass des Kriegsministeriums, Nr. 218, 22. 1. 1867, verlautbart in: ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2127, Präs 82, Präsidialerlass des 3. Korpskommandos, 29. 1. 1867. Vgl. Helmut Rumpler / Martin Seger (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX: Soziale Strukturen, Teilbd. 2: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910, Wien 2010, S. 228–229.
Die Involvierung der mittleren und unteren Verwaltungsebene in den Innovationsprozess kann als der Beginn einer neuen Phase identifiziert werden. Dabei sollte die organisationsinterne Expertise bezüglich der heterogenen Zusammensetzung des österreichisch-ungarischen Heeres und des Vollzugs der Disziplinarstrafnormen in der Praxis für die inhaltliche Ausgestaltung nutzbar gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden die 16 Militärterritorialkommanden Ende Jänner 1903 mittels Erlasses aufgefordert, sich nach eventueller Anhörung einzelner erfahrener Truppenkommandanten bis Ende Februar zur Frage des Verbots von Körperstrafen zu äußern. Dabei wurde der Mehrheitsbeschluss des ministeriellen Rundlaufs zur Diskussion gestellt und erläutert, inwiefern dieser den Disziplinarstrafnormen bei fremden Heeren entspreche. Zudem sollten sich die Militärterritorialkommandanten auch zu jenen Punkten äußern, bei denen auf ministerieller Ebene keine eindeutige Position erzielt werden konnte, respektive es an praktischen Kenntnissen und Erfahrungen mangelte: dies betraf die Fragen, ob im Falle eines Verbotes der Körperstrafen ein Ersatz erforderlich sei und ob eine der beiden Strafen für den Krieg oder unter besonderen Verhältnisse normiert bleiben solle. Zudem wurden die Militärterritorialkommandanten explizit aufgefordert – es sei dabei an die Position des Präsidialbüros im ministeriellen Rundlauf erinnert –, »in Erwägung zu ziehen, ob das ›Anbinden‹ als eine den heutigen Zeitverhältnissen nicht mehr entsprechende, entwürdigende Maßnahme nicht ganz abzuschaffen wäre.«
ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902), Erlass Präs. Nr. 6348 ex 1902 (Konzeptschreiben), 26. 1. 1903. Das Konzeptschreiben erging unverändert an die Militärterritorialkommanden, vgl. ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2180, Präs 247.
Wie die einlangenden Gutachten der Militärterritorialkommanden zeigen, entschied sich die überwiegende Mehrheit der Kommandanten auf der mittleren Verwaltungsebene, vermutlich nahezu alle, für die Involvierung der untersten Ebene in den Meinungsbildungsprozess.
Neun von 16 Militärterritorialkommandanten erwähnten, dass sie diesbezügliche Gutachten bei Truppenkommandanten einholten, wobei angenommen werden kann, dass dies auch bei den übrigen sieben der Fall war. So lässt sich etwa aus dem Gutachten des Kommandanten des 3. Militärterritorialbereichs nicht schließen, dass eine Befragung von Truppenkommandanten stattfand, jedoch befinden sich im Akt des Korpskommandos die Stellungnahmen von elf Truppenkommandanten und acht Brigade- bzw. Divisionskommandanten. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Sammlung der Einzelgutachten der Militärterritorialkommanden; ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2180, Präs 98, Präsidialerlass des 3. Korpskommandos, 4. 2. 1903. Vgl. Dienstreglement 1873, § 91, Punkt 694. Zudem konnte die maximale Dauer von Arreststrafen gegenüber Angehörigen der Mannschaft nur von den Truppenkommandanten ausgesprochen werden. Vgl. Dienstreglement 1873, § 88, Punkt 665. Vgl. hierzu die Stellungnahmen der Truppenkommandanten des 3. Militärterritorialbereichs: ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2180, Präs 247. Nachdem die Kommandanten des 7., 8. und 12. Militärterritorialbereichs ihren Gutachten die eingeholten Stellungnahmen der Truppenkommandanten beilegten, finden sich diese im Ministerialakt ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Sammlung der Einzelgutachten der Militärterritorialkommanden. Brigaden und Divisionen sind Teil der organisatorischen Parallelstruktur für die operative Kriegsführung; als operative Großverbände stellen sie Zusammenschlüsse von Truppenkörper zu Kampfverbänden dar.
Die Herausforderung der Militärterritorialkommanden bestand nun darin, die Stimmenvielfalt der untersten Verwaltungsebene zu verarbeiten, wobei dieser Prozess einerseits eine Komplexitätsreduktion und damit einen Wissensverlust bedeutete, andererseits aber auch eine Form der Qualitätssicherung darstellte. Wie die schematische Auswertung der Berichte der Truppenkommandanten im 3. Militärterritorialbereich zeigt, wollte das Militärterritorialkommando zunächst die Mehrheitsmeinung auf der Ebene der Truppenkommandanten in Erfahrung bringen, um diese anschließend in der gutachterlichen Stellungnahme an das Ministerium widerzuspiegeln. Bei der Frage nach möglichen Strafalternativen stand dagegen die Mehrheitsmeinung nicht im Vordergrund, sondern es wurden ausgewählte Einzelvorschläge aufgegriffen, die als Grundlage für die beantragten Alternativstrafen dienten.
Vgl. ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2180, Präs 247.
Parallel zum Meinungsbildungsprozess auf der mittleren und unteren Ebene traten in der zweiten Phase des Ausgestaltungsprozesses erstmals die Akteure des horizontalen Mehrebenensystems, mit Ausnahme des königlich-ungarischen Landesverteidigungsministeriums, in Erscheinung. So nahmen die Marine-Sektion, das kaiserlich-königliche Landesverteidigungsministerium und die Allerhöchste Militärkanzlei Einsicht in die Akten und baten um weitere Mitteilungen in dieser Angelegenheit,
Vgl. die Vermerke auf dem Aktenbogen ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1142, 28-6/12 (1902). Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Hafen-Admiralat Präs. Nr. 508 M.A., 24. 2. 1903.
Die Stellung der Marine-Sektion im Mehrebenensystem war schwierig, was ihr später noch wiederholtes Begehren zur Miteinbeziehung in die Ausgestaltung der neuen Disziplinarvorschriften zeigt. Um den Anspruch der ungarischen Reichshälfte auf einen zweiten Ministerposten im gemeinsamen Ministerrat zu verhindern, wurde die Schaffung eines vierten gemeinsamen Ministeriums vermieden und die Kriegsmarine der Militärverwaltung des österreichisch-ungarischen Heeres formal als Sektion eingegliedert. Faktisch agierte sie jedoch selbstständig, so verfügte der Chef der Marine-Sektion wie ein Minister über eine eigene Präsidialkanzlei,
Vgl. Lothar Höbelt: Die Marine, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. V: Die bewaffnete Macht, Wien 1987, S. 687–763, hier S. 733. Die Selbstständigkeit der Marine-Sektion zeigte sich auch in ihrer vom Kriegsministerium getrennten Unterbringung, die sich nicht allein durch die räumliche Begrenzung der Regierungsgebäude erklärt. So wurden auch beim Neubau nach 1900 je ein Gebäude für die Marine-Sektion und das Kriegsministerium errichtet. Bezüglich der Neubauten vgl. Felix Czeike: Historisches Lexikon Wien, Bd. 4: Le–Ro, Wien 1995, S. 183 (Marinesektion) und S. 646 (Regierungsgebäude). 1885 wurde die Stellung des Chefs der Marine-Sektion noch insofern gestärkt, indem er fortan als Stellvertreter des Kriegsministers fungierte. Vgl. Wagner: Kriegsministerium, S. 40–41 und 250.
Die dritte Phase des Ausgestaltungsprozesses, in dessen Zentrum ein neuer und abschließender Meinungsbildungsprozess im Kriegsministerium stand, begann mit dem Einlangen der Gutachten der mittleren Verwaltungsebene Ende Februar 1903. Wie bereits in der ersten Phase übernahm die 4. Abteilung (Justiz) dabei die Federführung. Ihr oblag es, die gutachterlichen Stellungnahmen der 16 Militärterritorialkommandanten wie auch des Hafen-Admiralats von Pola inhaltlich aufzubereiten, wozu die Positionen bezüglich der einzelnen Fragen zunächst tabellarisch erfasst wurden.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), zu Präs. Nr. 1260 v. 1903, Zusammenstellung der Anträge der Militär-Territorial-Commandanten und des Hafen-Admiralats zu Pola bezüglich der Aufhebung des »Anbindens« und des »Schließens in Spangen«. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Pro domo bezüglich der Frage des »Anbindens« und »Schließen in Spangen« (4. Abteilung) und Referat über beantragte Änderung der Disziplinarstrafen bei der Mannschaft (Präsidialbüro). Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Präsidialerlass Nr. 1260 (Konzept). Im Wesentlichen entsprachen die für eine Erprobung vorgesehenen Strafnormen dem späteren kommissionellen Beschluss für Friedenszeiten.
Anstelle der Erprobung neu konzipierter Disziplinarstrafnormen wurde eine kommissionelle Beratung für den 2. April 1903 unter dem Vorsitz des Stellvertretenden Kriegsministers, Sektionschef FML Arthur Ritter Pino von Friedenthal, einberufen, an der die Vorstände der 1., 2., 4. und 5. Abteilung, zudem zwei weitere Militär-Auditoren der 4. Abteilung, darunter der Schriftführer, und der Chef des Generalstabes teilnahmen.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Einladung zur kommissionellen Beratung, Präs. Nr. 1942, 30. 3. 1903. Die Strafe des Anbindens soll im Ersten Weltkrieg exzessiv angewendet worden sein, vgl. Hämmerle: Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen, S. 38. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Protokoll über die unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerstellvertreters k. u. k. Feldmarschallleutnants Artur Pino Ritter von Friedenthal am 2. April 1903 stattgefundenen Beratungen, betreffend Änderungen der Disziplinarstrafen.
Die Beschlüsse der Kommission veränderten sich gegenüber der ersten ministeriellen Meinungsfindung aufgrund der Einblicke in die Praxis der Disziplinarstrafen durch die Involvierung der mittleren und unteren Verwaltungsebene in den Ausgestaltungsprozess. So wurde das zweistündige Anbinden vergleichsweise selten als Strafe ausgesprochen. Dagegen wurde das sechsstündige Schließen in Spangen als Ordnungsstrafe, entgegen der Intention der Disziplinarvorschrift,
Bei der Strafbemessung sollte die Anzahl der bereits erhaltenen Bestrafungen berücksichtigt werden und eine sukzessive Steigerung der Strafstrenge stattfinden, vgl. Dienstreglement 1873, § 86, Punkt 647. Nachdem das Schließen in Spangen gemeinsam mit dem Anbinden die strengste der sechs Ordnungsstrafen gegen die Mannschaft war, vgl. Dienstreglement 1873, § 87, Punkt 657, C., 2. a–f., sollte sie nach Intention der Disziplinarstrafnormen relativ selten Anwendung finden. Vgl. Dienstreglement 1873, § 89, Punkt 686. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Pro domo bezüglich der Frage des »Anbindens« und »Schließen in Spangen« (4. Abteilung), Hervorhebung im Original durch eine Unterstreichung. Für die Beschränkung der verbliebenen Körperstrafen auf Angehörige der Mannschaft ohne Chargengrad sprachen sich das 6., 11., 13. und 15. Militärterritorialkommando aus. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Pro domo bezüglich der Frage des »Anbindens« und »Schließen in Spangen« (4. Abteilung).
Zudem wurde aufgrund der Gutachten der Militärterritorialkommanden eine zusätzliche Änderung beschlossen, die nicht im direkten Zusammenhang mit dem geplanten Verbot der Körperstrafen stand. Während eine knappe Mehrheit der Kommandanten die Einführung neuer Disziplinarstrafen als Alternative zu den Körperstrafen für entbehrlich hielt, machten die Übrigen verschiedenste Vorschläge. Unter anderem wurde auch die Einführung der auf ministerieller Ebene bereits diskutierten und abgelehnten Korrektionsabteilungen beantragt, was von der Kommission wieder abgelehnt wurde. Dagegen griff die Kommission den Antrag der Kommandanten des 1., 3. und 4. Militärterritorialbereichs auf,
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Pro domo bezüglich der Frage des »Anbindens« und »Schließen in Spangen« (4. Abteilung). Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Protokoll über die unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerstellvertreters k. u. k. Feldmarschallleutnants Artur Pino Ritter von Friedenthal am 2. April 1903 stattgefundenen Beratungen betreffend Änderungen der Disziplinarstrafen. Vgl. etwa ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Gutachterliche Stellungnahme des 3. Korpskommandos, Präs. Nr. 247, 27. 2. 1903.
Wie der kommissionelle Beschluss in der dritten Phase des Innovationsprozesses zeigt, wirkte sich die Befragung der mittleren und unteren Verwaltungsebene in der zweiten Phase direkt auf die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Normen aus. Dabei ermöglichte die Aktivierung des Mehrebenensystems eine stärkere Orientierung an der Praxis, indem es das Verständnis für die Handhabung der Disziplinarstrafnormen in den Truppenkörpern vertiefte. Zudem öffnete es den Prozess gegenüber einem größeren Personenkreis und damit zu unterschiedlichen Überlegungen und Ideen. Der große Einfluss der Gutachten der Militärterritorialkommandanten auf den Kommissionsbeschluss zeigt einerseits das Vertrauen in die Expertise der unteren Ebenen und belegt andererseits ihren Gestaltungsspielraum. Das Bemühen, bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Normen die Mehrheitsmeinung zu berücksichtigen, versprach zugleich, die Zufriedenheit und Anerkennung mit den neu konzipierten Disziplinarstrafnormen auf der Vollzugsebene zu erhöhen. Das Involvieren der mittleren und untersten Verwaltungsebene machte das Kommissionsergebnis aber auch komplexer, wie es ebenso eine radikale Streichung aller Körperstrafen verhinderte. Warum die geplante und bereits von Kaiser Franz Joseph genehmigte Erprobung neuer Disziplinarstrafnormen unterblieb, kann aufgrund der Aktenlage nicht mehr geklärt werden. Es beschleunigte das Verfahren deutlich, war jedoch ungewöhnlich. So entsprach es der üblichen Vorgehensweise, Neuerungen vor ihrer endgültigen Einführung zunächst zu erproben, um ihre Praktikabilität aufgrund des heterogenen Staatsgebietes und der Diversität innerhalb des Heeres zu testen.
Dies traf etwa auf den Bereich der soldatischen Ernährung zu, vgl. beispielsweise den Versuch zur Akzeptanz von Milchprodukten: Erlass, KM-Abt. 12, Nr. 1293, 25. 5. 1908, zitiert nach: A. Rubin (Hg.): Schulmeisters Normaliensammlung für das k. u. k. Heer. 2. Band (Nr. 4701–8000). 3., umgearb. und vervollst. Aufl. Wien 1913, Nr. 6552; Erlass, Abt. 12, Nr. 2089, 26. 8. 1909. Verlautbart in: Korpskommandobefehl (3. Militärterritorialbereich), Nr. 74, 14. 09. 1909, J 9755. ÖStA, KA, Terr Befehle, Kt. 36. Erprobungen und schrittweise Weiterentwicklungen waren auch im Bereich der Ausbildung häufig, vgl. etwa ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2209, Präs 2811, Berichte über probeweise Verlegung der Spezialschulen.
Mit der kommissionellen Beschlussfassung endete die Meinungsbildung innerhalb des vertikalen Gefüges der Militärverwaltung und der Prozess öffnete sich nun stärker gegenüber den horizontalen Ebenen. Mitte April wurden die Landwehren beider Reichshälften erstmals offiziell über die geplante Änderung der Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft informiert, wobei ihnen das Ergebnis der Beratungen der eingesetzten Kommission mitgeteilt und sie um ihre diesbezügliche »Wohlmeinung« gebeten wurden.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Zuschrift an die Landesverteidigungsminister (Konzept), Präs. Nr. 2482, 15. 4. 1903. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/3 (1903), Wohlmeinung des königlich-ungarischen Landesverteidigungsministers, 3005 szám/eln., 23. 4. 1903. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/3 (1903), Wohlmeinung des kaiserlich-königlichen Landesverteidigungsministers, Nr. 1296 Präs. VI., 27. 4. 1903.
Dass die beiden Landwehren lediglich in Form einer Anhörung in den Prozess involviert, aber nicht Teil der Verhandlungen waren, liegt in ihrer staatsrechtlichen Stellung begründet, die sie im Mehrebenensystem auf eine horizontale Ebene verwies. Mit dem Ausgleich von 1867 wurden neben dem österreichisch-ungarischen Heer als gesamtstaatliche Einrichtung die beiden Landwehren als eigenständige Institutionen der beiden Reichshälften konstituiert.
In den folgenden Jahren erfolgte der sukzessive Ausbau der beiden Landwehren zu eigenständigen Truppen, bis sie schlussendlich 1912 mit dem österreichisch-ungarischen Heer hinsichtlich Ergänzung, Organisation, Ausbildung und Kriegsdienstbestimmungen gleichgestellt wurden. Zum Aufbau der Landwehren als eigenständige Heere vgl. Wagner: Armee, S. 417–430. Vgl. etwa das Wehrgesetz von 1912: Reichsgesetzblatt für die im Reichsrate vertretene Königreiche und Länder, Jahrgang 1912, LIV. Stück, 8. 7. 1913, 128. Gesetz vom 5. 7. 1912 betreffend die Einführung eines neuen Wehrgesetzes, 411–439, hier 411. Dies zeigt sich etwa auch darin, dass der Kriegsminister nur vor den Delegationen, jedoch nie im Reichstag oder Reichsrat erschien. Anfragen das gemeinsame Heer betreffend wurde in den parlamentarischen Vertretungskörper der beiden Reichshälften von Seiten der jeweiligen Landesverteidigungsminister beantwortet.
Zugleich mit der Benachrichtigung über die geplanten Änderungen der Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft wurden die Landesverteidigungsminister informiert, dass ebenso eine Änderung der Disziplinarstrafen wider Offiziere aufgrund der Allerhöchsten Entschließung von 2. März 1903 erwogen werde.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Alleruntertänigster Vortrag, Präs. Nr. 3760, 18. 6. 1903. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Zuschrift an die Landesverteidigungsminister (Konzept), Präs. Nr. 2482, 15. 4. 1903.
Der Aushandlungsprozess der neuen Agenda lief sehr ähnlich, wenngleich beschleunigt ab: So wurden wiederum zunächst Informationen über die diesbezüglichen Regelungen in Deutschland, Russland und Frankreich eingeholt,
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Auszug aus der Disziplinar-Strafordnung für das deutsche Heer vom Jahr 1872, aus dem französischen Dienst-Reglement vom Jahr 1892 und aus dem Disziplinar-Strafgesetz für die russische Armee vom Jahr 1888. Offiziere, Stabsparteien und Militärbeamte sowie Kadetten, Feldwebel und diesen gleichgestellten Chargen wurden im Gegensatz zur Mannschaft vom Korporal abwärts nicht mit Garnisonsarrest, also die Verbüßung einer Militärarreststrafe im Garnisonsgefängnis, sondern mit Profossenarrest bestraft. Die Militärarreststrafe wurde dabei auf eigene Kosten im »Quartier des Profoßen«, also dem Gefängnisaufseher, oder einem dazu »sonst gewidmeten Zimmer« abgebüßt. Vgl. Militär-Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 15. Jänner 1855 sammt den darauf bezüglichen, bis auf die neueste Zeit erschienen Verordnungen und Erläuterungen zusammengestellt von Karl Skala, Hauptmann-Auditor im k. k. Linien-Infanterie-Regimente Ludwig II., König von Baiern Nr. 5, Teschen 1881, § 55–58. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Studie über die Änderung der Strafen für Offiziere (Präsidialbüro). ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/1 (1903), Studie über die Änderung der Strafen für Offiziere (4. Abteilung).
Aufgrund des beschleunigten Ablaufes konnte basierend auf den beiden Studien die kommissionelle Beratung in dieser Angelegenheit gemeinsam mit der Beratung über die Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft am 2. April 1903 beginnen und fand am 5. April 1903 ihren Abschluss. Die Kommission berücksichtigte die juristischen Bedenken der 4. Abteilung in ihrer Beratung, einigte sich jedoch mittels Alternativanträgen auf eine möglichst starke Einschränkung der Disziplinarstrafen: Die Disziplinararreststrafen sollten auf militärische und gemeine Vergehen beschränkt werden, die im Militärstrafrecht mit bis zu sechs Monaten bedroht seien, wobei der Zimmerarrest nur mehr von den mit der Gerichtsbarkeit betrauten Kommandanten verhängt werden dürfe. Zudem sollte den Offizieren im Stationsarrest erlaubt werden, den Mittagstisch mit ihren Kameraden in der Offiziersmesse einzunehmen. Als Ersatz sollte neben dem einfachen und strengen Verweis zusätzlich ein vor Zeugen ausgesprochener Verweis eingeführt werden. Analog zu den Bestimmungen bei den Militärbeamten beantragte die Kommission ebenso die Einführung einer Verwarnung von Offizieren durch die Militärterritorialkommandanten, die im Falle des Zuwiderhandelns zu einer strafgerichtlichen Behandlung führen sollte. Als letzten Punkt beantragte die Kommission die Gleichsetzung der Kadettoffiziersstellvertreter und Kadetten mit den Offizieren hinsichtlich der Disziplinarstrafen und die ausnahmsweise Umwandlung von Kerkerstrafen in Profossenarrest im Bereich der Militärstrafprozessordnung.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Protokoll über die unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerstellvertreters k. u. k. Feldmarschallleutnants Artur Pino Ritter von Friedenthal am 2. April 1903 stattgefundenen Beratungen betreffend Änderungen der Disziplinarstrafen.
»[D]a eine so einschneidende Änderung des bisherigen Disziplinarstrafsystems nur auf Grund der bei Anwendung desselben gemachten Erfahrungen vorgenommen werden kann«,
ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903), Protokoll über die unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerstellvertreters k. u. k. Feldmarschallleutnants Artur Pino Ritter von Friedenthal am 2. April 1903 stattgefundenen Beratungen betreffend Änderungen der Disziplinarstrafen. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/3 (1903), Sammlung der Einzelgutachten der Militärterritorialkommanden. Vgl. die Vermerke auf dem Aktenbogen ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/2 (1903); ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/4 (1903), Gutachten des Hafen-Admiralats, Präs. Nr. 1195 M.A., 6. 5. 1903. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1168, 28-16/3 (1903), Zusammenstellung der Anträge der Militär-Territorialkommandanten bezüglich der Änderung der Disziplinarstrafen der Offiziere, zu Präs. Nr. 3048 ex 1903; Referat (4. Abteilung), zu Präs. Nr. 3048 von 1903. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/4 (1903), Protokoll über die unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerstellvertreters k. u. k. Feldmarschallleutnants Artur Pino Ritter von Friedenthal am 13. Mai 1903 stattgefundenen Beratungen betreffend Änderungen der Disziplinarstrafen.
Das abschließende Ergebnis wurde wie bereits bei der Änderung der Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft den Landesverteidigungsministern zur Äußerung ihrer Wohlmeinungen übermittelt,
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/4 (1903), Schreiben an die Landesverteidigungsminister (Konzept), Präs. Nr. 3283, 17. 5. 1903. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Wohlmeinung des kaiserlich-königlichen Landesverteidigungsministers, Präs. Nr. 1730/V, 24. 5. 1903. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Wohlmeinung des königlich-ungarischen Landesverteidigungsministers, 3771 szám/elnöki, 30. 5. 1903.
Das Erscheinen einer neuen Agenda in der dritten Phase des Ausgestaltungsprozesses zeigt, dass dieser für verschiedene Einflüsse und Interessen offen war, wie er ebenso Begehrlichkeiten verschiedener Akteure wecken konnte. Bei der Aushandlung dieser Agenda bewährte sich der inhaltliche Abstimmungsprozess zwischen den verschiedenen Ressortabteilung, indem unerwünschte Nebenwirkungen der geplanten Normen verhindert werden konnten. So hätte die Aufhebung der Disziplinararreststrafen gegen Offiziere die grundlegende Reform der Militärgerichtsbarkeit, die seit 1869 in einem langwierigen Prozess zwischen dem Kriegsministerium, den Justizministerien beider Reichshälften und den Landwehren ausgehandelt wurde und kurz vor dem Abschluss stand, gefährdet.
Die Reform bezweckte die Anpassung der Militärstrafprozessordnung von 1855 an die moderne Strafrechtswissenschaft, wobei gleichzeitig die militärischen Interessen zu berücksichtigen waren. Ein endgültiger Kompromiss wurde 1911 gefunden und das Gesetz wurde 1912 erlassen. Nach einer zweijährigen Vorbereitungszeit trat es am 1. Juli 1914 in Kraft. Vgl. Olechowski-Hrdlicka: Gemeinsame Angelegenheiten, S. 268, Fußnote 125; Wagner: Armee, S. 544–557.
Das Vorgehen der Militärverwaltung bei der Ausgestaltung neuer Disziplinarstrafnormen gegen Offiziere deckte sich in auffälliger Weise mit jenem im Falle der Änderung der Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft: Zunächst wurden Informationen bezüglich vergleichbarer Organisationen eingeholt, eine erste Mehrheitsmeinung auf ministerieller Ebene erarbeitet, die anschließend durch die Vollzugsebenen evaluiert wurde, um die Erfahrung aus der Praxis in das Endergebnis einfließen zu lassen. Die geringfügigen Unterschiede im Vorgehen dienten wohl einer Beschleunigung des Verfahrens. Damit war es möglich, beide Agenden gemeinsam der Allerhöchsten Sanktionierung vorzulegen und den Prozess rechtzeitig abzuschließen, um die neue Vorschrift bei der nächsten Sitzung der Delegation, die 39. Session begann erst am 15. Dezember 1903, präsentieren zu können. Die Einbeziehung des horizontalen Mehrebenensystems durch die Anhörung der beiden Landesverteidigungsminister zeigte zunächst keinen direkten Einfluss auf die Ausgestaltung der neuen Disziplinarvorschriften, jedoch gewann sie in der abschließenden Phase noch an Bedeutung.
Mit der Überreichung des Alleruntertänigsten Vortrages durch Kriegsminister FML Heinrich Ritter von Pitreich am 18. Juni 1903 begann die vierte und abschließende Phase des Innovationsprozesses. Dem 14-seitigen Vortrag waren zwanzig Beilagen, unter anderem die verschiedenen Stellungnahmen der ministeriellen Abteilungen, die Protokolle der kommissionellen Beratungen, die Zusammenstellung der Anträge der Militärterritorialkommanden und die Wohlmeinungen der Landesverteidigungsminister, angeschlossen, wodurch die Allerhöchste Militärkanzlei auch einen Einblick in das Meinungsbild erhielt. Im Alleruntertänigsten Vortrag selbst wurde das Endergebnis der kommissionellen Beratungen präsentiert, und erläutert, inwiefern sie den Positionen der Landesverteidigungsminister entsprechen. Zudem enthielt es das abschließende Gutachten von Kriegsminister FML Pitreich bezüglich der beantragten Änderung der Disziplinarstrafnormen.
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Alleruntertänigste Vortrag, Präs. Nr. 3760, 18. 6. 1903.
Kriegsminister FML Pitreich unterstützte die kommissionellen Anträge bezüglich der Disziplinarstrafen gegen die Mannschaft, votierte jedoch gegen eine Änderung der Disziplinarstrafen wider Offiziere. So stellte er fest, die Kommission habe »es sich zur Aufgabe gemacht, die Strafen der Offiziere möglichst einzuschränken und hat auch die überwiegende Mehrheit der Militärterritorialkommanden den Vorschlägen der Kommission beigepflichtet«, jedoch schließe er sich den Landesverteidigungsministern an, wonach bezüglich des Zimmerarrests nichts zu ändern und die Einführung einer Verwarnung »weder nötig noch zweckmäßig« sei. Er befürwortete lediglich die Teilnahme am Mittagstisch der Offiziere während des Zimmerarrests und die Gleichstellung der Kadettoffiziersstellvertreter und der Kadetten mit den Offizieren hinsichtlich der Disziplinarstrafen und der ausnahmsweisen Umwandlung von Kerkerstrafen in Profossenarrest. Zudem beantragte er abschließend, dass die im Mannschaftsstand erhaltenen Disziplinarstrafen bei der Beförderung zum Berufsoffizier, Militärbeamten oder Gagist ohne Rangklasse gelöscht und zukünftig nicht mehr in das Offiziersstrafprotokoll übertragen werden. Dies sei, wie er anmerkte, ein geeignetes Mittel, das Ansehen und Selbstbewusstsein dieser Personengruppe zu heben.
ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Alleruntertänigste Vortrag, Präs. Nr. 3760, 18. 6. 1903.
Mit Allerhöchstem Entschluss vom 28. September 1903 genehmigte Kaiser Franz Joseph die Änderung der Disziplinarvorschriften entsprechend dem Votum des Kriegsministers FML Pitreich,
Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Alleruntertänigste Vortrag Nr. 652, Präs. Nr. 3760, 18. 6. 1903. Zur Ausarbeitung der neuen Disziplinarvorschrift, unter anderem die Erstfassung des Textes, die Rückmeldungen der verschiedenen Fachabteilungen und Korrekturfahnen, vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/5 (1903) und 28-16/6 (1903). Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), Entwurf der Zirkularverordnung vom 24. Oktober 1903, Präs. Nr. 7500, zu Präs. Nr. 6700 von 1903; Beitrag für das Normal-Verordnungsblatt, zu Präs. Nr. 6700 von 1903. Vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/11 (1903), Abschrift des an sämtliche Militärterritorialkommanden ergangenen Reichskriegsministerial-Erlasses Präs. Nr. 7500 vom 20. Oktober 1903. Die Änderungen im militärischen Disziplinarstrafrechte, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 14070 (28. 10.1903), S. 8–9, hier S. 9.
Dass die neue Disziplinarvorschrift damit 15 Tage später als geplant in Kraft trat, lag an den Aktivitäten des königlich-ungarischen Landesverteidigungsministers FZM Fejérváry de Komlós-Keresztes. Bereits ab Mitte Juli begann er, trotz der Zusicherung von Seiten des Kriegsministers über alle Schritte rechtzeitig informiert zu werden, sich wiederholt nach dem aktuellen Stand der Arbeiten, ob eine Allerhöchste Entscheidung bereits vorliege und wann die Veröffentlichung der neuen Vorschriften geplant sei, zu erkundigen. Der Anlass seines Vorgehens war, dass das königlich-ungarische Landesverteidigungsministerium nun selbst plante, im Anschluss an die Allerhöchste Entschließung für das österreichisch-ungarische Heer, analoge Bestimmungen für die königlich-ungarische Landwehr zu erwirken, wobei er darauf drängte, dass die neuen Bestimmungen tagesgleich veröffentlicht werden.
Vgl. die Korrespondenz zwischen Kriegsministerium und königlichungarischen Landesverteidigungsministerium in: ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/6 (1903), 28-16/7 (1903), 28-16/8 (1903) und 28-16/9 (1903). Die neue Disziplinarvorschriften für die königlich-ungarische Landwehr wurden mit der Allerhöchsten Entschließung vom 14. 10. 1903 sanktioniert, vgl. ÖStA, KA, ZSt, KM, Präs-Akten, Kt. 1169, 28-16/10 (1903), Schreiben des königlich-ungarischen Landesverteidigungsministeriums, 7728 szám/elnöki, 17. 10. 1903. Vgl. etwa Lázló Péter: Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in: Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, Teilbd. 1: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, Zentrale Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 239–540, hier S. 504–529; Wagner: Armee, S. 417–430.
Das horizontale Mehrebenensystem war augenscheinlich nicht nur von Kooperation, sondern auch von Konkurrenzverhältnissen geprägt. Die Interventionen der Marine-Sektion, die sich mittels Akteneinsicht stets am Laufenden hielt, bezeugen ihr aktives Bemühen, als Teil des gemeinsamen Heeres gleichrangig mit den Landstreitkräften in den Prozess involviert zu werden. Laufend Akteneinsicht nahm auch die kaiserlich-königliche Landwehr, die dabei infolge ihres Behördensitzes in Wien gegenüber der königlich-ungarischen Landwehr, die auf die Informationsübermittlung durch das Kriegsministerium angewiesen war, über einen praktischen Vorteil verfügte. Spielten die Wohlmeinungen der beiden Landesverteidigungsminister in der inhaltlichen Ausgestaltung keine Rolle, gewannen sie in der abschließenden Phase an Bedeutung: So verwendete Kriegsminister FML Pitreich die ablehnende Position der beiden Landesverteidigungsminister gegenüber den Änderungen der Disziplinarstrafen wider Offiziere als argumentative Bekräftigung seines Votums im Alleruntertänigsten Vortrag an Kaiser Franz Joseph, das in Opposition zum Kommissionsbeschluss stand.
Im vertikalen Mehrebenensystem bestand ein Bemühen, die neuen Vorschriften in Kooperation mit der mittleren und unteren Verwaltungsebene auszuarbeiten, wofür pragmatische Überlegungen ausschlaggebend waren. Als Vollzugsebenen verfügten sie über einen Informationsvorsprung hinsichtlich der praktischen Handhabung der Disziplinarvorschriften, der von der obersten Verwaltungsebene auch als solcher anerkannt wurde. Dies zeigt sich nicht nur durch ihre Involvierung in den Prozess, sondern vor allem im großen Einfluss ihrer gutachterlichen Stellungnahmen auf die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Vorschriften. Auf der anderen Seite wurde von der mittleren und unteren Verwaltungsebene vermutlich genau beobachtet, inwieweit ihre Stimmen gehört wurden. So überprüfte das 3. Militärterritorialkommando nach Bekanntgabe der neuen Vorschrift Punkt für Punkt, inwieweit sie der eigenen gutachterlichen Stellungnahme entsprach und die eigenen Anträge berücksichtigt wurden.
Vgl. ÖStA, KA, Terr, GenKdo Graz, Präs-Akten, Kt. 2184, Präs 2078, Handschriftliche Auflistung: Vom Korpskommando beantragt / durchgeführt.
Mit den neuen Disziplinarstrafnormen wurde der Resolution der österreichischen Delegation in der 38. Session zur Abschaffung der Körperstrafen in Form des Schließens in Spangen und des Anbindens genüge getan. Es war damit die einzige von insgesamt fünf Resolutionen die entsprechend den Wünschen der Delegation erfüllt werden konnte.
Vgl. Stenographische Protokoll der Delegation des Reichsrates, 39. Session, 10. Sitzung, Budapest, 16. 2. 1904, S. 429–524, hier S. 493–495. Die moderne Armee. Ein Interview mit dem Reichskriegsminister FML R. v. Pitreich, in: Neues Wiener Journal. Unparteiisches Tagblatt, Nr. 3597 (1. 11. 1903), S. 4–5, hier S. 5. Die Änderungen im militärischen Disziplinarstrafrechte, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 14070 (28. 10. 1903), S. 8–9, hier S. 9. »Anbinden« und »Spangenschließen«. Milderungen im militärischen Disziplinar-Strafrechte, in: Welt-Neuigkeits-Blatt, Nr. 247 (29. 10. 1903), 4. Bogen.
Die mikrohistorische Analyse des Zustandekommens der neuen Disziplinarstrafnormen von 1903 konnte zeigen, dass Innovationen in der Organisation nicht vom Kriegsministerium als oberste Verwaltungsebene im hierarchischen Mehrebenensystem autoritär bestimmt, sondern in einem hierarchisch gesteuerten, für verschiedene Akteure offenen Prozess ausgestaltet wurden. Im Falle des österreichisch-ungarischen Heeres galt es, die Diversität der Organisationsmitglieder infolge der Allgemeinen Wehrpflicht wie auch die heterogenen lokalen Bedingungen innerhalb der Habsburgermonarchie zu berücksichtigen. Das Kriegsministerium versuchte diese Herausforderung durch die Involvierung der mittleren und unteren Verwaltungsebene zu bewältigen. Als regionale Kommandoebenen verfügten sie über das praktische Wissen hinsichtlich des Verwaltungsvollzugs auf lokaler Ebene, wie sie zugleich Adressaten des Verwaltungshandelns waren. Durch ihre Involvierung konnte ausgelotet werden, ob und inwiefern Innovationen sinnvoll und durchführbar waren, wodurch sie einen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung von Innovationen im österreichisch-ungarischen Heer erlangten. War diese Vorgehensweise geeignet, die Zustimmung innerhalb der Organisation zu erhöhen, machte sie das Ergebnis aber auch komplexer und verhinderte zugleich eine vollständige Abschaffung von Körperstrafen.
Inwiefern die hohe Gestaltungskraft der mittleren und unteren Ebene der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung ein Resultat der spezifischen Bedingungen des österreichisch-ungarischen Heeres war oder als Kennzeichen moderner Bürokratien im Allgemeinen angenommen werden kann, muss hier als Frage offenbleiben. Die binnenadministrative Kommunikation wurde bisher primär als Steuerungs- und Kontrollinstrument hinsichtlich des Verwaltungsvollzugs wahrgenommen.
Vgl. etwa Peter Collin: Die Organisation der binnenadministrativen Kommunikation in der preußischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 335–359. Vgl. etwa Peter Becker: Der Staat als umstrittene Organisation. Die Verwaltungsreform der Habsburgermonarchie in den 1910er Jahren, in: Marcus Böick / Marcel Schmeer (Hg.): Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20 Jahrhundert, Frankfurt am Main 2020, S. 263–284.
Inhalt The Logic of Simplifying Public Administration in Hungary, 1900–1910 »A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in frühneuzeitlichen Verwaltungen M-Government: Recht und Organisation mobilen Verwaltens Antonio Serra, Early Modern Political Economist: From Good Government as Individual Behavior to Good Government as Practical Policy An Unbound Prometheus? Bureaucracy, Technology, Technocracy, and Administrative Innovation The Motives for and Consequences of the Introduction of Typewriters and Word Processing in the British Civil Service Die Gestaltung von Wandel und Innovation im Mehrebenensystem der Militärverwaltung Österreich-Ungarns um 1900 Innovation durch Technik? Rohrpostsysteme als Medientechnologien der Verwaltung im 20. Jahrhundert »Typewriting Medicine« – Bürotechnologische Innovationen und klinische Verwaltung am Beispiel der Charité Berlin, 1890–1932 Assessment as innovation: The case of the French administration in the nineteenth century Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven McKinsey auf der Hardthöhe: Unternehmensberater im Bundesministerium der Verteidigung 1981/82 Ein neues Gedächtnis für die Verwaltung: born digitals und die Wissenschaft. Ein TagungsberichtEinführung und/oder Abschaffung von Arbeitsbüchern als Innovation. 1 The Only Game in Town? New Steering Models as Spaces of Contestation in 1990s Public Administration