Zwischen Rückzug und (Re-)Conquista. Ultramontane Strategien im Umgang mit Konfliktlagen im deutschen Kaiserreich der Jahrhundertwende1
Catégorie d'article: Research Paper
Publié en ligne: 30 sept. 2024
Pages: 61 - 70
DOI: https://doi.org/10.2478/sck-2024-0003
Mots clés
Kaiserreich, Konflikte, Kulturkampf, katholisches Milieu, Reformkatholizismus, Segregation, Ultramontanismus, Empire allemand, conflits, Kulturkampf, milieu catholique, catholicisme réformiste, ségrégation, ultramontanisme, German Empire, conflicts, Kulturkampf, Catholic milieu, reform Catholicism, segregation, ultramontanism
© 2024 Armin Owzar, published by Sciendo
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Kaum einer hat die Sehnsucht nach einer Einheit von Religion und Kultur so poetisch zum Ausdruck gebracht wie der deutsche Dichter Novalis in seiner 1799 gehaltenen, drei Jahre später in Auszügen und 1826 erstmals vollständig erschienenen Rede über Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo
Dass Novalis’ Verklärung dieser „schönen wesentlichen Züge der ächtkatholischen oder ächt christlichen Zeiten“ einschließlich der christlichen Missionstätigkeit2 wenig mit der historischen Wirklichkeit der vorreformatorischen Zeit Europas gemein hatte, auf dessen Boden ja schon im Mittelalter verschiedene Religionen und christliche Strömungen – wenn auch nicht immer friedlich – koexistiert hatten, war bereits den Zeitgenossen klar und musste sie befremden. So wie auch Novalis‘ utopisch anmutende Prognose („Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird“, Novalis 1999: 750) bei vielen seiner Zeitgenossen auf Unverständnis oder Widerspruch stieß. Ungeachtet dessen fungierte Novalis‘ Vision eines im Zeichen der Religion geeinten Kulturraums über 150 Jahre lang als Referenztext im politischen Europa-Diskurs – und das insbesondere in Zeiten, in denen Selbstdeutungen und Abgrenzungen Europas als christlicher Kulturraum eine hohe Konjunktur entfalteten: so etwa in den 1950er Jahren, als im Rahmen des Kalten Krieges das sogenannte Abendland-Konzept gegen die bolschewistisch-atheistische Sowjetunion in Stellung gebracht wurde (Schildt 1999; Conze 2005; Owzar 2022) oder im „langen 19. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm), als konservativ-katholische Intellektuelle gegen Laizismus und Säkularisation, gegen die Säkularisierung und die vermehrte Durchmischung ethnisch und konfessionell bis dahin relativ homogener Gesellschaften anschrieben.
Angesichts dieser Prozesse, die infolge der Hochindustria-lisierung und massiven Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Dynamik gewannen, stellt sich die Frage, welche Strategien die katholische Kirche, die wie keine andere Institution an der Zielvorstellung einer Einheit des christlichen Glaubens festhielt, verfolgt hat, um dieses Telos zu erreichen, und welcher Erfolg ihr damit beschieden war. Denn einerseits bildete die angestrebte (Wieder-) Herstellung einer Deckung von Religion und Kultur ein zentrales diskursives Element des ultramontanen Diskurses, jener Richtung und Sozialform des romtreuen und papstzentrierten Katholizismus, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte, im Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) triumphierte und die katholische Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962/65) nachhaltig prägte, u.a. durch ihre antiaufklärerische und zunehmend antiliberale Haltung und die „populist[ische] Tendenz u[nd] Benutzung moderner Mittel (Presse, Vereine, polit. Katholizismus)“ (Schatz 32001: 360-362). Diese vor allem im deutschsprachigen Raum auftretende und zunächst von jüngeren Klerikern getragene Be-wegung hatte sich während des preußischen Kulturkampfes (1871-1887) nicht nur innerhalb des deutschen Klerus, sondern auch in der 1870 gegründeten Zentrumspartei durchsetzen können (Fleckenstein / Schmiedl 2005). Andererseits blieb auch den Protagonisten des Ultramontanismus die wachsende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht verborgen, wie die um 1900 unablässig erhobenen Klagen über Entkirchlichung und Säkularisierung zeigen. Dieser Frage soll im Folgenden an einem konkreten Beispiel: den Strategien des ultramontanen Klerus und gleichgesinnter Laien mit Blick auf die Gesellschaft des deutschen Kaiserreiches um die Jahrhundertwende, nachgegangen werden. Denn aufgrund der plurikonfessionellen und -religiösen Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft und der daraus resultierenden Konflikte, die sogar auf die seit den 1880er Jahren annektierten Kolonien projiziert wurden („Kulturkampf in Übersee“, Gründer 1987), bietet dieser Untersuchungsraum viel Anschauungsmaterial für die Beschreibung religiöser Homogenisierungsstrategien. Dazu wird in einem ersten Schritt die konfessionelle Durchmischung der deutschen Gesellschaft und einer ausgewählten deutschen Kolonie, Deutsch-Ostafrikas (DOAs), skizziert, um in einem zweiten und dritten Schritt die daraus resultierenden Konflikte und die verschiedenen Strategien zu beleuchten, derer sich ultramontane Priester, Publizisten und Politiker mit Blick auf die allenthalben zu beobachtende Diversifizierung der Gesellschaft bedienten. Abschließend wird kurz erörtert, wie erfolgreich diese Strategien waren.
Dass sich eine Religionsgemeinschaft aus ihrem traditionellen kulturellen Umfeld löst, sich in neuen Kulturräumen etabliert, auf diese einwirkt und sich darüber selbst verändert, ist historisch gesehen kein seltenes Phänomen (Roy 2010; Schlögl 2013). Immer wieder – sei es im Rahmen expansionistischer Machtpolitik, sei es infolge von Migration – beobachtet man solche Transferprozesse: Prozesse, die teils friedlich erfolgten, teils von Konflikten überschattet waren. Je nach Konfliktlage gestaltete sich dabei das Verhältnis zwischen autochthonen und zugewanderten Religionsgemeinschaften höchst unterschiedlich, mit einem Spektrum, das von einem von Akzeptanz oder Toleranz geprägten Miteinander über ein Nebeneinander bis zu einem mitunter militant ausgetragenen Gegeneinander reichte.
Nichtsdestoweniger gab es selbst in der Neuzeit immer auch eher statische Phasen mit nur geringer Mobilität, in denen sich religiös oder konfessionell homogene Gebiete zum Teil über Jahrhunderte behaupteten. Das gilt selbst für Regionen wie das seit dem 16. Jahrhundert trikonfessionell geprägte Hl. Römische Reich deutscher Nation, dessen religiöse Landschaft bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein weitgehend erhalten blieb und wo wir wie in Teilen Bayerns noch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf rein katholische Gebiete stoßen. Erst durch den infolge von Flucht und Vertreibung massenhaft erfolgenden Zuzug evangelischer Schlesier ins katholische Ober- und Niederbayern und katholischer Sudetendeutscher ins evangelische Mittelfranken kam es hier zu einer tiefgreifenden und nachhaltigen konfessionellen Durchmischung – begleitet von zahlreichen Konflikten, aber auch einhergehend mit Prozessen der Modernisierung und Entprovinzialisierung (Erker 1988: 382f.). Ähnliche Entwicklungen lassen sich nach 1945 für Westfalen oder Norddeutschland konstatieren (Exner 1997: 65-69).
Im Vergleich dazu erscheinen die im „langen 19. Jahrhundert“ stattfindenden Durchmischungsprozesse, zumindest quantitativ gesehen, eher gering. Von den zunehmenden Binnenwanderungen, die seit den 1880er Jahren von einer Zuwanderung aus Ländern Mittel-, Ost- und Südeuropas ergänzt wurden, blieben vor allem ländliche Gegenden weitgehend unberührt. Aber auch in vielen deutschen Städten hielt sich der konfessionelle Wandel der Bevölkerungsstruktur in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rein quantitativ in Grenzen. So beschränkte sich die Zuwanderung nichtkatholischer Bevölkerungsteile in traditionell katholisch geprägte Städte, die wie Köln und Münster dank der auf dem Wiener Kongress verfügten territorialen Neuordnung an das Königreich Preußen gefallen waren, weitgehend auf protestantische Soldaten, Verwaltungskräfte und andere Funktionseliten. Ein nicht nur qualitativer, sondern auch quantitativer Wandel der Konfessionsstrukturen setzte, einhergehend mit einer geradezu explosionsartig erfolgenden Bevölkerungszunahme, erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein, namentlich in den von der Hochindustrialisierung erfassten Regionen wie Oberschlesien, dem Saargebiet oder dem später als „Ruhrgebiet“ titulierten Industrierevier, etwa durch den Zuzug polnischsprachiger Katholiken oder masurischer Protestanten. Im letzten Drittel dieses Jahrhunderts erlebten nun auch die protestantisch geprägten Großstädte im Norden, deren Konfessionsstruktur bis zur Reichsgründung von 1871 relativ stabil geblieben war, vor allem infolge von Arbeitsmigration eine zunehmende Durchmischung. So steigerte sich etwa in Hamburg der Anteil der Katholiken an der städtischen Bevölkerung zwischen 1871 und 1910 um mehr als das Doppelte (von 2,3 auf 5,1 Prozent). Berlin entwickelte sich nach Köln gar zur zweitgrößten Stadt des deutschen Katholizismus und damit zur größten katholischen Diasporastadt Europas (Krohn 1970: 56; Aschoff 1994, S. 66f.; Pammer 2007: 42-46). Die Urbanisierung erwies sich mithin als der „demographische Motor einer Auflösung der traditionellen konfessionellen Grenzen“ (Bendikowski 2002: 220). Ein besonderer Fall religiöser Begegnung und Durchmischung vollzog sich in jenen überseeischen Gebieten, die vom Deutschen Reich seit Mitte der 1880er Jahre als Kolonien annektiert worden waren. Trotz intensivierter missionarischer Bemühungen durch katholische wie evangelische Missionsgesellschaften hielt sich die Zahl europäischer Christen und indigener Konvertiten in Grenzen,3 so dass es hier nur sehr bedingt zu interkonfessionellen Kontakten vor Ort kam. Allerdings waren es gerade dieser Minderheitenstatus und damit einhergehend die Rivalität mit anderen Religionsgemeinschaften, die den afrikanischen, asiatischen und ozeanischen Christen eine ungewöhnlich hohe Aufmerk-samkeit in der öffentlichen Meinung des Reiches sicherten: vor allem in den weitverbreiteten Missionszeitschriften und auf Missions- oder Kolonialkongressen, aber auch in den Reichstagsdebatten, die in der Tagespresse wiedergegeben und kommentiert wurden (Gründer 1982; Jensz / Acke 2013). Es waren nicht zuletzt die Medien, die die konfessionelle Durchmischung mit all ihren Folgen erfahrbar machten. Die Kontakte zwischen Katholiken und Protestanten erfolgten mithin weder an der „Peripherie“ noch in der „Metropole“ ausschließlich auf direkte Weise, durch unmittelbare Begegnung vor Ort. Durch die seit dem Reichsdeputationshauptschluss (1803) einsetzende Neubildung bzw. Vergrößerung deutscher Territorialstaaten, namentlich die Ausdehnung Preußens, und die 1871 vollzogene Gründung des Deutschen Reiches, dessen Bevölkerung sich um die Jahrhundertwende zu etwa 62 Prozent aus Protestanten verschiedener Denominationen, rund 36 Prozent Katholiken und gut einem Prozent Juden zusammensetzte (Sautter 2004: 41f.; Pammer 2007: 19-38), waren Staaten mit einer konfessionell und religiös heterogenen Bevölkerung entstanden, die mittels überlokaler und -regionaler Organe und Institutionen, aber auch dank der Printmedien einen sich verdichtenden Diskursraum entstehen ließen, in dem die das Verhältnis zwischen Staat und Kirche regelnden Gesetze und die damit verbundenen Konflikte zwischen Laizisten und ultramontanen oder evangelischkonservativen Christen vermittelt und diskutiert wurden. Diese Form der Konfrontation war für die gegenseitige Wahrnehmung auch dann von Bedeutung, wenn die konfessionelle Homogenität vor Ort gewahrt blieb und sich die Zahl unmittelbarer Kontakte mit Konfessionsfremden auf ein Minimum beschränkte (s.u.). Sie trug in nicht unbeträchtlichem Maße zur Popularisierung bereits bestehender konfessioneller Auto- und Heterostereotypen (Köhle-Hezinger 1976) bei.
Insgesamt lassen sich fünf Felder unterscheiden, auf denen die medial verhandelten und vor Ort geführten Konflikte ausgetragen wurden: erstens eine weltanschauliche Ebene, auf der zumeist liberal gesinnte Laizisten mit konservativen Christen über naturwissenschaftliche Theorien (namentlich die Evolutionstheorie), geisteswissenschaftliche Narrative, aber auch Gesellschaftsentwürfe miteinander rangen; zweitens eine politischadministrative Ebene, mit Laizisten auf der einen, ultramontanen Katholiken und konservativen Protestanten auf der anderen Seite, die sich über das Verhältnis von Staat und Kirche, namentlich um die Ausgestaltung von Rechtsinstituten (wie dem Eherecht) oder die Schulaufsicht miteinander stritten (Lönne 1986: 151-191); drittens eine konfessionellreligiöse Ebene, auf der es um theologische Streitfragen, aber auch um die Missionierung Andersgläubiger ging, namentlich in den seit Mitte der 1880er Jahre errichteten Kolonien, wo evangelische Missionare und Missionswissenschaftler mit ihren katholischen Kollegen bei der Konversion der indigenen Bevölkerung miteinander rivalisierten (Owzar 2017); sowie viertens eine soziale Ebene, auf der katholische und evangelische Bürger bei der Rekrutierung staatlicher Funktionseliten (in Hochschule, Militär und Verwaltung) miteinander konkurrierten (Baumeister 1987) bzw. auf der „die latente Opposition katholischer ländlicher Unterschichten gegen die Ansprüche liberaler und meist protestantischer städtischer Führungsschichten sowie die Erbitterung katholischer Arbeiter über protestantische Eliten in Wirtschaft und Bürokratie“ zum Ausdruck kamen (Loth 1984: 17). Auch bei dem seit Ende der 1830er Jahre von Geistlichen geführten Kampf gegen gemischtkonfessionelle Ehen (Bendikowski 2002; Kraus 1991: 91f.) ging es nicht nur um die Taufe und die religiöse Erziehung der aus solchen Ehen hervorgehenden Kinder, sondern letztlich auch um mögliche Veränderungen von Besitzständen durch Vererbung und somit die sozioökonomische Stabilisierung der jeweils eigenen Konfessionsgemeinschaft. Darüber hinaus spielten fünftens auch „die Vorbehalte traditioneller Eliten gegen den modernen Nationalstaat, der Protest katholischer Bürger gegen den autoritären Zuschnitt des neuen Reiches“ (Loth 1984: 17) sowie regionalistisch geprägte Ressentiments, die sich wie im Rheinland, in Westfalen oder Hannover gegen die preußische Vorherrschaft oder wie in Elsass-Lothringen und Westpreußen gegen den deutschen Nationalstaat richteten, eine Rolle.
Die Konfliktlinien berührten mithin sämtliche Politikfelder und erfassten sämtliche sozialen und ethnischen Segmente der deutschen Gesellschaft. Sie verliefen nicht nur auf einer vertikalen Ebene: etwa zwischen katholischen Unter- und protestantischen Oberschichten,4 sondern auch auf einer horizontalen Ebene, vor allem innerhalb der Mittelschichten, zwischen katholischen und protestantischen Angehörigen des Bildungsbürgertums. In allen fünf Konfliktlagen ging es um klar definierte Interessen: um die Ausübung von Hoheitsrechten, um die Durchsetzung von Weltbildern, um die Stärkung der eigenen (Glaubens-) Gemeinschaft, um den Zugriff auf materielle Ressourcen oder um die Ausgestaltung föderaler Organisationsprinzipien – wobei die ultramontane Bewegung schon Mitte der 1870er Jahre die Deutungshoheit im deutschen Katholizismus gewonnen hatte. Denn so unterschiedlich sich die einzelnen entlang sozialer oder ethnischer Linien geführten Konflikte vor Ort auch gestalteten: Den gemeinsamen Bezugspunkt bildete die aufklärerischrepressive Kirchenpolitik Bismarcks und der Nationalliberalen gegen die katholische Kirche und die Zentrumspartei, die dank der überregionalen Vermittlung als Angriff auf die gesamte katholische Bevölkerung umgedeutet wurde. Diese Zusammenführung sämtlicher Konfliktebenen artikulierte sich nicht zuletzt in der sich seit Mitte der 1870er Jahre einbürgernden Verwendung des Kollektivsingulars „Kulturkampf“. Sämtliche der genannten Einzelkonflikte konnten fortan unter diesem Begriff, den der fortschrittsliberale Politiker und Mediziner Dr. Rudolf Virchow in einer im Januar 1873 vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus gehaltenen Rede geprägt hatte (Virchow 1873: 632), subsumiert werden – was sich als ein wichtiger Faktor für die Solidarisierung und Mobilisierung und damit die Ingroup-Bildung der katholischen Bevölkerung des deutschen Kaiserreichs erweisen sollte. Denn jeder Angriff auf jedem der genannten Felder konnte und sollte als Angriff auf die katholische Kirche und die Gesamtheit der katholischen Bevölkerung ausgedeutet werden und deren Identitätsbildung stärken. Aus katholischen Deutschen wurden auf diese Weise deutsche Katholiken oder, wie es später der österreichische Lexikograph Wilhelm Kosch definieren sollte, das „Katholische Deutschland“ (Kosch 1933 / [1938]). Explizit verstand Kosch im Vorwort seines Nachschlagewerks den „katholischen Volksteil“ als „eigene kulturelle Gemeinschaft“ bzw. „katholischen Kulturkreis“, auch wenn er gleichzeitig im Einklang mit dem damaligen völkischen Zeitgeist betonte, dass dessen Behandlung „aus dem Gefühl der völkischen Gemeinschaft“ heraus erfolge und „nicht im Sinn einer beabsichtigten Trennung oder Absonderung“ (Kosch 1933: 1).
Die Geschichtsschreibung ist dieser Selbstdeutung weitgehend gefolgt und hat nicht nur den Kollektivsingular „Kulturkampf“ als Fachterminus übernommen, sondern hat auch für die Gemeinschaft der kirchentreuen deutschen Katholiken einen Kollektivsingular geprägt: den des „katholischen Milieus“ (Lepsius 1973). Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass eine solche Art der Vergemeinschaftung mit höchst unterschiedlicher Intensität erfolgte und der politische Einfluss der Kirche stark variierte. In traditionell katholisch geprägten Regionen wie Nieder- oder Oberbayern war dieser nicht so stark wie in jenen ebenfalls traditionell katholischen Regionen, die wie das Münsterland aufgrund des preußischen Kulturkampfes in einem spannungsreichen Verhältnis zur Berliner Regierungspolitik standen. In protestantisch dominierten Großstädten wie Hamburg und Nürnberg waren die kirchlichen Bindungen der Katholiken so schwach, dass von einem stabilen katholischen Milieu nicht die Rede sein konnte, was sich sowohl in der geringeren Zahl an Jahreskommunionen als auch im Wahlverhalten oder in der Konversionsstatistik manifestierte.5 Das erschloss sich schon den Zeitgenossen. Phänomene wie die infolge von Arbeitsmigration steigende Zahl konfessioneller Mischehen und die zunehmende Entfremdung katholischer Arbeiter und Bürger von der katholischen Kirche riefen zahlreiche Kleriker auf den Plan, die in Reden und Predigten unablässig vor den Gefahren einer Entkirchlichung und Säkularisierung, vor Protestantisierung oder gar Sozialdemokratisierung warnten (Wolfgarten 1914).
Die unterschiedliche Dichte der Milieus resultierte nicht zuletzt aus dem unterschiedlichen Außendruck, der von Seiten der deutschen Bundesstaatsregierungen und seitens der liberalprotestantischen Eliten ausgeübt wurde. Dementsprechend variierten auch die Diskriminierungserfahrungen (etwa als „Reichsfeinde“). Bei polnischsprachigen Katholiken waren sie besonders intensiv, was wiederum deren Binnenintegration stärken sollte. Insofern verstellen im Kollektivsingular formulierte Bezeichnungen wie „das katholische Milieu“, „der deutsche Katholizismus“ oder „die deutschen Katholiken“ den Blick auf die vielfältigen sozioökonomischen und soziokulturellen Unterschiede innerhalb der katholischen Reichsbevölkerung. Sie suggerieren mitunter die Existenz eines einheitlichen Handlungsraums, den es so zunächst nicht gab und der als Erfahrungsraum erst durch die zeitgenössische Rede vom „Kulturkampf“ und vom „Katholischen Deutschland“ konstituiert wurde.
Nichtsdestoweniger eignet sich der Milieubegriff für eine historische Analyse – sofern man bei der Analyse zwischen zwei Erscheinungsformen unterscheidet. So existierten vielfältige lokale oder regionale „parochiale Milieus“, deren Mitglieder sich nicht nur durch eine gemeinsame Deutungskultur, sondern auch eine gemeinsame Lebensweise auszeichneten (Rohe 1992: 19-23; Tenfelde 1996: 248; Altermatt / Metzger 2003). In den Großstädten, zumal in jenen, die zur Diaspora zählten, lebten deren Mitglieder zwar nicht in konfessionell homogen zusammengesetzten Vierteln. Wohl aber bildete sich hier eine lokale, auf Face-to-Face-Kommunikation beruhende und oftmals nahe einer Gemeindekirche lebende Konfessionsgemeinschaft heraus. Religion und Kultur waren hier insofern deckungsgleich, als deren Mitglieder bevorzugt in von Katholiken geführten Einzelhandelsgeschäften einkauften bzw. Lokalen verkehrten, ihre Freizeit mit Angehörigen der eigenen Konfession verbrachten und vorzugsweise innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft heirateten bzw. einen andersgläubigen Ehepartner auf die Erziehung der Kinder im katholischen Glauben verpflichteten (Blaschke 2000; Blaschke 2002). Davon unterschied sich ein katholisches Makromilieu, ein vor allem über die Presse, den Verbandskatholizismus und Wahlkampf-Veranstaltungen der Zentrumspartei gebildeter Diskursraum, in dem Ereignisse auch von lokaler oder regionaler Bedeutung problematisiert und damit „nationalisiert“ wurden (Loth 2018: 95f.).
Ungeachtet aller bereits in den 1890er Jahren auftretenden Erosionserscheinungen sollten beide Milieu-Varianten bis Anfang der 1960er Jahre erhalten bleiben. Dafür zeichneten sowohl politische als auch soziale und kulturelle Faktoren verantwortlich. So war die Zentrumspartei bzw. nach 1945 die CDU/CSU die einzige demokratische Volkspartei, die mit einer auf sozialen Ausgleich ausgerichteten Programmatik sämtliche Klassen und Schichten adressierte und diese mit Hilfe des Verbandskatholizismus zu integrieren und zu mobilisieren verstand. Unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen klassen- und schichtenübergreifenden Strategie war freilich ein soziokultureller Außendruck, wie er zunächst vor allem durch antikatholische Protestanten, laizistische Liberale und Sozialisten ausgeübt worden war. Als dieser mit der Beilegung des Kulturkampfes (1887) nachließ, drohte eine Binnendifferenzierung, die letztlich eine Schwächung der seit Durchsetzung des Unfehlbarkeitsdogmas (1870) etablierten ultramontanen Deutungshoheit, ein Auseinanderbrechen des katholischen Makromilieus und die Entstehung neuer konfessionsübergreifender Identitäten zur Folge hatte (Loth 1991: 275-278).
Dass diese Gefahr bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannt wurde, davon zeugen die verschiedenen, zum Teil miteinander verzahnten, zum Teil höchst unterschiedlichen strategischen Manöver, derer sich die Kleriker in ihrer Rolle als katholische „Milieumanager“ (Blaschke 1996) bedienten, um das Makro-, aber auch die vielen Mikromilieus zu integrieren und einem drohenden Bedeutungsverlust zuvorzukommen. Zum einen setzte man weiterhin auf bewährte Formen vor allem nonverbaler Gemeinschaftsstiftung, um den Zusammenhalt der eigenen Gruppe nach innen erfahrbar und nach außen sichtbar zu kommunizieren, etwa durch die Präsenz im öffentlichen Raum bei Wallfahrten, Prozessionen oder kirchlichen Festen oder das demonstrative Fortbleiben bei evangelisch gelesenen Festen wie dem Sedantag.6 Zum anderen versuchte man, den seit Beilegung des Kulturkampfes nachlassenden Außendruck durch Bedrohungsszenarien zu kompensieren. So wurde auch nach 1887 permanent an den Kulturkampf erinnert und die Gefahr beschworen, dieser könne jederzeit wiederausbrechen. Manche Kleriker steigerten sich um die Jahrhundertwende in geradezu paranoide Prognosen eines aufziehenden Religionskriegs zwischen Katholiken und Nichtkatholiken. So etwa der Limburger Domkapitular Matthias Höhler, der den Protestanten vorwarf, den „Frieden zwischen den christlichen Konfessionen in Deutschland“ zu gefährden (Höhler 1890: 4); so aber auch protestantische Autoren im Umkreis des Evangelischen Bundes, die wie der evangelische Historiker Horst Kohl den Ultramontanismus beschuldigten, „den konfessionellen Frieden in Deutschland zu untergraben“, „das Werk der katholischen Gegenreformation mit erneuten Kräften wieder aufzunehmen und die Protestanten, sei’s mit Ueberredung, sei’s mit Gewalt, in den Schafstall Petri zurückzuführen“ (Kohl 1903: 1).
Dass trotz aller anhaltenden Polemik gegen Protestanten und Juden von einem drohenden Religionskrieg nicht die Rede sein konnte, davon zeugt schon der Umstand, dass es seltener noch als in den 1870er und 1880er Jahren zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Katholiken und Protestanten kam7 und auch das alltägliche Kommunikationsverhalten zunehmend deeskalierte. So lassen sich etwa interkonfessionelle Streitgespräche im Alltag kaum noch belegen. Vieles deutet daraufhin, dass die Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen – wenn sie denn einmal im Rahmen geselliger Anlässe aufeinanderstießen – nicht nur politische, sondern auch religiöse Themen aussparten. Sie folgten damit einer Norm, wie sie seinerzeit in nahezu allen zeitgenössischen Benimmbüchern ausgegeben (Ebhardt 1886: 283; von Franken 1907: 33f.) und auch von ultramontaner Seite empfohlen wurde. Hatten Kleriker die Gläubigen während der Kulturkampfzeit noch angehalten, auch im privaten Raum katholische Glaubenssätze gegenüber Anders- und Nichtgläubigen zu verteidigen, so rieten sie nun strikt davon ab (Owzar 2007). „Streite nicht mit dem bösen Feind herum“, trug Fructuosus Hockenmaier, ein Priester der bayerischen Franziskanerordensprovinz seinen Lesern auf: Nicht nur, weil „man durch eine offene Zurechtweisung“ oftmals nichts erreiche, sondern auch, weil man „durch eine unkluge Entgegnung“ Gefahr laufe, „die Sache nur noch schlimmer zu machen“ (Hockenmaier 1906: 90 und 238). Wie weit solche Aufforderung zur Gesprächs- und Kontaktvermeidung gingen, zeigt manche Predigt, in der den Gläubigen der Ratschlag erteilt wurde, in der katholischen Heimat zu bleiben. Für den Verzicht auf die in der Fremde zu erwartende Gehaltserhöhung oder Beförderung wurde eine großzügige Entschädigung in Aussicht gestellt („Zum Lohne dafür gingen auch die anderen Wünsche dieser frommen Leute in Erfüllung“, Mattner 1883: 107).
Sekundiert wurden solche Appelle durch eine intensivierte soziale Fürsorge und seelsorgerische Betreuung derjenigen Gläubigen, die bereits in der Diaspora lebten: etwa durch den zu diesem Zweck gegründeten Bonifatiusverein oder die zahlreichen neuen Gemeinden, die vorzugsweise in proletarischen oder kleinbürgerlichen Vierteln und Quartieren protestantisch geprägter Großstädte des Reiches errichtet wurden, also dort, wo sich viele der zugewanderten Katholiken niedergelassen hatten (Gallin / Höhle / Manthey 2015; Kösters 2014/2015). Diese auf Bestandssicherung des katholischen Milieus ausgerichtete Strategie ging seit der Jahrhundertwende einher mit einer Offensive gegen jene katholischen Kräfte, die sich den kulturellen Strömungen der Gegenwart öffneten und für einen interkonfessionellen Dialog oder gar eine konfessionsübergreifende Kooperation warben – mit dem Ziel, die bestehenden Gräben nicht nur auf partei- und verbandspolitischer Ebene, sondern auch in den Künsten und Wissenschaften zu überwinden. Die ultramontanen Deutungseliten, die dadurch ihr Monopol in weltanschaulichen wie in religiösen Angelegenheiten in Frage gestellt sahen, setzten alles daran, diese sogenannten Reformkatholiken, die sich keineswegs einem homogenen Lager zuordnen ließen (Graf 1998), zu disziplinieren – und das mit einigem Erfolg, wie der Ausgang nicht nur des Zentrumsstreits und Gewerkschaftsstreits (Loth 1984: 232-277), sondern auch des Modernismusstreits zeigt.
Einer, der die nun einsetzende Fokussierung nicht mehr so sehr auf den „äußeren Feind“ (die Protestanten und die Juden, die Liberalen und die Sozialdemokraten), sondern den „inneren Feind“ (die sogenannten Reformkatholiken) auf den Punkt gebracht hat, war der im schweizerischen Freiburg lehrende und von ultramontanen Katholiken als „Turmwart des deutschen Katholizismus“ und „einer der getreuesten, verständnisvollsten und durchschlagendsten Paladine des seligen Papstes Pius X“ verehrte Dominikanerpater Albert Maria Weiß (Weiß 1998: 133; Landersdorfer 1998: 195). In seiner 1925 erschienenen Autobiographie hat er seinen Umdenkungsprozess wie folgt beschrieben:
Bisher hatte ich die Prophetentätigkeit fast ausschließlich im Hinblick auf die Feinde des Christentums ausgeübt, entsprechend der herkömmlichen Ansicht, daß die Apologetik keinen andern Zweck habe, als diese zu bekämpfen und wenn möglich zu gewinnen. Allmählich sah ich jetzt ein, daß die Gefahren der Zeit auch im
Im Modernismusstreit manifestierte sich dieser Strategiewechsel u.a. in der vatikanischen Zensurpraxis, die sich nach 1900 nicht mehr auf die Indexierung von Publikationen Anders- oder Nichtgläubiger, sondern jener Katholiken konzentrierte, die im Verdacht standen, reformistische Gedanken zu verbreiten. Diese mussten fortan nicht nur mit einer Indexierung ihrer Werke rechnen, sondern auch mit der Entfernung aus dem Lehrdienst oder der Verschiebung der heiligen Weihe. Ein Prozess, der seinen Höhepunkt mit dem von Papst Pius X. am 1. September 1910 veröffentlichten Motu proprio
Auch wenn der Ultramontanismus sowohl mit Blick auf Europa als auch auf Außereuropa zu keinem Zeitpunkt von seinem Telos einer wiederherzustellenden Einheit des Glaubens abwich und an seinem universalen Missionsgebot festhielt: In seiner strategischen Ausrichtung zeichnete er sich durchweg durch eine gewisse Flexibilität aus. Kurz- und auch mittelfristig war dem zumindest in Deutschland durchaus ein beachtlicher Erfolg beschieden. Davon zeugt nicht zuletzt die Konsolidierung sowohl des katholischen Makromilieus als auch zahlreicher „parochialer Milieus“, deren Erosion nach Beilegung des Kulturkampfes jahrzehntelang zumindest verlangsamt werden konnte. Dieser Erfolg verdankte sich in nicht geringem Maße den ultramontanen „Milieumanagern“, die die Erinnerung an den im Kulturkampf von staatlicher Seite ausgeübten Außendruck aufrechterhielten. Langfristig aber war dieser Strategie kein Erfolg beschieden – ein Phänomen, das sich auch für andere moderne Gesellschaften beobachten lässt. Auch wenn sich nach wie vor stark segregierte „parochiale Milieus“ selbst innerhalb hochgradig diversifizierter Gesellschaften jahrhundertelang behaupten können – man denke nur an die protestantische Glaubensgemeinschaft der Amischen in den USA –, sind alle in der neueren und neuesten Zeit unternommenen Versuche, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Transferprozesse zwischen verschiedenen religiösen Gruppen zu blockieren oder gar die einst angeblich vorhandene Einheit von Religion und Kultur wiederherzustellen, gescheitert – zumindest solange auf die terroristische Anwendung von Gewalt verzichtet wurde.