Die Ausführungen des preußischen Hof-Bauinspektors Hesse und des Regierungsbaurates Mandel im August und September 1835 warfen kein gutes Licht auf den Zustand verschiedener Gebäude des Königlichen Charité-Krankenhauses: Der Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Krankenhausbau sei zwar aus solidem Mauerwerk errichtet, aber die Fußbodendielen, Tür- und Fensterrahmen müssten aufgrund der jahrelangen Abnutzung ebenso dringend erneuert werden wie die nicht mehr zeitgemäße Heizung. Die Wäsche würde derzeit im Keller gewaschen und getrocknet und durch die jahrelangen Dämpfe sei das Mauerwerk angegriffen und das Holz vor allem der Decke beziehungsweise der darüber liegenden Fußböden faulig und eine sachgemäße »Conservierung« der Wäsche unmöglich. Die Leichenhalle im Hof des alten Krankenhausgebäudes habe zwar früheren Ansprüchen zur kurzzeitigen Aufbewahrung der Leichen bis zur Beerdigung genügt, allerdings benötige man mit der steigenden Patienten- und Totenzahl und mit den zunehmenden wissenschaftlichen Bedürfnissen wie der regelmäßigen Obduktion von Leichen für die universitäre Lehre oder der Durchführung forensischer Untersuchungen ein zweckmäßigeres Gebäude. »Was endlich die vorhandenen Oekonomie Gebäude anbetrifft, so ist schon seit mehreren Jahren seitens des königl. Polizei-Präsidiums auf die Niederreißung der im Hofe stehenden Gebäude öftermalen gedrungen worden«, da die Gebäude, die alljährlich neu abgestützt werden müssten, in einem so schlechten und einsturzgefährdeten Zustand seien, dass man den ursprünglichen Zweck nicht mehr erkennen könne. Außerdem regte Hesse die Erneuerung der sanitären Anlagen und die zeitgemäße Anbringung von »Water-Closets« an, wie man sie in größeren Krankenhäusern des Auslandes fände.
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin) [GStA PK], HA I, Rep. 76 VIIID, Nr. 240, »Bericht über den Zustand der Charité, aber auch über das Bedürfniß eines zu errichtenden Pockenhauses, eines Wasch- und Trockenhauses, eines Leichenhauses, so wie der erforderlichen Oekonomie Gebäude«, Hof-Bauinspektor Hesse an das kgl. Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten, 22. 8. 1835. GStA PK, HA I, Rep. 76 VIIID, Nr. 240, »Anlage G zum Bericht über den Zustand der Charité«, Bericht von Regierungs- und Baurat Mandel, 4. 9. 1835.
Die obigen Ausführungen fassen die mehrseitigen an das preußische Kultusministerium adressierten Berichte von Hesse und Mandel zusammen und sollen nachfolgend exemplarisch herangezogen werden, um die verschiedenen Ebenen von Multinormativität und Verwaltungspraktiken in der Medizin und der Krankenhausverwaltung aufzufächern. Die Berichte enthalten zahlreiche Verweise auf funktionelle, medizinische und finanzielle Erwägungen sowie auf inhärente Kausalitäten und Rationalitäten, die weit über eine rein medizinische Logik und medizinische Begründungszusammenhänge hinausgehen. Der Aufsatz fragt danach, warum und zu welchem Zweck der Bericht überhaupt erstellt wurde und welche Rolle dieser und ähnliche Berichte in den Aushandlungsprozessen um Ressourcenzuweisungen der preußischen Ministerialverwaltung im 19. Jahrhundert spielten.
Alimentiert aus staatlichen Quellen diente das Königliche Charité-Krankenhaus in Berlin zugleich als militärische und zivile Ausbildungsstätte sowie als kommunales Krankenhaus und die verschiedenen Akteure – König beziehungsweise Staat, Militär, Stadt, Universität und das Krankenhaus als Institution selbst – folgten durchaus unterschiedlichen und mitunter konkurrierenden Interessen und Rationalitäten. Im Sinne einer ›dichten Beschreibung‹ aus dem Innern der Krankenhaus- und Medizinalverwaltung wird am Beispiel der Charité den verschiedenen funktionellen Rationalitäten und den damit verbundenen normativen Vorstellungen nachgespürt, denen Akteure in medizinischen Institutionen unterliegen.
Der Beitrag soll überdies zeigen, dass Verwaltungshandeln und die der administrativen Praxis zugrunde liegenden Normen immanenter Teil medizinischer Tätigkeit waren und sind – genauso wie der Umgang mit den aus dieser administrativen Multinormativität resultierenden Konflikten.
Nachfolgend wird einleitend die Verwendung des Begriffs der administrativen Multinormativität präzisiert und die Charité als historisches Beispiel eingeführt. Ausgehend von dem eingangs zitierten Bericht und den daraus folgenden Prozessen und Ereignissen werden die konkurrierenden öffentlichstaatlichen, medizinischen, administrativen und ökonomischen Normen beziehungsweise Normen- und Rationalitätenkonflikte dargestellt und anschließend diskutiert, wie mit diesen Konflikten umgegangen und versucht wurde, durch Übersetzung medizinischer Rationalitäten in solche der Ministerial- und Finanzverwaltung die verschiedenen Grundsätze und Erwartungen in der Verwaltungspraxis in Einklang zu bringen.
Das Königliche Charité-Krankenhaus wurde 1710 in Berlin als Pesthaus gegründet und fungierte seit 1729 als städtisches Krankenhaus, in dem vor allem die sogenannten armen Kranken der Stadt (kostenlos) versorgt wurden. Gleichzeitig wurde es von der preußischen Armee genutzt, um Feldärzte auszubilden. Mit Gründung der Berliner Universität 1810 stand das Krankenhaus mit der Medizinischen Fakultät in Verbindung und diente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch als Ausbildungsstätte für zivile Medizinstudenten. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Charakter der Charité als medizinische Institution von einer Verwahr- und Pflegeanstalt für unheilbar Sieche zu einem auf Heilung abzielenden Krankenhaus ›modernen‹ Typs ebenso gewandelt wie sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen das Krankenhaus als Institution und die darin tätigen Mediziner und Mitarbeiter agierten, verändert hatten. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde die Charité durch die Armen-Direktion der Stadt Berlin beaufsichtigt und verwaltet. Mit den Preußischen Reformen wechselte die Zuständigkeit und seit 1819 unterstand die Charité dem Preußischen Innen-beziehungsweise Kultusministerium.
Zur Geschichte der Charité siehe zuletzt die Beiträge in dem Sammelband von Johanna Bleker / Volker Hess (Hg.): Die Charité. Geschichte(n) eines Krankenhauses, Berlin 2010; Ernst Peter Fischer: Die Charité. Ein Krankenhaus in Berlin 1710 bis heute, München 2009. Siehe Carl Heinrich Esse: Die Krankenhäuser. Ihre Einrichtung und Verwaltung, Berlin 1857.
Finanziert wurde das Krankenhaus aus den Erträgen einer Kapitalstiftung des preußischen Königs und aus Einkünften aus kleineren privaten Stiftungen, aus königlichen Privilegien und aus Patientengebühren, wobei der Anteil der von Patienten erhobenen Behandlungsgebühren im 19. Jahrhundert stetig zuund staatliche Zuwendungen abnahmen. Bauliche Veränderungen und größere Investitionen waren selten und nicht im regulären Etat vorgesehen und mussten daher gesondert finanziert werden. Daher stellten Forderungen nach zusätzlichen finanziellen Mitteln für eine umfassende Sanierung oder einen Neubau und die daraus resultierenden Diskussionen keinen Einzelfall dar: Debatten über den baulichen Zustand und Ausbau des Charité-Kranken hauses waren bereits in den 1770er-Jahren geführt worden und kamen erneut Ende der 1880er-Jahre auf.
Zur Geschichte Bleker / Hess (Hg.): Die Charité; Fischer: Die Charité; zur Überlappung von Interessen verschiedener verbundener Institution Arleen Marcia Tuchman: Ein verwirrendes Dreieck: Universität, Charité, Pépinière, in: Eric J. Engstrom / Volker Hess (Hg.): Zwischen Wissens- und Verwaltungsökonomie. Zur Geschichte des Berliner Charité-Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2000, S. 36–48. Ende des 19. Jahrhunderts gab es wieder eine in der Öffentlichkeit geführte bzw. durch öffentlichen Druck ausgelöste kontroverse Diskussion über den baulichen, institutionellen und medizinischen Zustand der Charité, wobei die Argumente für die Sanierung und Erweiterung des Krankenhauses in den 1890er-Jahren denen von 1835 ähnelten: Der Bau genüge nicht mehr den medizinischen und pflegerischen Anforderungen und stelle ein Risiko für die Patienten da – 1835 durch Schimmel und Feuchtigkeit, faulende Böden und einen verpesteten Geruch, in den 1890er-Jahren waren es fehlende Sicherheitsausgänge der (drittklassigen) Krankenzimmer im Dachgeschoss – und das Krankenhaus leide dauerhaft unter Überbelegungen und Überkapazitäten, woraus sich eine kaum erträgliche Enge bei der Unterbringung der Patienten ergebe. Zur Kritik Ende des 19. Jahrhunderts siehe Reinhard Freiberg: Der Charité-Boykott im Jahre 1893 in Berlin. Eine medizinhistorische Studie über Auswirkungen der Arbeitersozialreformen der 80erund 90er-Jahre des 19. Jahrhunderts, Diss. med., Freie Universität Berlin 1997.
Der Begriff »Multinormativiät« wurde in der Rechtsgeschichte in Abgrenzung zum Begriff »Rechtspluralismus« eingeführt. Letzterer bezieht sich vor allem auf die (transnationale, globale) Vielheit rechtlicher Normen, während Multinormativität verschiedene Formen von Normativität wie beispielsweise Rituale oder Spielregeln einbezieht
Siehe den Überblick von Thomas Duve: Was ist ›Multinormativität‹? – Einführende Bemerkungen, in: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 88–101, hier S. 90f. Siehe z. B. Johannes Ahrens et al. (Hg.): Normativität. Über die Hintergründe sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, Wiesbaden 2011. Auf Grundlage eines breiten Verständnisses von Normativität (als ethisch-philosophische Grundsätze, rechtliche Normen, technische Richtlinien, soziale Regelmechanismen) siehe die Beiträge in Uwe H. Bittlingmayer et al. (Hg.): Normativität und Public Health. Vergessene Dimensionen gesundheitlicher Ungleichheit, Wiesbaden 2009.
Versteht man Normen im Sinne Niklas Luhmanns als stabilisierte Erwartungen (die enttäuscht oder erfüllt werden), so wäre erstens zu fragen, wie sich die Erwartungen stabilisieren;
Siehe die Einleitung und Niklas Luhmann: Normen in soziologischer Perspektive, in: Soziale Welt 20 (1969), S. 28–48; ferner Dirk Richter: Normativität in der Systemtheorie, in: Ahrens et al. (Hg.): Normativität, S. 271–285. Wobei die Zuordnung eines Krankhauses zu einem Teilsystem Schwierigkeiten aufwirft, denn Krankenhäuser sind zugleich auch politische, ökonomische, religiöse und philanthropische Einrichtungen und nicht allein dem Teilsystem Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik zuordenbar. Vielmehr können sie als eigener Bereich bzw. eigenes System aufgefasst werden, in dem sich Rationalitäten von politischem, Wissenschafts- und ökonomischem System treffen, siehe Klaus Türk: Die Organisation der Welt. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen 1995, S. 183f.
Medizinische Leitmaximen wie der im Hippokratischen Eid formulierte Grundsatz, zum Wohle des Patienten zu handeln, korrespondieren zwar mit der Erwartung von Stadt und Staat an das Krankenhaus, den Ausbruch von Epidemien zu verhindern oder die Produktivkräfte der arbeitenden Bevölkerung zu erhalten, kollidieren aber entschieden mit ökonomischen, auf Sparsamkeit abzielenden Grundsätzen, die wiederum in ganz konkreten, (rechtlich) verbindlichen Regeln, Handlungsanweisungen und Gesetzen formuliert werden, deren Missachtung Sanktionen zur Folge haben (können).
Unabhängig ob man Normen und Normativität als stabilisierende Erwartungen im Sinne Luhmanns oder allgemeiner als Gebote, Verhaltensregeln oder Grundsätze erachtet, ist es für den Aufsatz erstens entscheidend, dass Normen im weiteren Sinne und nicht nur im Sinne von Rechtsnormen aufgefasst werden. Zweitens handelt es sich in doppelter Hinsicht um Multinormativität dahingehend, dass unterschiedlich ausgeprägte Normengefüge vorhanden sind, die über Erwartungen, allgemeine Grundsätze bis hin zu explizit formulierten Instruktionen und Gesetzen reichen und die aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen (oder Teilsystemen) auf einandertreffen. Und drittens wird angenommen, dass die unterschiedlichen Normen im Krankenhaus aufeinandertreffen und in Einklang gebracht oder deren Geltung und Durchsetzung (beziehungsweise Dominanz über andere Normen) ausgehandelt werden müssen und diese Aushandlungsprozesse vor allem in der Praxis der Krankenhaus Siehe vor allem Wolfgang Seibel: Verwaltung Verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin 2016; Birgit Näther: Die Normativität des Praktischen: Strukturen und Prozesse vormoderner Verwaltungsarbeit. Landesherrliche Visitationen im frühneuzeitlichen Bayern, Münster 2017.
Zweifelsohne war der bauliche Zustand, wie die eingangs zitierten Passagen aus dem »Bericht über den Zustand der Charité« nahelegen, in der sogenannten »Alten Charité« 1835 unhaltbar. Das Gebäude – in den 1790er-Jahren gebaut und zur Jahrhundertwende fertiggestellt – war bereits kurz nach der Fertigstellung zu klein. Nach dem Brand des Berliner Tollhauses 1798 wurde ein Teil der Insassen in der Charité untergebracht und aus dem Provisorium bildete sich die »Irrenabteilung« des Krankenhauses heraus.
Siehe Volker Hess: Die Alte Charité, die moderne Irrenabteilung und die Klinik (1790–1820), in: Bleker / Hess (Hg.): Die Charité, S. 44–69. Der medizinische Direktor der Charité, Ernst Horn, beklagte in seinem »Rechenschaftsbericht« die ungenügenden Zustände im Krankenhaus. Die Kalkulationspreise für die Verpflegungsgebühren seien viel zu niedrig angesetzt und nicht kostendeckend. Aufgrund der Unterfinanzierung könnten beispielsweise Ausbesserungen und notwendige Reparaturen von Inventar und Gebäude nicht erfolgen; siehe Ernst Horn: Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt des Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, Berlin 1818. Die Zustände um 1800 beklagt anschaulich Carl H. E. Moritz: Treue Erzählung meiner gehabten Schicksale in Berlin, vor, und nach der Aufnahme in die Charité. Mit eingestreueten Bemerkungen über das mir lieb, auch mißfällig gewordene in der Verfassung des Hauses selbst, Berlin 1800. Ebenso räumt der spätere Direktor der Charité, Oskar Scheibe, Missstände um 1800 ein, siehe Oskar Scheibe: Zweihundert Jahre des Charité-Krankenhauses zu Berlin. Mitteilungen aus der Geschichte, Entwicklung der Anstalt von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Berlin 1910 (Sonderdruck des Beitrages aus den Charité Annalen, Bd. 34), S. 57–61. Zu den Preußischen Reformen und deren Auswirkungen siehe allgemein Reinhart Koselleck: Preussen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, Stuttgart 31981; und die Beiträge in Barbara Vogel (Hg.): Preußische Reformen 1807–1820, Königstein 1980; Bernd Sösemann (Hg.): Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, Berlin 1993; dort insbesondere zur Städtereform Ilja Mieck: Die verschlungenen Wege der Städtereform in Preußen (1806–1856), in: Sösemann (Hg.): Gemeingeist und Bürgersinn, S. 83f.; und Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005. Zur Verwaltungsstruktur siehe die Akte betr. die Reorganisation der Charité (1828–1830), Archiv der Humboldt-Universität Berlin, Charité Direktion [AHU CD], Nr. 22. Zur Gesundheitsverwaltung in Berlin im 19. Jahrhundert siehe Rolf Winau: Medizin in Berlin, Berlin 1987; Ragnhild Münch: Gesundheitswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Das Berliner Beispiel, Berlin 1995. Zu den Zuständigkeiten im Preußischen Kultusministerium siehe Reinhold Zilch: Gesundheitswesen und Medizinalpolitik in Preußen 1817 bis 1911, in: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934). Bd. 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen, Berlin 2010.
Dessen ungeachtet blieb die Charité eine – und die einzige – städtische Krankenanstalt. In der Einheit als staatliche und kommunale Anstalt sah sich bis zu den Reformen der preußische König in der Verantwortung, für die Versorgung der armen Kranken in der Hauptstadt aufzukommen. Dies änderte sich nach den Reformen. Fortan berechnete die Charité für die Verpflegung der städtischen armen Kranken einen Tageskostensatz, der Siehe die verschiedenen Schreiben der Armendirektion der Stadt an den Magistrat 1828 über die Schließung und am 6. 1. 1830 über die »kürzlich abermals erfolgte Schließung der Charité«. Während der Verhandlungen zwischen der Charité-Leitung und dem Magistrat der Stadt über die Erweiterung des Krankenhauses sowie die Erstattung von Kosten erfolgte im Mai 1830 abermals ein Hinweis über die Schließung der Charité. Anfang Januar 1832 teilte der leitende Arzt der Charité, Johann Nepomuk Rust, dem Magistrat in einem Bericht mit, dass die Charité keine Kranke mehr aufnehmen könne; die Korrespondenz zu allen Vorgängen zwischen dem Krankenhaus-Kuratorium, dem preußischen Kultusministerium, der Armendirektion und dem Magistrat der Stadt Berlin in der Akte betr. die Aufnahme der Kranken aus Berlin (in der Charité) 1832–1835, in: AHU CD, Nr. 971; sowie in: Landesarchiv Berlin [LAB], A Rep. 000-02-01, Nr. 1401 (Acten der Stadtverordneten zu Berlin betr. die Charité). Siehe die Beschwerde eines Stadtverordneten an die Stadtverordneten-Versammlung am 9. 3. 1831, in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401, Bl. 55. Siehe die Auseinandersetzungen im LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401; und AHU CD, Nr. 971. Siehe die Ausführungen von Johann Nepomuk Rust an die Stadtverordneten-Versammlung aus Januar 1830 und das Schreiben an den Oberbürgermeister Berlins vom 8. 3. 1830, die Korrespondenz in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401. Siehe beispielsweise die Überlegungen im Frühjahr 1835 zur Errichtung eines Aushilfs-Lazaretts in der Nähe der Stadt-Vogtei, nachdem die Charité die Aufnahme von Kranken aus dem Polizeigewahrsam verweigert hatte, die diesbezügliche Korrespondenz in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401, Bl. 181-200; zu den Auseinandersetzungen in: AHU CD, Nr. 971. Zum Ausbruch der Cholera in Berlin siehe Barbara Dettke: Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und in den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1995; Olaf Briese: Angst in Zeiten der Cholera. Bd. II: Panik-Kurve, Berlins Cholerajahr 1831/32, Berlin 2003. Siehe die Klage eines Vertreters der Stadtverordneten-Versammlung nach der Ankündigung eines Aufnahmestopp von »Irren« und Cholera-Kranken in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401. Zur Unterbringung der Cholera-Kranken siehe Dettke: Asiatische Hydra; Briese: Angst in Zeiten der Cholera II. Vgl. zum Rechtsverhältnis zwischen der Stadt und der Charité A. Förster: Denkschrift über das zwischen dem Charité-Krankenhause und der Stadt Berlin bestehende Rechtsverhältniß. Im amtlichen Auftrage bearbeitet, Berlin 1892; allgemein zum Verhältnis der Berliner Gesundheitsinstitutionen Münch: Gesundheitswesen. Siehe zum Beispiel die regelmäßigen Abrechnungen für die Stadt Berlin in: AHU CD, Nr. 972; sowie die aufwendigen Zusammenstellungen zur Verrechnung der Verpflegungstage der Polizeigefangenen in der Charité (für 1839) in: LAB, A Pr Br Rep. 030, Nr. 20416.
Das oberste Gebot eines jeden Arztes ist, zumindest vom Anspruch her, die Heilung des Kranken und das Wohl der Patienten. An dieser Handlungsmaxime hatte er sich aufgrund des Hippokratischen Eides auszurichten.
Vgl. hierzu die beiden grundlegenden medizinethischen Werke, die den Untersuchungszeitraum einrahmen: Thomas Percival: Medical Ethics; or, a Code of Institutes and Precepts, Adapted to the Professional Conduct of Physicians and Surgeons, London 1827 (OA 1807); Albert Moll: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit, Stuttgart 1902; sowie im historischen Überblick Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004; und als Teil der heutigen Ausbildung Klaus Dörner: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart 2001. Siehe die wöchentlichen Aufstellungen der Bettenbelegung für 1832, differenziert in Soll- (Normaler Numerus) und Ist-Belegung (Wirklicher Numerus), in: AHU CD, Nr. 1233 und 1348.
In den 1830er-Jahren, in denen sich die Medizin zunehmend an den empirischen Methoden der Naturwissenschaften orientierte, mit der Kuhpocken-Impfung erste therapeutische Erfolge vor weisen konnte und man chirurgische Verbesserungen auch klinisch erprobte,
Zur Verwissenschaftlichung der Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe die Überblickswerke von William F. Bynum u. a. (Hg.): The Western Medical Tradition 1800 to 2000, Cambridge 2006; Wolfgang U. Eckart: Illustrierte Geschichte der Medizin. Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin 22011. Siehe z. B. die Zustimmung Friedrich Wilhelms III. auf den Bericht des preußischen Kultusministers Altenstein vom 6. 6. 1835: »Auf Ihren Bericht vom 30ten April d. J. erkläre ich mich Ihrer Meinung einverstanden, daß den hiesigen Stadtgemeinden eine Befugnis die Charité zum [unleserlich, der] Armen-Verwaltung unbeschränkt zu benutzen, nicht zugestanden, auch nicht gestattet werden kann, da dem bei der Gründung dieser Anstalt beabsichtigten Zwecke, darin zugleich für das Bedürfniß eine medicinische Unterrichts- und Bildungsanstalt zu sorgen, durch die Aufnahme einer unverhältnismäßigen Anzahl hierzu nicht geeigneten Kranken beeinträchtigt werden.« GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240.
Als leitender Arzt der Charité war Johann Nepomuk Rust diesen medizinischen Normen guter medizinischer Praxis verpflichtet. Als Präsident des Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten verfolgte er allerdings weitere – und mitunter medizinischen Grundsätzen zuwiderlaufende – Ziele, die sich an institutionellen Begründungszusammenhängen (und -notwendigkeiten) orientierten. Als Geheimer Ober-Medizinalrat im preußischen Kultusministerium (seit 1821) und Leibarzt der königlichen Familie hatte er nicht nur besonderen Zugang zur Regierung, sondern er war auch Teil der Regierung. In gewisser Weise verhandelte er als »Erster Arzt« der Charité und in Personalunion zugleich auch als Präsident der vorgesetzten Aufsichtsbehörde stets mit sich selbst.
Zu Rust siehe Horst Fritze: Die Bedeutung von Johann Nepomuk Rust (1775–1840) als Medizinalbeamter, Berlin 1984; Horst-Peter Wolff: Johann Nepomuk Rust (5. April 1775 – 9. Oktober 1840), in: Schriften aus dem Institut für Pflegegeschichte 56 (1995), Heft 3. Als leitender Arzt der Charité und zugleich als Vorsitzender des Krankenhaus-Kuratoriums trat Rust zuweilen als Absender und Adressat auf.
In der Begründung des Antrags zur Sanierung des alten Gebäudes (und GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag«, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5. 9. 1835. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240. Die Bevölkerungszahl war alleine zwischen 1820 (201.900) und 1837 (283.700) um über 40 % gestiegen und sollte bis 1840 um weitere 45.000 Einwohner (auf 328.700) steigen, siehe im Berliner Adressbuch den Anhang Statistik 1877. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5.9.1835.
Das Krankenhaus hatte, folgt man dem Kuratorium in seiner Begründung, die Wahl zwischen Pest und Cholera: Nahm man die Patienten nicht auf, drohte ihnen unter Umständen der Tod; nahm man sie auf, drohte die Krankenhausordnung wegen Überfüllung endgültig zu kollabieren. Die Überfüllung hatte mit der gefürchteten und oft tödlich endenden Wundinfektion, die auch bereits in Vernarbung befindliches Gewebe angreifen konnte und vermeintlich unbedeutende Wunden tödlich enden ließ,
Die Entzündung, Vereiterung und Nekrose von Wundgewebe führte zu einer starken, von den Zeitgenossen als Pestgestank charakterisierten Geruchsentwicklung. Bis zur Einführung und Durchsetzung der Asepsis in den 1870er- und 1880er-Jahre blieben Hospitalbrand und Wundinfektionen eine gefürchtete Gefahr in Krankenhäusern und Lazaretten, siehe Georg Hartog Gerson: Ueber den Hospitalbrand, nach eigenen während des spanischen Befreyungskriegs und in Belgien gemachten Erfahrungen, Hamburg 1817; Franz Zaborsky: Der Hospitalbrand. Eine Preisschrift, Agram 1850; Anton Julius Friedrich Rosenbach: Der Hospitalbrand, Stuttgart 1888. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend. Bitte um weitere Begründung für Antrag, Kuratorium für die Krankenhaus-Angelegenheiten an MGUMA, Freiherr von Altenstein, Bericht vom 5.9.1835.
Der Antrag macht erstens deutlich, dass wegen der anhaltenden Überbelegung eine gesundheitliche Gefahr bestand. Im Unterschied zu früher beklagten Cholera-Ausbrüchen
Siehe die Klage eines Vertreters der Stadtverordneten-Versammlung nach Rusts Bericht 1831 vor der Versammlung und Ankündigung über einen Aufnahmestopp von »Irren« und Cholera-Kranken, in: LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1401 (Acten der Stadtverordneten zu Berlin betr. die Charité). Zur Choleraepidemie 1831/1832 in Berlin und Deutschland siehe Dettke: Asiatische Hydra; Olaf Briese: Angst in Zeiten der Cholera. Bd. I: Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums, Berlin 2003; Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830–1910, Reinbek 1990. Zu Tumulten im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Cholera siehe Dettke: Asiatische Hydra, S. 278–291; Briese: Angst in Zeiten der Cholera I; Olaf Briese: Defensive, Offensive, Straßenkampf. Die Rolle von Medizin und Militär am Beispiel der Cholera in Preußen, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 16 (1997), S. 9–32; Evans: Tod in Hamburg; Richard J. Evans: Epidemics and Revolutions. Cholera in the Nineteenth-Century Europe, in: Past and Present 120 (1988), S. 123–146 und Peter Baldwin: Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 1999. Zur Bedrohung der herrschenden Ordnung durch die Latenz von Unruhen im Vormärz Wolfgang Hardtwig: Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985; Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011; und Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Bürgerwelt und starker Staat, München 2013. Von der Heilkunst und dessen Bedeutung für das Wohl des Staates siehe Johann Peter Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey, 6. Bd. Teil I und II: Medicinalwesen, Wien 1817; die Bedeutung von Krankenhäusern für den Staat erörtert bereits Adalberg Friedrich Marcus: Von den Vortheilen der Krankenhäuser für den Staat, Bamberg 1790. Rust selbst definierte als maßgebliches Ziel der Medizinalverwaltung: »für das Leben und die Gesundheit der Staatsbürger Sorge zu tragen«. Hierzu müsse man hinreichend Ärzte ausbilden, medizinische Unterrichtsanstalten unterhalten und/oder schaffen und der Staat müsse »gleichsam selbst als Arzt auftreten« und »den Erkrankten geradezu die erforderliche Hülfe angedeihen lassen«, z. B. in öffentlichen Heilanstalten, siehe Johann Nepomuk Rust: Die Medicinal-Verfassung Preußens, wie sie war und wie sie ist, in: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen aus dem Gebiete der Medicin, Chirurgie und Staatsarzneikunde, Bd. 3, Berlin 1840, S. 1–200, hier §§ 5 und 15. Zur Medizinalpolizei siehe Caren Möller: Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005. Zur Entwicklung des Medizinalwesens im Kontext der Aufklärung und als Teil der »Guten Policey« siehe Christian Barthel: Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989; Johannes Wimmer: Gesundheit, Krankheit und Tod im Zeitalter der Aufklärung. Fallstudien aus den habsburgischen Erblanden, Wien 1991; und die Beiträge in Bettina Wahrig / Werner Sohn (Hg.): Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750–1850, Wiesbaden 2003.
In der Vergangenheit hatten Mediziner und Öffentlichkeit immer wieder über die unhaltbaren hygienischen und medizinischen Zustände in der Charité geklagt und eine bessere Ausstattung des Krankenhauses angemahnt; und diese Monita brachte der erste Arzt der Charité, Johann Nepomuk Rust, nun zum Ausdruck. Doch mit der Feststellung der Missstände und der Forderung nach Besserung allein war es nicht getan. Medizinischer Rationalität und dem Grundsatz der besten medizinischen Praxis zum Wohl des Patienten und der Bevölkerung stand der finanzpolitische Grundsatz sparsamen Handelns gegenüber. Zudem mussten die als notwendig erachteten Maßnahmen zur Behebung der hygienisch-medizinischen Missstände in einen ministeriellen Antrag übersetzt werden, der wiederum administrativen Regeln entsprechen musste.
Indem der Antrag zur Begründung der Bedürfnisse und der Erweiterung der Charité mehrere Aspekte aufnahm, erfüllte er auch mehrere Funktionen: Zum einen sollte der Antrag auf Grundsanierung des alten Gebäudes und Erweiterung der Bettenkapazitäten die Bewilligung zusätzlicher Investitionsmittel begründen und legitimieren. Zudem ging es auch darum, das Krankenhaus zu entlasten – die beklagenswerten (beziehungsweise öffentlich angeklagten) Zustände im Krankenhaus seien nicht dessen Leitung anzulasten, sondern in der dauerhaften Überbelegung begründet, die wiederum aus dem anhaltenden Bevölkerungswachstum resultierte, sowie aus dem Umstand, dass man aufgrund der vertraglichen Verpflichtung gegenüber der Stadt (unbemittelte) Kranke eigentlich nicht mehr abweisen konnte. Weiterhin ging es auch darum, eine sich abzeichnende Überziehung des regulären Etats zu erklären, denn man hatte, um Abhilfe zu schaffen und Schlimmeres zu verhindern, eine Baracke angemietet, um dort vorläufig 100 Kranke unterzubringen. Um zu erwartende Rügen aus dem Finanzministerium, dass man leichtfertig eine Überschreitung des Etats in Kauf genommen hatte, vorab zu entkräften, wurde überdies erwähnt, dass man das Lazarett im Arbeitshaus stärker belegt und darauf verzichtet hatte, ansonsten in der Charité zu behandelnde kranke Gefangene dorthin zu überführen. Zugleich hatte man mit der Anmietung zusätzlicher Baracken Tatsachen geschaffen – die Miete externer Räume konnte als Argument dienen, um eine zusätzliche Investition (und infolge dessen die Einsparung laufender Kosten wie Miete) zu rechtfertigen.
Der bereits 1834 genehmigte Bau des als Isolierstation für ansteckende Krankheiten verwendete Pockenhauses ließ sich nach der Cholera-Epidemie nicht nur gesundheitspolitisch rechtfertigen, sondern auch fiskalisch: denn jährlich mussten 700 Reichsthaler (bzw. eine weit höhere Summe nach Ablauf des Zehnjahresvertrags und bei geplanter Erweiterung) an Miete aufgebracht werden und beim Bau eines eigenständiges Gebäudes entfiele dieser regelmäßige Aufwand, zur Kalkulation des Baus siehe AHU CD, Nr. 1792.
Die oben ausgeführte Begründung des Antrags auf Erweiterung der Charité und die eingangs zitierten Berichte des Bauinspektors Hesse und Regierungsbaurates Mandel waren Teil eines größeren Komplexes von Schriftstücken, die die Grundsanierung der »Alten Charité« und die Erweiterung des Krankenhauses legitimieren sollten. Ein Ausgangpunkt für den Bericht ist nur schwer auszumachen – den unmittelbaren Anlass könnte zum einen der Einsturz eines Schuppens der Charité-Ökonomiegebäude im Juli 1835 und die Prüfung der umliegenden Gebäude geboten haben.
Siehe den Bericht vom 9. 7. 1835 über einen eingestürzten Schuppen und die Befürchtung, dass sämtliche Schuppen bald einstürzen könnten, in der Akte betr. die zu erbauenden Charité-Oekonomie und Remisen-Gebäude, 1835–1845, in: AHU CD, Nr. 1794. Siehe Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 68–71. »Se. Maj. der König haben zu befehlen geruht, die schon längst beabsichtigte Erweiterung des Charité-Krankenhauses sogleich in Ausführung zu bringen, damit eben sowohl der bedürftigen Arbeiterklasse ein gewisser Erwerb gesichert, als dem steigenden Bedürfnisse zur Unterbringung einer größeren Anzahl von Kranken begegnet werde.« Bericht vom 5. September, in: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 75, 9. 9. 1831 (zit. nach Briese: Angst in Zeiten der Cholera II, S. 138; siehe auch Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 68–71; Dettke: Asiatische Hydra, S. 259f. Dies ergibt sich aus den Kalkulationen der Einnahmen und Ausgaben, die auch die 100.000 Verpflegungstage mit einrechnete. Eine Einnahme ergab sich eben erst mit jedem Tag über die 100.000 Tage hinaus, so dass eine Erweiterung der Bettenkapazität zu zusätzlichen Einnahmen führen würde. Dies wurde auch in dem neuerlichen Antrag auf Erweiterung 1836 eingepreist mit der Annahme, dass die Stadt Berlin, der nur 100.000 »ganz freie Verpflegungstage für ihre armen Kranken zugestanden worden sind, für die stärkere Benutzung der Kranken-Anstalt aufkommen muß, auch den taxmäßigen Satz von 7 ½ Sgr. pro Tag.« Nach den bisher gemachten Erfahrungen dürfte bei einer »erhöhten etatsmäßigen Krankenzahl von 780 auf 950 […] das überschrittene Maaß der Benutzung der Kranken-Anstalt etwa 56.180 Verpflegungstage oder zu Geld berechnet 14.045 Tlr ausmachen und die übrigen 11.155 Tlr von anderen Kommunen angehörigen Kranken eingezogen werden können.« GStA PK HA I, Rep. 76 VIII D, Nr. 240.
Die im Antrag angeführten ärztlichen Beschwerden, medizinischen Notwendigkeiten, Appelle und öffentliche Klagen zur Begründung der Grundsanierung des alten Krankenhausgebäudes (beziehungsweise des Gebäudekomplexes mit Leichenhaus und Ökonomie-Gebäude) und zur Erweiterung der Charité um 200 Betten, um die Missstände und ungenügenden hygienischen Zustände in der Charité beheben zu können, waren jedoch allein nicht ausreichend. Zur Legitimation zusätzlicher Aufwendungen musste der Antrag administrativen Normen und Verfahrensprozessen entsprechen. Die als Antrag formulierte Begründung war Teil dieses Prozesses
Hinzu kommt der formalisierte Aufbau des Antrags als administratives Kanzlei-Schriftgut wie Anrede, Betreff oder Wiederholung einer Aufforderung zur Äußerung mit Nennung des Erlasses und Geschäftszeichen, die Beantwortung früherer Anfragen, Schlussformel mit Zusammenfassung der Ergebnisse oder Anfrage etc. Da dies allgemein für die Schriftstücke der Ministerialverwaltung gilt, wird dies hier nicht weiter ausgeführt. Entscheidend ist im Rahmen solcher Anträge jedoch, dass durch Rückfragen wie z. B. detaillierteren Kostenaufstellungen der Prozess der Entscheidungsfindung hinausgezögert (bzw. verzögert) werden konnte. Dies führte bisweilen dazu, dass solche Taktiken antizipierend, bereits im Vorfeld eines Antrages zahlreiche Anlagen zur Erläuterung des Antrags mitgeliefert wurden, siehe unten. Zur Bedeutung technischer Sachgutachten im Prozess der Entscheidungsherbeiführung und -findung siehe die Einleitung und die Beiträge von Volker Hess sowie Axel C. Hüntelmann in Alexa Geisthövel / Volker Hess (Hg.): Medizinisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis, Göttingen 2017. Eine erste Kalkulation (Punkt III) im Antrag »Bedürfnisse der Kgl. Charité-Anstalt betreffend« vom 5. 9. 1835 reichte nicht aus und musste detailliert aufgeschlüsselt werden, siehe GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Promemoria: Die Bedürfnisse der Charité-Kranken-Anstalt betreffend, Anlage A: Überschlag der Kosten, welche bei Einrichtung des neuen Gebäudes die Beschaffung von 200 neuen Lagerstellen erfordern wird«, 17. 10. 1835.
Rekurrierend auf die Vorlagen des Kuratoriums für Krankenhausangelegenheiten beantragte das Kultusministerium im Oktober 1835 verschiedene Zuschüsse für die Charité: erstens ein Zuschuss in Höhe von 8500 Thaler für die Einrichtung der »Neuen Charité«; zweitens ein etatmäßig jährlicher Zuschuss in Höhe von 20.000 Thaler zum Unterhalt von 200 Krankenbetten beziehungsweise für die Mehraufnahme und Verpflegung von jährlich zwei- bis dreitausend Kranken; und drittens einen »extraordinären« Zuschuss in Höhe von 25.000 Thaler auf zwanzig Jahre (oder alternativ 20.000 auf fünf Jahre) zur Verbesserung baulicher Maßnahmen. In der sachlichen Begründung folgte das Ministerium im Wesentlichen der vom Kuratorium beziehungsweise von der Charité vorgegebenen Linie und fügte als Anlagen die ebenfalls vom Kuratorium erstellten Kostenberechnungen nebst Erläuterungen für die Einrichtung des bereits errichteten Gebäudes sowie für die zusätzlich notwendigen zweihundert Bettstellen (differenziert in Personal und Verpflegung) bei.
GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Promemoria: Die Bedürfnisse der Charité-Kranken-Anstalt betreffend« mit den Anlagen A–G, Geh. Reg. Rat Credé (MGUMA), 17. 10. 1835.
Zweifellos war es ein kluger Schachzug des Geheimen Rats Wilhelm Ludwig Credé, zwei alternative Zuschüsse für die Erweiterung anzubieten, vermutlich in der Annahme, dass der höhere (aber dafür auf zwanzig Jahre gestreckte) Betrag abgelehnt und der geringere Betrag (dafür binnen fünf Jahren mit höheren Beträgen) bewilligt würde. Weniger klug war es indes, Zuschüsse für die Einrichtung eines jüngst errichteten Gebäudes gleichzeitig mit einem »extraordinären« Zuschuss für einen weiteren Bau beziehungsweise bauliche Verbesserungen zu verquicken.
Man kann annehmen, dass der Antrag für die Bewilligung eines Nachtragshaushaltes für die Charité für 1836 alle Posten enthalten sollte (und nicht eine Vielzahl von Anträgen). Zwar wurde die Erweiterung zunächst für den Haushalt bewilligt, dann allerdings wieder von der Königlichen Ober-Rechnungs-Kammer mangels finanzieller Mittel abgelehnt mit dem Vorschlag, frühere Überschüsse (die längst anderweitig verausgabt waren) zu verwenden, erforderliche Baukosten aus anderen Fonds und die Übertragung finanzieller Mittel zu bestreiten und ggf. zu überlegen, die notwendigen Mittel durch den Verkauf von Krankenhausgrundstücken zu erzielen, siehe z. B. das Schreiben von Altenstein (MGUMA) an den preußischen Finanzminister Albrecht von Alvensleben am 19. 4. 1836 mit Bezug auf den Bericht des Kuratoriums für Krankenhaus Angelegenheiten wegen Dringlichkeit der für die Charité beabsichtigten Neubauten und die Unmöglichkeit die Kosten dieser Bauten und der Einrichtung des neuen Charité-Gebäudes aus dem »eigenthümlichen Fonds der Anstalt zu bestreiten« und bei seiner Majestät zu beantragen, die Überweisung zu bewirken. Siehe weiterhin die Ausführungen für den ordentlichen Etat 1837–1839 (Titel 24b), in dem Gelder für die Sanierung des Ökonomie-Gebäudes und des Pockenhauses diskutiert werden (für dessen Neubau bereits Bau-Stellen verkauft worden seien), in: GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, »Erläuterungen des Kuratoriums für Krankenhaus-Angelegenheiten zum Entwurf für einen Erweiterungsbau an das MGUMA«, 24. 10. 1836. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, MGUMA an das Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten, 9. 5. 1837. Zudem drehte man den 1837 den Spieß um: zwar liege die Charité in der finanziellen Zuständigkeit des preußischen Staates, diene aber städtischen Bedürfnissen und mit Entgegenkommen der Gewährung freier Verpflegungstage für die kranken Armen der Stadt verwies man darauf, dass es nicht angehen könne, dass die königliche Charité nach 1835 für die aus den Bedürfnissen der Stadt Berlin (der steigenden Bevölkerungszahl) erwachsende Erweiterung aufkommen solle, sondern dass diese aus städtischen Mitteln gezahlt werden müssten. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 240, Abschrift der königlichen Entscheidung als Anlage zum Schreiben MGUMA an das Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten, 9. 5. 1837.
Ohne die weiteren Irrungen und Wirrungen von Beantragung und Ablehnung, erneuter Beantragung mit erweiterter Begründung im Detail zu verfolgen, zeigt der kurze Ausschnitt aus den Verwaltungs- und Finanzakten des Kultusministeriums (und den Akten der Charité-Direktion), dass die administrativen Begründungszusammenhänge einer ganz anderen Zeitlichkeit und ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als denen in der Medizin gültigen folgten. Zunächst gilt es festzuhalten, dass der Antrag auf Grundsanierung und Instandsetzung des alten Gebäudekomplexes und Erweiterung des nun nicht mehr ganz so neuen Gebäudes über zwei Jahre lang abgelehnt wurde. Doch man kann außerdem konstatieren, dass sich die administrativen Gesetzmäßigkeiten zwar einerseits in mehrerlei Hinsicht von der Realität entkoppelt hatten, andererseits aber die Medizin (und hier in der Institution des Kuratoriums für Krankenhaus-Angelegenheiten und die Charité) die administrativen Gesetzmäßigkeiten antizipierte, entsprechend ihren Grundsätzen und Notwendigkeiten nach eigenen Gesetzmäßigkeiten handelte und einfach auf der Grundlage der Macht des Faktischen agierte. Denn während sich der Verwaltungsakt um die Bewilligung der Grundsanierung und Erweiterung hinzog, hatte die Charité-Verwaltung bereits damit begonnen, einen provisorischen Erweiterungsbau und ein Pockenhaus
Der Bau des Pockenhauses war bereits 1834 bewilligt worden, da ein 1827 geschlossener Vertrag zur Anmietung eines als Isolierstation verwendeten Gebäudes 1837 auslief, siehe die Akten zum Bau des Pockenhauses in: AHU CD, Nr. 1792. Siehe Scheibe: Zweihundert Jahre, S. 72; weiterhin die Bauakten zu den einzelnen Gebäuden in: AHU CD.
Dass die verschiedenen Krankenhausgebäude letztendlich doch gebaut und in den späten 1830erund 1840er-Jahren vollendet werden konnten war jedoch nicht allein dem beherzten Verwaltungshandeln der Charité-Leitung und der Schaffung von Fakten geschuldet, sondern die Macht des Faktischen beruhte (auch und vor allem) auf der steten Zunahme der Patientenzahlen, die wiederum aus der Zunahme der Einwohnerzahlen in Berlin (von 265.122 Einwohnern 1834 auf 409.020 Einwohner 1847)
Siehe Ilja Mieck: Von der Reformzeit bis zur Revolution (1806–1847), in: Wolfgang Ribbe (Hg.): Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, München 1987, S. 407–602, hier S. 480. Vgl. Mieck: Von der Reformzeit bis zur Revolution, S. 478–523.
Um die verschiedenen Rationalitäten, Gesetzmäßigkeiten und Regularien in der Medizin und der Ministerial- und Finanzverwaltung auszugleichen, balancierte die Charité-Verwaltung auf dem schmalen Grat zwischen Ignorieren, Lavieren und Antizipieren. In dem Antrag zur Bewilligung zusätzlicher finanzieller Mittel musste das Kuratorium Erfahrungen vergangener (abgelehnter) Anträge und die im Finanzministerium und der Ober-Rechnungskammer zuwiderlaufenden Gebote der Sparsamkeit berücksichtigen, indem die Lage so drastisch wie möglich geschildert wurde: Es gäbe Hospitalbrand, Pestilenz-Gestank; das Ökonomie-Gebäude müsse wegen Einsturzgefahr schon mehrfach gestützt werden – da nimmt es Wunder, dass das Gebäude bei der erneuten Antragstellung ein Jahr später überhaupt noch stand. Derartige drastische Schilderungen zielten – aufgrund der vermeintlich zwangsläufigen Notwendigkeit und Dringlichkeit – auf die (alsbaldige) Bewilligung der Mittel (und, wie oben erwähnt, bei Ablehnung des Antrags auf Entlastung von Verantwortlichkeit) – weniger drastische Schilderungen führen dazu, dass andere Projekte als dringlicher erachtet wurden und Vorrang hatten.
So wurde beispielsweise die Begründung für die Erhöhung des Baufonds 1852 kritisiert, da sie nicht hinreichend erscheine, um die Erhöhung zu rechtfertigen, siehe GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußisches Finanzministerium an MGUMA, 22. 3. 1852. Siehe die zahlreichen Monita in den jährlichen Protokollen der Königlich-Preußischen Ober-Rechnungskammer über die Abnahme der Rechnungslegung und die Akten zur Rechnungslegung der Charité-Kassen in: AHU CD, Nr. 1400–1403, 1405–1472.
Nach Ablehnung des extraordinären Zuschusses blieb der Krankenhaus-Verwaltung nur, zu lavieren und verschiedene Haushaltspositionen umzuschichten,
Was nicht ohne Risiko war, da der Rendant und der Inspektor mit ihrem persönlichen Vermögen für Fehlbeträge oder missbräuchlich verwendete Finanzmittel hafteten. Die Charité lag ursprünglich außerhalb der Stadt und war umgeben von Gärten und Feldern. Aufgrund der sich stetig ausdehnenden Stadt wurden ab 1836 immer wieder einzelne Parzellen des Krankenhausgrundstücks verkauft, siehe in: AHU CD die Übersicht über die Veräußerungen der Parzellen des Charité-Gartens (Nr. 2087, 2100, 2114) sowie über den Verkauf der »neuen Charitéparzelle« Nr. 1–11 (Nr. 2117, 2120–2125, 2127, 2128). Der Verkauf der Parzellen geschah nicht eigenmächtig, sondern musste zuvor vom Kultusministerium genehmigt werden.
Für die Ende der 1830er- und 1840er-Jahre errichteten Gebäude waren jeweils separate Anträge mit eigenen Begründungszusammenhängen gestellt worden. Nach verzögernder Klärung von Rückfragen durch das vorgesetzte Ministerium wurde die Genehmigung zum Bau erteilt und gegebenenfalls notwendige außerordentliche Finanzmittel wurden bewilligt. Vom Verfahren her ist der 1835 gestellte Antrag somit typisch. Die Genehmigung erfolgte allerdings zuweilen unter der Bedingung, »daß die königliche Charité-Direction im Stande sein werde, die Kosten für den Bau und die innere Einrichtung [in diesem Fall] des Lazareths, ohne Verstärkung des Zuschusses aus Staats-Fonds aus dem Kapital-Vermögen resp. den disponiblen Ersparnissen der Anstalt werde bestreiten können«
Preußisches Kultusministerium an die Charité-Direction, 3. 5. 1850, in: AHU CD, Nr. 1812 (Acta betr. den Bau eines Sommerlazaretts, Bd. 1 1850).
1852 wurde es dem Finanzministerium dann zu bunt. Mit der Bitte um »gefällige Auskunft« und Information, »welche von den im vorliegenden Etat aufgeführten Kapitalien zur Erbauung des Sommer-Lazarethts eingezogen und verwendet worden sind«, war eine geharnischte Kritik an der fortgesetzten Bautätigkeit und dem »unausgesetzten« Bau von »Luxus-Einrichtungen« verbunden:
GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußisches Finanzministerium an MGUMA (von Raumer), Bezug auf Schreiben vom 31 .7 – und Promemoria und Antwort auf Etat-Minderung und Zuschuß-Verhandlung, 26.8.1852, Ergänzungen in eckigen Klammern durch den Autor.
Mit seiner Interpretation des finanztechnischen und administrativen Handlungsspielraums war der neue Verwaltungsdirektor der Charité, Carl Heinrich Esse, über das Ziel hinausgeschossen. Nachdem Anträge »betreffend die Deckung von Defiziten« durch enervierende Nachfragen, Bitten um Erläuterung und Rügen schließlich Siehe die diesbezügliche Korrespondenz zwischen Charité-Direktion, MGUMA und Finanzministerium in GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 243 und 244. Delikat (und korrespondierend zu den »Luxuseinrichtungen«) war aus Sicht des Finanzministeriums auch, dass die Personalkosten um 1.235 Thaler stark gestiegen waren und sich diese Erhöhung nicht (nur) aus der steigenden Anzahl beschäftigten Personen ergab, sondern weil »diese Besoldungen nicht nur die Gehälter der Beamten gleicher Kategorie bei anderen Behörden« und »zum Theil das Einkommen den Ministerial-Beamten [!] übersteigen, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die bedeutenden Enrolemente der Charitébeamten denselben zu einem auffallend geringen Werthe in Anschlag gebracht sind und daher deren Einkommen in der Wirklichkeit sich noch weit höher beläuft, als im Etat angegeben ist.« GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Finanzministerium an MGUMA von Raumer betr. Verzögerung Erstellung Etat und Überlastung bei Erstellung des Staatshaushaltes, 6. 1. 1852. Diese Frage wurde indirekt auch in der Ablehnung zusätzlicher Mittel für die Grundsanierung und Erweiterung der Charité durch den König 1837 angeschnitten, da es auch die Frage betraf, wer letztlich für außerordentliche Kosten wie z. B. Baukosten aufkommen müsse. GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Entwurf Antwortschreiben MGUMA von Raumer an den preußischen Finanzminister, Schreiben abgeschickt am 14. 9. 1852.
Dass das Finanzministerium anderer Ansicht war und anzweifelte, dass die Charité Vorbild und Musteranstalt sein müsse, verwundert nicht; der Finanzminister war der Meinung, dass die Charité auch
GStA PK, HA I, Rep. 76VIIID Nr. 244, Preußischer Finanzminister an MGUMA von Raumer betr. den Etat der Charité, 25. 10. 1852. Aus den Akten der Charité-Direktion (HUA) geht hervor, dass das MGUMA wesentlich als Sprachrohr des Verwaltungsdirektor der Charité (Esse) fungiert und dieser, um Stellungnahme gebeten eine Rechtfertigung formuliert, die im Wesentlichen übernommen wurde.
Wie nun genau diese »wirklichen Bedürfnisse« aussahen, ob sie sich vornehmlich an finanziellen oder medizinischen Zielen orientierten sollten, darüber gingen die Meinungen auch zukünftig auseinander. Gleichwohl gelang es der Charité in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, den Etat kontinuierlich zu erhöhen. Dies lag weniger (oder nicht in erster Linie) an dem geschickten Vorgehen von Johann Nepomuk Rust oder dem vom Rendanten zum Ober-Inspektor beförderten Esse, der schließlich zum ersten Verwaltungsdirektor der Charité ernannt werden sollte, sondern eben auch an dem steten Bevölkerungswachstum Berlins, dass eine wiederholte Erweiterung der Krankenhausbett-Kapazitäten erforderlich machte, an der gestiegenen Reputation der Charité als »Musteranstalt«, dessen Direktion zunehmend selbstbewusst agierte, und schließlich an dem veränderten Anspruch des preußischen Staates, der einerseits die Bürokratie und die staatlichen Institutionen ausbaute und sich andererseits mit renommierten Institutionen wie solchen der Charité schmückte, um seinen Anspruch als Kulturstaat zu untermauern. Als Esse 1857 sein ›Handbuch‹ über die Einrichtung und Verwaltung von Krankenhäusern veröffentlichte, definierte er Standards hinsichtlich des optimalen Baugrunds und der Lage von Krankenhäusern, der idealen Einrichtung der Krankenzimmer und der Küche sowie der anzustrebenden Versorgung der Kranken. Das Buch war ein großer Erfolg und wurde 1868 um detaillierte Raumpläne ergänzt erneut aufgelegt.
Siehe Esse: Krankenanstalten; zu Esse siehe Erich Hilf: Carl Heinrich Esse (1808–1874). Der erste Verwaltungsdirektor der Charité. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte des Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Berlin 2003.
Im September 1835 verfasste das Königliche Kuratorium für Krankenhaus-Angelegenheiten einen umfassenden Bericht, in dem hygienische und bauliche Missstände in der Charité geschildert und zur Behebung derselben gesonderte finanzielle Mittel beantragt wurden. Der Bericht und die beigefügten Gutachten, Kalkulationen und Anlagen stellen einen nicht ungewöhnlichen Vorund Aktengang in der preußischen Ministerial- und Medizinalverwaltung dar – so wurde der Antrag erneut 1836 und 1837 gestellt und zahlreiche ähnliche Gesuche lassen sich auch später in den Akten des preußischen Kultusministeriums (und der Charité-Direktion) finden und waren regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten in der Krankenhaus- und Medizinalverwaltung. Sie können exemplarisch herangezogen werden, um multinormative Aushandlungsprozesse in der Medizinalverwaltung, mithin administrative Multinormativität, zu veranschaulichen.
Den hier in den Blick genommenen Ausgangpunkt bildet 1835 die Fertigstellung des zweiten Krankenhaus-Gebäudes, die »Neue Charité«, und die sich dadurch bietende Gelegenheit, das völlig marode alte Gebäude instand zu setzen und, aufgrund der dort herrschenden katastrophalen hygienischen Zustände, im wahrsten Sinne des Wortes zu sanieren. Vermutlich wurde die Krankenhausverwaltung beziehungsweise das Kuratorium von der Wirklichkeit – Bevölkerungsanstieg und der zur Aufnahme bedürftiger Kranker verpflichtende Vertrag mit der Stadt Berlin – eingeholt, denn das 1831 begonnene Gebäude erwies sich bei Fertigstellung offensichtlich als nicht ausreichend. Insbesondere die Ökonomie-Gebäude schienen kaum mehr geeignet, die Anzahl der bisherigen Patienten zu versorgen, geschweige denn zusätzliche Patienten. Um die Grundsätze medizinischer Praxis auch weiterhin befolgen zu können, herrschte innerhalb der Ärzteschaft und der breiten Öffentlichkeit Konsens über die zu treffenden Maßnahmen. Abhilfe sollten die Grundsanierung alter und die Erweiterung des neuen Gebäudes schaffen, wofür zusätzliche einmalige und regelmäßige finanzielle Mittel beantragt werden mussten.
An diesem Punkt trafen jedoch unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche – oder Teilsysteme, wenn man auf Luhmann rekurrieren möchte – aufeinander: Medizin und Politik beziehungsweise Verwaltung. Es reichte nicht aus, die beklagten (und öffentlich anerkannten) Mängel zu verschriftlichen. Um den Verwaltungsakt der Mittelbereitstellung auszulösen, musste der Tatbestand in einen Antrag übersetzt, durch externe Gutachten ›objektiver‹ Sachverständiger bestätigt und der zusätzliche Finanzbedarf
Im Verwaltungshandeln war auch der Faktor Zeit einzukalkulieren. Dringliche, nicht vorher sehbare Anliegen und Krisen konnten zwar die Legitimität des Anliegens (auch gegenüber konkurrierenden Anträgen) erhöhen, andererseits lief die Beantragung außerordentlicher Finanz mittel, d. h. außerhalb der Planungsperiode, den Verwaltungsregularien zuwider und bedeuteten einen erhöhten Verwaltungsaufwand, der wiederum Zeit beanspruchte. Dies antizipierend be antragte das Kuratorium beziehungsweise das Kultusministerium außerordentliche Finanzmittel und, auf die Zukunft gerichtet, eine reguläre, dauerhafte Erhöhung im Planungsetat. Die Berufung auf Dringlichkeit barg jedoch auch Risiken. Bei Wegfall des Anlasses (oder wenn sich der Anlass als weniger dringlich als dargestellt herausstellte oder die Krise überwunden war) entfiel auch die Notwendigkeit zur Bewilligung – so war zwei Jahre nach der ursprünglichen Antragstellung die Idee, vor Belegung des neuen Gebäudes das alte zu sanieren, obsolet geworden, weil sich das Zeitfenster geschlossen und der Normalbetrieb aufgenommen war. Überdies waren für die dringendsten Probleme andere Lösungen gefunden (Anmietung) oder die benötigten finanziellen Mittel aus anderen Fonds beschafft worden – wobei dies wiederum Verwaltungs- und Planungsprobleme nach sich ziehen konnte.
Innerhalb des Verwaltungshandelns der Charité trafen nicht nur Normen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen – Medizin, Verwaltung, Politik, Ökonomie – aufeinander, sondern es waren auch Normen unterschiedlicher Ausprägung miteinander in Einklang zu bringen: medizinische vs. finanzpolitische Grundsätze und Rationalitäten, verwaltungstechnische und kameralistische Regularien, Haushaltsgesetze und königliche Erlasse sowie unter Carl Heinrich Esse innerhalb der Krankenhausverwaltung auf Sparsamkeit abzielende dienstliche Instruktionen. In der Praxis der Verwaltung, wie die Beantragung zusätzlicher finanzieller Mittel, musste die Administration der Charité diese Multinormativität in Rechnung stellen.