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Von der Weltliteratur zum nationalen Erbe? Der Fall der Comtesse de Ségur

   | 04 juil. 2022
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Seit spätestens 1860 werden die Werke der in Russland geborenen und heutigen französischen Nationalikone Comtesse de Ségur (1799–1874) in Frankreich kontinuierlich verlegt. Zwischen 1856 und 1873 schrieb sie zwanzig primär an Kinder gerichtete Werke sowie fünf weitere, religiösen und didaktischen Charakters. Die Comtesse de Ségur und ihre Werke sind Gegenstand literarischer Erinnerungen u.a. bei Charles de Gaulle, Simone de Beauvoir, Nathalie Sarraute, Vladimir Nabokov und Marina Zwetajewa. Neben einer nach der Comtesse de Ségur benannten Rosenart und mehreren Straßennamen existieren auch ein Musée de la Comtesse de Ségur in Aube sowie die dort herausgegebene Zeitschrift Cahiers séguriens. Vor allem aber existieren ihre Werke bis heute in derselben Reihe wie 1860 – der Bibliothèque rose illustrée.

Der Buchhändler und Verleger Louis Hachette begann in den 1850er Jahren mit dem Aufbau seines Verlagsimperiums und orientierte sich dabei an den in europäischen Nachbarländern gängigen Praktiken: 1857 erschien Ségurs erster als Buch veröffentlichter Roman – in der Reihe Bibliothèque rose. Dabei handelte es sich um eine Unterreihe der von Hachette für den Eisenbahnbetrieb begründeten Paperback-Bibliothèque des chemins de fer. Diese wurde Reisenden an Bahnhofskiosken angeboten, für die sich Hachette die alleinigen Verkaufsrechte sicherte. Das Besondere am Verlegungsformat der ersten Bücher Ségurs war, dass es sich dabei erstmalig um eine an Kinder (und ihre Eltern) gerichtete Reihe handelte, für die es Hachette an Autoren mangelte. Zu Beginn der 1860er-Jahre wurde die Unterreihe für Kinder zur eigenständigen Reihe Bibliothèque rose illustrée (BRI) umgewandelt und nun auch in Buchhandlungen vertrieben. Bis heute werden die zwanzig Werke, die die Comtesse de Ségur zwischen 1856 und 1873 für diese Reihe schrieb, innerhalb der vielfach aktualisierten Reihe verlegt.

Ebenfalls seit spätestens 1860 zirkulieren die Werke der Comtesse de Ségur aber auch in größerem Maßstab außerhalb Frankreichs. Bereits 1859/1861 erscheint in Großbritannien die erste belegbare englische Übersetzung von Les malheurs de Sophie, eine US-amerikanische Ausgabe folgt 1866 (Malarte-Feldman 2001, Heywood 2017), schon 1860 liegen die Nouveaux Contes de fées in schwedischer Sprache vor (Kåreland 2001). 1864 erscheinen Les malheurs de Sophie auch auf Deutsch und Russisch. Führt man die bisherigen Übersetzungsuntersuchungen zusammen, wird ersichtlich, dass vor allem zwischen 1869 und 1930 zahlreiche Übersetzungen in Russland, Deutschland, Irland, Großbritannien, Portugal und Italien entstanden und vereinzelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Finnland und Japan zu finden sind. Bis heute folgten Übersetzungen ins Arabische, Belarussische, Hebräische, Polnische, Türkische oder auch Ukrainische. Nach bisherigem Kenntnisstand gibt es sogar ein Land, in dem zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg alle zwanzig Kinderbücher der Comtesse de Ségur übersetzt wurden: Spanien (Fraga 2017: 200–201). Veranschaulicht man sich tabellarisch die sprachlichen Akteursfelder und übersetzten Werke wird ersichtlich, dass die aus einzelnen Feenmärchen bestehenden Nouveaux Contes de fées, Les petites filles modèles und Les malheurs de Sophie (zusammengehörende Abenteueranekdotenrund um die zunächst ungehorsame kleine Sophie, die von den vorbildlichen Geschwistermädchen Camille und Madeleine positiv beeinflusst wird), Mémoires d’un âne (eine moralische Erzählung aus der Perspektive des manchmal störrischen Esels Cadichon), L’auberge de l’ange-gardien und Le Général Dourakine (ein zusammengehörender Zweiteiler mit hauptsächlich erwachsenen Protagonisten um den russischen General Dourakine – durak bedeutet auf Russisch Dummkopf –, der die Leser bis in die ungeordneten Weiten Russlands führt) am häufigsten übersetzt wurden – Werke, die zum Frühwerk der Autorin gehören und in Frankreich bis 1863 erschienen.

In Verbindung mit dem Folgenden lassen diese Erkenntnisse die Vermutung wagen, dass die Comtesse de Ségur in bestimmter Hinsicht nicht nur zum französischen Erbe gehört. Dies herauszuarbeiten ist nur möglich, wenn man den vorherrschenden autoren- und werkzentrierten Ansatz um einen editions- und verlagsorientierten Ansatz erweitert. Die Kennzeichnung „autoren- und werkzentriert“ soll die weitestgehende Ausblendung anderer Faktoren als Autor und Werk unterstreichen; „editions- und verlagsorientiert“ deutet einen vermuteten Einfluss auf Autorenschaft und Werk an, bezieht letztere also mit ein, geht aber davon aus, dass Verlag und Editionswesen miteinbezogen werden müssen.

Für das 20. Jahrhundert sieht auch Leão 2009 für Brasilien einen solchen Zusammenhang.

Ziele der Editionswissenschaft werden dabei zwar impliziert und bieten im Falle der Comtesse de Ségur auch immer noch Untersuchungsbedarf, sind aber eigentlich auch werkzentriert im Sinne einer Konzentration auf die wissenschaftlich fundierte Rekonstruktion von Originaltexten. Im Falle translations-wissenschaftlicher Forschung würde das aber auch heißen, dass eine Übersetzung wegen des Textes und/oder Autoren erfolgte. Im Vorliegenden geht es aber um die Zirkulation in andere kulturelle Akteursfelder und die Frage, was eigentlich verbreitet wurde. In einem autoren- und werkzentrierten Verständnis wären es im Fall der Comtesse de Ségur ihre Texte; in einem editions- und verlagsorientierten Verständnis gibt es die Texte der Comtesse de Ségur zunächst nicht ohne das verlagsgesteuerte Medium einer neu editierten und edierten Buchreihe. „Edition“ hat in diesem Sinn also die materielle Ausgabe und vom Autor unabhängige Herausgabe im Blick und schreibt ihr Bedeutung zu.

Der autoren- und werkzentrierte Blickwinkel auf die Comtesse de Ségur in Frankreich betont die dortige national-kulturelle Verankerung und lässt fragen, ob das patrimoine Comtesse de Ségur schon immer patrimoine war oder nicht vielmehr über die zwei Jahrhunderte erst geworden ist? Sollte ihr erst im Laufe der Zeit eine national geltende Bedeutung in Vergangenheit, Gegenwart und für die Zukunft zugeschrieben worden sein – wie ich vermute

Ich wurde darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert simultan nationale und internationale Entwicklungen stattfanden. Dem stimme ich zu – ebenso wie der Auffassung, dass auch das Verständnis von „Nationalliteratur“ seitdem Änderungen erfuhr. Die Pointierung hier zielt mehr darauf ab herauszuarbeiten, dass die Bedeutungszuschreibung in Frankreich heute eine andere ist. Diese bei Untersuchungen für das 19. Jahrhundert zu Grunde zu legen, kann zu Fehldeutungen führen. Am Beispiel der Comtesse de Ségur zeigt sich das an einer bislang trennenden Perspektive (Frankreich vs. andere Länder).

–, würde eine autorenund werkzentrierte Motivationserklärung für Übersetzungen im 19. Jahrhundert und damit zu Lebzeiten der Autorin scheitern. Es würde vielmehr dafür sprechen, dass sie zu Lebzeiten zur Weltliteratur gehörte.

Schon für den Kulturtransfer nach Russland lässt sich mit den Mitteln von Michel Espagne und Michael Werner (Espagne/Werner 1985, 1987, 1988a, 1988b; Werner 1995; Espagne 1997, 1999) am Beispiel der Comtesse de Ségur zeigen, dass eigentlich für die heutige Zeit typische Globalisierungsprozesse zu Lebzeiten der Autorin trotz einsetzender Nationalisierung vorhanden waren.

Während beim Kulturtransfer die véhicules und Mittler im Zentrum stehen sollten, soll hier die Bestimmung des „Kulturgutes“, möglicher „Konjunkturen“ und die Eruierung von Konjunkturen mit longue durée im Fokus stehen. „Konjunkturen“ können als Phasen beschrieben werden, die „sowohl eine auffällige Dichte der Zuwendung zu bestimmten ausländischen Kulturelementen als auch eine jeweils historisch-spezifische Aneignungsweise“ (Middell 2000: 20) aufweisen. Sie werden daher üblicherweise für das kulturelle Zielakteursfeld, hier Russland, bestimmt und können im Idealfall zeitlich eingegrenzt werden.

Um aber das Kulturgut bestimmen zu können, wird dies auch für das Herkunftsakteursfeld Frankreich versucht. Hintergrund ist die Annahme, dass das heutige Kulturerbe Comtesse de Ségur viel mehr Facetten umfasst als das Kulturgut des 19. Jahrhunderts. Die Comtesse de Ségur ist in Frankreich heute patrimoine, gehört zum patrimoine français und „es wäre naiv anzunehmen, die unterschiedlichen Bemühungen um das kulturelle Erbe, um dessen Bewahrung, Erhaltung, Wiederbelebung […] würden die davon betroffenen Kulturphänomene [hier Kulturgut, J.E.] selbst in ihrer Konsistenz nicht radikal verändern“ (Schneider 2004: 37). Während ‚Kulturgut‘ auch inaktiv im kollektiven und kulturellen Gedächtnis existieren kann – und damit enger gefasst ist als ‚Kulturerbe‘ – ist die Comtesse de Ségur aktiver Bestandteil sowohl des kulturellen als auch des kollektiven Gedächtnisses Frankreichs. Die Besonderheit besteht darin, dass sie sowohl materielles als auch immaterielles sowie persönliches Kulturerbe ist. Damit einher geht eine Materialität, die in der Regel in kommemorierenden Institutionen, Denkmälern und Artefakten sichtbar wird: „Es gibt Kultur nicht ohne Materialität; mithin ist alle Kultur materiell“ (Scharfe 2005: 94, zitiert nach Schneider/Flor 2014: 21), „[w]as heißt: sie ist nur in materialisierter Form sicht-, hör- oder greifbar […]: sie muss sich materialisieren“ (ebd.). Es ist davon auszugehen, dass viele dieser Bemühungs- und Materialisierungsprozesse im Hinblick auf die Comtesse de Ségur vor allem in Frankreich erfolgten. Der mit einem Verständnis von Kulturerbe einhergehende autoren- und werkzentrierte Ansatz kann daher nicht zwangsläufig für Übersetzungsuntersuchungen im 19. Jahrhundert zugrunde gelegt werden.

Im Falle der Comtesse de Ségur spielt Materialität noch eine weitere Rolle, die im Zusammenhang mit dem verfolgten editions- und verlagsorientierten Ansatz steht: Bereits 1988 heißt es nämlich in F. Bluches Le petit monde de la Comtesse de Ségur, das auch äußerlich eine Zugehörigkeit zur BRI aufweist, „La Bibliothèque rose fait partie du patrimoine français“ (Bluche 1988: Klappentext).

In anderer Form wurde Le petit monde de la Comtesse de Ségur eigentlich schon 1964 unter dem Namen Paul Guérande und nicht bei Hachette veröffentlicht.

Diese Komponente würden wir als nicht-französische Leser der Comtesse de Ségur heute bei einem autoren- und werkzentrierten Ansatz nicht mitdenken. Die BRI wurde bis zur Neukonzeption in den 1930er-Jahren farblich (Gold auf Rot) und vom Format einheitlich gestaltet und hatte neben dem aufwändigen Cover für jedes Werk eigens angefertigte Illustrationen: „[…] la maison Hachette […] a publié […] sous le même plat de couverture, 451 ouvrages signés de 150 auteurs différents. La maquette de couverture est un élément constitutif de toute collection ; elle en est la mémoire visuelle, elle agit comme un signal sur le lecteur. La similitude de l’apparence est comme la promesse d’une égale satisfaction“ (Nières-Chevrel 2007: 10). Für sie ist die Reihe daher auch ein Erinnerungsort, „car elle me semble constituer un véritable ‚lieu de mémoire‘ de la culture française, au-delà des classes aisés et au-delà de nos frontières“ (ebd.: 9).

Dass letzteres absolut richtig ist, wird erst in einer parallelisierenden Zusammenfassung aller bisher bekannten Untersuchungen – meist autoren- und werkzentriert – zu Übersetzungen der Werke Ségurs ersichtlich: Für die Zeit zwischen 1860 und mindestens 1930 häufen sich die Befunde, dass eine Vielzahl der Übersetzungen Ségurs dieselben Illustrationen der BRI-Ausgabe aufweisen, Soft- und Hardcover-Varianten existieren und vor allem in Reihen erscheinen, die mitunter in übersetzter Form denselben Namen wie die BRI tragen und/oder weitere Autoren aus der BRI in Kombination mit Autoren aus dem jeweiligen kulturellen Zielakteursfeld aufweisen (Colin 1992, Kåreland 2001, Malarte-Feldman 2001, Renonciat 2001, Vila Maior 2001, Kisaichi 2005, Nières-Chevrel 2007, Heywood o.J., 2013 und 2017, Fraga 2017, Ettrich 2014 und 2018). Auffällig ist auch die Feststellung, dass die französischen Original-BRI-Ausgaben, mitunter aber auch die Reihen-Ausgaben in anderen Sprachen, überall zirkulierten – in einigen Ländern wie z.B. Japan auch aus dem Englischen, nicht dem Französischen, übersetzt wurden, was ich für Russland zum Ende des 20. Jahrhunderts ebenfalls bestätigen kann.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sollen im Folgenden begünstigende Faktoren der Entwicklung der Comtesse de Ségur zum patrimoine in Frankreich kurz nachgezeichnet werden, die auch das Vorherrschen eines autoren- und werkzentrierten Ansatzes erklären. Am Beispiel von Ergebnissen einer Transferuntersuchung nach Russland soll dann herausgearbeitet werden, dass mit einem verlags- und editionsorientierten Blickwinkel Parallelen zutage treten, die nicht oder nicht vollständig mit dem autoren- und werkzentrierten Ansatz zu erklären sind.

DIE COMTESSE DE SÉGUR: HÉRITAGE(S) UND PATRIMOINE

In Folge 4 (Min.: 54) der France Culture Podcast-Reihe „Grande traversée: la Comtesse de Ségur, sans manière“ wird der Literaturwissenschaftler Francis Marcoin im August 2021 vom Moderator gefragt, ob es für die Comtesse de Ségur auch einmal „une traversée du désert“ gab? Marcoin neigt eher zu einer Verneinung und begründet diese u.a. mit dem Hachette-Verlag, der v.a. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „dominait largement le secteur“. Tatsächlich ist dies eine der wenigen verifizierbaren Tatsachen und spricht für einen editions- und verlagsorientierten Ansatz. Aber ist dies der einzige Grund für die dauerhafte Wirkung der Comtesse? Eine weitere piste wird direkt im Anschluss bei Minute 54:51 verfolgt: „Pour devenir un classique, même si on a beaucoup de succès[, il faut] qu’après votre mort il y ait des gens qui se mobilisent pour que vous soyez adapté, pour que vous soyez lu. […] Ce qui a beaucoup joué, c’est l’investissement de ses enfants et de ses petits-enfants.“ Bei fast dreißig héritiers (Kinder und Enkelkinder der Comtesse de Ségur) bekommt eine Erbe-Diskussion im Falle der Comtesse de Ségur noch eine weitere Dimension: Deren héritage(s) – verstanden als Beitrag zur Tradierung in Frankreich, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Autorin fast jedes ihrer BRI-Werke einem Enkelkind widmete. Dass beide genannten Komponenten – und damit eine Mischung aus materieller (Buch) und immaterieller (Erinnerung) Tradierung maßgeblich zum patrimoine-Werden der Comtesse de Ségur beigetragen haben, soll in neun Konjunkturen skizziert werden.

DIE ENTWICKLUNG ZUM PATRIMOINE FRANÇAIS: KONJUNKTUREN

1856 setzt in Frankreich Konjunktur 1 ein: Ségurs erste Werke bei Hachette werden als Fortsetzungsromane in der Hachette’schenZeitschriftLa semaine des enfants vorab publiziert und fast parallel in der Bibliothèque des chemins de fer in der rosafarbenen Unterreihe für Kinder als Paperback-Bücher veröffentlicht. Diese Phase geht direkt in die Ausgründung der Reihe Bibliothèque rose illustrée (etwa 1860/1863) und damit in Konjunktur 2 über. Es handelt sich um eine eigenständige Konjunktur, weil die Vertriebsform erneuert wird. War die Bibliothèque des chemins de fer „nur“ an Bahnhofskiosken erwerblich, wurde die BRI nun in Buchhandlungen vertrieben. Diffizil und außergewöhnlich ist hier die Festlegung eines Enddatums der Konjunktur, denn: Die Reihe Bibliothèque rose mit den zwanzig für Hachette geschriebenen Werken Ségurs existiert ohne Unterbrechung bis zum heutigen Tag. Das eigentlich für die kulturellen Zielakteursfelder genutzte Kriterium Espagnes und Werners der longue durée wird daran wohl am beispielhaftesten ersichtlich. Mit dem Medium BR(I) ist die Comtesse de Ségur dauerhaft im französischen Akteursfeld präsent und wirkt daher langfristig prägend. Die aufkommende kontrafaktische Frage – möglicherweise provokativ – ist dann aber, was gewesen wäre, wenn die Reihe nicht durchgängig existiert hätte? Da die Frage nicht beantwortet werden kann, folgt aus der 160 Jahre dauernden Konjunktur zunächst: Die Reihe BRI war ein maßgeblicher Faktor für die dauerhafte Tradierung der Comtesse de Ségur. Würde man die Konjunktursuche hier abbrechen, bliebe immer noch die Frage offen, warum von fast 500 Titeln und Autorinnen und Autoren der Reihe BRI im ausgehenden 19. Jahrhundert nur die zwanzig Titel der Comtesse de Ségur noch heute in der Reihe existieren? Sehr deutlich tritt hier ein Selektionsprozess im Laufe des 20. Jahrhunderts zutage. Dieser lässt annehmen, dass es weitere Konjunkturen gegeben haben muss. Sie zu beschreiben ist hingegen aufgrund fehlender Untersuchungen zu Leserschaften, Leserezeption und vor allem soziokulturellen und sozialwissenschaftlichen Milieu-Studien deutlich schwieriger.

Es erscheint mir sinnvoll, eine Konjunktur zu eröffnen, die die Autorin Comtesse de Ségur direkt scheinbar gar nicht betrifft. Ich vermute hier jedoch soziokulturelle Implikationen, die einer weiteren methodischen Untersuchung bedürften: Konjunktur 3 beginnt spätestens mit dem Tod Ségurs 1874 und dauert etwa bis in die 1930er-Jahre. Ségurs Töchter und Enkel (letztere waren den Lesern aus den Widmungen der Autorin mit Namen bekannt) sowie ihre russische Nichte werden mit den Nachnamen „née de Ségur“ oder „Comtesse Rostoptchine [sic!]“ (1880) mit einem oder mehr Titeln innerhalb der Reihe BRI bei Hachette unter Vertrag genommen (z.B. ihre Töchter Olga de Pitray und Henriette Fresneau, ihr Enkel Paul de Pitray, vgl. Mémoires d’un âne: Reihenverzeichnis und IMEC HAC 88 Registre Hachette 8 [1912–1921]: 25). Während die Werke weder einer textimmanenten Untersuchung noch einer Pfadabhängigkeitsstudie unterlagen, deuten sich dennoch drei Erkenntnisse an: Der Name „Comtesse de Ségur, née Rostopchine“ war spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits eine Eigenmarke und Verkaufsgarant. Gewissermaßen kann man hier in Analogie zu Marktprozessen von einem Branding sprechen. Im historischen Gesamtkontext bis etwa zum Ersten Weltkrieg deutet sich dabei aber auch an, dass der Werdegang zur Eigenmarke mit den männlichen Vertretern der Adelsgeschlechter de Ségur und Rostopchine in Zusammenhang steht und möglicherweise Einfluss auf das Käuferverhalten der Eltern bei den Kinderbüchern hatte. Konjunktur 3 lässt aber vor allem annehmen, dass bis spätestens 1900 die Comtesse de Ségur inhaltlich mit ihrem Werk etabliert war.

Zeitlich würde das auch zur nächsten Konjunktur 4 passen: Teilweise parallel zu Konjunktur 3 rückt die Autorin Sophie de Ségur biographisch im Sinne eines familiären héritage in den Vordergrund. Zwischen 1890 und dem Zweiten Weltkrieg erscheinen Memoiren, Briefwechsel und die ersten Biographien. Ihre Tochter Olga de Pitray veröffentlicht 1891 Ma chère maman. Souvenirs intimes et familiers sowie bei Hachette Lettres au vicomte et à la vicomtesse de Pitray; ihr Sohn, Monseigneur Gaston de Ségur, 1893 Ma mère. Souvenirs de sa vie et de sainte morte. 1898 erscheinen Lettres d’une grand’mère, die die Comtesse de Ségur an Jacques de Pitray, Olgas Sohn, schrieb. Die Pitraysche Familiendarstellung endet 1939 mit Ségurs Urenkelin Arlette de Pitray und ihrer Biographie Sophie Rostopchine, comtesse de Ségur – nicht aber die literarische Produktion der Familie. Auch die frankophone russische Nichte Ségurs, Lydie Rostopchine, trägt mit Les Rostopchine (Chroniques de famille) 1909 ihren Beitrag zur Beleuchtung der russischen Familiengeschichte bei. Die ersten bekannten familienexternen Biographien stammen von Zeiller (1913) und Chenevière (19324).

Konjunktur 5 verläuft teilweise parallel in den 1920er- und 1930er-Jahren und ist wie Konjunktur 3 gar nicht direkt mit der Autorin Comtesse de Ségur, aber nunmehr mit ihrem literarischen héritage und einem familiären héritier verbunden: Ihr Enkel Paul de Pitray erhält von Hachette die Genehmigung, aus ihren Werken einer Theaterreihe zu schreiben (Théâtre rose, s. IMEC HAC 88 Registre Hachette 9 [hier 1924–1925]: 355–357; 452f.).

Konjunktur 6 ist wie Konjunktur 2 von einer tatsächlichen, aber unterschiedlich verlaufenden longue durée geprägt und dauert eigentlich auch bis heute. Sie beginnt mit der Zäsur des Übergangs der Rechte am Werk Ségurs in den öffentlichen Raum 1930. In der Folge gibt es kaum einen französischen Verlag, der nicht eines oder mehrere ihrer Werke zusätzlich zur weiterbestehenden BRI verlegt hätte.

Vgl. dazu die von Legros gelisteten Verlage im Anhang ihres zweiten Bandes, S.815 f.

Während es in der französischen Erinnerung (s.o.) nie eine „Ebbe-Phase“ gegeben hat, zeigte Legros (insb. Band 2 1996: 763–802) auf, dass der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit keine aktive Comtesse de Ségur-Zeit war und infolge der zeithistorischen Ereignisse einen Auszeitzustand darstellt. Es handelt sich nicht um eine Konjunktur, da diese Zeit nach derzeitigem Kenntnisstand keinen Einfluss auf die weitere Tradierung Ségurs hatte, auch wenn zumindest bei Hachette in den 1940er und 1950er Jahren keine weiteren Auflagen mehr produziert wurden. Denkbar sind hier Gründe, die auf Materialmangel und Produktionsschwierigkeiten sowie den Wiederaufbau zurückzuführen sind. Allerdings deutet die danach bei Hachette einsetzende Produktion darauf hin, dass es noch andere Gründe gegeben haben muss. Bis etwa in die 1970er Jahre existieren die Werke Ségurs bei Hachette eher in den zuvor gedruckten Exemplaren als in einer erneuten aktiven Publikationspolitik, wie sie bis etwa in die 1930er-Jahre verfolgt wurde.

Konjunktur 7 müsste eigentlich aufgrund von einigen Zäsuren in weitere Konjunkturen unterteilt werden, wird hier aber aus Platzgründen und vor allem ähnlichen Tendenzen und Wechselwirkungen zusammengefasst: Diese Konjunktur ist gekennzeichnet durch das Erscheinen von neuen Gesamtausgaben der Werke Ségurs. Wichtig ist hier, dass damit erstmals ein klares Verständnis des Ségurschen Œuvres fixiert wird: Ihr Œuvre besteht aus den zwanzig bei Hachette erschienenen Texten innerhalb der BRI; es umfasst nicht die weiteren fünf Werke religiösen und ratgebenden Charakters.

Da der Begriff Œuvre ein Gesamtwerk – also alle Schriften eines Autors – umfassen kann, findet sich später auch Œuvre romanesque (vgl. z.B. Murail 2015).

Damit einhergehend und durch editorische Komponenten unterfüttert wird das Œuvre-Werden durch parallele Ausgaben nicht mehr nur in Kinder-, sondern auch Erwachsenengewand. Als Pionierarbeit für den Interpretationswechsel Ségurs steht Pierre Bletons 1963 erschienenes La vie sociale sous le Second Empire. Un étonnant témoignage de la comtesse de Ségur: Wurde Ségur zuvor noch weitestgehend als Kinderbuch-Autorin und damit als Trivialliteratur (vgl. z.B. Adler 1970) abqualifiziert, werden ihre Werke nunmehr als Zeitzeugnisse des Second Empire gesehen. Zwischen 1960 und 1990 erscheinen drei Gesamtausgaben in drei Verlagen: Jean-Jacques Pauvert hatte in den 1960er-Jahren eine Neuauflage der zwanzig Kinderbücher initiiert und realisiert (in Umlauf gebracht durch den Cercle du Bibliophile, was erneut auf eine Kombination von Autorin und ihren Werken in einer aufwändig gestalteten Reihe deutet).

Soweit sich dies nachverfolgen lässt, erschien diese im Nachdruck insgesamt in vier verschiedenen Aufmachungen in den 1960er- und 1970er-Jahren: im roten, dann blauen Hardcovergewand, in Softcover/Paperback ohne Illustrationen sowie als Kinderausgabe mit rosa Hardcover.

Neben der Reihenkonzeption finden sich in dieser Gesamtausgabe erneut die Illustrationen des 19. Jahrhunderts. Besondere Bedeutung ist vermutlich auch der zeitgleichen Veröffentlichung in einem ‚Erwachsenen-Design‘ beizumessen: die Veröffentlichung aller zwanzig BRI-Bände im Romangewand als Paperback – ebenfalls in den 1960er-Jahren – sowie eine ‚Sonder‘-Ausgabe und -auflage von La Fortune de Gaspard. Roman [!] présenté par Marc Soriano 1972,

Die Archivmaterialien zeugen außerdem davon, dass bspw. auch in Deutschland dadurch erstmalig Notiz von diesem Titel Ségurs genommen wurde und Übersetzungsinteresse bestand, vgl. IMEC HAC 1696, 2. Untermappe, Postkarte aus München vom 30.08.1972 vom Verlag Rogner & Bernhard.

die in den Medien breit diskutiert wurde.

Vgl. zum Entstehungsprozess bei Pauvert für seine Neuauflagen IMEC HAC 1557, 1696 und für die mediale Diskussion zwischen 1964 und 1973 die gesammelten Zeitungsausschnitte IMEC HAC 1513, 1557.

Die Roman-Gestaltung (Paperback) und auch langsam sich einstellende Bezeichnung als roman scheinen den Grundstein für eine literarische Legitimierung der Autorin zu legen – auch eine Neuausgabe bei Hachette im Rahmen der Reihe Grandes Œuvres deutet auf eine Status-Aufwertung hin: Der damalige Cheflektor der Jugendabteilung von Hachette initiiert in den 1980er Jahren eine Neuauflage des Œuvre romanesque, die zudem einen gesonderten Band Grand Album Comtesse de Ségur (1983) mit Material zur Person und Autorin Comtesse de Ségur selbst beinhaltete.

S. zum Entstehungsprozess und den Bemühungen des Cheflektors Jacques R. Leclercq IMEC HAC 6009, 6292.

Abgeschlossen wurde diese Neuauflage mit Bluche 1988.

Wie erwähnt, gilt dann die BRI als patrimoine. Diese ‚Neu-Vermarktung‘ zunächst für Erwachsene, dann Intellektuelle und dann wieder das Jugendpublikum suggeriert eine aktiv gewollte Tradierung über mehrere Generationen. Die neue Hachette-Ausgabe fällt zeitlich auch mit der Öffnung der Hachette-Archive zusammen, wodurch erstmalig unzugängliches Quellenmaterial für den wissenschaftlichen Diskurs überhaupt erst dingbar gemacht werden konnte (so liest sich zumindest Mollier 1999: 9). Die Endphase dieser Konjunktur mündet in den Eingang Ségurs in die französische Editionsgeschichtsschreibung (Chartier/Martin (dir.) 1985: 17), während in der Literaturgeschichtsschreibung und -wissenschaft laut Nières-Chevrel zwischen 1981–1991 ein Wendepunkt der Auseinandersetzung mit dem (bis dahin literaturwissenschaftlich und -theoretisch devaluierten) Genre Kinderliteratur und damit auch ein Aufschwung für die Ségur-Forschung in Frankreich erfolgt: So hält sie fest, dass „[d]ie meistuntersuchte Schriftstellerin, deren Werke eine völlig neue Interpretation erfahren haben, […] aber ohne Zweifel die Comtesse de Ségur [ist].“ (Nières 1994: 221). Während die begriffliche Problematik der Bezeichnung von Kinder- und Jugendliteratur in Frankreich gesellschaftlich und theoretisch weiterhin schwierig bleibt (Levêque 2014, Ettrich 2014: 118–125), nehmen Untersuchungen zum Genre roman und didaktischen Themen innerhalb der Kinderliteratur zu – meist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive (Nières 1994: 220, Lévêque 2014: 32). Den Abschluss dieser Konjunktur markiert die dreibändige kommentierte und annotierte Bouquins-Paperbackausgabe ohne Illustrationen 1990.

In der Folge setzt um 1990 die nächste Konjunktur 8 ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist: Der Diskurs zur Comtesse de Ségur erreicht mit zahlreichen Publikationen – neben den Literaturwissenschaften auch aus der Psychologie – ihren bisherigen Höhepunkt (als wegebildend erachtet werden dabei vor allem Kreyder 1995 und Marcoin 1999). Etwa im Jahr 2000 setzt eine bekennende Liebhaberphase ein. Die Zeitschrift Cahiers séguriens wird gegründet, es häufen sich nun auch Themenhefte und -publikationen: zur Küche der Comtesse de Ségur (Strich 2006 [2021 erneut veröffentlicht]), zur Normandie der Comtesse de Ségur (Strich 2000, Le Roy 2005, Stadt Land Kunst 2018), aber auch Mischungen aus eigenen Leseerinnerungen und biographischen Interpretationen (z.B. La Comtesse de Ségur et nous 2012, Ma vie avec la Comtesse de Ségur 2021).

Konjunktur 9 scheint das Resultat der aus Konjunkturen 7–8 resultierenden Diskussionen zu sein. Etwa zwischen 2018 und 2021 verankert die Bibliothèque Nationale Française (Gallica BNF) fünf der Werke der Comtesse de Ségur als classique(s): Les malheurs de Sophie (1859), Les petites filles modèles (1858), Les mémoires d‘un âne (1860), L‘auberge de l‘ange-gardien (1862) und Le général Dourakine (1863) – also auch fünf der sechs Werke, bei denen eingangs konstatiert wurde, dass sie im Ausland sehr schnell und häufig im 19. Jahrhundert übersetzt wurden. Fest steht damit ihr mittlerweile gesicherter Status als Autorin, der ab den 1980er Jahren vielfach zur Debatte und Legitimation stand, obwohl sie schon zu dieser Zeit im kollektiven Gedächtnis Frankreichs ihren festen Platz hatte.

Im Grunde gehört die Comtesse de Ségur also erst seit kurzem zur Nationalliteratur Frankreichs. Hier wird ein Widerspruch deutlich, der aus den Praktiken und Riten innerhalb Frankreichs resultiert: Folgt man den Erinnerungen der letzten vierzig Jahre, war die Comtesse de Ségur allerspätestens nach dem Zweiten Weltkrieg bereits Nationalliteratur in dem Sinne, dass sie national verbreitet ein fester Bestandteil der familiären Lesepraktiken war (höre France Culture 2021, vor allem Folge 1). Dieselben Erinnerungen beschreiben jedoch auch, dass es ganz bestimmte Ausgaben in kleinen Privatbibliotheken sind, die damit assoziiert werden: Die BRI-Ausgaben in rotem Leinen mit Goldprägung und den Originalillustrationen des 19. Jahrhunderts (ebd.) – und nicht die seit 1930 neu editierten Auflagen mit farbigem Cover und neuen Illustrationen. Der Unterschied heute besteht darin, dass sie auch nationalstaatlich als Nationalliteratur gedeutet und verankert ist.

VIELSCHICHTIGES KULTURGUT

Wie nachvollziehbar geworden ist, ist die Comtesse de Ségur aufgrund einer Vielzahl von Verflechtungen ein vielschichtiges Kulturgut mit mehreren Dimensionen: Wenn von „Comtesse de Ségur“ gesprochen wird, kann damit die Person, die Autorin, ihr Werk (aber auch ein Werk oder einige ausgewählte Titel), die Autorin und ihr Werk oder auch beides im Rahmen der BRI gemeint sein. In diesem Sinne könnte für die einzelnen Dimensionen mit den französischen Übersetzungen bien culturel, aber auch produit culturel (Espagne/Werner 1987: 970) operiert werden. Patrimoine français scheint alle genannten Aspekte zu umfassen, aber je nach Kontext z.B. noch Lesepraktiken einzubeziehen. Nach aktuellem Kenntnisstand ist davon auszugehen, dass spätestens mit dem Auslaufen der Nachkriegshürden die Comtesse de Ségur allgemein anerkannt zum französischen Erbe bzw. zum persönlichen Kulturerbe vieler Franzosen gehört. Tatsächlich spielt dabei auch die Bedeutung von „Erbe“ als materielle Hinterlassenschaft eine Rolle – denn die Bücher wurden aufgrund ihres Bibliothekscharakters weitervererbt. Wenn jedoch von „ouvrages qui restent dans les maisons, dans les héritages“ (France Culture, Folge 1, Minute 5:41–5:53) gesprochen wird, ist aufgrund der Ausführungen im Gesamtkontext davon auszugehen, dass héritage(s) das materielle persönliche Erbe, aber vor allem auch das immaterielle persönliche Erbe im Sinne einer Tradierung umfasst. Die Anzahl der Franzosen, die dieses persönliche materielle und immaterielle Erbe teilen, ist so hoch, dass stillschweigender Einklang darüber besteht, dass die Comtesse de Ségur in jedem Fall immaterielles Kulturerbe Frankreichs ist: „Nul doute, la comtesse de Ségur née Rostopchine appartient bien au patrimoine culturel de tous les Français.“ (Strich 2015: Klappentext). Mit den Bezeichnungen patrimoine français und patrimoine culturel de tous les Français wird eine Verankerung als nationales Kulturerbe deutlich. Denn so oder als Kulturerbe von nationaler Bedeutung müsste man m.E. übersetzen, wenn im Zusammenhang mit der Comtesse de Ségur von patrimoine gesprochen wird. Es lassen sich aber auch weitere Varianten mit Adjektivattributen für die Comtesse de Ségur finden, die eine national(staatlich)e und nationalidentitätsverbürgende Dimension auch institutionell unterstreichen: Das Musée de la Comtesse de Ségur wird ebenfalls als patrimoine culturel (z.B. Normandie Tourisme) bezeichnet, die Werke Ségurs als patrimoine littéraire (z.B. Musées de Normandie). Ersteres könnte vielleicht noch Äquivalente in Berlin (Stiftung Preußischer Kulturbesitz) mit „Staatlicher Kulturbesitz“ finden, hat jedoch eine Konnotation als Kulturinstitution von mitunter staatlich finanzierter, aber vor allem national(bildend)er Bedeutung. Patrimoine littéraire weist ebenfalls diese nationale, staatlich gewünschte und/oder finanzierte Komponente auf und könnte als nationales literarisches Erbe wiedergegeben werden.

Je nach zeithistorischem Kontext, in dem man Ségur-Übersetzungen untersucht, ist also zu spezifizieren, ob man das Kulturerbe oder das Kulturgut betrachtet. Damit wird auch deutlich, dass für den Lebenszeitraum der Autorin Comtesse de Ségur nicht das heutige patrimoine français zugrunde gelegt werden kann, weil sich dieses erst im 20. Jahrhundert als solches etablierte. Am Beispiel von Russland soll vor diesem Hintergrund nun auch der Mehrwert eines editions- und verlagsorientierten Blickwinkels veranschaulicht werden.

DIE COMTESSE DE SÉGUR IN RUSSLAND

In der französischen Diskussion nimmt die Herkunft Ségurs im Ségur-Bild einen markanten Stellenwert ein und bildet einen Teil der Comtesse de Ségur als patrimoine. Alles Fremde und einem französischen Leser eher Ferne wird auf ihre Geburtsheimat Russland zurückgeführt. Mit dem Zweiteiler L’auberge de l’ange-gardien und vor allem Le Général Dourakine scheint die Comtesse de Ségur zudem maßgeblich ein französisches Russen- und Russlandbild geprägt zu haben, das bislang noch kaum auf Wechselwirkungen untersucht wurde.

Diskutiert in: Le Ru 2001, Nières-Chevrel 2002, Bayle 2005; von Liebhabern: Loyrette/ Strich 2005, Murail 2015, Brocheriou 2018; bei Ségur-Nachkommen: Catineau 2012.

Unbeachtet oder unverstanden bleibt dabei, dass die Comtesse de Ségur aufgrund ihrer Herkunft – nämlich der russischen, weitestgehend orthodoxen Aristokratie des 18. Jahrhunderts – von Kleinauf Französisch und Französischsprachig erzogen wurde. Sie wuchs als Tochter des Grafen Fëdor Rostopčin – zeitweise Minister des Äußeren – im Zarenumfeld auf, bis sie 1817 nach Paris emigrieren musste: Ihr Vater galt nach dem Napoleonfeldzug als Vaterlandsverräter, weil er für den Brand von Moskau 1812 verantwortlich gezeichnet wurde. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts konvertierte sie heimlich zum Katholizismus, was sie nicht nur ihren Adels-Titel kostete, sondern neben ihrem Herkunftsmilieu und dem Paradigmenwechsel der UdSSR auch Grund dafür gewesen sein dürfte, dass sie im 20. Jahrhundert die längste Zeit nicht mehr übersetzt wurde.

Bislang liegen in Frankreich keine Untersuchungen zur Übersetzung der gebürtigen Russin ins Russische vor. In Russland hat eine wissenschaftliche Diskussion um Ségur erst 2010 begonnen (in der Romanistik und vergleichenden Literaturwissenschaft: Čekalov 2013 und 2015, Tolstorkorova 2016, Varlamova 2018) – mit der Prämisse, dass es sich um eine wichtige französische Autorin handelt.

Bei der Untersuchung der Verbreitung und der Übersetzungen Ségurs in Russland muss zunächst spezifiziert werden, dass „Russland“ zu Lebzeiten der Autorin präzise formuliert ein Vielvölkerreich war (Allrussisches Imperium/Kaiserreich Russland bis 1917), im Anschluss Sowjetunion wurde (bis 1991) und danach in eigenständigen Staaten (GUS) aufging. Diese stehen seitdem teilweise in konfliktreichen Beziehungen zueinander und haben eigene Sprachen. Aufgrund der historischen, heute auch familiären und wirtschaftlichen Verbindungen wurde die Sprache Russisch aber auch kulturell lange Zeit als lingua franca und Bildungssprache betrachtet. Wenn also heute zwischen Belarus, Kasachstan, Moldau, Russland und Ukraine – Länder, in denen vor allem Übersetzungen erschienen – politisch streng getrennt wird, ist es für die Untersuchung der hier vorliegenden Fragestellung hinderlich, da zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einigen dieser heute eigenständigen Länder Übersetzungen entstanden, die sich auf dem gesamten Gebiet der heutigen GUS damals wie heute immer noch in Zirkulation befinden. Auch nach der staatlichen Eigenständigkeit nahm die Zirkulation, insb. der neuen russischsprachigen Übersetzungen, kein Ende. Wenn also hier das französische Verständnis von Ségur in Russland (Russie, russe) verwendet wird, ist damit eigentlich ein historisch verbundener Raum gemeint, der heute die Teile der GUS umfasst, in denen ostslawische Sprachen vorherrschend oder immer noch von Bedeutung sind. Polen und das Baltikum hingegen werden weder in Frankreich noch in diesem Artikel dazugezählt, u.a. auch aufgrund sich unterscheidender vorherrschender Religion.

Im Falle Polens sei aber erwähnt, dass auch hier eine Übersetzungsuntersuchung sehr ergiebig wäre, bislang aber nicht erfolgt ist.

Meine Untersuchungen ergaben im Gegensatz zu den französischen Annahmen (Nières-Chevrel 2001: 12, dies. 2007: 13), dass nicht nur eine Rezeption in französischer Sprache für die Oberschicht bzw. das gebildete Milieu erfolgte. Die Zirkulation der Originalausgaben in französischer Sprache lässt sich auch nicht wie in anderen Ländern bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen – im Gegenteil: Vielmehr gibt es am Beispiel der Comtesse de Ségur Zeugnisse dafür, dass Französisch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Fremdsprache war. Für die Zeit zwischen dem Ersterscheinen eines Werks de Ségurs in Frankreich 1856 und heute ließen sich im genannten Raum 47 sprachlich übersetzte Ausschnitte, Werke, Adaptionen oder Fremdsprachenlektüren der Comtesse de Ségur ausfindig machen. Dabei überwiegen Veröffentlichungen in russischer Sprache (hier und im Folgenden basierend auf einer noch unveröffentlichten Recherchezusammenstellung aller in ‚Russland‘ erschienen Werke 1855–2020 seit 2012; die erste Variante bis 1917 in Ettrich 2014: XVIIf.). 31 davon erschienen nach 1991. Auf der Grundlage der recherchierten Übersetzungen lassen sich fünf bis sechs Konjunkturen herausarbeiten. Aus den Konjunkturen können drei übergeordnete Perioden für die Verbreitung der Werke de Ségurs zusammengefasst werden:

KONJUNKTUREN IN RUSSLAND UND OSTEUROPA

1856–1915: In diesem Zeitraum wurden Werke der Comtesse de Ségur von ansässigen Verlagen vertrieben, verlegt und verbreitet. 1915 erschien die in diesem Zeitraum letzte rekonstruierbare Übersetzung. Die Oktoberrevolution 1917 stellte für den Raum eine politische Zäsur dar, die vor allem politisch, aber auch kulturell neue Ideale vermitteln wollte und mit alten Mustern brach. Wie sich an den gleich vorzustellenden Konjunkturen nachvollziehen lässt, mussten Verlage schließen, emigrieren oder neue Verlagsprogramme auflegen.

In der folgenden Periode von 1916–1991 sind keine neuen Übersetzungen im Raum entstanden (auf eine Besonderheit wird in den Konjunkturen noch einmal hingewiesen). Auf der Grundlage erworbener oder eingesehener Exemplare lässt sich aber nachweisen, dass die in der 1. Periode entstandenen Übersetzungen im öffentlichen Raum (Schulen, Bibliotheken) weiterhin zirkulierten und teilweise sogar allgemein zugänglich blieben.

Seit 1992 gibt es einen neuen Übersetzungsschub in Russland, Belarus, Moldau, der Ukraine und Kasachstan. Diese Periode dauert bis heute an.

Die in den Perioden zusammengefassten Konjunkturen zeugen von unterschiedlichen Motivationen und Verbreitungsarten. Für das kulturelle 19. Jahrhundert ließen sich bislang vier Konjunkturen (Ettrich 2014: 89–117; Ettrich 2018: 179f.) herausarbeiten, an denen deutlich wird, dass Periode 1 trotz weniger Titel langfristig und nachhaltig (longue durée nach Espagne/Werner) bedeutsam für den Transfer der Werke de Ségurs und das Standing der Autorin im Raum waren.

Konjunktur 1 steht für die Zirkulation der Originalwerke Ségurs in französischer Sprache. Dies lässt sich einerseits nachweisen dank der noch heute erwerbbaren Exemplare in Antiquariaten und im Internet. Andererseits aber findet sich der erste faktische Beleg für das Jahr 1862 im Verlegerkatalog des russischen Verlegers polnischer Herkunft Mavrikij Osipovič Volˈf (Manuel bibliographique 1862: 210). Bis dahin waren in Frankreich sieben Werke Ségurs in der BRI erschienen, im Katalog gelistet wurden fünf bis 1860 erschienene. Dies könnte damit erklärt werden, dass die Zusammenstellung des umfangreichen Manuel 1860 begonnen haben könnte. Denkbar wäre aber auch ein allgemeiner Rückschluss auf die Dauer der Zirkulationsverschiebung zwischen Erscheinen in Frankreich und Rezeption in Russland, also zwei Jahre Zirkulationszeit bis zur Aufnahme. Eine dritte Interpretationsart könnte nahelegen, dass Ségur erst mit der Entstehung der BRI (s.o.) und nicht schon mit der rosafarbenen Unterreihe der Bibliothèque des chemins de fer entdeckt wurde, was wiederum auch gegen eine Zirkulation nach Russland per Eisenbahn sprechen würde.

Konjunktur 2 setzt ebenfalls in den 1860er-Jahren ein und markiert den Beginn von Übersetzungen in die russische Sprache: 1864 erscheinen im Verlag Tovariščestvo Obščestvennaja Polˈza einmalig Übersetzungen der Mémoires d’un âne und Malheurs de Sophie. Die Büchersichtung deckte auf, dass nicht nur Satz und Umbruch den französischen Ausgaben ähnelten, sondern dieselben Illustrationen verwandt wurden. Um 1869 lassen sich dieselben Merkmale bei den Übersetzungen der Trilogie de Fleurville

In Frankreich werden die drei in Fleurville handelnden und inhaltlich aufeinander aufbauenden Werke Ségurs Les malheurs de Sophie, Les petites filles modèles und Les Vacances als Trilogie de Fleurville zusammengefasst.

verfolgen. M. O. Volˈf fungiert erneut als Zirkulator, diesmal als Verleger. Neben den Illustrationen stechen noch weitere Wiedererkennungsmerkmale hervor, die die Werke der Comtesse de Ségur schon in Frankreich begleiteten: Die russischen Übersetzungen erscheinen jetzt in Reihen. Wie bei der BRI gibt es eine Hardcover-Variante (Zelenaja Biblioteka, grüne Reihe) und eine Broschur-Ausführung (Deševaja Biblioteka, günstige Reihe). In diesen Reihen finden sich auch Werke anderer BRI-Autorinnen, die durch weitere, u.a. russische Autoren ergänzt werden. Die Konjunktur dauert bis etwa 1905 und schließt mit einer Aufwertung der Werke Ségurs ab: Um 1900 initiieren die Söhne von M. O. Volˈf eine neue Reihe, die Zolotaja Biblioteka (Goldene Reihe). Optisch ist hierbei auffällig, dass die Einbände nun rot-schwarz-gold gehalten sind und damit noch mehr an die BRI erinnern. Während die weiteren für Konjunktur 2 typischen Buch- und Reihenmerkmale dabei erhalten bleiben, deutet der neue Reihenname auf eine Aufwertung der darin verlegten Texte und/oder Autorinnen und Autoren hin. Bislang liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Klassikerreihe für Kinderliteratur gehandelt hat. Als belegendes Indiz dafür könnte die nun anschließende Konjunktur gedeutet werden, bei der vor allem die Werke im Vordergrund stehen.

Konjunktur 3 setzt um 1910 ein und umfasst weitere, diversere Übersetzungsschübe in mehreren Verlagen auch außerhalb St. Petersburgs. Die Übersetzungsformen wechseln, neue Titel werden übersetzt: Ausschnitte, gekürzte Fassungen, vor allem aber neu angefertigte, teils farbige Illustrationen schmücken die neu erschienenen Übersetzungen der Nouveaux Contes de fées, des François le Bossu und von Après la pluie, le beau temps. Auch an dieser Konjunktur ist der von M. O. Volˈf gegründete Verlag beteiligt. Innerhalb der Goldenen Reihe wird die Trilogie der Comtesse noch um ein viertes Werk ergänzt: Un bon petit diable. Neben dem Reihenprinzip finden sich erneut die BRI-Illustrationen in dieser Übersetzung wieder.

Die letzte aktive Konjunktur 4 steht ebenfalls für die 1910er Jahre und deutet auf einen Wechsel der Frankophilie und Kenntnis der französischen Sprache im Raum hin: 1912 erscheinen L’écureuil, tiré des Malheurs de Sophie und La chaux, tiré des Malheurs de Sophie, gedruckt von H. Laakmanns Buch- und Steindruckerei, vertrieben durch die Verlagsgesellschaft M. O. Volˈf als Fremdsprachenlektüre.

Für die darauffolgende Periode 2 (1916–1991) könnte auch von einer inaktiven Konjunktur 5 gesprochen werden: Während es im Raum keine Neuübersetzungen gab, zirkulierten die bislang gedruckten Exemplare weiterhin. Gleichzeitig handelt es sich insofern um eine bedeutsame Phase, da sie zur Verbreitungsminderung der Werke Ségurs führt. Neue Entdeckungen zeigen aber, dass es eine 5. Konjunktur hätte geben können: Erneut ist daran die Verlagsgesellschaft M. O. Volˈf bzw. das, was davon übrigblieb, beteiligt. Ein Sohn des Verlagsgründers, L. M. Volˈf, floh nach der Oktoberrevolution gepäcklos nach Deutschland (Henneberg 2014). Sein Sohn Andreas Wolff war nicht nur Mitbegründer und Geschäftsführer des Suhrkamp-Verlages, sondern gründete später einen eigenen Verlag, die Berliner Friedenauer Presse. Dessen Tochter Katharina Wagenbach-Wolff sowie auch der russische Buchwissenschaftler I. Barenbaum betonten stets die Zolotaja Biblioteka als Haupterrungenschaft des Verlages. Für die Recherchen im Hinblick auf Übersetzungen der Comtesse de Ségur im Raum erzeugte das einen überdimensional wirkenden Effekt, da die Reihe im Vergleich zu den in Konjunktur 2 genannten nur kurzlebig war. Angenommen wurde zunächst, dass die Reihe mit weiteren goldenen Reihen jener Zeit verwechselt wurde. Erste weiterführende Indizien fanden sich in deutschen Bibliothekskatalogen der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) und der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB): Die BSB führt zwei Reihen mit dem Namen Zolotaja Biblioteka. Beide sind auf ca.1921 datiert und als Klassikersammlung vermerkt (BSB 1949a, 1949b). Eine der beiden Zolotaja Biblioteka verweist auf eine Redaktion durch L. M. Volˈf. Der Verlagsname wird auf „Moskva“ festgelegt – mit Sitz in Berlin und Paris (BSB 1949a). Der einzige registrierte Titel deckt sich auch mit einem Titel aus der Petersburger/Moskauer Reihe mit demselben Namen. Die zweite Reihe weist keine Redaktion auf und wurde im Berliner Verlag „Moskva-Logos“ verlegt (BSB 1949b). Zwei Bände sind registriert, von denen eine Autorin von früheren Recherchen zum Verlag bekannt war (hauseigene Volˈf-Autorin). Beim eigentlich ersten Reihentitel stellte sich heraus, dass es sich um eine Neuerscheinung handelte – zum Recherchezeitpunkt jüngst als Exilautor abgehandelt und eigentlich auf 1929 eingegrenzt (Preindl 2016: 110–147). Bei der SBB hingegen gibt es nur eine Reihe mit der Ortsangabe „Berlin u.a.“, den wechselnden Verlagsnamen „Moskva“ und „Moskva-Logos“ sowie der zeitlichen Eingrenzung auf 1929 für alle Bände, obwohl ein Titel in bereits vierter Auflage registriert ist (SBB o.J.).

Es schien immer wahrscheinlicher, dass es sich bei insgesamt drei registrierten Exil-Varianten der Zolotaja Biblioteka um eine Reihe gehandelt hat, diese aus unterschiedlichen Gründen bislang aber nicht zusammengeführt werden konnten. Die Verbindungen zu Volˈf in Russland waren unübersehbar, auch wenn zur Fortsetzung der Verlegertätigkeit im Exil im Grunde kaum etwas bekannt ist.

Über die Verlagsgesellschaft M. O. Volˈf auch zu Hochzeiten ist allgemein nur wenig bekannt. Das kann einerseits daran liegen, dass Gründer und Nachfahren sich im 19. Jahrhundert zwischen Frankreich und Russland bewegten und damit die Kenntnis mehrerer europäischer Sprachen notwendig machen würde. Es kann andererseits daran liegen, dass um 1900 das eigentliche Verlagsgebäude in St. Petersburg ausgebrannt ist und mit der Oktoberrevolution 1917 spätestens auch weitere Lager vernichtet wurden. Bislang war überhaupt unbekannt, dass L. M. Vol‘f während seines Exils in Berlin etwaige Kontakte nach Frankreich unterhielt, undenkbar wäre es jedoch aufgrund der familiären Vorgeschichte und den fast fünfzig Jahre langen Geschäftsbeziehungen nicht. Die Notwendigkeit, auch diese Verlagsgeschichte aufzuarbeiten, wird an den bislang angeführten Konjunkturen für die Rezeption der Comtesse de Ségur mit ihren Besonderheiten deutlich.

In der SBB konnten alle dort vorhandenen Exemplare eingesehen werden und die Vermutung, dass es um eine Fortsetzung der Reihe im Exil ging, bestätigte sich. Viel erstaunlicher war aber, dass bei Sichtung der Werke – die wie zuvor auch in Russland 2013/2014 ungeahnte Parallelen editorischer Natur aufdecken konnten –, jene Titel, die um 1900 in Russland in der gleichnamigen Reihe verlegt wurden, sich in Satz/Umbruch erstaunlich ähnelten und auch dieselben Illustrationen verwendet wurden. Die Bücher erweckten den Eindruck, L. M. Vol‘f habe auf wundersame Weise doch einige Druckplatten und Klischees aus Russland importiert. Dieser Eindruck bestätigt sich umso mehr bei der Konsultation der Skazki Vil‘gel‘ma Gaufa, die zwar auf dem Titelblatt unten eindeutig auf den Verlag „Moskva-Logos‘‘“ verweisen – jedoch zwischen Titel- und Verlagskennzeichnung das Logo der T-vo M. O. Vol‘f tragen. Die Bände sind zwar allesamt Softcover- bzw. Paperbackvarianten, aber einheitlich in blau oder weinrot gehalten und das Logo der Reihe hat dieselbe Form wie das der russischen Erstvariante. Es ist dennoch unwahrscheinlich, dass L. M. Vol‘f Druckmaterial aus Russland nach Deutschland bringen konnte. Vielmehr scheint es sich so zu verhalten, dass obwohl die T-vo M. O. Vol‘f in Russland selbst druckte, wie noch zu Beginn der Verlagstätigkeit in den 1860er-Jahren einige Produktionen noch im Ausland ausgeführt wurden und sich dort die Druckplatten erhalten haben. Da L. M. Vol‘f selbst die Reihe in Russland begründet zu haben schien, hätte er auch viele Formalitäten noch aus der Erinnerung rekonstruieren können.

In den Exemplaren fanden sich wie früher üblich Reihenbeschreibungen und diese dokumentierten in etwa eine Erscheinungsreihenfolge: In den ersten drei Reihenbänden wurde angekündigt, dass neben den drei erschienenen Bänden als nächstes Wilhelm Hauffs Märchen, Ségurs in der Petersburger/Moskauer Zolotaja Biblioteka erschienenes Un bon petit diable sowie unter anderen auch noch eine hauseigene Autorin vorgesehen waren (vgl. in Zagoskin‘‘, Olˈkotˈˈ und Skazki Vil‘gel‘ma Gaufa [zw.1921–1929] die Reihenbeschreibungen). Mit dem Erscheinen von Wilhelms Buschs Veselye razskazy als Band 5 wurde das Vorhaben aber scheinbar wieder aufgegeben: Statt der geplanten Ségur-Übersetzung wurde die später vorgesehene hauseigene Autorin vorgezogen und Turgenjew neu ins Programm aufgenommen (vgl. Veselye razskazy pro šutki i prokazy V. Buša [zw.1921–1929]: Reihenbeschreibung). Zusammen mit den dazugehörigen Quellenangaben lässt sich vorerst präzisieren: Vermutlich um 1921 existierte der Verlag „Moskva-Logos“, der in Berlin angesiedelt war und vom Verlagsprogramm stark vom russischen Programm der T-vo M. O. Vol‘f geprägt war. Bis 1929 schien es auch entweder einen Ableger oder eine Gemeinschaftsreihe mit Paris zu geben. Zugleich interessant ist, dass das zuletzt bei Vol‘f übersetzte Werk, Dobryj malenkij čertenok (Un bon petit diable) – und nicht die über dreißig Jahre im Verlagsprogramm vorhandene Trilogie de Fleurville – für eine Veröffentlichung in Frage kam. Vor dem Hintergrund der von Preindl (2016) angestoßenen Arbeit zur Kinderliteratur russischer Exilanten nach 1918 könnte eine Aufarbeitung dieser Periode nicht nur inhaltlich die Aktivitäten der jeweiligen Autoren näher beleuchten, sondern unter Umständen auch Licht in Ludwik Mavrikievič Vol‘fs Initiierung einer Neuauflage sowohl der Zolotaja Biblioteka in Paris und Berlin als auch einer ursprünglich geplanten Neuauflage Ségurs innerhalb dieser Reihe werfen.

Die nächste Konjunktur, je nach Zählung 5 oder 6, setzt erst in Periode 3 1992 ein und umfasst mehrere Verlage in Belarus, Russland, der Ukraine und Kasachstan. Zunächst finden sich zahlreiche Einzelübersetzungen, darunter auch neue Titel bis heute, wie z.B. die L’auberge de l’ange-gardien (2001 in Odessa, russischsprachig) oder auch die religiösen Werke Ségurs L’Evangile d’une grand-mère, Les Actes des Apôtres und La Bible d’une grand-mère (belegt seit 2016 in Ivano-Frankivsk, ukrainischsprachig). Ebenfalls in der Ukraine neu aufgelegt wurde die Trilogie de Fleurville in ihren drei Bestandteilen (Odessa 1994; erworben aus Russland [!]). Hier interessant sind die Einbettungen der Werke: Im Impressum findet sich die Information „Классические детские «романы воспитания» из дореволюционной «Золотой библиотеки»“.

Deutsch: Klassische Kinder-„Erziehungsromane“ aus der „Goldenen Reihe“ der Vorrevolutionszeit.

Erneut finden wir die Zuordnung Ségurs als Klassiker. Deutlich wird aber auch, dass die o.g. Goldene Reihe der Verlagsgesellschaft M. O. Volˈf trotz gesellschaftlichem Paradigmenwechsel der UdSSR weitere achtzig Jahre überlebt hat (Periode 2). Zugleich lässt sich mit der Klassiker-Einordnung auch die Vermutung stützen, dass die Goldene Reihe zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Klassiker-Reihe (für Kinder) war. Dies wäre auch ein Indiz dafür, dass ein autoren- und werkzentrierter Ansatz ab etwa 1900 weitere Erkenntnisse bringen könnte. Für das 20. Jahrhundert lassen die genannten Ausgaben jedoch eindeutig erkennen, dass sie im Raum unbekannt ist: Alle drei Übersetzungen werden mit einem Auszug aus Vladimir Nabokovs Drugie berega (in Deutschland bekannt als Erinnerung sprich) eingeführt. Es folgt eine fünfseitige Einführung zur Autorin, bevor – ohne Enkelwidmung – die Werke beginnen. Am Ende stehen „Überlegungen für Eltern“, in denen ausgeführt wird, dass

„[к]огда скажешь, что мы издаем книги графини де Сегюр, почти все, кто вообще о них слышал, растерянно удивля-ются. Те, кто их читал, поумирали, люди моих лет видели их очень редко, все было против такой словесности, да и книг этих осталось немного даже тогда. Старушки 60-х годов еще вздыхали, услышав «Примерные девочки» или «Сониниы проказы», но не очень искренне, тоскуя скорее всего по своему все-таки приличному детству, чем по этим книгам. Кажется, я не видела никого, кто бы просто, беспо-мощно обрадовался. Может быть, это невозможно? Книги – такие, что искренне их и не полюбишь?“

Deutsch: Wenn man sagt, dass man die Bücher der Gräfin von Ségur verlegt, reagieren fast alle, die überhaupt etwas von ihr gehört haben, fassungslos. Jene, die sie gelesen haben, sind gestorben; Menschen meines Alters haben sie nur sehr selten gesehen – alle waren gegen solch eine Literatur; außerdem waren auch schon damals nur noch wenige davon übrig. Die älteren Damen der 60er Jahre seufzten noch, als sie „Primernye devočki [Les Petites filles modèles]“ oder „Soniny Prokazy [Les malheurs de Sophie]“ hörten, aber nicht sehr aufrichtig – eher ihrer ordentlichen Kindheit als diesen Büchern nachtrauernd. Es scheint, als hätte ich niemanden gesehen, der einfach hilfslos erfreut gewesen wäre. Vielleicht ist das nicht möglich? Sind die Bücher so, dass man sie nicht aufrichtig lieben kann?

(de Segjur 1994c: 233, hier unterzeichnet mit N. Trauberg).

Tatsächlich lesen sich auch viele Leser-Erfahrungen im Internet heutzutage ähnlich. Die Autorin (dass es sich um eine Dame handeln muss, machen die Vergangenheitsendungen deutlich) selbst aber führt für die Eltern die – scheinbar gängige – Perspektive nur an, um im Anschluss für die christlichen Werte im und damit für das Werk Ségurs zu argumentieren. Für die Ukraine deutet sich allgemein in der heutigen Zeit damit eine Fokussierung auf die christliche Komponente im Werk Ségurs an, die weiter untersucht werden müsste und ggf. aufgrund der Motivation als eigenständige Konjunktur qualifiziert werden könnte.

Auch die in der Russländischen Föderation erscheinenden Werke (oben skizziert) halten eine Einführung in das Werk und die Autorin bis heute für notwendig. Seit 2011 verlegt der Ėnas-Verlag in gekürzter Fassung Soniny Prokazy (Malheurs de Sophie), Primernye devočki (Petites Filles modèles) und Malenˈkij gorbun (François le bossu) in drei unterschiedlichen Reihen und mehreren Auflagen. In den Vorworten des Verlages heißt es eindeutig: Sophie de Ségur, die die Franzosen „с уважением называют «бабушкой ‚Розовой библиотеки‘»“ (De Segjur 2011a: 3), „положила начало жанру детской литературы“ (De Segjur 2011b: 3) und ist „ныне причислено на ее родине [!] к памятникам национальной культуры.“ (De Segjur 2011a, b: 3).

Deutsch: Sophie de Ségur, die die Franzosen respektvoll ‚Großmutter der Bibliothèque rose [illustrée]‘ nennen, hat das Genre Kinderliteratur begründet und wird heutzutage in ihrer Heimat [!] zu den Denkmälern der Nationalkultur gezählt.

Davon grenzt sich die wichtigste editorische Auflage 2009 etwas ab: Alle im 19. Jahrhundert erschienenen Werke der Comtesse werden erstmalig in einer Gesamtausgabe (literarische Beilage der Illustrierten Ogonëk) in fünf Bänden mit denselben Illustrationen veröffentlicht. Ergänzt wird die Ausgabe um den bis dato noch nicht übersetzten Le Général Dourakine sowie in Band 1 eine Einführung vorangestellt, die von der Autorin als „Babuška « Rozovoj Biblioteki »“ betitelt wird (Čugunova 2009: 5). Obwohl der Titel damit eindeutig auf die in Frankreich gängige Bezeichnung „grand-mère de la bibliothèque rose“ verweist, wird im Folgenden versucht, die russischen Bezüge Ségurs für den Leser der heutigen Zeit herzustellen. Das kann als Erbetradierung gewertet werden, denkbar ist aber auch der deutlich werdende Wunsch, die Bezüge Ségurs zu beiden Ländern einmal für den Raum festzuhalten. Die Tatsache, dass in der 3. Periode mehrere Verlage auf Ausgaben des 19. Jahrhunderts verweisen oder diese sogar neu abdrucken (ähnliche Tendenzen konnten wir oben auch in Frankreich feststellen), müsste eigentlich als eigenständige Konjunktur gewertet werden. Die Motivation dahinter könnte als Rückgriff auf vorhandenes Material und Wiederbelebung vergangener Zeiten interpretiert werden. Auch hier entdecken wir ähnliche Motivationen wie in Frankreich, deren Gemeinsamkeit in der Erinnerung an die eigene, geordnete Kindheit besteht.

Es lassen sich also zwei Tendenzen resümieren, bei der die erste dazu tendiert, die Comtesse de Ségur zur wichtigsten französischen Kinderbuchautorin zu zählen. Die zweite Tendenz ist weiter gefasst, dafür aber begrenzt auf Werke und zählt Les malheurs de Sophie zum Erbe der Weltliteratur: „Книга, которую вы держите в руках, принадлежит классическому наследию мировой литературы.“

Deutsch: Das Buch, das Sie in den Händen halten, gehört zum klassischen Erbe der Weltliteratur.

(de Segjur 2007). Geprägt werden diese Interpretationen durch Klappentexte und Einführungen in den Büchern der seit den 1990er-Jahren erscheinenden Übersetzungen, Adaptationen oder Fremdsprachenlektüren.

SCHLUSSFOLGERUNG: DIE COMTESSE DE SÉGUR – ERST WELTLITERATUR, DANN PATRIMOINE

Mit Hilfe des Kulturtransferansatzes lassen sich für die Verbreitungs- und Übersetzungsgeschichte der Com tesse de Ségur bislang unbekannte Implikationen aufdecken. Quellenrecherchen im kulturellen Zielakteursfeld Russland ermöglichen mit der Suche nach Mittlern, véhicules und Transferwegen Rückschlüsse auf das Herkunftsakteursfeld Frankreich. Im Falle der Comtesse de Ségur führt dies zu einer Revision des bislang identifizierten Kulturgutes: Eine Untersuchung des 19. Jahrhunderts muss vom Kulturgut Comtesse de Ségur als bien oder produit culturel ausgehen, weil es das heutige nationale Kulturerbe im Sinne eines patrimoine français, culturel oder littéraire zu jener Zeit noch nicht hätte geben können. Daran wird deutlich, dass es im 20. Jahrhundert zu Umdeutungen gekommen ist. Das im 19. Jahrhundert betrachtete Kulturgut Comtesse de Ségur besteht aus einzelnen Werken der Autorin im Rahmen der Reihe BRI.

Um 1900 gehört die Comtesse de Ségur europaweit (mit Ausnahme Deutschlands) bereits zu den Klassikern der Kinderliteratur – immer aber noch im Rahmen von Reihen. Im Europa der Zwischenkriegszeit fällt die Comtesse de Ségur aus dieser Kategorie heraus. Die Zuordnung zur Nationalliteratur dauert in Frankreich selbst noch hundert Jahre. Es ist zu vermuten, dass es insbesondere in frankophilen Milieus – auch Bildungsmilieus – zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits eine erste Kanonisierung der für Kinder geeigneten Literatur gab. Die Comtesse de Ségur gehörte im kulturellen 19. Jahrhundert bereits zur Weltliteratur – sowohl im Verständnis Goethes als auch Damroschs (vgl. v.a. Damrosch 2003: 281, zitiert nach Hitzke 2018: 15 und Goethe 1828: 257, zitiert nach Birus 2004: 13): Die Verbreitung durch Verlage ermöglichte literarische Wechselwirkungen in Europa. Interessant dabei ist, dass die Comtesse de Ségur (literaturgeschichtlich) nie zu einem Kanon in Europa gehörte und dennoch fast schon universell zum Einsatz kam. Die exemplarisch angeführten Leseerinnerungen in Russland finden sich auch in Frankreich: Erinnerungen an die eigene Kindheit, an die Abendlektüre mit Eltern, Großeltern oder Geschwistern, an das eigene Lesenlernen, an Privatbibliotheken:

C’est comme un retour aux origines, c’est comme un retour aux racines, c’est une espèce de patrie – ce monde de la Comtesse de Ségur […]. […J]e retourne chez moi, je redeviens enfant, […] je retrouve ce par quoi j’ai commencé, j’ai commencé à lire, à concevoir quelque chose qui est une passion de la lecture, un élément constitutif de ma vie.

(France Culture 2021, Folge 1, hier: Minute 23:19–24:00).

Der Geruch der Bücher, die Illustrationen, die Cover erinnern an gemachte Sinneserfahrungen. Die werkimmanenten Erinnerungen zeugen von immer gutem Wetter, Sommer ohne Bezug zu Zeit und Raum, von Freundschaftskollektiven, einzelnen Puppen und Lebensmitteln (ebd.). Hieran wird sowohl werkimmanent ein Weltbezug nach Goethe als auch ein vom Kanon unabhängiger Lesemodus nach Damrosch deutlich, der vor allem Gewohnheiten und die Verbindung zwischen den Generationen erhält. Wollte man ein europäisches Kulturerbe des 19. Jahrhunderts definieren, wäre es die Reihe für Kinder. Im Rahmen der Reihen in verschiedenen Ländern mit den kolportierten visuellen, Sinnes- und Kindheitserinnerungen könnte man die Comtesse de Ségur heute auch als patrimoine européen des 19. Jahrhunderts bezeichnen.

Der Eingang der Comtesse de Ségur ins patrimoine français heute zeugt davon, dass die Reihe begünstigend wirkte – auch kommemoriert wird, aber vor allem Autorin und Werk eine eigene Bedeutungszuschreibung erfahren haben. Bekräftigt wird dieser Eindruck auch durch die Wahrnehmung der Autorin im Ausland als französische Autorin. In Frankreich ist sie aufgrund ihrer persönlichen, schriftstellerischen und editorischen Verwebungen vielseitig mobilisierbar: Als Migrantin aus/in gutem Hause, die zum französischen Katholizismus konvertierte, begründete sie in Frankreich das Genre Kinderliteratur. Dass sie bis heute stets mit „Comtesse“ de Ségur und nicht ihrem Vornamen benannt wird, lässt ein weiteres Mal eine Nostalgie für vergangene Zeiten erkennen. Insofern geht die Erklärungssuche für den „L’effet comtesse“ (France Culture 2021: Titel der 1. Folge) weiter.