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Administrative Multinormativität in der Krankenhaus-Verwaltung am Beispiel der Charité in Berlin, 1820er- bis 1850er-Jahre

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Die Ausführungen des preußischen Hof-Bauinspektors Hesse und des Regierungsbaurates Mandel im August und September 1835 warfen kein gutes Licht auf den Zustand verschiedener Gebäude des Königlichen Charité-Krankenhauses: Der Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Krankenhausbau sei zwar aus solidem Mauerwerk errichtet, aber die Fußbodendielen, Tür- und Fensterrahmen müssten aufgrund der jahrelangen Abnutzung ebenso dringend erneuert werden wie die nicht mehr zeitgemäße Heizung. Die Wäsche würde derzeit im Keller gewaschen und getrocknet und durch die jahrelangen Dämpfe sei das Mauerwerk angegriffen und das Holz vor allem der Decke beziehungsweise der darüber liegenden Fußböden faulig und eine sachgemäße »Conservierung« der Wäsche unmöglich. Die Leichenhalle im Hof des alten Krankenhausgebäudes habe zwar früheren Ansprüchen zur kurzzeitigen Aufbewahrung der Leichen bis zur Beerdigung genügt, allerdings benötige man mit der steigenden Patienten- und Totenzahl und mit den zunehmenden wissenschaftlichen Bedürfnissen wie der regelmäßigen Obduktion von Leichen für die universitäre Lehre oder der Durchführung forensischer Untersuchungen ein zweckmäßigeres Gebäude. »Was endlich die vorhandenen Oekonomie Gebäude anbetrifft, so ist schon seit mehreren Jahren seitens des königl. Polizei-Präsidiums auf die Niederreißung der im Hofe stehenden Gebäude öftermalen gedrungen worden«, da die Gebäude, die alljährlich neu abgestützt werden müssten, in einem so schlechten und einsturzgefährdeten Zustand seien, dass man den ursprünglichen Zweck nicht mehr erkennen könne. Außerdem regte Hesse die Erneuerung der sanitären Anlagen und die zeitgemäße Anbringung von »Water-Closets« an, wie man sie in größeren Krankenhäusern des Auslandes fände.

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin) [GStA PK], HA I, Rep. 76 VIIID, Nr. 240, »Bericht über den Zustand der Charité, aber auch über das Bedürfniß eines zu errichtenden Pockenhauses, eines Wasch- und Trockenhauses, eines Leichenhauses, so wie der erforderlichen Oekonomie Gebäude«, Hof-Bauinspektor Hesse an das kgl. Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten, 22. 8. 1835.

Baurat Mandel wurde sogar noch deutlicher: »Was aber einer Anstalt, welche die Gesundheit befördern soll, besonders zum Vorwurf gereicht, ist der verpestete Geruch im ganzen Gebäude, welcher von den Abtritten herrührt, und nur […] durch Anbringung von Water closets abgeholfen werden kann.«

GStA PK, HA I, Rep. 76 VIIID, Nr. 240, »Anlage G zum Bericht über den Zustand der Charité«, Bericht von Regierungs- und Baurat Mandel, 4. 9. 1835.

Die obigen Ausführungen fassen die mehrseitigen an das preußische Kultusministerium adressierten Berichte von Hesse und Mandel zusammen und sollen nachfolgend exemplarisch herangezogen werden, um die verschiedenen Ebenen von Multinormativität und Verwaltungspraktiken in der Medizin und der Krankenhausverwaltung aufzufächern. Die Berichte enthalten zahlreiche Verweise auf funktionelle, medizinische und finanzielle Erwägungen sowie auf inhärente Kausalitäten und Rationalitäten, die weit über eine rein medizinische Logik und medizinische Begründungszusammenhänge hinausgehen. Der Aufsatz fragt danach, warum und zu welchem Zweck der Bericht überhaupt erstellt wurde und welche Rolle dieser und ähnliche Berichte in den Aushandlungsprozessen um Ressourcenzuweisungen der preußischen Ministerialverwaltung im 19. Jahrhundert spielten.

Alimentiert aus staatlichen Quellen diente das Königliche Charité-Krankenhaus in Berlin zugleich als militärische und zivile Ausbildungsstätte sowie als kommunales Krankenhaus und die verschiedenen Akteure – König beziehungsweise Staat, Militär, Stadt, Universität und das Krankenhaus als Institution selbst – folgten durchaus unterschiedlichen und mitunter konkurrierenden Interessen und Rationalitäten. Im Sinne einer ›dichten Beschreibung‹ aus dem Innern der Krankenhaus- und Medizinalverwaltung wird am Beispiel der Charité den verschiedenen funktionellen Rationalitäten und den damit verbundenen normativen Vorstellungen nachgespürt, denen Akteure in medizinischen Institutionen unterliegen.

Der Beitrag soll überdies zeigen, dass Verwaltungshandeln und die der administrativen Praxis zugrunde liegenden Normen immanenter Teil medizinischer Tätigkeit waren und sind – genauso wie der Umgang mit den aus dieser administrativen Multinormativität resultierenden Konflikten.

Nachfolgend wird einleitend die Verwendung des Begriffs der administrativen Multinormativität präzisiert und die Charité als historisches Beispiel eingeführt. Ausgehend von dem eingangs zitierten Bericht und den daraus folgenden Prozessen und Ereignissen werden die konkurrierenden öffentlichstaatlichen, medizinischen, administrativen und ökonomischen Normen beziehungsweise Normen- und Rationalitätenkonflikte dargestellt und anschließend diskutiert, wie mit diesen Konflikten umgegangen und versucht wurde, durch Übersetzung medizinischer Rationalitäten in solche der Ministerial- und Finanzverwaltung die verschiedenen Grundsätze und Erwartungen in der Verwaltungspraxis in Einklang zu bringen.

Multinormativität in der Charité – Begriffs- und Gegenstandspräzisierung
Das Königliche Charité-Krankenhaus in Berlin

Das Königliche Charité-Krankenhaus wurde 1710 in Berlin als Pesthaus gegründet und fungierte seit 1729 als städtisches Krankenhaus, in dem vor allem die sogenannten armen Kranken der Stadt (kostenlos) versorgt wurden. Gleichzeitig wurde es von der preußischen Armee genutzt, um Feldärzte auszubilden. Mit Gründung der Berliner Universität 1810 stand das Krankenhaus mit der Medizinischen Fakultät in Verbindung und diente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch als Ausbildungsstätte für zivile Medizinstudenten. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Charakter der Charité als medizinische Institution von einer Verwahr- und Pflegeanstalt für unheilbar Sieche zu einem auf Heilung abzielenden Krankenhaus ›modernen‹ Typs ebenso gewandelt wie sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen das Krankenhaus als Institution und die darin tätigen Mediziner und Mitarbeiter agierten, verändert hatten. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Charité durch die Armen-Direktion der Stadt Berlin beaufsichtigt und verwaltet. Mit den Preußischen Reformen wechselte die Zuständigkeit und seit 1819 unterstand die Charité dem Preußischen Innen-beziehungsweise Kultusministerium.

Zur Geschichte der Charité siehe zuletzt die Beiträge in dem Sammelband von Johanna Bleker / Volker Hess (Hg.): Die Charité. Geschichte(n) eines Krankenhauses, Berlin 2010; Ernst Peter Fischer: Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin 1710 bis heute, München 2009.

Diese institutionellen, politischen und sozio-kulturellen Umbrüche markieren den Beginn der Untersuchung, die in den 1850er-Jahren mit dem vorläufigen Abschluss zahlreicher im Gutachten befürworteten Bauvorhaben, zuletzt dem 1851 als Erweiterungsbau gedachten Sommerlazarett – endet. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich auch die Medizin als experimentelle Lebenswissenschaft etabliert und Carl Heinrich Esse in seiner Veröffentlichung über »Die Krankenhäuser. Ihre Einrichtung und Verwaltung« Grundsätze formuliert, die zu Standards in der Krankenhaus-Organisation werden sollten.

Siehe Carl Heinrich Esse: Die Krankenhäuser. Ihre Einrichtung und Verwaltung, Berlin 1857.

Finanziert wurde das Krankenhaus aus den Erträgen einer Kapitalstiftung des preußischen Königs und aus Einkünften aus kleineren privaten Stiftungen, aus königlichen Privilegien und aus Patientengebühren, wobei der Anteil der von Patienten erhobenen Behandlungsgebühren im 19. Jahrhundert stetig zuund staatliche Zuwendungen abnahmen. Bauliche Veränderungen und größere Investitionen waren selten und nicht im regulären Etat vorgesehen und mussten daher gesondert finanziert werden. Daher stellten Forderungen nach zusätzlichen finanziellen Mitteln für eine umfassende Sanierung oder einen Neubau und die daraus resultierenden Diskussionen keinen Einzelfall dar: Debatten über den baulichen Zustand und Ausbau des Charité-Kranken hauses waren bereits in den 1770er-Jahren geführt worden und kamen erneut Ende der 1880er-Jahre auf.

Zur Geschichte Bleker / Hess (Hg.): Die Charité; Fischer: Die Charité; zur Überlappung von Interessen verschiedener verbundener Institution Arleen Marcia Tuchman: Ein verwirrendes Dreieck: Universität, Charité, Pépinière, in: Eric J. Engstrom / Volker Hess (Hg.): Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie. Zur Geschichte des Berliner Charité-Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2000, S. 36–48. Ende des 19. Jahrhunderts gab es wieder eine in der Öffentlichkeit geführte bzw. durch öffentlichen Druck ausgelöste kontroverse Diskussion über den baulichen, institutionellen und medizinischen Zustand der Charité, wobei die Argumente für die Sanierung und Erweiterung des Krankenhauses in den 1890er-Jahren denen von 1835 ähnelten: Der Bau genüge nicht mehr den medizinischen und pflegerischen Anforderungen und stelle ein Risiko für die Patienten da – 1835 durch Schimmel und Feuchtigkeit, faulende Böden und einen verpesteten Geruch, in den 1890er-Jahren waren es fehlende Sicherheitsausgänge der (drittklassigen) Krankenzimmer im Dachgeschoss – und das Krankenhaus leide dauerhaft unter Überbelegungen und Überkapazitäten, woraus sich eine kaum erträgliche Enge bei der Unterbringung der Patienten ergebe. Zur Kritik Ende des 19. Jahrhunderts siehe Reinhard Freiberg: Der Charité-Boykott im Jahre 1893 in Berlin. Eine medizinhistorische Studie über Auswirkungen der Arbeitersozialreformen der 80erund 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts, Diss. med., Freie Universität Berlin 1997.

Detaillierte in Berichte gefasste Begründungen, die größere Anschaffungen oder Bauten und damit verbunden die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel legitimieren sollten, sind regelmäßiger Bestandteil der Aktenüberlieferung der Charité-Direktion.

Administrative Multinormativität im Charité-Krankenhaus

Der Begriff »Multinormativiät« wurde in der Rechtsgeschichte in Abgrenzung zum Begriff »Rechtspluralismus« eingeführt. Letzterer bezieht sich vor allem auf die (transnationale, globale) Vielheit rechtlicher Normen, während Multinormativität verschiedene Formen von Normativität wie beispielsweise Rituale oder Spielregeln einbezieht

Siehe den Überblick von Thomas Duve: Was ist ›Multinormativität‹? – Einführende Bemerkungen, in: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 88–101, hier S. 90f.

und es auch ermöglicht, die Bedeutung von »Gewohnheit« oder »Gebot« anthropologisch, historisch, sozialwissenschaftlich und philosophisch auszuloten.

Siehe z. B. Johannes Ahrens et al. (Hg.): Normativität. Über die Hintergründe sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, Wiesbaden 2011.

In diesem weiten Verständnis eignet sich der Begriff »Multinormativität« besonders, um das im Krankenhaus vorherrschende Normengefüge, bestehend aus expressis verbis ausformulierten und eher vage definierten Geboten, Grundsätzen, impliziten Erwartungen, regelhaften Verhaltensanforderungen und normativen Rationalitäten abzubilden, deren Übergänge oft fließend sind und sich in der Praxis oft nicht genau abgrenzen lassen.

Auf Grundlage eines breiten Verständnisses von Normativität (als ethisch-philosophische Grundsätze, rechtliche Normen, technische Richtlinien, soziale Regelmechanismen) siehe die Beiträge in Uwe H. Bittlingmayer et al. (Hg.): Normativität und Public Health. Vergessene Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit, Wiesbaden 2009.

Versteht man Normen im Sinne Niklas Luhmanns als stabilisierte Erwartungen (die enttäuscht oder erfüllt werden), so wäre erstens zu fragen, wie sich die Erwartungen stabilisieren;

Siehe die Einleitung und Niklas Luhmann: Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt 20 (1969), S. 28–48; ferner Dirk Richter: Normativität in der Systemtheorie, in: Ahrens et al. (Hg.): Normativität, S. 271–285.

und zweitens, wie die konkurrierenden Erwartungen und Interessen der verschiedenen Akteure, die im täglichen Handeln und in der Verwaltung des Krankenhauses zu Konflikten führten, in regelhaften Verfahren und im Rahmen verbindlicher Normen austariert wurden. Für die Charité im Spannungsfeld zwischen Staat, Stadt, Ärzteschaft, Patient und Institution bedeutete dies, dass die in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen (oder Teilsystemen)

Wobei die Zuordnung eines Krankhauses zu einem Teilsystem Schwierigkeiten aufwirft, denn Krankenhäuser sind zugleich auch politische, ökonomische, religiöse und philanthropische Einrichtungen und nicht allein dem Teilsystem Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik zuordenbar. Vielmehr können sie als eigener Bereich bzw. eigenes System aufgefasst werden, in dem sich Rationalitäten von politischem, Wissenschafts- und ökonomischem System treffen, siehe Klaus Türk: Die Organisation der Welt. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen 1995, S. 183f.

gültigen Normen jeweils übersetzt werden mussten.

Medizinische Leitmaximen wie der im Hippokratischen Eid formulierte Grundsatz, zum Wohle des Patienten zu handeln, korrespondieren zwar mit der Erwartung von Stadt und Staat an das Krankenhaus, den Ausbruch von Epidemien zu verhindern oder die Produktivkräfte der arbeitenden Bevölkerung zu erhalten, kollidieren aber entschieden mit ökonomischen, auf Sparsamkeit abzielenden Grundsätzen, die wiederum in ganz konkreten, (rechtlich) verbindlichen Regeln, Handlungsanweisungen und Gesetzen formuliert werden, deren Missachtung Sanktionen zur Folge haben (können).

Unabhängig ob man Normen und Normativität als stabilisierende Erwartungen im Sinne Luhmanns oder allgemeiner als Gebote, Verhaltensregeln oder Grundsätze erachtet, ist es für den Aufsatz erstens entscheidend, dass Normen im weiteren Sinne und nicht nur im Sinne von Rechtsnormen aufgefasst werden. Zweitens handelt es sich in doppelter Hinsicht um Multinormativität dahingehend, dass unterschiedlich ausgeprägte Normengefüge vorhanden sind, die über Erwartungen, allgemeine Grundsätze bis hin zu explizit formulierten Instruktionen und Gesetzen reichen und die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen (oder Teilsystemen) auf einandertreffen. Und drittens wird angenommen, dass die unterschiedlichen Normen im Krankenhaus aufeinandertreffen und in Einklang gebracht oder deren Geltung und Durchsetzung (beziehungsweise Dominanz über andere Normen) ausgehandelt werden müssen und diese Aushandlungsprozesse vor allem in der Praxis der Krankenhausverwaltung stattfinden.

Siehe vor allem Wolfgang Seibel: Verwaltung Verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin 2016; Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen: Strukturen und Prozesse vormoderner Verwaltungsarbeit. Landesherrliche Visitationen im frühneuzeitlichen Bayern, Münster 2017.

Konkurrierende öffentlichstaatliche, medizinische, administrative und ökonomische Normen in der Charité
Der »Zustand der Charité« in den 1830er-Jahren

Zweifelsohne war der bauliche Zustand, wie die eingangs zitierten Passagen aus dem »Bericht über den Zustand der Charité« nahelegen, in der sogenannten »Alten Charité« 1835 unhaltbar. Das Gebäude – in den 1790er-Jahren gebaut und zur Jahrhundertwende fertiggestellt – war bereits kurz nach der Fertigstellung zu klein. Nach dem Brand des Berliner Tollhauses 1798 wurde ein Teil der Insassen in der Charité untergebracht und aus dem Provisorium bildete sich die »Irrenabteilung« des Krankenhauses heraus.

Siehe Volker Hess: Die Alte Charité, die moderne Irrenabteilung und die Klinik (1790–1820), in: Bleker / Hess (Hg.): Die Charité, S. 44–69.

Nach diesem sprunghaften Anstieg der Patientenzahl stieg die Anzahl der jährlichen Aufnahmen weiter kontinuierlich an (1796: 3200, 1799: 3700, 1802: 4500).

Der medizinische Direktor der Charité, Ernst Horn, beklagte in seinem »Rechenschaftsbericht« die ungenügenden Zustände im Krankenhaus. Die Kalkulationspreise für die Verpflegungsgebühren seien viel zu niedrig angesetzt und nicht kostendeckend. Aufgrund der Unterfinanzierung könnten beispielsweise Ausbesserungen und notwendige Reparaturen von Inventar und Gebäude nicht erfolgen; siehe Ernst Horn: Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, Berlin 1818. Die Zustände um 1800 beklagt anschaulich Carl H. E. Moritz: Treue Erzählung meiner gehabten Schicksale in Berlin, vor, und nach der Aufnahme in die Charité. Mit eingestreueten Bemerkungen über das mir lieb, auch mißfällig gewordene in der Verfassung des Hauses selbst, Berlin 1800. Ebenso räumt der spätere Direktor der Charité, Oskar Scheibe, Missstände um 1800 ein, siehe Oskar Scheibe: Zweihundert Jahre des Charité-Krankenhauses zu Berlin. Mitteilungen aus der Geschichte, Entwicklung der Anstalt von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Berlin 1910 (Sonderdruck des Beitrages aus den Charité Annalen, Bd. 34), S. 57–61.

Die Vergrößerung der Bettenkapazität durch das 1800 fertiggestellte Gebäude bewirkte nur eine kurzzeitige Verbesserung der Situation. Und auch wenn die Aufnahmen und Belegungszahlen nach 1806 sanken und sich die räumliche Situation während der französischen Besatzung Berlins und der Napoleonischen Kriege etwas entspannte, stieg die Zahl der Patienten nach den Preußischen Reformen in den 1820er-Jahren wieder enorm an, denn durch die gewährte Freizügigkeit strömten immer mehr Auswärtige und »fremde« Arme in die Stadt, so dass sich die Zahl der armen Kranken beziehungsweise unbemittelten Patienten parallel zur steigenden städtischen Bevölkerungszahl erhöhte. Im Rahmen der Preußischen Reformen wurden die Städte zwar unabhängig(er) vom Staat und konnten sich selbst verwalten und organisieren, allerdings mussten sie sich auch selbst finanzieren.

Zu den Preußischen Reformen und deren Auswirkungen siehe allgemein Reinhart Koselleck: Preussen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Stuttgart 31981; und die Beiträge in Barbara Vogel (Hg.): Preußische Reformen 1807–1820, Königstein 1980; Bernd Sösemann (Hg.): Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993; dort insbesondere zur Städtereform Ilja Mieck: Die verschlungenen Wege der Städtereform in Preußen (1806–1856), in: Sösemann (Hg.): Gemeingeist und Bürgersinn, S. 83f.; und Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005.

Für die Berliner Charité brachten die mit den Reformen eingehenden Umstrukturierungen allerdings zunächst Unsicherheiten hinsichtlich der Zuständigkeiten und der Finanzierung. Bis zur Städtereform oblag die Verantwortung für die Berliner Armenverwaltung (als Königsstadt) dem preußischen Staat beziehungsweise dem Innen- und nach dessen Gründung dem Kultusministerium. Infolge der Städtereform unterstand das Armen-Direktorium seit den 1820er-Jahren dem Berliner Magistrat, allerdings wurde die Königliche Charité zuvor aus dem Zuständigkeitsbereich der Armen-Direktion ausgegliedert. Die bis dahin de facto leitenden Mediziner (beziehungsweise der »Erste leitende Arzt« und Chirurg) blieben zunächst direkt, zwischen 1830 und den 1840er-Jahren, in einem komplizierten Konstrukt unter der Kuratel eines »Königlichen Kuratoriums für die Krankenhausangelegenheit« (kurz Krankenhaus-Kuratorium) dem preußischen Kultusministerium unterstellt.

Zur Verwaltungsstruktur siehe die Akte betr. die Reorganisation der Charité (1828–1830), Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Charité Direktion [AHU CD], Nr. 22.

Diese direkte Unterordnung als staatliche Einrichtung änderte sich auch ab 1850 nicht, als zur Leitung der Charité eine verantwortliche Doppelspitze aus Verwaltungs- und Medizinischem Direktor ernannt wurde.

Zur Gesundheitsverwaltung in Berlin im 19. Jahrhundert siehe Rolf Winau: Medizin in Berlin, Berlin 1987; Ragnhild Münch: Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995. Zu den Zuständigkeiten im Preußischen Kultusministerium siehe Reinhold Zilch: Gesundheitswesen und Medizinalpolitik in Preußen 1817 bis 1911, in: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934). Bd. 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen, Berlin 2010.

Dessen ungeachtet blieb die Charité eine – und die einzige – städtische Krankenanstalt. In der Einheit als staatliche und kommunale Anstalt sah sich bis zu den Reformen der preußische König in der Verantwortung, für die Versorgung der armen Kranken in der Hauptstadt aufzukommen. Dies änderte sich nach den Reformen. Fortan berechnete die Charité für die Verpflegung der städtischen armen Kranken einen Tageskostensatz, der in Summa der Stadt (beziehungsweise der Armendirektion) in Rechnung gestellt wurde und sich im Laufe eines Jahres zu einer enormen Summe kumulierte, die den städtischen Haushalt enorm belastete. Hieraus ergab sich ein erbitterter Streit mit der Berliner Stadtverordneten-Versammlung beziehungsweise deren Vertreter über die für die Behandlung der armen städtischen Kranken entstandenen Kosten, der sich bis Mitte der 1830er-Jahre hinzog – als Druckmittel verweigerte die chronisch überbelegte Charité die Aufnahme neuer Patienten beziehungsweise städtischer armer Kranker, was zu Unruhe innerhalb der städtischen Bevölkerung führte.

Siehe die verschiedenen Schreiben der Armendirektion der Stadt an den Magistrat 1828 über die Schließung und am 6. 1. 1830 über die »kürzlich abermals erfolgte Schließung der Charité«. Während der Verhandlungen zwischen der Charité-Leitung und dem Magistrat der Stadt über die Erweiterung des Krankenhauses sowie die Erstattung von Kosten erfolgte im Mai 1830 abermals ein Hinweis über die Schließung der Charité. Anfang Januar 1832 teilte der leitende Arzt der Charité, Johann Nepomuk Rust, dem Magistrat in einem Bericht mit, dass die Charité keine Kranke mehr aufnehmen könne; die Korrespondenz zu allen Vorgängen zwischen dem Krankenhaus-Kuratorium, dem preußischen Kultusministerium, der Armendirektion und dem Magistrat der Stadt Berlin in der Akte betr. die Aufnahme der Kranken aus Berlin (in der Charité) 1832–1835, in: AHU CD, Nr. 971; sowie in: Landesarchiv Berlin [LAB], A Rep. 000-02-01, Nr. 1401 (Acten der Stadtverordneten zu Berlin betr. die Charité).

Städtische Abgeordnete warfen der Charité vor, dass sie nicht im Interesse der Stadt handele und dass arme Kranke für die klinische Lehre an der Perpinière (der militärmedizinischen Ausbildungsstätte) und der Universität (beides ebenfalls staatliche Einrichtungen) missbraucht würden.

Siehe die Beschwerde eines Stadtverordneten an die Stadtverordneten-Versammlung am 9. 3. 1831, in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401, Bl. 55.

Sie stellten in Frage, ob und mit welcher Rechtfertigung man überhaupt Geld für die schlechte Verpflegung und Behandlung zahlen solle.

Siehe die Auseinandersetzungen im LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401; und AHU CD, Nr. 971.

Andererseits beklagte sich das Krankenhaus-Kuratorium, dass man dauerhaft Hospitaliten der Stadt verpflege, was nicht zum Aufgabengebiet des Krankenhauses gehöre; daher forderte man die Erweiterung der Charité um die Anzahl der für Berliner Sieche und Invalide reservierte Betten oder deren Verlegung in eine eigene (städtische) Anstalt.

Siehe die Ausführungen von Johann Nepomuk Rust an die Stadtverordneten-Versammlung aus Januar 1830 und das Schreiben an den Oberbürgermeister Berlins vom 8. 3. 1830, die Korrespondenz in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401.

Städtische Abgeordnete ließen indes durchklingen, dass man erwäge, in Konkurrenz zur Charité ein eigenes städtisches Krankenhaus zu errichten.

Siehe beispielsweise die Überlegungen im Frühjahr 1835 zur Errichtung eines Aushilfs-Lazaretts in der Nähe der Stadt-Vogtei, nachdem die Charité die Aufnahme von Kranken aus dem Polizeigewahrsam verweigert hatte, die diesbezügliche Korrespondenz in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401, Bl. 181-200; zu den Auseinandersetzungen in: AHU CD, Nr. 971.

Verschärft wurde die Situation mit Ausbruch der Cholera, die in Berlin vom Spätsommer 1831 bis Februar 1832 grassierte und mehr als 1400 Todesopfer forderte.

Zum Ausbruch der Cholera in Berlin siehe Barbara Dettke: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und in den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1995; Olaf Briese: Angst in Zeiten der Cholera. Bd. II: Panik-Kurve, Berlins Cholerajahr 1831/32, Berlin 2003.

Die Cholerakranken wurden im räumlich abgesonderten Pockenhaus der Charité und in provisorisch eingerichteten Lazaretten untergebracht. Auch innerhalb des Krankenhauses war es wiederholt zu Ausbrüchen von Cholera gekommen, wie der Magistrat und Abgeordnete der Stadtversammlung beklagten.

Siehe die Klage eines Vertreters der Stadtverordneten-Versammlung nach der Ankündigung eines Aufnahmestopp von »Irren« und Cholera-Kranken in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401. Zur Unterbringung der Cholera-Kranken siehe Dettke: Asiatische Hydra; Briese: Angst in Zeiten der Cholera II.

Doch erst im Juni 1835 (und nach Fertigstellung des Neubaus) wurde ein Vertrag zwischen der königlichen Charité und der Stadt Berlin geschlossen, der den Konflikt halbwegs befrieden konnte. Er sah vor, dass das Krankenhaus (anerkannte) arme Kranke der Stadt bis zu einer Höhe von 100.000 Verpflegungstagen (zuzüglich einiger Ausnahmen: Geisteskranke, Gefangene, Prostituierte) kostenlos behandelte und jeden weiteren Verpflegungstag zu den regulären Tarifen der Stadt berechnen sollte.

Vgl. zum Rechtsverhältnis zwischen der Stadt und der Charité A. Förster: Denkschrift über das zwischen dem Charité-Krankenhause und der Stadt Berlin bestehende Rechtsverhältniß. Im amtlichen Auftrage bearbeitet, Berlin 1892; allgemein zum Verhältnis der Berliner Gesundheitsinstitutionen Münch: Gesundheitswesen.

Die Vereinbarung stellte einerseits eine vertragliche Handlungsgrundlage für das Verhältnis zwischen Stadt und Krankenhaus dar, generierte jedoch andererseits zahlreiche Konfliktfälle en détail und trug vor allem zur Vermehrung der bereits überbordenden Verwaltungsarbeit im Krankenhaus bei.

Siehe zum Beispiel die regelmäßigen Abrechnungen für die Stadt Berlin in: AHU CD, Nr. 972; sowie die aufwendigen Zusammenstellungen zur Verrechnung der Verpflegungstage der Polizeigefangenen in der Charité (für 1839) in: LAB, A Pr Br Rep. 030, Nr. 20416.

Wegen der unklaren Finanzsituation hatten sich anstehende Reparatur-, Sanierungs- und Bauarbeiten an dem alten Charité-Gebäude verzögert – umso mehr als finanzielle und personelle Ressourcen durch den Bau des neuen Gebäudes gebunden waren. In diese historische und institutionelle Gemengelage sind die oben zitierten Ausführungen des Bauinspektors Hesse und des Regierungsbaurates Mandel einzuordnen.

Normen als Handlungsgrundsätze in Medizin, Unterricht und Wissenschaft

Das oberste Gebot eines jeden Arztes ist, zumindest vom Anspruch her, die Heilung des Kranken und das Wohl der Patienten. An dieser Handlungsmaxime hatte er sich aufgrund des Hippokratischen Eides auszurichten.

Vgl. hierzu die beiden grundlegenden medizinethischen Werke, die den Untersuchungszeitraum einrahmen: Thomas Percival: Medical Ethics; or, a Code of Institutes and Precepts, Adapted to the Professional Conduct of Physicians and Surgeons, London 1827 (OA 1807); Albert Moll: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit, Stuttgart 1902; sowie im historischen Überblick Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004; und als Teil der heutigen Ausbildung Klaus Dörner: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart 2001.

Auch wenn im Untersuchungszeitraum normativer Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklafften, konnten die in der Charité beschäftigten Ärzte ihre Augen nicht vor den dort herrschenden Zuständen verschließen. Zwar war 1835 mit der sogenannten »Neuen Charité« ein zweiter Krankenhausbau fertiggestellt worden, allerdings sollte dieser die Belegzahlen normalisieren, d. h. die Kluft zwischen »Normal-Numerus« und »Wirklichem Numerus«

Siehe die wöchentlichen Aufstellungen der Bettenbelegung für 1832, differenziert in Soll- (Normaler Numerus) und Ist-Belegung (Wirklicher Numerus), in: AHU CD, Nr. 1233 und 1348.

verringern helfen. Zudem bot sich jetzt die Gelegenheit, das Gebäude der völlig unzureichenden »Alten Charité« von Grund auf zu sanieren. Zuletzt – und hierbei handelt es sich eher um ein institutionelles Argument – reichten die ehedem ungenügenden Ökonomie-Gebäude bei Weitem nicht mehr aus, um zusätzliche Patienten und Personal auskömmlich zu versorgen.

In den 1830er-Jahren, in denen sich die Medizin zunehmend an den empirischen Methoden der Naturwissenschaften orientierte, mit der Kuhpocken-Impfung erste therapeutische Erfolge vor weisen konnte und man chirurgische Verbesserungen auch klinisch erprobte,

Zur Verwissenschaftlichung der Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe die Überblickswerke von William F. Bynum u. a. (Hg.): The Western Medical Tradition 1800 to 2000, Cambridge 2006; Wolfgang U. Eckart: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin 22011.

wurde ein Krankenhaus, dass einen verpesteten Geruch verströmte, zunehmend problematisch. Anspruch und Wirklichkeit klaffte auch in der Lehre auseinander, wenn man hohe Kolleggelder zahlenden Studierenden keine entsprechende klinische Lehre und Demonstrationen (erfolgreicher Fälle) bieten konnte und der klinische Unterricht litt beziehungsweise durch die Überbelegung mit »ungeeigneten Fällen« (gemeint sind hier die Hospitaliten) der klinische Unterricht erschwert wurde.

Siehe z. B. die Zustimmung Friedrich Wilhelms III. auf den Bericht des preußischen Kultusministers Altenstein vom 6. 6. 1835: »Auf Ihren Bericht vom 30ten April d. J. erkläre ich mich Ihrer Meinung einverstanden, daß den hiesigen Stadtgemeinden eine Befugnis die Charité zum [unleserlich, der] Armen-Verwaltung unbeschränkt zu benutzen, nicht zugestanden, auch nicht gestattet werden kann, da dem bei der Gründung dieser Anstalt beabsichtigten Zwecke, darin zugleich für das Bedürfniß eine medicinische Unterrichts- und Bildungsanstalt zu sorgen, durch die Aufnahme einer unverhältnismäßigen Anzahl hierzu nicht geeigneten Kranken beeinträchtigt werden.« GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240.

Dies galt ebenso für klinisch-therapeutische Versuche, wenn etwaige Heilerfolge durch Kreuzinfektionen torpediert wurden und dies letztlich auf die Reputation des behandelnden Arztes zurückfiel.

Normative Eigenlogik der Institution – die Notwendigkeit zur Sanierung und Erweiterung des Krankenhauses aus Perspektive der Charité-Leitung

Als leitender Arzt der Charité war Johann Nepomuk Rust diesen medizinischen Normen guter medizinischer Praxis verpflichtet. Als Präsident des Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten verfolgte er allerdings weitere – und mitunter medizinischen Grundsätzen zuwiderlaufende – Ziele, die sich an institutionellen Begründungszusammenhängen (und -notwendigkeiten) orientierten. Als Geheimer Ober-Medizinalrat im preußischen Kultusministerium (seit 1821) und Leibarzt der königlichen Familie hatte er nicht nur besonderen Zugang zur Regierung, sondern er war auch Teil der Regierung. In gewisser Weise verhandelte er als »Erster Arzt« der Charité und in Personalunion zugleich auch als Präsident der vorgesetzten Aufsichtsbehörde stets mit sich selbst.

Zu Rust siehe Horst Fritze: Die Bedeutung von Johann Nepomuk Rust (1775–1840) als Medizinalbeamter, Berlin 1984; Horst-Peter Wolff: Johann Nepomuk Rust (5. April 1775 – 9. Oktober 1840), in: Schriften aus dem Institut für Pflegegeschichte 56 (1995), Heft 3. Als leitender Arzt der Charité und zugleich als Vorsitzender des Krankenhaus-Kuratoriums trat Rust zuweilen als Absender und Adressat auf.

Unter seiner Ägide wurde der seit Anfang des 19. Jahrhunderts diskutierte Bau eines zweiten Krankenhausgebäudes – die »Neue Charité« – fertiggestellt sowie der Vertrag mit der Stadt Berlin ausgehandelt und er initiierte, nach Fertigstellung des Neubaus, auch die Sanierung der (1800 fertiggestellten) »Alten Charité« und die Planung eines Erweiterungsbaus.

In der Begründung des Antrags zur Sanierung des alten Gebäudes (und en passant zur Errichtung eines Erweiterungsbaus) Anfang September 1835 musste das Kuratorium eine Vielzahl von Begründungszusammenhängen berücksichtigen beziehungsweise zusammenführen: medizinische Notwendigkeit, öffentliche Sicherheit, die Interessen der Stadt sowie des Krankenhauses und nicht zuletzt, dem entgegengesetzt, die Interessen der preußischen Finanzverwaltung. Der Bericht beginnt daher, den Ist-Zustand in den schwärzesten Farben darzustellen – und einzugestehen, dass das Patientenwohl gefährdet war: Die Sanierung des Altbaus sei nicht nur wegen der Überbelegung notwendig, sondern auch, weil er wegen defekter Türen und Fenster in den Wintermonaten keine ausreichende Unterkunft darstelle. »Es werden mehr Kranke aufgenommen, als nach medicinalpoliceilichen Grundsätzen hätten Unterkunft finden sollen.«

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag«, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5. 9. 1835.

Die Überbelegung war nicht nur unangenehm oder eine theoretische Bedrohung, sondern hatte konkrete Folgen: »Der in Folge von Ueberfüllung der Lokalitäten mit Kranken ausgebrochene Hospitalbrand gab Veranlassung, die Kranken-Aufnahme nach Maaßgabe der Raum-Verhältniße der einzelnen Kranken-Abtheilungen zu beschränken und bei stattfindender vollständiger Belegung der Kranken-Betten nur lebensgefährliche anzunehmen, dagegen leichte Kranke von der Aufnahme zurückzuweisen.«

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240.

Um Abhilfe zu schaffen, habe man eine behelfsmäßige Baracke angemietet und dort 100 Kranke untergebracht sowie das Lazarett im Arbeitshaus stärker belegt. Trotzdem habe man bislang 800 Kranke der Stadt abweisen müssen. Die Räume der Charité reichten, so die Argumentation, für die Aufnahme von Kranken, deren Zahl mit der zunehmenden Bevölkerung in Berlin

Die Bevölkerungszahl war alleine zwischen 1820 (201.900) und 1837 (283.700) um über 40 % gestiegen und sollte bis 1840 um weitere 45.000 Einwohner (auf 328.700) steigen, siehe im Berliner Adressbuch den Anhang Statistik 1877.

und infolge dessen mit der vermehrten Zahl bedürftiger Kranken »unverhältnismäßig gewachsen ist«, nicht mehr aus. Der Gesundheitszustand und das Leben des »Publikums« beziehungsweise der »vielen unbemittelten Kranken, die nirgends eine Unterkunft finden konnten, und von denen manchen [sic] auf Bodenräumen und in unheizbaren Keller-Wohnungen erfrieren« müssten, seien bedroht, wenn man nicht Abhilfe schaffe.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5.9.1835.

Das Krankenhaus hatte, folgt man dem Kuratorium in seiner Begründung, die Wahl zwischen Pest und Cholera: Nahm man die Patienten nicht auf, drohte ihnen unter Umständen der Tod; nahm man sie auf, drohte die Krankenhausordnung wegen Überfüllung endgültig zu kollabieren. Die Überfüllung hatte mit der gefürchteten und oft tödlich endenden Wundinfektion, die auch bereits in Vernarbung befindliches Gewebe angreifen konnte und vermeintlich unbedeutende Wunden tödlich enden ließ,

Die Entzündung, Vereiterung und Nekrose von Wundgewebe führte zu einer starken, von den Zeitgenossen als Pestgestank charakterisierten Geruchsentwicklung. Bis zur Einführung und Durchsetzung der Asepsis in den 1870er- und 1880er-Jahre blieben Hospitalbrand und Wundinfektionen eine gefürchtete Gefahr in Krankenhäusern und Lazaretten, siehe Georg Hartog Gerson: Ueber den Hospitalbrand, nach eigenen während des spanischen Befreyungskriegs und in Belgien gemachten Erfahrungen, Hamburg 1817; Franz Zaborsky: Der Hospitalbrand. Eine Preisschrift, Agram 1850; Anton Julius Friedrich Rosenbach: Der Hospitalbrand, Stuttgart 1888.

konkrete, gesundheitsschädliche Auswirkungen. Die Tatsache, dass das Kuratorium dies gegenüber der vorgesetzten Behörde offen ansprach, zeigt, dass dieser Missstand bereits in der Öffentlichkeit diskutiert wurde und die Reputation einer königlichen Einrichtung gefährdete. Nun hätte man den Umstand der Überfüllung vor Juni 1835 und der vertraglichen Einigung zwischen Stadt und Charité als Druckmittel verwenden können. Aber mit dem Vertrag hatte man nun auch eine Verantwortung als städtisches Krankenhaus, die das Kuratorium in dem Antrag gegenüber dem Ministerium als Argument einsetzte, um neue Räume beziehungsweise einen Erweiterungsbau für die Aufnahme von Kranken zu fordern, dessen Einrichtung nicht länger verschoben werden könne, »weil das hiesige königliche Polizei-Präsidium [als oberste Behörde der Armen-Verwaltung] und die hiesige Stadt nunmehr das Recht haben zu verlangen, daß ihre Kranken, wenn auch nicht ganz umsonst wie bisher, doch gegen Entrichtung der Verpflegungs-Gebühren aufgenommen, und nicht länger, wie bisher, in den Schlafstellen, Kellern und Bodenräumen dem Verderben Preis gegeben werden«. Auch ließe sich die Belegung des neuen Charité-Gebäudes nicht länger verschieben, weil das alte Charité-Gebäude einer durchgängigen Reinigung bedurfte, »um das durch vieljährige Ueberfüllung mit Kranken dort hervorgerufene Hospital-Brand-Contagium zu entfernen, damit die königliche Charité-Anstalt endlich einmal aufhöre, eine Pesthölle zu seyn. Eine solche gründliche Reinigung des alten Charité-Gebäudes ließ sich aber nur dadurch bewirken, daß wir dasselbe auf einige Zeit von Kranken befreiten, und diese im neuen Gebäude unterbrachten«.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5.9.1835.

Der Antrag macht erstens deutlich, dass wegen der anhaltenden Überbelegung eine gesundheitliche Gefahr bestand. Im Unterschied zu früher beklagten Cholera-Ausbrüchen

Siehe die Klage eines Vertreters der Stadtverordneten-Versammlung nach Rusts Bericht 1831 vor der Versammlung und Ankündigung über einen Aufnahmestopp von »Irren« und Cholera-Kranken, in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401 (Acten der Stadtverordneten zu Berlin betr. die Charité).

war Hospitalbrand zwar auf das Krankenhaus begrenzt, aber die Adressaten werden die Bedrohung durch ansteckende Krankheiten – insbesondere der Cholera-Epidemie 1831/1832 – bildhaft vor Augen gehabt haben,

Zur Choleraepidemie 1831/1832 in Berlin und Deutschland siehe Dettke: Asiatische Hydra; Olaf Briese: Angst in Zeiten der Cholera. Bd. I: Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums, Berlin 2003; Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek 1990.

so dass die Bedeutung funktionierender Krankenhäuser für die individuelle, aber insbesondere für die öffentliche Gesundheitspflege keiner weiteren Erläuterung bedurfte. Zweitens wies die Begründung des Antrags darauf hin, dass der Staat und die Stadt ihrer Schutzpflicht gegenüber den Untertanen nicht oder nur ungenügend nachkamen, wenn sie in Kauf nahmen, dass Kranke mangels Pflege in ihren Unterkünften starben. Auch hier wird den Adressaten die Gefahr öffentlicher Unruhen in Folge der Epidemien

Zu Tumulten im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Cholera siehe Dettke: Asiatische Hydra, S. 278–291; Briese: Angst in Zeiten der Cholera I; Olaf Briese: Defensive, Offensive, Straßenkampf. Die Rolle von Medizin und Militär am Beispiel der Cholera in Preußen, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 16 (1997), S. 9–32; Evans: Tod in Hamburg; Richard J. Evans: Epidemics and Revolutions. Cholera in the Nineteenth-Century Europe, in: Past and Present 120 (1988), S. 123–146 und Peter Baldwin: Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 1999.

oder allgemeiner Unzufriedenheit in der Bevölkerung klar gewesen sein.

Zur Bedrohung der herrschenden Ordnung durch die Latenz von Unruhen im Vormärz Wolfgang Hardtwig: Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985; Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011; und Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Bürgerwelt und starker Staat, München 2013.

Darüber hinaus wurden spätestens seit Johann Peter Franks Ausführungen zu einem umfassenden System medizinischer Polizei funktionierende Krankenhäuser als essenzieller Bestandteil des Gesundheitssystems erachtet und die öffentliche Gesundheitspflege wiederum als Voraussetzung für ein prosperierendes Staatswesen.

Von der Heilkunst und dessen Bedeutung für das Wohl des Staates siehe Johann Peter Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey, 6. Bd. Teil I und II: Medicinalwesen, Wien 1817; die Bedeutung von Krankenhäusern für den Staat erörtert bereits Adalberg Friedrich Marcus: Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat, Bamberg 1790. Rust selbst definierte als maßgebliches Ziel der Medizinalverwaltung: »für das Leben und die Gesundheit der Staatsbürger Sorge zu tragen«. Hierzu müsse man hinreichend Ärzte ausbilden, medizinische Unterrichtsanstalten unterhalten und/oder schaffen und der Staat müsse »gleichsam selbst als Arzt auftreten« und »den Erkrankten geradezu die erforderliche Hülfe angedeihen lassen«, z. B. in öffentlichen Heilanstalten, siehe Johann Nepomuk Rust: Die Medicinal-Verfassung Preußens, wie sie war und wie sie ist, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen aus dem Gebiete der Medicin, Chirurgie und Staatsarzneikunde, Bd. 3, Berlin 1840, S. 1–200, hier §§ 5 und 15. Zur Medizinalpolizei siehe Caren Möller: Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005. Zur Entwicklung des Medizinalwesens im Kontext der Aufklärung und als Teil der »Guten Policey« siehe Christian Barthel: Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989; Johannes Wimmer: Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den habsburgischen Erblanden, Wien 1991; und die Beiträge in Bettina Wahrig / Werner Sohn (Hg.): Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850, Wiesbaden 2003.

Schließlich argumentierte das Kuratorium normativ-rechtlich und begründete die Notwendigkeit zur Erweiterung der Charité damit, dass man, nachdem man den Vertrag mit der Stadt Berlin über die Versorgung ihrer unbemittelten Kranken abgeschlossen habe, nun auch zur Aufnahme der armen Kranken verpflichtet sei.

In der Vergangenheit hatten Mediziner und Öffentlichkeit immer wieder über die unhaltbaren hygienischen und medizinischen Zustände in der Charité geklagt und eine bessere Ausstattung des Krankenhauses angemahnt; und diese Monita brachte der erste Arzt der Charité, Johann Nepomuk Rust, nun zum Ausdruck. Doch mit der Feststellung der Missstände und der Forderung nach Besserung allein war es nicht getan. Medizinischer Rationalität und dem Grundsatz der besten medizinischen Praxis zum Wohl des Patienten und der Bevölkerung stand der finanzpolitische Grundsatz sparsamen Handelns gegenüber. Zudem mussten die als notwendig erachteten Maßnahmen zur Behebung der hygienisch-medizinischen Missstände in einen ministeriellen Antrag übersetzt werden, der wiederum administrativen Regeln entsprechen musste.

Medizinische Notwendigkeiten, administrative Normen und finanzielle Grundsätze zwischen Kollision, Konflikt und Handlungspraxis

Indem der Antrag zur Begründung der Bedürfnisse und der Erweiterung der Charité mehrere Aspekte aufnahm, erfüllte er auch mehrere Funktionen: Zum einen sollte der Antrag auf Grundsanierung des alten Gebäudes und Erweiterung der Bettenkapazitäten die Bewilligung zusätzlicher Investitionsmittel begründen und legitimieren. Zudem ging es auch darum, das Krankenhaus zu entlasten – die beklagenswerten (beziehungsweise öffentlich angeklagten) Zustände im Krankenhaus seien nicht dessen Leitung anzulasten, sondern in der dauerhaften Überbelegung begründet, die wiederum aus dem anhaltenden Bevölkerungswachstum resultierte, sowie aus dem Umstand, dass man aufgrund der vertraglichen Verpflichtung gegenüber der Stadt (unbemittelte) Kranke eigentlich nicht mehr abweisen konnte. Weiterhin ging es auch darum, eine sich abzeichnende Überziehung des regulären Etats zu erklären, denn man hatte, um Abhilfe zu schaffen und Schlimmeres zu verhindern, eine Baracke angemietet, um dort vorläufig 100 Kranke unterzubringen. Um zu erwartende Rügen aus dem Finanzministerium, dass man leichtfertig eine Überschreitung des Etats in Kauf genommen hatte, vorab zu entkräften, wurde überdies erwähnt, dass man das Lazarett im Arbeitshaus stärker belegt und darauf verzichtet hatte, ansonsten in der Charité zu behandelnde kranke Gefangene dorthin zu überführen. Zugleich hatte man mit der Anmietung zusätzlicher Baracken Tatsachen geschaffen – die Miete externer Räume konnte als Argument dienen, um eine zusätzliche Investition (und infolge dessen die Einsparung laufender Kosten wie Miete) zu rechtfertigen.

Der bereits 1834 genehmigte Bau des als Isolierstation für ansteckende Krankheiten verwendete Pockenhauses ließ sich nach der Cholera-Epidemie nicht nur gesundheitspolitisch rechtfertigen, sondern auch fiskalisch: denn jährlich mussten 700 Reichsthaler (bzw. eine weit höhere Summe nach Ablauf des Zehnjahresvertrags und bei geplanter Erweiterung) an Miete aufgebracht werden und beim Bau eines eigenständiges Gebäudes entfiele dieser regelmäßige Aufwand, zur Kalkulation des Baus siehe AHU CD, Nr. 1792.

Die oben ausgeführte Begründung des Antrags auf Erweiterung der Charité und die eingangs zitierten Berichte des Bauinspektors Hesse und Regierungsbaurates Mandel waren Teil eines größeren Komplexes von Schriftstücken, die die Grundsanierung der »Alten Charité« und die Erweiterung des Krankenhauses legitimieren sollten. Ein Ausgangpunkt für den Bericht ist nur schwer auszumachen – den unmittelbaren Anlass könnte zum einen der Einsturz eines Schuppens der Charité-Ökonomiegebäude im Juli 1835 und die Prüfung der umliegenden Gebäude geboten haben.

Siehe den Bericht vom 9. 7. 1835 über einen eingestürzten Schuppen und die Befürchtung, dass sämtliche Schuppen bald einstürzen könnten, in der Akte betr. die zu erbauenden Charité-Oekonomie und Remisen-Gebäude, 1835–1845, in: AHU CD, Nr. 1794.

Zum zweiten bot sich mit Fertigstellung der »Neuen Charité« 1835 die einmalige Gelegenheit, das alte Gebäude (die »Alte Charité«) nicht gleich mit zusätzlichen Kranken zu belegen, sondern zunächst die Kranken des alten in das neue Gebäudes zu verlegen und das alte, geräumte Gebäude grundlegend zu sanieren. Doch abgesehen von konkreten Anlässen wurde wegen der ständigen Überbelegung des alten Gebäudes der Bau eines zweiten Gebäudes (eben der »Neuen Charité«) seit Jahrzehnten diskutiert. Der als notwendig erachtete Bau eines zweiten Gebäudekomplexes wurde jedoch immer wieder verworfen und aufgeschoben und erst 1831 mit dem Bau begonnen.

Siehe Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 68–71.

Den Ausschlag für die Entscheidung zum Bau der »Neuen Charité« im September 1831 gab indes nicht (oder nicht nur) die medizinische Dringlichkeit im Kontext der katastrophalen Cholera-Epidemie; vielmehr war es die auf die Epidemie folgende Wirtschaftskrise und damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit in der Berliner Bevölkerung, die dem König Sorge bereitete und den Bau als öffentliches Beschäftigungsprogramm sinnvoll erscheinen ließ.

»Se. Maj. der König haben zu befehlen geruht, die schon längst beabsichtigte Erweiterung des Charité-Krankenhauses sogleich in Ausführung zu bringen, damit eben sowohl der bedürftigen Arbeiterklasse ein gewisser Erwerb gesichert, als dem steigenden Bedürfnisse zur Unterbringung einer größeren Anzahl von Kranken begegnet werde.« Bericht vom 5. September, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 75, 9. 9. 1831 (zit. nach Briese: Angst in Zeiten der Cholera II, S. 138; siehe auch Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 68–71; Dettke: Asiatische Hydra, S. 259f.

Doch schon vor Fertigstellung des Krankenhausneubaus 1835 zeichnete sich bereits ab, dass die Dimensionen zu klein geplant waren. Allerdings hatte sich durch den Vertrag mit der Stadt Berlin eine neue Situation ergeben: nämlich die Verpflichtung, dass man auch die unbemittelten Kranken der Stadt verpflegen musste. Andererseits ließe sich auch argumentieren, dass zusätzliche Krankenbetten und die daraus resultierenden Verpflegungstage zusätzliche Einnahmen bedeuten würden.

Dies ergibt sich aus den Kalkulationen der Einnahmen und Ausgaben, die auch die 100.000 Verpflegungstage mit einrechnete. Eine Einnahme ergab sich eben erst mit jedem Tag über die 100.000 Tage hinaus, so dass eine Erweiterung der Bettenkapazität zu zusätzlichen Einnahmen führen würde. Dies wurde auch in dem neuerlichen Antrag auf Erweiterung 1836 eingepreist mit der Annahme, dass die Stadt Berlin, der nur 100.000 »ganz freie Verpflegungstage für ihre armen Kranken zugestanden worden sind, für die stärkere Benutzung der Kranken-Anstalt aufkommen muß, auch den taxmäßigen Satz von 7 ½ Sgr. pro Tag.« Nach den bisher gemachten Erfahrungen dürfte bei einer »erhöhten etatsmäßigen Krankenzahl von 780 auf 950 […] das überschrittene Maaß der Benutzung der Kranken-Anstalt etwa 56.180 Verpflegungstage oder zu Geld berechnet 14.045 Tlr ausmachen und die übrigen 11.155 Tlr von anderen Kommunen angehörigen Kranken eingezogen werden können.« GStA PK HA I, Rep. 76 VIII D, Nr. 240.

Die im Antrag angeführten ärztlichen Beschwerden, medizinischen Notwendigkeiten, Appelle und öffentliche Klagen zur Begründung der Grundsanierung des alten Krankenhausgebäudes (beziehungsweise des Gebäudekomplexes mit Leichenhaus und Ökonomie-Gebäude) und zur Erweiterung der Charité um 200 Betten, um die Missstände und ungenügenden hygienischen Zustände in der Charité beheben zu können, waren jedoch allein nicht ausreichend. Zur Legitimation zusätzlicher Aufwendungen musste der Antrag administrativen Normen und Verfahrensprozessen entsprechen. Die als Antrag formulierte Begründung war Teil dieses Prozesses

Hinzu kommt der formalisierte Aufbau des Antrags als administratives Kanzlei-Schriftgut wie Anrede, Betreff oder Wiederholung einer Aufforderung zur Äußerung mit Nennung des Erlasses und Geschäftszeichen, die Beantwortung früherer Anfragen, Schlussformel mit Zusammenfassung der Ergebnisse oder Anfrage etc. Da dies allgemein für die Schriftstücke der Ministerialverwaltung gilt, wird dies hier nicht weiter ausgeführt. Entscheidend ist im Rahmen solcher Anträge jedoch, dass durch Rückfragen wie z. B. detaillierteren Kostenaufstellungen der Prozess der Entscheidungsfindung hinausgezögert (bzw. verzögert) werden konnte. Dies führte bisweilen dazu, dass solche Taktiken antizipierend, bereits im Vorfeld eines Antrages zahlreiche Anlagen zur Erläuterung des Antrags mitgeliefert wurden, siehe unten.

und wurde durch externe Gutachten bestätigt, nämlich durch die eingangs zitierten Baugutachten, die eine Handlungsnotwendigkeit konstatierten. Technische Sachgutachten durch externe Sachverständige beziehungsweise hinzugezogene sachkundige Beamte sollten den Tatbestand ›objektiv‹ verifizieren und die Legitimität des Antrags erhöhen.

Zur Bedeutung technischer Sachgutachten im Prozess der Entscheidungsherbeiführung und -findung siehe die Einleitung und die Beiträge von Volker Hess sowie Axel C. Hüntelmann in Alexa Geisthövel / Volker Hess (Hg.): Medizinisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis, Göttingen 2017.

Weiterhin enthielt der Antrag eine detaillierte Kalkulation im Hinblick auf die aus der Mehrbelegung entstehenden Kosten und Einnahmen und den zusätzliche Finanzbedarf (differenziert in 150 und alternativ 200 Betten) auf Grundlage des Jahresetats 1834/1836.

Eine erste Kalkulation (Punkt III) im Antrag »Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend« vom 5. 9. 1835 reichte nicht aus und musste detailliert aufgeschlüsselt werden, siehe GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Promemoria: Die Bedürfnisse der Charité-Kranken-Anstalt betreffend, Anlage A: Überschlag der Kosten, welche bei Einrichtung des neuen Gebäudes die Beschaffung von 200 neuen Lagerstellen erfordern wird«, 17. 10. 1835.

Rekurrierend auf die Vorlagen des Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten beantragte das Kultusministerium im Oktober 1835 verschiedene Zuschüsse für die Charité: erstens ein Zuschuss in Höhe von 8500 Thaler für die Einrichtung der »Neuen Charité«; zweitens ein etatmäßig jährlicher Zuschuss in Höhe von 20.000 Thaler zum Unterhalt von 200 Krankenbetten beziehungsweise für die Mehraufnahme und Verpflegung von jährlich zwei- bis dreitausend Kranken; und drittens einen »extraordinären« Zuschuss in Höhe von 25.000 Thaler auf zwanzig Jahre (oder alternativ 20.000 auf fünf Jahre) zur Verbesserung baulicher Maßnahmen. In der sachlichen Begründung folgte das Ministerium im Wesentlichen der vom Kuratorium beziehungsweise von der Charité vorgegebenen Linie und fügte als Anlagen die ebenfalls vom Kuratorium erstellten Kostenberechnungen nebst Erläuterungen für die Einrichtung des bereits errichteten Gebäudes sowie für die zusätzlich notwendigen zweihundert Bettstellen (differenziert in Personal und Verpflegung) bei.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Promemoria: Die Bedürfnisse der Charité-Kranken-Anstalt betreffend« mit den Anlagen A–G, Geh. Reg. Rat Credé (MGUMA), 17. 10. 1835.

Zweifellos war es ein kluger Schachzug des Geheimen Rats Wilhelm Ludwig Credé, zwei alternative Zuschüsse für die Erweiterung anzubieten, vermutlich in der Annahme, dass der höhere (aber dafür auf zwanzig Jahre gestreckte) Betrag abgelehnt und der geringere Betrag (dafür binnen fünf Jahren mit höheren Beträgen) bewilligt würde. Weniger klug war es indes, Zuschüsse für die Einrichtung eines jüngst errichteten Gebäudes gleichzeitig mit einem »extraordinären« Zuschuss für einen weiteren Bau beziehungsweise bauliche Verbesserungen zu verquicken.

Man kann annehmen, dass der Antrag für die Bewilligung eines Nachtragshaushaltes für die Charité für 1836 alle Posten enthalten sollte (und nicht eine Vielzahl von Anträgen).

Es kam wie es kommen musste: Der gesonderte Zuschuss für die neuerliche Erweiterung wurde durch Rückfragen und die Suche nach Finanzierungsalternativen hinausgezögert

Zwar wurde die Erweiterung zunächst für den Haushalt bewilligt, dann allerdings wieder von der Königlichen Ober-Rechnungs-Kammer mangels finanzieller Mittel abgelehnt mit dem Vorschlag, frühere Überschüsse (die längst anderweitig verausgabt waren) zu verwenden, erforderliche Baukosten aus anderen Fonds und die Übertragung finanzieller Mittel zu bestreiten und ggf. zu überlegen, die notwendigen Mittel durch den Verkauf von Krankenhausgrundstücken zu erzielen, siehe z. B. das Schreiben von Altenstein (MGUMA) an den preußischen Finanzminister Albrecht von Alvensleben am 19. 4. 1836 mit Bezug auf den Bericht des Kuratoriums für Krankenhaus Angelegenheiten wegen Dringlichkeit der für die Charité beabsichtigten Neubauten und die Unmöglichkeit die Kosten dieser Bauten und der Einrichtung des neuen Charité-Gebäudes aus dem »eigenthümlichen Fonds der Anstalt zu bestreiten« und bei seiner Majestät zu beantragen, die Überweisung zu bewirken. Siehe weiterhin die Ausführungen für den ordentlichen Etat 1837–1839 (Titel 24b), in dem Gelder für die Sanierung des Ökonomie-Gebäudes und des Pockenhauses diskutiert werden (für dessen Neubau bereits Bau-Stellen verkauft worden seien), in: GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240.

und ein Jahr später wurde die Erweiterung im Oktober 1836 mit dem gleichen Lamento erneut beantragt: Wegen Überbelegung und zahlreichen Fällen von Hospitalbrand entspreche der Aufenthalt in der Charité nicht mehr polizeilichen Grundsätzen und sei als »lebensgefährlich« einzustufen, so dass man leichte Kranke (zu ihrem eigenen Schutz) abweise.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Erläuterungen des Kuratoriums für Krankenhaus-Angelegenheiten zum Entwurf für einen Erweiterungsbau an das MGUMA«, 24. 10. 1836.

Ein weiteres Jahr später, im Mai 1837, teilte das preußische Kultusministerium dem Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten mit, dass der König die Anträge auf Bewilligung der Zuschüsse zur Erweiterung der Charité »abzulehnen geruht habe[n]«.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, MGUMA an das Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten, 9. 5. 1837.

Zudem drehte man den 1837 den Spieß um: zwar liege die Charité in der finanziellen Zuständigkeit des preußischen Staates, diene aber städtischen Bedürfnissen und mit Entgegenkommen der Gewährung freier Verpflegungstage für die kranken Armen der Stadt verwies man darauf, dass es nicht angehen könne, dass die königliche Charité nach 1835 für die aus den Bedürfnissen der Stadt Berlin (der steigenden Bevölkerungszahl) erwachsende Erweiterung aufkommen solle, sondern dass diese aus städtischen Mitteln gezahlt werden müssten.

Der König erachtete den erbetenen Zuschuss »zur Zeit weder hinsichts des Bedarfs, noch der Höhe der Summen, für motiviert« und brachte hierfür finanztechnische und buchhalterische Aspekte in Anschlag:

Erstlich muß nach den Zwecken der Anstalt der Umfang der Bauten und Erweiterungen, welche noch beabsichtigt werden, hinsichts ihrer Unabweislichkeit festgestellt, so dann nachgewiesen werden, daß der Bedarf, welchen die weiteren Erörterung ergeben wird, weder aus dem laufenden Etat, noch aus dem Capitalvermögen der Anstalt gedeckt werden kann; zu dem letzteren gehört auch der Ertrag aus dem Verkauf der Baustellen etc. pp. welcher schon eingegangen ist, und präsumptiv noch eintreffen dürfte. Insbesondere mache Ich darauf aufmerksam, daß die Anschaffung neuer Fenster, Thüren, Oefen und Dielen im alten Charitégebäude ganz eigentlich zu den Obliegenheiten des laufenden Etats gehört und daß ein entsprechender Plan aufzustellen ist, wonach diese zur Kategorie der laufenden Reparaturen gehörigen Gegenstände nach und auch abschnittweise ausgeführt werden sowie die Dotation des Etats es zuläßt. Nicht minder muß für die Oekonomiegebäude das geschehen, was nöthig ist, um einen Unfalle vorzubeugen. Hiernach überlasse Ich der näheren administrativen und technischen Erwägung, die Aufstellung eines den Bedürfnissen der Anstalt entsprechenden Planes, sowie die Anordnung zur Veranschlagung der Kosten, namentlich hinsichts der Oekonomie-Gebäude, […], daß das Dringendste zunächst ausgeführt wird. Ich sehe demnächst über die Angelegenheit Ihrem weiteren Berichte entgegen, indem Ich Mir nach den Resultaten, welche daraus hervorgehen werden, die Entscheidung vorbehalte, ob Ich zu dem Behuf überhaupt einen außergewöhnlichen Zuschuß bewilligen werde und in welchem Betrage.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Abschrift der königlichen Entscheidung als Anlage zum Schreiben MGUMA an das Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten, 9. 5. 1837.

Ohne die weiteren Irrungen und Wirrungen von Beantragung und Ablehnung, erneuter Beantragung mit erweiterter Begründung im Detail zu verfolgen, zeigt der kurze Ausschnitt aus den Verwaltungs- und Finanzakten des Kultusministeriums (und den Akten der Charité-Direktion), dass die administrativen Begründungszusammenhänge einer ganz anderen Zeitlichkeit und ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als denen in der Medizin gültigen folgten. Zunächst gilt es festzuhalten, dass der Antrag auf Grundsanierung und Instandsetzung des alten Gebäudekomplexes und Erweiterung des nun nicht mehr ganz so neuen Gebäudes über zwei Jahre lang abgelehnt wurde. Doch man kann außerdem konstatieren, dass sich die administrativen Gesetzmäßigkeiten zwar einerseits in mehrerlei Hinsicht von der Realität entkoppelt hatten, andererseits aber die Medizin (und hier in der Institution des Kuratoriums für Krankenhaus-Angelegenheiten und die Charité) die administrativen Gesetzmäßigkeiten antizipierte, entsprechend ihren Grundsätzen und Notwendigkeiten nach eigenen Gesetzmäßigkeiten handelte und einfach auf der Grundlage der Macht des Faktischen agierte. Denn während sich der Verwaltungsakt um die Bewilligung der Grundsanierung und Erweiterung hinzog, hatte die Charité-Verwaltung bereits damit begonnen, einen provisorischen Erweiterungsbau und ein Pockenhaus

Der Bau des Pockenhauses war bereits 1834 bewilligt worden, da ein 1827 geschlossener Vertrag zur Anmietung eines als Isolierstation verwendeten Gebäudes 1837 auslief, siehe die Akten zum Bau des Pockenhauses in: AHU CD, Nr. 1792.

zu bauen, um die steigende Anzahl von Patienten unterzubringen. Ähnliche Verwaltungsvorgänge lassen sich auch für die 1840erund 1850er-Jahre finden, während die Charité Bau um Bau fertigstellte, wie der damalige Direktor der Charité, Oskar Scheibe, zum zweihundertjährigen Jubiläum der Charité stolz aufzählte: das Pockenhaus 1836/1837, das neue Waschhaus mit Dampfbetrieb 1839/1840 (durch den Verkauf der ehemals zur Charité gehörenden Brauerei und Meierei), in den 1840er-Jahren ein neues Leichenhaus (mit Leichenschaustelle, 1856 ergänzt um das Pathologische Institut) und eine neue Großküche, 1854 ein neues Gebär-Institut, 1851 schließlich war der Behelfsbau zur Unterbringung von Kranken in ein sogenanntes (festes) Sommerlazarett umgewandelt und 1867 um ein weiteres Barackenlazarett für chirurgisch Kranke ergänzt worden.

Siehe Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 72; weiterhin die Bauakten zu den einzelnen Gebäuden in: AHU CD.

Dass die verschiedenen Krankenhausgebäude letztendlich doch gebaut und in den späten 1830erund 1840er-Jahren vollendet werden konnten war jedoch nicht allein dem beherzten Verwaltungshandeln der Charité-Leitung und der Schaffung von Fakten geschuldet, sondern die Macht des Faktischen beruhte (auch und vor allem) auf der steten Zunahme der Patientenzahlen, die wiederum aus der Zunahme der Einwohnerzahlen in Berlin (von 265.122 Einwohnern 1834 auf 409.020 Einwohner 1847)

Siehe Ilja Mieck: Von der Reformzeit bis zur Revolution (1806–1847), in: Wolfgang Ribbe (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 407–602, hier S. 480.

resultierte. In diesem Zusammenhang ist die Erweiterung der Charité-Gebäude auch im Kontext des städtischen Ausbaus der Infrastruktur zu sehen.

Vgl. Mieck: Von der Reformzeit bis zur Revolution, S. 478–523.

Um die verschiedenen Rationalitäten, Gesetzmäßigkeiten und Regularien in der Medizin und der Ministerial- und Finanzverwaltung auszugleichen, balancierte die Charité-Verwaltung auf dem schmalen Grat zwischen Ignorieren, Lavieren und Antizipieren. In dem Antrag zur Bewilligung zusätzlicher finanzieller Mittel musste das Kuratorium Erfahrungen vergangener (abgelehnter) Anträge und die im Finanzministerium und der Ober-Rechnungskammer zuwiderlaufenden Gebote der Sparsamkeit berücksichtigen, indem die Lage so drastisch wie möglich geschildert wurde: Es gäbe Hospitalbrand, Pestilenz-Gestank; das Ökonomie-Gebäude müsse wegen Einsturzgefahr schon mehrfach gestützt werden – da nimmt es Wunder, dass das Gebäude bei der erneuten Antragstellung ein Jahr später überhaupt noch stand. Derartige drastische Schilderungen zielten – aufgrund der vermeintlich zwangsläufigen Notwendigkeit und Dringlichkeit – auf die (alsbaldige) Bewilligung der Mittel (und, wie oben erwähnt, bei Ablehnung des Antrags auf Entlastung von Verantwortlichkeit) – weniger drastische Schilderungen führen dazu, dass andere Projekte als dringlicher erachtet wurden und Vorrang hatten.

So wurde beispielsweise die Begründung für die Erhöhung des Baufonds 1852 kritisiert, da sie nicht hinreichend erscheine, um die Erhöhung zu rechtfertigen, siehe GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußisches Finanzministerium an MGUMA, 22. 3. 1852.

Der Einwand des Königs wiederum, dass die Abnutzung von Boden oder Einrichtungsgegenständen im regulären Etat enthalten sei, widersprach der gängigen Praxis, dass die Königliche Ober-Rechnungskammer in der jährlichen Revision jeden Pfennig, der sich nicht am absoluten Minimum orientierte, in umfassenden Monita-Listen beanstandete.

Siehe die zahlreichen Monita in den jährlichen Protokollen der Königlich-Preußischen Ober-Rechnungskammer über die Abnahme der Rechnungslegung und die Akten zur Rechnungslegung der Charité-Kassen in: AHU CD, Nr. 1400–1403, 1405–1472.

Somit blieb der Krankenhaus-Verwaltung nur, die – zumindest einstweilige – Ablehnung der Sondermittel in der Hoffnung auf spätere oder nachträgliche Bewilligung praktisch zu ignorieren, zumal man mit dem Bau des Pockenhauses und der Erweiterungsbaracken bereits begonnen hatte; man wollte nicht riskieren, dass der Krankhausbetrieb vollends kollabierte.

Nach Ablehnung des extraordinären Zuschusses blieb der Krankenhaus-Verwaltung nur, zu lavieren und verschiedene Haushaltspositionen umzuschichten,

Was nicht ohne Risiko war, da der Rendant und der Inspektor mit ihrem persönlichen Vermögen für Fehlbeträge oder missbräuchlich verwendete Finanzmittel hafteten.

um die benötigten finanziellen Mittel aufzutreiben: Andere Anschaffungen wurden aufgeschoben, aus der Revision von Vorjahren (der Ober-Rechnungskammer) wurden zusätzliche Mittel frei und vor allem hatte die Ober-Rechnungskammer mit dem Hinweis auf den Verkauf von Grundstücken, die zur Charité gehörten, selbst einen Weg gewiesen, zusätzliche Mittel freizusetzen.

Die Charité lag ursprünglich außerhalb der Stadt und war umgeben von Gärten und Feldern. Aufgrund der sich stetig ausdehnenden Stadt wurden ab 1836 immer wieder einzelne Parzellen des Krankenhausgrundstücks verkauft, siehe in: AHU CD die Übersicht über die Veräußerungen der Parzellen des Charité-Gartens (Nr. 2087, 2100, 2114) sowie über den Verkauf der »neuen Charitéparzelle« Nr. 1–11 (Nr. 2117, 2120–2125, 2127, 2128). Der Verkauf der Parzellen geschah nicht eigenmächtig, sondern musste zuvor vom Kultusministerium genehmigt werden.

Die ständige Umwidmung von Haushaltspositionen führte natürlich zu erneutem Unmut seitens der Finanzverwaltung, weil die durch Aufschub anderweitiger Anschaffungen erhaltenen Mittel eben zu einem späteren Zeitpunkt dringlich wurden, wofür dann wiederum Zuschüsse beantragt werden mussten, und weil die Umwidmung mitunter Verwirrung schuf und für die Finanzverwaltung vor allem Mehrarbeit bedeutete.

Für die Ende der 1830er- und 1840er-Jahre errichteten Gebäude waren jeweils separate Anträge mit eigenen Begründungszusammenhängen gestellt worden. Nach verzögernder Klärung von Rückfragen durch das vorgesetzte Ministerium wurde die Genehmigung zum Bau erteilt und gegebenenfalls notwendige außerordentliche Finanzmittel wurden bewilligt. Vom Verfahren her ist der 1835 gestellte Antrag somit typisch. Die Genehmigung erfolgte allerdings zuweilen unter der Bedingung, »daß die königliche Charité-Direction im Stande sein werde, die Kosten für den Bau und die innere Einrichtung [in diesem Fall] des Lazareths, ohne Verstärkung des Zuschusses aus Staats-Fonds aus dem Kapital-Vermögen resp. den disponiblen Ersparnissen der Anstalt werde bestreiten können«

Preußisches Kultusministerium an die Charité-Direction, 3. 5. 1850, in: AHU CD, Nr. 1812 (Acta betr. den Bau eines Sommerlazaretts, Bd. 1 1850).

– im Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und in Finanzangelegenheiten war das Lavieren und Disponieren immanenter – und von der vorgesetzten Ministerialbehörde anerkannter – Bestandteil des Verwaltungshandelns.

1852 wurde es dem Finanzministerium dann zu bunt. Mit der Bitte um »gefällige Auskunft« und Information, »welche von den im vorliegenden Etat aufgeführten Kapitalien zur Erbauung des Sommer-Lazarethts eingezogen und verwendet worden sind«, war eine geharnischte Kritik an der fortgesetzten Bautätigkeit und dem »unausgesetzten« Bau von »Luxus-Einrichtungen« verbunden:

Eben so wenig vermag ich [der Finanzminister] anzuerkennen, daß wie in Ew. Excellenz [Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (MGUMA)] geehrtem Schreiben angedeutet wird, die Charité, um als Muster für andere Krankenhäuser zu dienen, unausgesetzt [Unterstreichung MGUMA, Randbemerkung: ? ist nirgends gesagt] mit neuen Einrichtungen vorgehen, und über Geldmittel uneingeschränkt [Unterstreichung MGUMA] müsste verfügen können. Im Interesse der Finanz-Verwaltung kann ich vielmehr nur den dringenden Wunsch [Unterstreichung und unleserliche Randbemerkung MGUMA] ausdrücken, daß die der Charité einsteweilen zu belastende Dotation nicht dazu verleiten [MGUMA Unterstreichung und Randbemerkung: verleiten?] möge, stets neue bauliche Veränderungen vorzunehmen, und Luxus-Einrichtungen [MGUMA Unterstreichung und Randbemerkung: Welche sind das? Weitere Bemerkung unleserlich, es handelt sich vermutlich um Berechnungen pro 1000 Einwohner bezogen auf Tlr] zu treffen.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußisches Finanzministerium an MGUMA (von Raumer), Bezug auf Schreiben vom 31 .7 – und Promemoria und Antwort auf Etat-Minderung und Zuschuß-Verhandlung, 26.8.1852, Ergänzungen in eckigen Klammern durch den Autor.

Mit seiner Interpretation des finanztechnischen und administrativen Handlungsspielraums war der neue Verwaltungsdirektor der Charité, Carl Heinrich Esse, über das Ziel hinausgeschossen. Nachdem Anträge »betreffend die Deckung von Defiziten« durch enervierende Nachfragen, Bitten um Erläuterung und Rügen schließlich de facto abgelehnt worden waren, hatte er das Sakrileg begangen, Kapitalien aufzulösen, um die Defizite (resultierend aus der Bautätigkeit) zu decken, und überdies die Dreistigkeit (aus Sicht des Finanzministeriums) besessen, für den sich in der kommenden Haushaltsperiode abzeichnenden Fehlbetrag aus geringeren Zinserträgen eine Erhöhung des Staatszuschusses zu beantragen.

Siehe die diesbezügliche Korrespondenz zwischen Charité-Direktion, MGUMA und Finanzministerium in GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 243 und 244. Delikat (und korrespondierend zu den »Luxuseinrichtungen«) war aus Sicht des Finanzministeriums auch, dass die Personalkosten um 1.235 Thaler stark gestiegen waren und sich diese Erhöhung nicht (nur) aus der steigenden Anzahl beschäftigten Personen ergab, sondern weil »diese Besoldungen nicht nur die Gehälter der Beamten gleicher Kategorie bei anderen Behörden« und »zum Theil das Einkommen den Ministerial-Beamten [!] übersteigen, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die bedeutenden Enrolemente der Charitébeamten denselben zu einem auffallend geringen Werthe in Anschlag gebracht sind und daher deren Einkommen in der Wirklichkeit sich noch weit höher beläuft, als im Etat angegeben ist.« GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Finanzministerium an MGUMA von Raumer betr. Verzögerung Erstellung Etat und Überlastung bei Erstellung des Staatshaushaltes, 6. 1. 1852.

Verknüpft mit finanztechnischen Fragen und Bezug nehmend auf königliche Promemoria und Kabinettsbeschlüsse vor 1819 diskutierten die Ministerien den Status des Krankenhauses:

Diese Frage wurde indirekt auch in der Ablehnung zusätzlicher Mittel für die Grundsanierung und Erweiterung der Charité durch den König 1837 angeschnitten, da es auch die Frage betraf, wer letztlich für außerordentliche Kosten wie z. B. Baukosten aufkommen müsse.

Handelte es sich um eine eigenständige, vom Staat unabhängige mildtätige Stiftung (die über das Stiftungsvermögen frei verfügen kann – so die Meinung der Charité und des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten) oder um eine Staatsanstalt, die die »ihr im Verwaltungswege auferlegten Leistungen, ohne Veränderung des ihr bisher gewährten Zuschußes« zu erfüllen habe. Als Staatsanstalt habe sich die Charité vornehmlich den Verwaltungsregularien, -normen und -gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen, wie jede andere Staatsanstalt auch, und es spielte für das Finanzministerium keine Rolle, ob die Charité als Kranken-Anstalt gegebenenfalls ganz anderen Gesetzmäßigkeiten (denen der Medizin und öffentlichen Gesundheitspflege) unterworfen war. Abgesehen vom rechtlichen Status entspann sich überdies eine Diskussion über die Rolle der Charité als medizinische Einrichtung – und letztlich über die Frage des medizinischen Fortschritts. Der preußische Kultusminister widersprach in einem Antwortschreiben dem Vorwurf, man errichte unausgesetzt neue Bauten und wolle uneingeschränkt über finanzielle Mittel verfügen:

Ich habe vielmehr nur gesagt, die Charité müßte der ihr durch die Allerh. Ordre vom 19. November 1818 gegebenen Bestimmung als Musteranstalt gemäß verwaltet und es müßte zu dem Ende durch Einführung zeitgemäßer und nützlicher Reformen fortgesetzt dahin gewirkt werden, daß sie mit Recht auf das Vorbild einer Normal-Krankenanstalt Anspruch nehmen können; und daß, um dies zu ermöglichen, die finanziellen Kräfte der Anstalt nicht auf das Maaß des zu ihrem [erforderlichen Zweck] Nothwendigen beschränkt werden dürfe, daß vielmehr dahin gewirkt werden müsse, daß die Anstalt die zur Errichtung der ihr vorgesteckten Ziele nöthigen Mittel in dem weitesten Umfange in ihrem eigenen Fonds disponible habe.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Entwurf Antwortschreiben MGUMA von Raumer an den preußischen Finanzminister, Schreiben abgeschickt am 14. 9. 1852.

Dass das Finanzministerium anderer Ansicht war und anzweifelte, dass die Charité Vorbild und Musteranstalt sein müsse, verwundert nicht; der Finanzminister war der Meinung, dass die Charité auch

segensreich wirken [Randbemerkung MGUMA: das gewiß!] und ihren Zweck vollständig erfüllen [Randbemerkung MGUMA: das gewiß nicht!] kann, wenn auch nicht fortgesetzt [Unterstreichung FM] [… werden], weshalb ich nur wiederholt den Wunsch ausdrücken kann, daß die reichen Mittel der Charité nicht zu kostspieligen Versuchen oder zu Einrichtungen, die über das wirkliche Bedürfniß hinausgehen, benutzt werden mögen.

GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußischer Finanzminister an MGUMA von Raumer betr. den Etat der Charité, 25. 10. 1852. Aus den Akten der Charité-Direktion (HUA) geht hervor, dass das MGUMA wesentlich als Sprachrohr des Verwaltungsdirektor der Charité (Esse) fungiert und dieser, um Stellungnahme gebeten eine Rechtfertigung formuliert, die im Wesentlichen übernommen wurde.

Wie nun genau diese »wirklichen Bedürfnisse« aussahen, ob sie sich vornehmlich an finanziellen oder medizinischen Zielen orientierten sollten, darüber gingen die Meinungen auch zukünftig auseinander. Gleichwohl gelang es der Charité in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, den Etat kontinuierlich zu erhöhen. Dies lag weniger (oder nicht in erster Linie) an dem geschickten Vorgehen von Johann Nepomuk Rust oder dem vom Rendanten zum Ober-Inspektor beförderten Esse, der schließlich zum ersten Verwaltungsdirektor der Charité ernannt werden sollte, sondern eben auch an dem steten Bevölkerungswachstum Berlins, dass eine wiederholte Erweiterung der Krankenhausbett-Kapazitäten erforderlich machte, an der gestiegenen Reputation der Charité als »Musteranstalt«, dessen Direktion zunehmend selbstbewusst agierte, und schließlich an dem veränderten Anspruch des preußischen Staates, der einerseits die Bürokratie und die staatlichen Institutionen ausbaute und sich andererseits mit renommierten Institutionen wie solchen der Charité schmückte, um seinen Anspruch als Kulturstaat zu untermauern. Als Esse 1857 sein ›Handbuch‹ über die Einrichtung und Verwaltung von Krankenhäusern veröffentlichte, definierte er Standards hinsichtlich des optimalen Baugrunds und der Lage von Krankenhäusern, der idealen Einrichtung der Krankenzimmer und der Küche sowie der anzustrebenden Versorgung der Kranken. Das Buch war ein großer Erfolg und wurde 1868 um detaillierte Raumpläne ergänzt erneut aufgelegt.

Siehe Esse: Krankenanstalten; zu Esse siehe Erich Hilf: Carl Heinrich Esse (1808–1874). Der erste Verwaltungsdirektor der Charité. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Berlin 2003.

Außerdem enthielt der Band Vorschläge für Personal-Instruktionen zur optimalen Ausgestaltung der Krankenhausorganisation und sparsamen Haushaltung. Schließlich bot Esse die Publikation die Mög lichkeit, die Modernität der von ihm geleiteten Krankenanstalt als mustergültig zu präsentieren – ähnliche Veröffentlichungen folgten seit den 1870er-Jahren von den Leitern anderer Krankenhäuser. Esse, der in den folgenden Jahren bei der Planung von Krankenanstalten in Preußen als einflussreicher Ratgeber fungierte, hatte mit seiner Publikation Standards definiert, wonach Zustände, wie die 1835 von Hesse und Mandel bemängelten, jetzt kaum mehr akzeptabel waren und eine Ablehnung der für die Sanierung eines Krankenhauses notwendigen Finanzmittel nur noch schwer zu rechtfertigen sein würde.

Administrative Multinormativität in der Medizinalverwaltung am Beispiel der Charité – ein Fazit

Im September 1835 verfasste das Königliche Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten einen umfassenden Bericht, in dem hygienische und bauliche Missstände in der Charité geschildert und zur Behebung derselben gesonderte finanzielle Mittel beantragt wurden. Der Bericht und die beigefügten Gutachten, Kalkulationen und Anlagen stellen einen nicht ungewöhnlichen Vorund Aktengang in der preußischen Ministerial- und Medizinalverwaltung dar – so wurde der Antrag erneut 1836 und 1837 gestellt und zahlreiche ähnliche Gesuche lassen sich auch später in den Akten des preußischen Kultusministeriums (und der Charité-Direktion) finden und waren regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten in der Krankenhaus- und Medizinalverwaltung. Sie können exemplarisch herangezogen werden, um multinormative Aushandlungsprozesse in der Medizinalverwaltung, mithin administrative Multinormativität, zu veranschaulichen.

Den hier in den Blick genommenen Ausgangpunkt bildet 1835 die Fertigstellung des zweiten Krankenhaus-Gebäudes, die »Neue Charité«, und die sich dadurch bietende Gelegenheit, das völlig marode alte Gebäude instand zu setzen und, aufgrund der dort herrschenden katastrophalen hygienischen Zustände, im wahrsten Sinne des Wortes zu sanieren. Vermutlich wurde die Krankenhausverwaltung beziehungsweise das Kuratorium von der Wirklichkeit – Bevölkerungsanstieg und der zur Aufnahme bedürftiger Kranker verpflichtende Vertrag mit der Stadt Berlin – eingeholt, denn das 1831 begonnene Gebäude erwies sich bei Fertigstellung offensichtlich als nicht ausreichend. Insbesondere die Ökonomie-Gebäude schienen kaum mehr geeignet, die Anzahl der bisherigen Patienten zu versorgen, geschweige denn zusätzliche Patienten. Um die Grundsätze medizinischer Praxis auch weiterhin befolgen zu können, herrschte innerhalb der Ärzteschaft und der breiten Öffentlichkeit Konsens über die zu treffenden Maßnahmen. Abhilfe sollten die Grundsanierung alter und die Erweiterung des neuen Gebäudes schaffen, wofür zusätzliche einmalige und regelmäßige finanzielle Mittel beantragt werden mussten.

An diesem Punkt trafen jedoch unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche – oder Teilsysteme, wenn man auf Luhmann rekurrieren möchte – aufeinander: Medizin und Politik beziehungsweise Verwaltung. Es reichte nicht aus, die beklagten (und öffentlich anerkannten) Mängel zu verschriftlichen. Um den Verwaltungsakt der Mittelbereitstellung auszulösen, musste der Tatbestand in einen Antrag übersetzt, durch externe Gutachten ›objektiver‹ Sachverständiger bestätigt und der zusätzliche Finanzbedarf en détail aufgeschlüsselt werden, um den administrativen Anforderungen und Rationalitäten der Ministerialverwaltung zu genügen. Dort konkurrierte der Antrag mit anderen Begehrlichkeiten, denn im Kultusministerium war die Charité neben Schulen, Universitäten, Theatern oder Kirchen nur ein Akteur unter vielen, die ihre Bedürfnisse nach je eigenen Grundsätzen beurteilten. Auf einer anderen Ebene wiederum agierte das Finanzministerium, das seine Entscheidungen und Handlungen nach völlig anderen normativen Grundsätzen ausrichtete und die Ansprüche des Kultusministeriums nicht nur aufgrund der Einnahmensituation prüfte, sondern auch mit solchen aus anderen Ministerien – wie zum Beispiel Verkehr oder Militär – vergleichen musste, um eine Entscheidungsfindung für die Regierung vorzubereiten (oder herbeizuführen). Aus Sicht der Krankenhausverwaltung dienten der Antrag und die dort versammelten Berichte dazu, Missstände angezeigt und, im Falle der Ablehnung, die Verantwortung an die entscheidenden Instanzen abgegeben zu haben und die Überziehung des Etats zu erklären. Diese Vielzahl an unmittelbaren und potenziellen Akteuren aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen, die ihr Handeln entlang eigener Grundsätze ausrichteten und nach eigenen Rationalitäten und Normen beurteilten, musste die Charité bei der Antragstellung antizipieren, um ihrem Anliegen Legitimität zu verschaffen; das eingangs zitierte Gutachten war Teil dieses Prozesses.

Im Verwaltungshandeln war auch der Faktor Zeit einzukalkulieren. Dringliche, nicht vorher sehbare Anliegen und Krisen konnten zwar die Legitimität des Anliegens (auch gegenüber konkurrierenden Anträgen) erhöhen, andererseits lief die Beantragung außerordentlicher Finanz mittel, d. h. außerhalb der Planungsperiode, den Verwaltungsregularien zuwider und bedeuteten einen erhöhten Verwaltungsaufwand, der wiederum Zeit beanspruchte. Dies antizipierend be antragte das Kuratorium beziehungsweise das Kultusministerium außerordentliche Finanzmittel und, auf die Zukunft gerichtet, eine reguläre, dauerhafte Erhöhung im Planungsetat. Die Berufung auf Dringlichkeit barg jedoch auch Risiken. Bei Wegfall des Anlasses (oder wenn sich der Anlass als weniger dringlich als dargestellt herausstellte oder die Krise überwunden war) entfiel auch die Notwendigkeit zur Bewilligung – so war zwei Jahre nach der ursprünglichen Antragstellung die Idee, vor Belegung des neuen Gebäudes das alte zu sanieren, obsolet geworden, weil sich das Zeitfenster geschlossen und der Normalbetrieb aufgenommen war. Überdies waren für die dringendsten Probleme andere Lösungen gefunden (Anmietung) oder die benötigten finanziellen Mittel aus anderen Fonds beschafft worden – wobei dies wiederum Verwaltungs- und Planungsprobleme nach sich ziehen konnte.

Innerhalb des Verwaltungshandelns der Charité trafen nicht nur Normen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen – Medizin, Verwaltung, Politik, Ökonomie – aufeinander, sondern es waren auch Normen unterschiedlicher Ausprägung miteinander in Einklang zu bringen: medizinische vs. finanzpolitische Grundsätze und Rationalitäten, verwaltungstechnische und kameralistische Regularien, Haushaltsgesetze und königliche Erlasse sowie unter Carl Heinrich Esse innerhalb der Krankenhausverwaltung auf Sparsamkeit abzielende dienstliche Instruktionen. In der Praxis der Verwaltung, wie die Beantragung zusätzlicher finanzieller Mittel, musste die Administration der Charité diese Multinormativität in Rechnung stellen.

eISSN:
2519-1187
Lingua:
Inglese