Verwaltungen gelten gemeinhin als statisch und resistent gegenüber Neuerungen. Dieser Befund begleitet moderne Verwaltungen seit der Bürokratiekritik des frühen 19. Jahrhunderts. Und doch haben sich administrative Organisationen seither immer wieder gewandelt. Dies gilt für ihre räumliche Anordnung ebenso wie für ihre technischen Werkzeuge und kommunikativen Mittel – sei es die Einführung des Bureaus oder des zeitgenössischen Bürgerbüros, der stählernen Tintenfeder oder des Computers, des vervielfältigbaren Vordrucks oder des digitalen Amts.
Vgl. Delphine Gardey: Schreiben, Rechnen, Ablegen. Wie eine Revolution des Bürolebens unsere Gesellschaft verändert hat, übers. v. Stefan Lorenzer, Konstanz 2019; David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2018. Siehe auch die Projekte im von Gugerli geleiteten SNF-Projekt »Aushandlungszonen. Computer und Schweizerische Bundesverwaltung, 1960–2000«, online unter:
Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Semantik der Neuerung grundlegend gewandelt. In Reinhart Kosellecks »Geschichtliche Grundbegriffe« gibt es keinen Eintrag zum Begriff Innovation. Er spielte im Untersuchungszeitraum Kosellecks, dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, noch keine Rolle. Gleichermaßen war der Terminus auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft der 1970er-Jahre, als die ersten Bände der »Geschichtlichen Grundbegriffe« erschienen, noch nicht weit verbreitet. Sehr wohl enthalten die »Geschichtlichen Grundbegriffe« jedoch einen Eintrag zu »Reform, Reformation«;
Vgl. Eike Wolgast: Reform, Reformation, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 313–361. Für eine Begriffsgeschichte von ›Innovation‹ siehe: Beno Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation Over the Centuries, London 2015. Niklas Luhmann: Reform des öffentlichen Dienstes. Zum Problem ihrer Probleme [1971], in: Veronika Tacke / Ernst Lukas (Hg.): Schriften zur Organisation, Bd. 4: Reform und Beratung, Wiesbaden 2020, S. 199–271.
Als analytische Kategorie scheint Innovation für die Verwaltungsgeschichte auf den ersten Blick ungeeignet zu sein. Daran mag es liegen, dass die jüngst stark zunehmende Historiografie zu technischen Neuerungen in Verwaltungen den Begriff entweder nur oberflächlich verwendet oder ganz vermeidet.
Martin Campbell-Kelly: Information Technology and Organizational Change in the British Census, 1801–1911, in: Information Systems Research 7/1 (1996), 22–36; Jon Agar: The Government Machine. A Revolutionary History of the Computer, Cambridge 2003; Gardey: Schreiben; David Arnold: Everyday Technology. Machines and the Making of India’s Modernity, Chicago 2013; Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Thomas Mullaney: The Chinese Typewriter. A History, Cambridge 2017. Birgit Blättel-Mink / Raphael Menez: Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 46. Für die disziplinären Perspektiven auf Innovation vgl. S. 35–48. Siehe u. a.: Dominique Pestre: Thirty Years of Science Studies. Knowledge, Society and the Political, in: History and Technology 20 (2004), S. 351–369; Reinhold Bauer: Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel, Frankfurt am Main 2006; Helmuth Trischler / Kilian J. L. Steiner: Innovationsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Wissenschaftlich konstruierte Nutzerbilder in der Automobilindustrie seit 1950, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 455–488.
In den letzten Jahren ist allerdings ein gestiegenes Interesse am Begriff ›Innovation‹ in der Geschichtswissenschaft zu beobachten, sofern seine Erwähnung in Ausschreibungen auf dem Fachportal H-Soz-Kult als Indiz hierfür gewertet werden kann.
Vgl. etwa den Tagungsbericht zu der im Jahr 2021 stattgefundenen Konferenz »Die Herrnhuter Brüdergemeine als Faktor für religiöse und kulturelle Innovation im 18. Jahrhundert«, online unter:
Dafür ist es gewinnbringend, die Geschichtswissenschaft mit anderen Disziplinen in Dialog zu setzen. Die Wirtschaftswissenschaften, die Soziologie und nicht zuletzt die Technik- und Wissenschaftsforschung befassen sich bereits seit Jahrzehnten mit der Entstehung und Durchsetzung von Innovationen. Die Verwaltungswissenschaften rezipieren jedoch vor allem sozialwissenschaftliche Zugänge. Daher stellen wir im ersten Teil zunächst wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Konzepte von Innovation vor. Anschließend diskutieren wir das relational-referentielle Innovationskonzept des Techniksoziologen Werner Rammert. Soziologische Ansätze liefern aufgrund ihres theoretischen Fokus interessante analytische Einblicke in Innovationen als soziale Phänomene, allerdings bieten historiografische Methoden spezifische neue Perspektiven auf Innovationsprozesse, die sich von den stark an gegenwärtigen Debatten orientierten Sozialwissenschaften unterscheiden. Konzeptionelle Anregungen aus der Technik- und Wissenschaftsgeschichte aufgreifend entwickeln wir im zweiten Teil der Einleitung drei für die historische Bürokratieforschung zentrale Analyseebenen des Innovationsbegriffs. Die Beiträge des vorliegenden Bandes vertiefen diese Perspektiven.
Wie die soziologische Forschung feststellte, ist das Sprechen über Innovation inflationär und allgegenwärtig. Darüber hinaus diagnostizierte sie auch einen Wandel hin zu einer Innovationsgesellschaft.
Vgl. Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016. Zur Feststellung, dass sich Innovationen zur dominanten treibenden Kraft entwickeln vgl. insbesondere Werner Rammert et al.: Die Ausweitung der Innovationszone, in: Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016, S. 3–13. Zur grundsätzlichen Kritik an der zeitdiagnostischen Tendenz der Soziologie vgl. Fran Osrecki: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011. Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 60–61.
Zugleich ist ein allgemeines und kollektives Interesse an Innovation zu beobachten oder wie Jens Aderhold konstatiert: »Neuerungen sind in Mode.«
Jens Aderhold: Probleme mit der Unscheinbarkeit sozialer Innovationen in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 109–126, hier S. 109. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 110–111. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 109. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 112. Vgl. Hartmut Hirsch-Kreinsen: Die Hightech-Obsession der Innovationspolitik, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 71–84, hier S. 72. Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 71. Dabei stellt er fest, dass der Zusammenhang von Spitzentechnologie und wirtschaftlicher Prosperität »bestenfalls den Charakter einer Hypothese habe« und »Innovationen in den wenigsten Fällen von hohen FuE-Aufwänden und Hightech-Entwicklungen getrieben werden.« Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 72. Für die Gründe der Fokussierung auf technische Innovationen vgl. Hirsch-Kreinsen: Hightech-Obsession, S. 81–82.
Diese Auffassung von Innovation prägt auch den sozialwissenschaftlich orientierten Strang der Verwaltungsforschung. In der anglo-amerikanischen Literatur lässt sich die Auseinandersetzung mit der (vermeintlich mangelnden) Innovativität der öffentlichen Verwaltung bis auf Victor Thompsons Aufsatz »Bureaucracy and Innovation« von 1965 zurückverfolgen. Darin postulierte er erstens, dass Organisationen innovativ sein müssen, um sich neuen Herausforderungen anzupassen. Zweitens hielt er fest, dass die zwei zentralen Eigenschaften des Idealtyps moderner Verwaltungen nach Max Weber, hierarchische Strukturen und formalisierte Routinen, Innovationen hemmen.
Victor A. Thompson: Bureaucracy and Innovation, in: Administrative Science Quarterly 10/1 (1965), S. 1–20. Renate Mayntz: Informations- und Kommunikationstechnologien in der öffentlichen Verwaltung, Bd. 1: Anwendungsstand und Ansatzpunkte für informationstechnische Innovationen, Bonn 1983; Wolfgang Döhl: Akzeptanz innovativer Technologien in Büro und Verwaltung. Grundlagen, Analyse und Gestaltung, Göttingen 1983. Norbert G. Linder: Organisationsentwicklung und Vorschlagswesen in der öffentlichen Verwaltung. Darstellung, Kritik und Ansätze einer Integration von Innovationsinstrumenten, Frankfurt am Main 1983.
Zwei grundlegende Prämissen prägen diese verwaltungswissenschaftliche Literatur zu Innovation: Erstens geht sie von einem Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und Innovationen aus. Mangelnder Wettbewerbsdruck wäre etwa ein Faktor, warum die öffentliche Verwaltung weniger innovativ sei als kommerzielle Unternehmen.
Ralf Daum: Public Innovation. Stand und Perspektiven des Innovationsmanagements im öffentlichen Sektor, in: Verwaltung und Management 18/6 (2012), S. 320–323, hier S. 320. Lars Holtkamp: Verwaltungsreformen. Problemorientierte Einführung in die Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden 2012, S. 205–211. Norbert Thom / Adrian Ritz: Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 42008, S. 123–124. Heinrich Reinermann (Hg.): Öffentliche Verwaltung und Informationstechnik. Neue Möglichkeiten, neue Probleme, neue Perspektiven, Fachtagung, Speyer, 26.–28. September 1984, Berlin 1985; Hermann Hill: Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, in: Hermann Hill (Hg.): Die Kraft zur Innovation in der Verwaltung, Baden-Baden 2021, S. 9–22; Klaus König: Moderne öffentliche Verwaltung. Studium der Verwaltungswissenschaft, Berlin 2008, S. 657–766.
Der Fokus auf (technischen) Innovationen als ökonomischer Wettbewerbsvorteil ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. Allerdings stand schon am Beginn der Innovationsforschung die Wirtschaftswissenschaft. Joseph Schumpeter entwickelte in seiner Monografie »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung« erstmals ein Konzept von Innovation.
Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 1911. Zur theoretischen Konzeption von Schumpeter vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 67–78 und Leyla Dogruel: Eine kommunikationswissenschaftliche Konzeption von Medieninnovationen. Begriffsverständnis und theoretische Zugänge, Wiesbaden 2013, S. 141–149.
Schumpeters Modell gilt als Klassiker der ökonomischen Innovationsforschung. Allerdings wurde in der späteren Rezeption Schumpeters weit gefasstes Verständnis von Innovationen als »neue Kombinationen« von Bestehendem stark verengt: So wurden und werden Innovationen implizit und explizit zumeist mit technischen Erfindungen gleichgesetzt.
Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 142. Vgl. Jürgen Howaldt / Michael Schwarz: Soziale Innovation – Konzepte, Forschungsfelder und -perspektiven, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 87–108, hier S. 96. Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 96, Fußnote 12. Das Kapitel ist im folgenden Nachdruck enthalten: Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Nachdruck der 1. Auflage von 1912, herausgegeben und ergänzt um eine Einführung von Jochen Röpke und Olaf Stiller, Berlin 2006.
Gegen Ende der 1960er-Jahre konstituierte sich die Innovationsforschung als eigenständiges Forschungsfeld, wobei es mit der Einrichtung der Science Policy Research Unit (SPRU) an der University of Sussex zur ersten Institutionalisierung kam. Ihr Ziel war es, Innovationen im wirtschaftlichen Handeln zu untersuchen.
Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 137. Vgl. Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 458.
In den folgenden Jahrzehnten wurden Innovationen aufgrund ihrer Vielschichtigkeit zunehmend zum Forschungsobjekt anderer Disziplinen, insbesondere der Soziologie, aber auch der Psychologie und der Kognitionswissenschaft.
Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 138. Vgl. Birgit Blättel-Mink: Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 26 (2019), S. 53–65. Michaela Frey: Hergebrachte Verwaltungskultur und Neues Steuerungsmodell. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Verwaltung, Organisation, Personal 18/1 (1996), S. 32–37; Richard Beckhard: Die gesunde Organisation. Ein Profil, in: Frances Hesselbein / Marshall Goldsmith / Richard Beckhard (Hg.): Organisation der Zukunft. Neue Orientierung für Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1998, S. 342–345; Thom / Ritz, Public Management, S. 39–52. Vgl. etwa Johannes Gadner / Gerhard Reitschuler: Die Gestaltung der Zukunft. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Dimensionen von Innovation, Wien 2015; für die Innovationssteuerung in der Verwaltung vgl. Norbert Thom / Adrian Ritz (Hg.): Public Management. Innovative Konzepte zur Führung im öffentlichen Sektor, Wiesbaden 52017 und Schauer Reinbert / Norber Thom / Dennis Hilgers (Hg.): Innovative Verwaltungen. Innovationsmanagement als Instrument von Verwaltungsreformen. Internationales Forschungscolloquium »Public Management« (PUMA-Forschungscolloquium), Johannes-Kepler-Universität Linz, eine Dokumentation, Linz 2011. Damit ist auch die Vorstellung verbunden, dass Innovationen plan- und steuerbar wären oder zumindest ihre Rahmenbedingungen.
Als um die Wende zum 21. Jahrhundert die soziologische Forschung das Thema ›Innovation‹ systematisch aufgriff, verfolgte sie damit das Ziel, eine alternative Sichtweise auf Innovation zu etablieren: Technische und ökonomische Aspekte sollten nicht mehr allein bestimmend sein. Die Vorläufer der soziologischen Beschäftigung mit dem Thema ›Innovation‹ sind jedoch bereits älter. 1923 veröffentlichte etwa William F. Ogburn seine Studie »Social Change«, in der er die Theorie aufstellte, dass soziale Innovationen aus einem »cultural lag« resultieren würden.
William F. Ogburn: Social Change. With Respect to Culture and Original Nature, London 1923. Vgl. Holger Braun-Thürmann / René John: Innovation. Realisierung und Indikator des sozialen Wandels, in: Jürgen Howald / Heike Jacobsen (Hg.): Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 53–69, hier S. 55. Robert K. Merton: Social Structure and Anomie, in: American Sociological Review 3/5 (1938), S. 672–682, hier S. 672–673.
Im Kontext von modernisierungstheoretischen Konzeptionen des sozialen Wandels griff die deutsche Soziologie in den 1980er-Jahren die Überlegungen von Ogburn wieder auf.
Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Wolfgang Zapf: Über soziale Innovationen, in: Soziale Welt 40/1 (1989), S. 170–183. Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 123; Katrin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper Nr. P 00-519, Berlin 2000, S. 38. Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 56. Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 54; Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 97.
Katrin Gillwald nahm Zapfs Bemühungen um eine eigenständige Konzeption von sozialen Innovationen an der Jahrtausendwende wieder auf.
Vgl. Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation. Für eine andere Systematisierung sozialwissenschaftlicher Innovationsforschung vgl. etwa Holger Braun-Thürmann: Innovation, Bielefeld 2005. Er plädiert dafür, »technologisch-ökonomische Innovationen als gesellschaftliche zu rekonstruieren und gesellschaftliche in ihren technologischen Aspekten zu betrachten.« Braun-Thürmann: Innovation, S. 13 Vgl. Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 57. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 36. So kritisierte Gillwald, dass auch Neuerungen mit negativen Effekten als Innovationen bezeichnet werden, wie dies etwa von Zapf im Falle des Ku-Klux-Klans gemacht wurde. In ihrer Konzeption von sozialen Innovationen folgt sie einem modernisierungstheoretischen Ansatz, weshalb sie diese wertneutrale Position für nicht akzeptabel hält. Vgl. Gillwald: Konzepte sozialer Innovation, S. 17–18.
Eine normative Aufladung des Innovationsbegriffs trifft jedoch nicht allein auf die Soziologie zu. So stellten Blättel-Mink und Menez in ihrem Kompendium fest, dass auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Innovation sehr häufig mit Fortschritt verknüpft wird.
Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34. Ole Bech Lykkebo et al: Measuring New Nordic Solutions, Innovation Barometer for the Public Sector, Denmark 2019. Vgl. Howaldt / Schwarz: Soziale Innovation, S. 90–91. Zu ihrer Konzeption sozialer Innovationen vgl. Jürgen Howald / Michael Schwarz: »Soziale Innovation« im Fokus. Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts, Bielefeld 2010. Gegen eine normative Aufladung und ein geschichtliches Telos sprechen sich ebenso Braun-Thürmann / John (Innovation, S. 63) aus.
Betrachtet man die soziologischen Arbeiten zu Innovation, fällt auf, dass es kein einheitliches Begriffsverständnis oder Konzept gib,
Dogruel: Medieninnovationen, S. 213. Eine Ausnahme stellt Aderhold dar, der im Sinne des Strukturfunktionalismus dafür plädiert, nur bei Basisinnovationen, »die die Gesamtgesellschaft, ihre Teilsysteme, Organisationen oder Institutionen auf neue, nachhaltige und letztlich nichtbeabsichtigte Weise verändern«, von Innovationen zu sprechen. Vgl. Aderhold: Probleme, S. 118.
Das wohl derzeit analytisch ausdifferenzierteste Konzept von sozialen Innovationen legte Werner Rammert vor. Seiner Ansicht nach reicht das enge Begriffsverständnis der ökonomischen Innovation nicht aus, um die vielfältigen Innovationen der Gesellschaft analytisch zu fassen.
Vgl. Werner Rammert: Die Innovationen der Gesellschaft, in: Howald / Jacobsen: Soziale Innovation, S. 21–51, hier S. 24. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 26 und 28.
Zur analytischen Durchdringung des Phänomens wird im ersten Schritt nach den Relationen gefragt. Rammert schlägt vor, dabei zwischen einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension analytisch zu unterscheiden. Während die zeitliche Dimension auf den Gegensatz von Alt und Neu fokussiert, fragt die sachliche Dimension, ob eine Variation von etwas Altem, die »unabdingbare Voraussetzung für die Genese des Neuen«,
Rammert: Innovationen, S. 32. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 29–32, für den Zusammenhang von zeitlicher und sachlicher Dimension vor allem S. 32. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 32–34.
Die semantische Ebene der sozialen Dimension bezieht sich auf den kommunikativen Konstruktionscharakter von Innovationen. Sie untersucht, ob eine Variation als Neu wahrgenommen und als solche kommuniziert wird.
Vgl. Rammert: Innovationen, S. 34. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 36–37. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 37. So definiert Rammert Innovationen als »diejenigen Variationen von Ideen, Praktiken, Prozessen, Objekten und Konstellationen […], die durch kreative Umdeutung und Umgestaltung geschaffen oder durch zufällige Abweichung und Rekombination hervorgebracht worden sind, die als Verbesserung in einer akzeptierten Hinsicht erfahren und gerechtfertigt werden und die durch Imitation und Diffusion einen Bereich der Gesellschaft mit nachhaltiger Wirkung verändern.« Rammert: Innovationen, S. 39.
Während die Relationen also dazu dienen, zu klären, ob eine Innovation vorliegt, wird mit den Referenzen danach gefragt, in welchem gesellschaftlichen Teilbereich sie wirkmächtig ist. Da jeder Referenzbereich seinen eigenen Logiken folgt, weisen sie unterschiedliche Kriterien auf, anhand derer die Durchsetzung von Innovationen bewertet werden kann.
Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Rammert verweist darauf, dass seine Referenzen den »dominierenden Zieldimensionen« bei Zapf (Soziale Innovationen, S. 175) und den »gesellschaftlichen Rationalitäten« bzw. »Nutzungsdimensionen« bei Gillwald (Konzepte sozialer Innovation, S. 14–15) entsprechen. Als den entscheidenden Mehrwert seines Innovationsmodells bewertet er die Unterscheidung von Relationen und Referenzen, weshalb sein Modell an analytischer Schärfe gewinne. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 41. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 42–43. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 43. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 44. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 45. Der einzige Referenzrahmen, der von Rammert explizit abgelehnt wird, ist Technik, weil Technik Teil der relationalen Innovationsbestimmung sei und technische Effizienz oder Rationalität auf einen externen Referenzrahmen, wie etwa Wirtschaft und Politik, angewiesen sei. Vgl. Rammert: Innovationen, S. 40. Es sei dabei explizit darauf hingewiesen, dass er diese genaue Unterscheidung hinsichtlich ›Sozial‹ nicht trifft, die sowohl eine Relation als auch eine Referenz sein kann.
Rammerts Modell erlaubt eine differenzierte Betrachtung von Innovationsprozessen, wie es auch den Blick für verschiedene analytische Aspekte schärft. Jedoch bringt es ebenso einige Unklarheiten und problematische Vorannahmen mit sich. Erstens entstehen Unschärfen, weil Rammert das ›Soziale‹ sowohl als Relation als auch als Referenzrahmen nutzt. Dies ist eng mit der grundlegenden Frage verbunden, wie die zeitliche oder sachliche Relation von Innovationen jenseits der sozialen festgestellt werden kann. Zweitens ist sein Modell, trotz der zeitlichen Relation zur Bestimmung von Innovationen, merklich ahistorisch konzipiert, wie sich dies insbesondere hinsichtlich der Referenzkriterien zeigt. Diese entsprechen im höchsten Maße einem eurozentristischen Verständnis von ›Erfolg‹, ein Umstand, der unreflektiert bleibt. Damit ist der dritte Kritikpunkt, die neuerliche normative Aufladung des Innovationsbegriffs durch die Referenzen, eng verbunden. Durch den Versuch, objektive Kriterien für Innovationen aufzustellen, treten Innovationen nicht mehr nur als Neuerungen oder Änderungen in Erscheinung. Stattdessen steht hinter diesen Maßstäben ein Verständnis von Innovation als Fortschritt, das an gegenwärtigen westlichen Wertvorstellungen ausgerichtet ist. Um diese erneute teleologische Sicht auf Innovationen zu vermeiden und um die Unschärfen zu reduzieren, schlagen wir eine alternative Konzeption von ›Innovation‹ als Analysekategorie vor.
Der Innovationsbegriff ermöglicht es in besonderer Weise, die Wandlungsprozesse in der öffentlichen Verwaltung als Produkte sozialer Interaktion zu untersuchen. Dabei gilt es, sie als Resultate der Wechselwirkung von Artefakten, Akteuren und Praktiken in den jeweiligen historischen und lokalen Kontexten zu betrachten. Mit dieser Perspektive knüpft unser Analysemodell an zentrale Erkenntnisse der Wissenschaftsforschung an. Insbesondere die Science and Technology Studies und die daraus hervorgegangene Akteur-Netzwerk-Theorie haben die Rolle von Artefakten in der Wissensproduktion neu bestimmt: Sie werden nicht mehr nur als passive Objekte angesehen, über oder durch die menschliche Akteure Wissen herstellen. Stattdessen wirken Dinge an Praktiken des Erkennens, Verzeichnens und Kommunizierens mit.
Klassisch: Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society, Cambridge 1987; ders.: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network Theory, Oxford 2005. Zu International Relations siehe etwa: Andrew Barry: Material Politics. Disputes Along the Pipeline, Hoboken 2013; Bruno Latour: The Making of Law. An Ethnography of the Conseil d’Etat, Cambridge 2010; für weitere Anwendungen siehe: Anders Blok / Ignacio Farías / Celia Roberts (Hg.): The Routledge Companion to Actor-Network Theory, London 2020. Peter Becker / William Clark (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001; Chandra Mukerji: The Unintended State, in: Anthony Bennett / Patrick Joyce (Hg.): Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London 2010, S. 81–101; Patrick Joyce: The State of Freedom. A Social History of the British State since 1800, Cambridge 2013; Matthew S. Hull: Government of Paper. The Materiality of Bureaucracy in Urban Pakistan, Berkeley 2012. Michael Hutter et al.: Innovation Society Today. The Reflexive Creation of Novelty, in: Historical Social Research 40/3 (2015), S. 30–47.
Auf der Ebene der Diskurse gilt es herauszuarbeiten, wie Wandel und Innovationen in ihrer jeweiligen Zeit und ihrem gesellschaftlichen Umfeld verhandelt wurden.
Über Innovationen als Wahrnehmungsphänomene und die Bedeutung der Diskurse für ihre Untersuchung vgl. auch Michaela Belendez Bieler / Manuela Risch: Wahrnehmung und Deutung von Innovationen im sozialen Wandel, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 177–193.
Als weitere Dimension der Diskursebene legt die Analyse offen, welche Referenzrahmen herangezogen werden, um Neuerungen als wünschenswert darzustellen oder zu propagieren. In Wandlungsprozessen werden Begründungszusammenhänge und Problemwahrnehmungen expliziert und dadurch (konkurrierende) Wertmaßstäbe offenbart, die ansonsten oft stillschweigend an bürokratisches Handeln angelegt werden. Historische Leitnarrative von einer primär auf Patronage ausgerichteten Verwaltung der Frühen Neuzeit hin zu einer rationellen, regelgeleiteten Bürokratie der Moderne im Weber’schen Sinne erweisen sich hierbei als unzureichend, wie auch Neumann und Ziegler hervorheben. Soziale Repräsentationsfähigkeit war etwa auch in der stärker formalisierten französischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts noch eine wichtige Qualifikation von Staatsbeamten, wie Pierre Karila-Cohen und Jean Le Bihan in ihrem Beitrag zur Durchsetzung von Personalbögen zeigen. Bei der Herstellung von Rohrpostanlagen während des Zweiten Weltkrieges kamen zunächst Sicherheitskriterien zum Tragen, wie Laura Meneghello in ihrem Beitrag ausführt, während in späteren Verwendungszusammenhängen dieser Aspekt gegenüber Vorstellungen von Rationalisierung und Automatisierung an Bedeutung verlor. Zudem ist eine »Ökonomisierung« der Referenzrahmen seit dem 19. Jahrhundert zu konstatieren,
Rüdiger Graf (Hg.): Ökonomisierung. Debatten und Praktiken in der Zeitgeschichte, Göttingen 2019.
Schließlich ist die Einschätzung von Innovationen als ›neu‹ selbst im höchsten Maße ein zeitgebundenes Phänomen. So sind es die Abweichungen von bestehenden Routinen, die als Neuerung gegenüber dem Alten erkannt werden. Diese Variationen sind aber erst dann Innovationen, wenn sie Teil der etablierten Routinen und Handlungsweisen werden. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass eine Variation, sobald sie eine Innovation wird, ab diesem Moment keine mehr ist, weil sie Teil des Alten wird. »Neuheit selbst ist dann nur die immer bloß gegenwärtige Grenze zwischen einer Vergangenheit, in der dieses Phänomen noch keine Neuheit war, und einer Zukunft, in der es keine Neuheit mehr sein wird.«
Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 62.
Aber dieses Zeitcharakteristikum von Innovation hat noch eine weitere Ebene: die situative, kontextabhängige Bewertung von Neuartigkeit. Neu meint bei der Analyse von Innovationen keine absolute Neuheit, sondern die Neuartigkeit im jeweiligen Kontext,
Vgl. Blättel-Mink / Menez: Kompendium, S. 34.
Als zweite Analyseebene des Innovationsbegriffs sind die Beziehungen zwischen Akteur:innen der Verwaltung und verschiedenen sozialen Gruppen zu untersuchen. Diese Analyseebene stellt damit eine zentrale Ergänzung zur Untersuchung der Diskurse und Wissensordnungen dar. Denn sie nimmt Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte in den Blick, die sich mit Innovationen verbinden. Wenn Innovationen nicht mehr mit Fortschritt gleichgesetzt werden, müssen Auseinandersetzungen um Neuerungen neu analysiert und beschrieben werden. Normative Zuschreibungen von innovationsfreundlichen und -feindlichen Akteur:innen erfassen diese Konflikte nur unzureichend. Deswegen gilt es zunächst, den Blick für die verschiedenen Akteure und Akteurinnen des Wandels in Bürokratien zu schärfen. Damit wird auch Webers Verwaltungsidealbild einer streng hierarchischen und regelgeleiteten Bürokratie aufgebrochen. Wie die Beiträge in diesem Band eindrücklich zeigen, mag die oberste Verwaltungsebene über die Macht verfügen, Wandel und Innovationen zu propagieren. Allerdings folgt daraus keine geradlinige Durchsetzung von Neuerungen. Vielmehr handelt es sich um Prozesse unter Beteiligung verschiedener Akteursgruppen. So zeigt Wadauer in ihrem Beitrag über Arbeitsbücher die Probleme der Diffusion einer Neuerung auf: Weder akzeptierten die involvierten Akteure der Verwaltung das neue Kontrollinstrument, noch nutzten Arbeitgeber und Arbeiter:innen die Bücher in der intendierten Weise. Oliver Falk hebt wiederum die Rolle von privatwirtschaftlichen Organisationen, den Versicherungen, bei der Einführung von bürotechnologischen Innovationen in der Charité Berlin hervor. Marktanner und Löhr legen in ihren Beiträgen hingegen offen, dass Ende des 20. Jahrhunderts externe Expertengruppen bemüht waren, sich als berufene Fachleute für die Organisation von Verwaltung zu etablieren.
Auf dieser Analyseebene ist folglich auch nach den Handlungsräumen von Akteursgruppen zu fragen, die bisher weniger Beachtung gefunden haben. Jenseits der Initiatoren von Reformprogrammen ›von oben‹ ist vor allem die Bedeutung der Akteure und Akteurinnen der mittleren und lokalen Ebene von Verwaltungsorganisationen zu untersuchen. Wie Neumann und Ziegler für die Frühe Neuzeit darlegen, vollzogen sich auf der lokalen Ebene immer wieder Variationen in administrativen Handlungsroutinen, die Grundvoraussetzung einer Innovation ›von unten‹ sind. Die Bedeutung der mittleren und unteren Verwaltungsebene für die inhaltliche Ausgestaltung von Innovationen sowie ihren Einfluss auf diese zeigt der Beitrag von Elisabeth Berger über die Gestaltung von Innovationsprozessen im österreichisch-ungarischen Heer. Erdelyi hebt im Kontext von Reformen in der ungarischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts wiederum hervor, dass lokale Beamte auch zu dieser Zeit über bedeutende Handlungsräume verfügten, um Reformprozesse nur selektiv oder gar nicht umzusetzen.
Schließlich ist zu beachten, dass bürokratische Innovationen in sozialen Interaktionen und Aushandlungsprozessen stattfinden und auf soziale Gruppen zurückwirken. Teleologische Erzählungen vernachlässigen jedoch, dass Innovationen auch in Machtkonstellationen zu verorten sind. So veranschaulicht Wadauer in ihrem Beitrag, wie die Einführung der Arbeitsbücher zunächst vor allem dem staatlichen und unternehmerischen Interesse diente, die Arbeitsmigration zu kontrollieren. Anhand des Einsatzes einer Unternehmensberatungsfirma zur Durchsetzung von betriebswirtschaftlichen Strukturen und Verfahren im deutschen Verteidigungsministerium verdeutlicht wiederum Löhr, wie das Einbinden neuer Akteure eine Machtstrategie des damaligen Ministers gegenüber der ministeriellen Verwaltung darstellte. Zudem können Innovationen neue soziale Gruppen, Konkurrenzverhältnisse und Ungleichheiten erzeugen, wie Michael Moss und David Thomas anhand der Verbreitung der Schreibmaschine im britischen
Die dritte Analyseebene betrifft die Praktiken der Verwaltung. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie lassen sich Verwaltungen als Konstellationen von Artefakten und Akteur:innen erfassen.
Agar: The Government Machine, S. 45–142; Benjamin Kafka: Paperwork. The State of the Discipline, in: Book History 12 (2009), S. 340–353. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000; Benjamin Kafka: The Demon of Writing. Powers and Failures of Paperwork, New York 2012; Lisa Gitelman: Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents, Durham 2014; Stefan Nellen: Das Wesen der Registratur. Zur Instituierung des Dokumentarischen in der Verwaltung, in: Renate Wöhrer (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin 2015, 225–248; Friedrich Balke / Bernhard Siegert / Joseph Vogl (Hg.): Medien der Bürokratie, in: Archiv für Mediengeschichte 16 (2016).
Auf dieser Analyseebene ist ebenso die Untersuchung der Praktiken als Teil kollektiver Handlungsmuster und Alltagsroutinen zu verorten. Den Blick für bürokratisches Handeln und ihre Abläufe zu schärfen, ermöglicht die Kontexte und Triebfedern von Innovationen zu beleuchten. Wie Erdelyi anhand der Debatten um eine ›Vereinfachung‹ der ungarischen Verwaltung vor Augen führt, speiste der hohe Formalisierungsgrad von Verwaltungshandeln im 19. Jahrhundert Reformdiskurse über administrative Handlungsroutinen. Aber nicht nur Praktiken der Verwaltung können einen Innovationsdruck erzeugen, sondern auch ihre Verflechtungen mit anderen administrativen Organisationen, wie Falk in seinem Beitrag zur Krankenhausverwaltung der Charité Berlin demonstriert. Sie musste sich den formalisierten Dokumentationsroutinen ihrer kommerziellen Gegenüber angleichen und dieselben technischen Mittel implementieren. Die Analyse von Praktiken sensibilisiert daher für das Zustandekommen von Innovationen ebenso wie für ihre Folgewirkungen. So verweist der Beitrag von Berger auf die Rolle des Berichts als Informationsmedium zur Ausgestaltung von Innovationen und jener von Reiling auf die Notwendigkeit, die rechtlichen Rahmenbedingungen infolge der Implementierung digitaler Techniken in der deutschen Verwaltung anzupassen.
Indem diese Analyseebene auf die bürokratischen Praktiken und Artefakte fokussiert, ist sie für die Untersuchung von Wandel und Innovationen von zentraler Bedeutung. Im praktischen Vollzug werden Wissens- und Deutungsrahmen abgerufen und bestätigt, aber auch variiert und verändert. Um Wandel und Innovationen zu konstatieren, ist es notwendig, die Einschreibung jener neuen Variationen aufzuspüren, die Teil der Wissens- und Deutungsrahmen der Akteure wurden, wie Falk anhand der Implementierung neuer Bürotechniken in der Verwaltung der Charité Berlin demonstriert. Karila-Cohen und Le Bihan legen wiederum dar, wie man für die stärkere Formalisierung und staatliche Reglementierung der französischen Verwaltung im 19. Jahrhundert Selbstregulierungsmechanismen in Form der Personalbögen schuf.
Peter Collin: »Gesellschaftliche Selbstregulierung« und »Regulierte Selbstregulierung« – ertragreiche Analysekategorien für eine (rechts-)historische Perspektive?, in: ders. et al. (Hg.): Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2013, S. 3–31.
Die Vorstellung von Innovationen als technische Neuerungen und ihre normative Aufladung entspricht der gegenwärtigen populären und alltäglichen Deutung, sie fasst das Phänomen ›Innovation‹ jedoch nur unzureichend. So zeigen soziologische Theorien überzeugend, dass Innovationen soziale Produkte darstellen und Teil des gesellschaftlichen Wandels sind. Wie Braun-Thürmann und John argumentieren, unterliegen Gesellschaften einem ständigen Veränderungsprozess, der jedoch »als modifizierte Wiederholung des Gleichen, als gesellschaftliche Stabilität«
Braun-Thürmann / John: Innovation, S. 61. Ihrer Konzeption liegt ein evolutionäres Gesellschaftsverständnis zu Grunde.
Die alltägliche Auffassung des Begriffs ›Innovation‹ löst auf den ersten Blick ein Unbehagen hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Verwendung als Analysekategorie aus. Allerdings verdeutlicht die soziologische Theorie- und Begriffsbildung das Potenzial des Konzepts, um Phänomene des gesellschaftlichen Wandels zu untersuchen. Zugleich verweist die sozialwissenschaftliche Forschung jedoch auch auf die Herausforderungen in seiner empirischen Anwendung: So sind Innovationen, wenn man sie als Teile von gesellschaftlichem Wandel versteht, im Gegensatz zur oberflächlichen Betrachtung technischer Neuerungen schwer fassbar. Zudem handelt es sich um hochkomplexe soziale Vorgänge in einem kontinuierlich verlaufenden und flüchtigen Prozess über einen langen Zeitraum,
Zur Schwierigkeit der Bestimmung von Innovationen und ihren Prozesscharakter vgl. etwa auch Inka Bormann: Indikatoren für Innovation – ein Paradox?, in: Inka Bormann / René John / Jens Aderhold (Hg.): Indikatoren des Neuen. Innovation als Sozialmethodologie oder Sozialtechnologie? Wiesbaden 2012, S. 39–55; René John: Erfolg als Eigenwert der Innovation, in: Bormann / John / Aderhold (Hg.): Indikatoren, S. 77–96. Sie plädieren für einen qualitativen Zugang bei der Bestimmung von Innovationen.
Um dieses Potenzial auszuschöpfen, schlagen wir vor, historische Innovationen anhand von drei Analyseebenen zu untersuchen. Dabei vermeidet der »reflexive« Zuschnitt von Innovation als Analysekategorie, den Innovationsbegriff in anachronistischer Weise auf frühere Zeitabschnitte zu übertragen.
Hutter et al.: Innovation Society Today. Trischler / Steiner: Innovationsgeschichte, S. 485.
Innovationen und Wandel in der Verwaltung zu untersuchen, ermöglicht, das Bild der statischen Bürokratie aufzubrechen und stattdessen kontinuierliche Wandlungsprozesse herauszuarbeiten. Darüber hinaus bedeutet eine Innovationsgeschichte der öffentlichen Verwaltung, Bürokratien als Teil ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rahmung zu analysieren. Die staatliche Verwaltung wird dadurch in ihren Verflechtungen mit anderen Gesellschaftsbereichen sichtbar, die über Beziehungen zwischen ›Verwaltern‹ und ›Verwalteten‹ hinausgehen und Anpassungsdruck ebenso wie Lernprozesse umfassen. Umgekehrt erlaubt dieser Zugriff Rückschlüsse von der Verwaltung auf Wandel und Innovation in den jeweiligen Gesellschaften.
Inhalt The Logic of Simplifying Public Administration in Hungary, 1900–1910 »A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in frühneuzeitlichen Verwaltungen M-Government: Recht und Organisation mobilen Verwaltens Antonio Serra, Early Modern Political Economist: From Good Government as Individual Behavior to Good Government as Practical Policy An Unbound Prometheus? Bureaucracy, Technology, Technocracy, and Administrative Innovation The Motives for and Consequences of the Introduction of Typewriters and Word Processing in the British Civil Service Die Gestaltung von Wandel und Innovation im Mehrebenensystem der Militärverwaltung Österreich-Ungarns um 1900 Innovation durch Technik? Rohrpostsysteme als Medientechnologien der Verwaltung im 20. Jahrhundert »Typewriting Medicine« – Bürotechnologische Innovationen und klinische Verwaltung am Beispiel der Charité Berlin, 1890–1932 Assessment as innovation: The case of the French administration in the nineteenth century Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven McKinsey auf der Hardthöhe: Unternehmensberater im Bundesministerium der Verteidigung 1981/82 Ein neues Gedächtnis für die Verwaltung: born digitals und die Wissenschaft. Ein TagungsberichtEinführung und/oder Abschaffung von Arbeitsbüchern als Innovation. 1 The Only Game in Town? New Steering Models as Spaces of Contestation in 1990s Public Administration