Schweizerisches Bundesarchiv [BAR], E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). D. Camponovo, Ispettore (Ispettorato doganale Chiasso stazione), an Direzione delle Dogane, Lugano, 01. 07. 1969: Posta pneumatica nella stazione di Chiasso: »Vi preghiamo quindi di rivedere l’atteggiamento negativo esposto dalla DGD […] e di far in modo che la nostra amministrazione, in quest’era dell’automazione e dell’elettronica, abbia a salvaguardare il proprio prestigio e a creare dei mezzi validi non solo per le nostre generazioni, ma anche per quelle future.« Diese und alle weiteren Übersetzungen sind meine eigenen.
So schrieb 1969 D. Camponovo, schweizerischer Zollinspektor am Bahnhof Chiasso, an die Zolldirektion in Lugano, um sie von der Nützlichkeit eines eigenen Rohrpostanschlusses zu überzeugen. Dieses Zitat verdeutlicht, welcher Stellenwert Rohrpostanlagen in der Verwaltung damals zugeschrieben wurde.
Die Rohrpost ist während mehrerer Jahrzehnte, in manchen Fällen auch länger als ein Jahrhundert, ein wichtiges Kommunikations- und Transportmittel gewesen.
Der Forschungsstand zur Rohrpost ist sehr beschränkt, obwohl in den letzten Jahren in den Geschichtswissenschaften sowie in der Medienwissenschaft und Anthropologie vermehrt Studien zu einzelnen Städten veröffentlicht wurden: vgl. Laura Meneghello: Kulturgeschichte und ›STS‹ kombiniert. Die Rohrpost als kommunikations- und raumerzeugende Infrastruktur, in: Astrid Wiedmann / Katherin Wagenknecht / Philipp Goll / Andreas Wagenknecht (Hg.): Wie forschen mit den ›Science and Technology Studies‹? Bielefeld 2020, S. 25–49; Rachele Delucchi: Unter Druck. Wie die Rohrpost unter die Schweiz kam, in: Traverse 27/2 (2020), S. 83–97 (zu schweizerischen Stadtrohrposten in den 1920er-Jahren); Florian Bettel: Ware Zukunft – Erzählung und Kommerzialisierung von Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert, in: Blätter für Technikgeschichte 80 (2018), S. 31–54; Anna Harris: Sounds like Infrastructure: Examining the Materiality of Pneumatic Tube Systems through their Sonic Traces, in: Andreas Marklund / Ruediger Mogens (Hg.): Historicizing Infrastructure. Aalborg 2017, S. 21–50; Ingmar Arnold: Luft-Züge. Die Geschichte der Rohrpost. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2016; Florian Bettel: Futures & Options: Utopische Bildwelten des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Wiener Rohrpost, in: Marlene Illner / Matthias Winzen (Hg.): Technische Paradiese: die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts. Oberhausen 2016, S. 207–231; Gabriele Schabacher: Rohrposten. Zur medialen Organisation begrenzter Räume, in: Christoph Neubert / Gabriele Schabacher (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld 2014, S. 189–222; Florian Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher. Die Rohrpost am Arbeitsplatz in fünf Darstellungen, in: Blätter für Technikgeschichte 73 (2012), S. 127–148; Florian Bettel: Technik, Kommerz und Totenkult. Die technische Vision der pneumatischen Leichenbeförderung zum Wiener Zentralfriedhof von 1874, in: Uwe Fraunholz / Anke Woschech (Hg.): Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne. Bielefeld 2012, S. 43–64. Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher, S. 138. Zu sozialen relationalen Räumen vgl. Pierre Bourdieu: ›Sozialer Raum, symbolischer Raum›, in: Stephan Günzel / Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 [1989], S. 354–368.
Gerade die Möglichkeit, Schriftstücke im Original zu befördern, war für die Einführung von Rohrpostsystemen in Behörden und Verwaltungen entscheidend. Diese Einführung ging mit Diskursen zur Modernisierung, Beschleunigung der Vorgänge, »arbeitsrationalen Organisation« und Entlastung des Personals einher. Büropraktiken und Büroarbeit veränderten sich, da Rohrpostsysteme die Kommunikation zwischen mehreren Etagen und Hunderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne viele Boten und großen Aufwand ermöglichten. Verschiedene sozio-technische Konstellationen (im Sinne von » Aihwa Ong / Stephen J. Collier: Global Assemblages, Anthropological Problems, in: Dies. (Hg.): Global Assemblages. Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems. Malden 2005, S. 3–21. Zur Verwaltungsgeschichte im Sinne einer Geschichte von Diskursen und Praktiken vgl. Peter Becker / Stefan Nellen: Verwaltungsgeschichte im Dialog. Einleitung, in: Administory 1/1 (2018), S. 3–9. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0001. Insbesondere zur Rolle des Archivs als ein Mittel zur Reproduktion von Staatlichkeit und ihren eigenen Kategorien sowie zur kritischen Aufgabe der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung, diese Kategorien zu hinterfragen und ihre Gewordenheit und Konstruiertheit aufzuzeigen vgl. Caroline Dufour: Administrative History and the Theory of Fields. Towards a Social and Political History of Public Administration, in: Administory 1/1 (2018), S. 124–137. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0007. Zur Innovation aus technik- und kulturhistorischer Perspektive vgl. Helga Nowotny (Hg.): The Quest for Innovation and Cultures of Technology, in: Cultures of Technology and the Quest for Innovation. New York/Oxford 2006, S. 1–23. Marcus Popplow: Die Idee der Innovation – ein historischer Abriss, in: Birgit Blättel-Mink / Ingo Schulz-Schaeffer / Arnold Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung. Wiesbaden 2019, S. 1–9. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: Hubert Knoblauch: Kommunikatives Handeln, das Neue und die Innovationsgesellschaft, in: Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle. Wiesbaden 2016, S. 111–131. Zur Geschichte von Innovation: Benoît Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation over the Centuries. New York/London 2015 sowie Benoît Godin: Technological Innovation: On the Origins and Development of an Inclusive Concept. Technology and Culture 57/3 (2016), S. 527–556. Zur Innovationspolitik: Ulrich Wengenroth: Innovationspolitik und Innovationsforschung, in: Gerd Graßhoff / Rainer Schwinges (Hg.): Innovationskultur. Von der Wissenschaft zum Produkt. Zürich 2008, S. 61–77.
Auf der Grundlage unterschiedlicher Methoden (insbesondere Science and Technology Studies sowie Kulturgeschichte der Technik)
Zu STS und ›large technological systems‹ vgl. Wiebe E. Bijker / Thomas P. Hughes / Trevor J. Pinch (Hg.): The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology. Cambridge, Mass. 1987; zur Kulturgeschichte der Technik vgl. Martina Heßler: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt am Main 2012. Zur Postverwaltung als Dispositiv vgl. Antonia von Schöning: Die Administration der Dinge. Technik und Imagination im Paris des 19. Jahrhunderts. Zürich 2018. Zu Infrastrukturen und Macht vgl. van Laak, Dirk: Infrastrukturen und Macht, in: Jens Ivo Engels / François Duceppe-Lamarre (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, S. 106–114. Sebastian Brändli-Traffelet: Verwaltung des Sonderfalles: Plädoyer für eine Verwaltungskulturgeschichte der Schweiz, in: SZG/RSH/RSS 54/1 (2004), S. 79–89, insbesondere 83 und 85–86.
Die ausgewählten Fallbeispiele sind sowohl zeitlich als auch geografisch heterogen, sie sind aber gerade dadurch für die Entwicklungen in der Technisierung der Verwaltung während des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen europäischen Regionen repräsentativ. Die zugrundeliegenden Quellen stammen aus deutschen, schweizerischen, tschechischen und britischen Archiven, die wiederum in Unternehmensarchive (Siemens-Archiv) und staatliche Archive zu unterteilen sind. Die Quellensprachen sind somit Deutsch, Englisch, Italienisch sowie Französisch und, zu einem kleineren Anteil, Tschechisch. Das hier behandelte geografische Territorium ist aber mit dem der jeweiligen Sprachen entsprechenden Nationalstaaten nicht deckungsgleich.
Die Identifikation von Sprache mit Nation wird in der Globalgeschichtsschreibung hinterfragt. L. Elena Delgado / Rolando J. Romero: Local Histories and Global Designs: An Interview with Walter Mignolo, in: Discourse 22/3 (2000), S. 7–33, zu Sprache und Territorium S. 13. Zur Globalgeschichte vgl. Sebastian Conrad / Shalini Randeria / Beate Sutterlüty: Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York 2002.
Die Fehlerhaftigkeit und die Ablehnung technischer Innovation werden im zweiten Abschnitt am Beispiel des deutschen Bundeskanzleramts und der schweizerischen Bundeskanzlei in den 1960er- und 1970er-Jahren thematisiert. Im ersten Fall setzte sich die Rohrposttechnik trotzdem durch, nachdem das erste, mangelhafte System durch ein neueres ersetzt wurde; im zweiten Fall wurde die Installation eines zusätzlichen Rohrpostsystems abgelehnt. Der dritte Abschnitt handelt von der »Modernisierung« der Zollämter in der Schweiz und in Deutschland in den 1960er- bis 1980er-Jahren, die auch in diesem Fall unter anderem durch die Einführung von Rohrpostanlagen erfolgte. Es wird hiermit gezeigt: Erstens, dass Rationalisierungsdiskurse vom Bereich der privaten Wirtschaft in den institutionellen Bereich übertragen wurden; hierbei galt technische Innovation als Lösungsvorschlag zum Zweck der »Modernisierung«. Dies ist in einem Zusammenhang mit dem utopischen Charakter zu verstehen, der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rohrpostprojekte umhüllte.
Vgl. Arnold: Luft-Züge, sowie Bettel: Futures & Options.
Die Nutzung von Rohrpostanlagen in der Verwaltung begann bereits im 19. Jahrhundert. Diese knüpfte an die breitflächige Installierung von Stadtrohrpostanlagen in den 1870er-Jahren an. In den 1920er- bis 1940er-Jahren fand eine rasche Verbreitung der Rohrpost als Innovationstechnologie der Verwaltung
Vgl. Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher, S. 137 (›Die Boomjahre der Rohrpost›). Vgl. Fritz Jeske: Eine deutsche Stadtrohrpostanlage in Prag (Mitteilung aus der Rohrpostabteilung der Mix&Genest AG), in: Elektrisches Nachrichtenwesen (Zeitschrift für Fortschritte in der Fernsprech-, Telegraphen- und Funktechnik, vierteljährlich hrsg. von der C. Lorenz AG, Berlin-Tempelhof und der Standard Elektrizitäts-Gesellschaft AG, Berlin-Schöneberg) 12/1 (Oktober 1933), S. 19–24. Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 16133.
In Bukarest und Zagreb wurden während des Zweiten Weltkriegs Rohrpostanlagen in den wichtigsten Verwaltungsgebäuden montiert. Hiermit waren sie Teil eines Verwaltungs- und Ordnungssystems. Per Rohrpost zirkulierten nicht nur Schriftstücke, Anweisungen und Befehle, sondern es wurden nicht zuletzt die Sendungen und Telegramme gerade bei den Rohrpoststationen in ein Register eingetragen und somit erfasst, die Kommunikation wurde kontrolliert und eventuell zensiert. Dieses Muster wurde bereits 1939 bei der Prager Stadtrohrpost eingeführt.
Národní archiv (Prag), MPT 429, Karton 1388. Ředitelství pošt a telegrafů Praha, Věc: Rejstřík odchodu připojování telegramů podaných u potrubnich stanic [Register der Abfahrt der Telegramme, die bei den Rohrpoststationen eingereicht worden sind], Praha 7. 01. 1939. Zu Versicherheitlichung vgl. Eckart Conze: Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven. Göttingen 2018; zu Sicherheit vgl. Claudia Aradau: Security That Matters: Critical Infrastructure and Objects of Protection, in: Security Dialogue 41 (2010), S. 491–514.
Noch Anfang Mai 1943 wurde die Rumänische Nationalbank in Bukarest mit einer automatischen Rohrpostanlage sowie zwei Aktenpaternosteraufzügen, beide von Siemens, ausgestattet. Dem Postamt Zagreb lieferte im Jahre 1942 die Telephon Apparate Fabrik E. Zwietusch & Co. GmbH in Berlin-Charlottenburg die Briefverteil- und Transportbandanlagen sowie eine Hausrohrpost. Dabei wurden deutsche spezialisierte Kräfte, insbesondere Rohrpostspezialisten wie »Ingenieure, Techniker und Monteure« zur Verfügung gestellt und die Firma Zwietusch verpflichtete sich, die Spezialisten für die ganze Zeit der Montage auf der Baustelle zu halten.
Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 13671 [Rechtsabteilung SuH & SSW, Kroatien, Altsignatur 5043]. Anschrift an die Zentrale Rechtsabteilung SSW-Verwaltungsgebäude, Siemensstadt, 05. 05. 1943, darin: Vertrag, Rumänische Nationalbank A.G. Bukarest, 31. 03. 1942 (in deutscher und rumänischer Sprache); Vertrag, Generaldirektion für öffentl. Arbeiten im Ministerium des Unabhängigen Staates Kroatien und Telephon Apparate Fabrik E. Zwietusch & Co. GmbH Bln. Charlottenburg für Postamt Zagreb vom 28. 12. 1942 (in deutscher und kroatischer Sprache), hier insbesondere Artikel 10: Montagepersonal. Ein ähnlicher Vertrag in deutscher und rumänischer Sprache mit Datum Bukarest, 31. 03. 1942, ist auch in SAA 14942 zu finden.
Diese waren keine Sonderfälle. Ein Prozess der Technisierung der Einflusszonen des nationalsozialistischen Deutschen Reichs hatte früher begonnen. 1941 wurden zwischen Siemens und der Arge Hochtief-Prager, Bukarest (vermittelt durch die Hochtief, Essen) Vereinbarungen über die »Lieferung und Montage der elektrischen Stark-und Schwachstromausrüstung für den Neubau des Innenministeriums« in Bukarest getroffen. Neben der Rohrpost wurden eine automatische Fernsprechanlage, ein Aktenaufzug mit sieben Stationen und drei Aktenaufzüge mit je sechs Stationen, eine Bandanlage und eine Lichtsignalanlage sowie eine elektroakustische Anlage und eine Fernschreibanlage, eine Uhranlage sowie Arbeitszeitkontrollapparate und Zeitstempel und schließlich ein Feuermelder und eine Wächterkontrollanlage installiert.
Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 14872. Vertrag 4680, Essen den 15. 08. 1941, Hochtief AG / Siemens & Halske AG.
Die Verwaltungsfunktion der Rohrpost ging so mit ihrer Versicherheitlichungsfunktion einher. Im Bereich der Militärverwaltung wurde letztere prioritär, wie auch aus dem nächsten Fallbeispiel ersichtlich wird. Die Anwendung technischer Innovation war kein Mittel zur offenen Kommunikation und zu einer potentiell globalen Vernetzung, sondern diente der Ermöglichung eines geschlossenen und kontrollierten Austausches.
Zwischen 1942 und 1944 wurde in Whitehall, dem administrativen Herzen von London, ein sogenanntes »inter-departemental [sic] system« geplant, das die verschiedenen Systeme innerhalb von einzelnen Gebäuden, Ministerien oder Verwaltungs- und Regierungseinheiten miteinander verbinden sollte. Das »inter-departemental« Rohrpostnetz sollte zwischen Admiralty (Royal Navy), No. 10 Downing Street, Office of the War Cabinet, HM Treasury, Air Ministry, India Office, Home Office, Colonial and Dominions Office und Foreign Office verlaufen. Im Projekt spielten War Cabinet Office und Foreign Office eine tragende Rolle gerade deswegen, weil sie interne Rohrpostsysteme mit Erfolg bereits nutzten.
Aus der Akte in The National Archives [TNA], CAB 21/2421 geht hervor, dass das Projekt im Jahre 1944 wegen einer Entscheidung des Bauministeriums nicht weiterverfolgt werden konnte: vgl. TNA, CAB 21/2421 [006], Lawrence Burgis an P.J. Root (Ministry of Works, Lambeth Bridge House), 23. 11. 1944. Jedoch wollten mehrere Akteure aus den vom geplanten Rohrpostsystem betroffenen Behörden es so bald wie möglich weiterverfolgen: vgl. TNA, CAB 21/2421 [007], W.B. Foden (Air Ministry, Ariel House, Strand) an Burgis (Offices oft he War Cabinet, St. George St.), 22. 11. 1944.
Gründe für die Einrichtung des neuen Systems waren sowohl die Beschleunigung der Kommunikation als auch die Einsparung von Arbeitskräften. Insbesondere zu Kriegszeiten, als die ganze arbeitstüchtige Bevölkerung direkt oder indirekt zu Kriegszwecken eingesetzt werden musste, wussten es das Militär und die Regierung zu schätzen, wenn durch Mechanisierungsvorgänge Arbeitskräfte eingespart werden konnten, wie ein Beamter in einem Brief an den Chefingenieur des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten schrieb:
TNA, CAB 21/2421 [110], A.J.D. Winnifrith an E. Batch, 17. 02. 1944.
Neben Zeit- und Arbeitskräfteeinsparung waren es vor allem Sicherheitsgründe, die die Einrichtung eines größeren, umfassenden Systems rechtfertigten: Der Transport von Dokumenten zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen geschah nämlich durch einen Boten, der zu Fuß oder mit einem Auto Schachteln mit den Unterlagen getragen hatte. Im Notfall (im Fall eines feindlichen »blitz« oder einer Invasion, aber auch im Fall von Nebel)
TNA, CAB 21/2421 [184], Camp Commandant an Mr. Wilkinson, »Your Minute of 14th September«, 16. 09. 1942.
Der Plan des »inter-departemental system« ist ein Beispiel dafür, dass die Aneignung von Technik Zeit braucht, und dass Innovationen sich erst dann durchsetzen können, wenn sie akzeptiert werden. Tatsächlich wurde vermerkt, dass die Idee eines »inter-departemental system« nicht früher aufgekommen war, weil ein solches System damals »a new innovation« war,
TNA, CAB 21/2421 [102], Machon (The War Office) an Winnifrith (Offices of the War Cabinet), London, 7. 03. 1944.
TNA, CAB 21/2421 [120], Codrington an Mr. Winnifrith und Brigadier Jacob, 10. 02. 1944.
In demselben Schreiben wurde zudem angemerkt, dass die Boten zum Transport von Sendungen zu den entferntesten Ämtern, zum Beispiel der Law Court, gebraucht werden würden, während sie gegenwärtig für kurze Distanzen zum Einsatz kamen, die am effizientesten mittels einer Rohrpost hätten verbunden werden können. Die geplante umfassende Anlage hätte also dazu dienen sollen, die Militär- und Staatsverwaltung zu einem Kontinuum zu assemblieren.
Bei der praktischen Umsetzung des Plans tauchten unterschiedliche Probleme auf: erstens mit der Gewährleistung der Geheimhaltung, zweitens mit der Zuverlässigkeit des Systems. Die Kapseln waren nämlich aus sicherheits- und geheimhaltungsgründen abgeschlossen; jede Kapsel gehörte einem Büro und jeder Kapsel gehörte ein eigener Schlüssel, der im entsprechenden Büro deponiert war. Es waren gerade die Schlüssel der einzelnen Kapseln, die einerseits ein Dispositiv der Sicherheit waren, andererseits technische Fehler verursachten, wenn die Deckel der Büchsen nicht richtig abgeschlossen wurden oder verloren gingen.
Die Sicherheitsmaßnahmen waren vielfältig und begleiteten die Sendung auf ihrem ganzen Weg: Erstens waren die Büchsen von bestimmten Linien mit einem Schloss versehen; zweitens waren die Linientrassen Unbefugten nicht bekannt, das heißt sie wurden geheim gehalten; drittens mussten die Empfänger ggf. eine Empfangsbestätigung in Form der leeren Büchse zurückschicken, damit dem Sender kein Zweifel bleiben konnte, ob der Inhalt der Büchse verloren gegangen war; viertens hatten die Operatoren, die für den Betrieb von manchen Linien zuständig waren, keinen Schlüssel, um die Büchsen zu öffnen; fünftens hatte jeder Sender einen eigenen Schlüssel für seine spezifische Büchse.
TNA, CAB 21/2421 [236–238, hier 238], WW [Wilkinson] an Batch, Ministry of Works, 26. 03. 1942: Lampson [sic] Tube Installation: »The stuff which would be sent through the tubes would be highly secret.« TNA, CAB 21/2421 [142], Memorandum, December 1943, 19. Operation of the internal system – return of empty containers proves delivery). Vgl. auch TNA, CAB 21/2421 [075], Foreign Office 4-inch Tube Installation. Extension to the War Cabinet Offices. F.W. Rawlins, Chief Clerk, 7. 10. 1944.
Akustische Signale wie das dreifache Klingeln waren für den »Office Keeper« der Anlass, eine gesicherte (das heißt mit einem Schloss versehene) Rohrpostbüchse dem klingelnden Mitarbeiter (zu Fuß) zu bringen. Nachdem die Nachricht in der Büchse war und diese verschlossen wurde, würde derselbe »Office Keeper« diese zum Exchange per Rohrpost schicken (»to blow«), wo sie dann in die richtige Rohrpostlinie transferiert und weitergeleitet worden wäre; der am Ankunftsort zuständige »Office Keeper« hätte diese dann dem Empfänger gebracht; eine solche Prozedur war notwendig, da die Weichenstellung noch nicht automatisch erfolgte. Diese komplexen Interaktionen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die bei dem täglichen Rohrpostverkehr involviert waren, lassen sich als »assemblages« konzeptualisieren: Sie waren flexibel und konnten ständig verändert und angepasst werden. Daraus folgt, dass auch technische Innovation in diesem Sinne nicht als einmaliges und einzigartiges Phänomen, nicht also als »Revolution«, sondern als eine Anpassung des Alten zu verstehen ist.
Vgl. dazu David Gugerli / Patrick Kupper / Daniel Speich: Rechne mit deinen Beständen. Dispositive des Wissens in der Informationsgesellschaft, in: Dies. (Hg.): Informationsgesellschaft: Geschichten und Wirklichkeit. Fribourg 2005, S. 79 – 108, hier S. 87, wo dazu aufgefordert wird, die Revolutionsrhetorik kritisch zu hinterfragen; zu ›assemblages‹ vgl. George E. Marcus / Erkan Saka: Assemblage, in: Theory, Culture & Society 23 (2006), S. 101–106.
Rohrpostanlagen vermittelten zwischen unterschiedlichen Stellen und ermöglichten so ihre Kooperation, gleichzeitig setzten sie Zusammenarbeit und Koordination voraus. Die Intermedialität der Rohrpost konnte aber auch als Nachteil für die Sicherheit des Transports und die Geheimhaltung der Nachrichten gesehen werden: Mehr Vernetzung bedeutete auch mehr Risiken, z. B. dass die Nachrichten von Unbefugten gelesen werden konnten, dass sie verloren gehen oder aus anderen Gründen nicht zugestellt werden konnten.
TNA, CAB 21/2421 [179–180], Korrespondenz zwischen Banks und Walter, 8. 12. 1942.
Bezüglich der Stabilisierung technischer Innovationen kann man feststellen, dass, im Gegensatz zu dem, was man von einer Militärverwaltung erwarten würde, die meisten Entscheidungen selbst bei den Planungen einer »inter-departemental« Verbindung nicht von oben gefällt, sondern auf mehreren Ebenen verhandelt wurden. Auf keinen Fall handelte es sich hier um eine lineare Entwicklung vom Plan zu seiner Verwirklichung, sondern vielmehr um einen kontinuierlichen Austausch zwischen den beteiligten Behörden, dem Militär und den Ingenieuren des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten.
TNA, CAB 21/2421 [035–036], L.F. Burgis an W.B. Foden (Establishment Office, Air Ministry, Ariel House), »Interdepartmental 4-inch Lamson Tube System«, 24. 10. 1944. Zum impliziten Wissen vgl. Michael Polanyi: The Tacit Dimension. Chicago 1966. TNA, CAB 21/2421 [171], [Winnifrith?] an Major Rawlins, 10. 04. 1943: »Could you possibly initiate our Treasury man into our tube system«; sowie TNA, CAB 21/2421 [172], A.J.D. Winnifrith an E.H. Ritson, Treasury, 10. 04. 1943 (draft).
Die Ambivalenz technischer Innovation in der Verwaltung, die Abläufe beschleunigen, aber auch verlangsamen und verkomplizieren kann, wird in den nächsten Abschnitten anhand der Beispiele der bundesdeutschen Verwaltung und der schweizerischen Zollbehörden an Güterbahnhöfen näher beleuchtet.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Rohrpostsysteme in den politischen Institutionen unterschiedlicher europäischer Länder eingesetzt. Transportiert wurden Telegramme und eventuell postalische Sendungen sowie offizielle Berichterstattungen, damit sie schneller in den Druck gehen konnten. Somit wurde die Rohrpost zu einem technischen System, das parlamentarische Prozesse begleitete und mit demokratischen Verfahren in Verbindung gebracht wurde. Das Beispiel des deutschen Bundeskanzleramtes zeigt, wie Innovation trotz ihres anfänglichen Scheiterns vorangetrieben wurde und sich schließlich durchsetzen konnte. In der Schweiz wurde dagegen ein Vorschlag zur Erweiterung des bestehenden Rohrpostnetzes zwischen dem Parlament in Bern und dem Postamt Bollwerk um ein neues Netz innerhalb und zwischen den Verwaltungsgebäuden abgelehnt; in diesem Fall wurde technische Innovation aufgrund des nicht vorhandenen Bedarfs abgeblockt.
Die Rohrpostanlagen des Bundeskanzleramtes wurden mit unterschiedlichen Eigenschaften der staatlichen Verwaltung in Verbindung gebracht; oft waren diese negativ besetzt und wurden benutzt, um gerade die Trägheit der Bürokratie sowie die Rückständigkeit von Regierungen, die fehlende Innovationsbereitschaft und sogar das Scheitern der Politik zu bezeichnen.
Anfang 2001, während der »Beratung des Entwurfs eines Gesetztes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr« deutete die SPDAbgeordnete Christine Lambrecht gerade die Rohrpost als Symbol der Rückständigkeit des deutschen Staates und seines Verwaltungsapparats.
Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 146. Sitzung. Berlin, 25. 01. 2001. Plenarprotokoll 14/146, S. 14378. Anlage 3, Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetztes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr (Tagesordnungspunkt 7). Petra Tempfer, Die Rohrpost ist tot – es lebe die Rohrpost, Wiener Zeitung Online 08. 09. 2015 URL:
Auf der Grundlage der Akten zur Rohrpostanlage der deutschen Bundesregierung wird hier das enge Verhältnis zwischen politischen Institutionen und ihren medialen und technischen Dispositiven beleuchtet. Insbesondere auf der symbolischen Ebene spielten letztere nämlich eine wichtige Rolle, die sich in den politischen Diskursen widerspiegelte: Regierungen werden oft aufgrund ihres Umgangs mit Technik beurteilt, wenn nicht gar damit identifiziert. Gleichzeitig ist aber auch anzumerken, dass gerade sozio-technische »assemblages«
Vgl. Martin Müller: Assemblages and Actor-Networks: Rethinking Socio-Material Power, Politics and Space, in: Geography Compass 9/1 (2015), S. 27–41; C. McFarlane: Translocal Assemblages: Space, Power and Social Movements, in: Geoforum 40/4 (2009), S. 561–567.
Die Rohrpost im Bundeskanzleramt wurde in das neue Gebäude des Kanzleramtes in Bonn, das gerade errichtet wurde und als »angekündigte Enttäuschung« bezeichnet wird,
Vgl. dazu Elisabeth Plessen: Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung. Berlin 2019, S. 174–183 (Das neue Bundeskanzleramt: Chronik einer angekündigten Enttäuschung). Bundesarchiv (Koblenz) [BArch], B 136/19435. Insbesondere zur Lautstärke und alle Zitate aus: Vermerk, Bonn, 29. 06. 1976, Betr.: Neubau Bundeskanzleramt; hier: Rohrpostanlage, S. [1]–2, gez. Dr. Kern [Bundeskanzleramt], Herrn MR Dr. Bobbert. BArch, B 136/19435. Vermerk, Bonn-Beuel, 14. 07. 1976, betr.: Neubau eines Dienstgebäudes für das Bundeskanzleramt in Bonn; hier: Rohrpostanlagen W 100. Gez. Galandi (Oberregierungsbaurat).
Auch der Leiter des Referats 14 beklagte sich über die »ständige Lärmbelästigung«, die die Rohrpostanlage verursachte, und die er »[s]einen Damen« (und sich selbst) nicht mehr zumuten konnte, sowie über die kalte Luft, die aus der Rohrpoststation ständig auf den Rücken einer Mitarbeiterin blies, sodass sie schon mehrmals krank geworden war.
BArch, B 136/19435. Referat 14 (Herr Rang), über Herrn Abteilungsleiter Herrn Ref. ID, Bonn, 09. 02. 1977, Betr.: Rohrpostanlage Referat 14.
Schließlich wurden auch Probleme mit der Sicherheit festgestellt. Die Kontrolleinrichtungen (z. B. eine Anzeige, dass die Sendung tatsächlich angekommen war) fehlten in der Anlage im Kanzleramt komplett, und obwohl die »Airfix«-Anlage angeblich fehlerfrei übergeben wurde, häuften sich die Fehler bei fast jeder Station. Einerseits wurde anerkannt, dass die Anlage für ihren Zweck nicht geeignet war; andererseits kritisierten die Techniker, die für Instandhaltung und Reparatur zuständig waren, auch das Verhalten der Amtsangehörigen, die die Anlage teilweise »als Spielzeug« benutzten (von 12 »befreiten« Büchsen enthielten 8 nur Büroklammern und ähnliches).
BArch, B 136/19435. Bonn, 26. 07. 1976, Betr.: Rohrpostanlage, hier: Mängelbeseitigung – wurde nicht gesandt, gez. Braun, an Gruppenleiter und Abteilungsleiter. Ein Wartungsvertrag für diese Anlage wurde mit der Fa. Hans Bockerhoff, Duisburg (14. 06. 1976) abgeschlossen.
Genauer genommen wurden 1976 zwei unterschiedliche Rohrpostanlagen im Kanzleramt installiert, und zwar eine Leichtrohrpostanlage NW 100 für sämtliche wichtige Transporte zwischen Kanzlerbau und Abteilungsbau, die extern geleitet war und die Büros nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen diesen beiden Gebäuden verbinden sollte; zusätzlich wurde eine Anlage NW 60 eingebaut, die insbesondere »in Krisenzeiten eine rasche und unterbrechungsfreie Verbindung zwischen dem Hauptlagezentrum der Bundesregierung und der Fernschreibstelle herstellen« und gerade deswegen »höchsten Anforderungen entsprechen« sollte. Leider wurde auch diese Rohrpostanlage »den gestellten Aufgaben nicht gerecht«. Bei der »Leichtrohrpostanlage« wurden folgende Mängel festgestellt, und dies bereits kurze Zeit nach ihrem Einbau: Erstens zeigte der Innendurchmesser der Rohre Fertigungsungenauigkeiten und bei derselben Fahrrohrleitung waren keine Prüfverschlüsse vorhanden, d. h. es war sehr aufwendig, Fehlbüchse zu finden und zu befreien. Zweitens wurden sowohl bei den Gehäusen als auch bei der »Mehrzahl der Drahtkörbe« keinerlei Schalldämmmaßnahmen eingesetzt; dies führte dazu, dass das Ankunfts- und Ausfahrgeräusch der Büchsen als »laut, unangenehm und störend« empfunden wurde. Drittens wurde festgestellt, dass das Tastenfeld zur Zieleingabe bei den Rohrpoststationen »unübersichtlich und ergonomisch ungünstig angebracht« war. Viertens war die Zentrale »technisch umständlich konzipiert« und zudem eine »noch nirgends erprobte Neukonstruktion«. Fünftens gingen bei Netzausfall »die in den Relaisspeicher gespeicherten Adressen« der Rohrpoststationen verloren. Sechstens erfolgte häufig eine (nicht nutzerbedingte) Fehlleitung der Sendungen, und dies sowohl innerhalb einer Linie als auch zwischen den Linien. Siebtens betrug die Förderleistung der Anlage nur drei Büchsen pro Station und Stunde.
BArch, B 136/19435. Entwurf, Chef BK (im Auftrag, Dr. Kern), an den Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen, und Städtebau, Bonn, 11. 08. 1976, Betr.: Rohrpostanlage im Neubau des Bundeskanzleramtes, S. 3–4.
Die Probleme mit der Rohrpost im Kanzleramtsgebäude waren bald überall bekannt, und auch die Presse berichtete darüber, während einige Produzenten ähnlicher Anlagen ihre Werbebroschüren (scheinbar unaufgefordert) schickten, um einen Wechsel des Systems anzubieten.
BArch, B 136/28927. Beispielsweise stellte die Fa. Telelift ihre elektrische Förderanlage mit kleinen Wagen vor, die sie bereits im Bundesministerium für Justiz, im Bundesministerium für Technologie und Forschung, im Hochhaus Bundesabgeordnetenhaus und in zahlreichen Unternehmen, insbesondere in italienischen Banken, eingebaut hatte. BArch, B 136/28927. Kanzlers Rohrpost hat versagt, 31. 03. 1978; Rohrkrepierer, Bild Zeitung, 31. 03. 1978; Neue Rohrpost im Kanzleramt, Die Welt, 31. 03. 1978.
Die Rohrpost im Kanzleramtsgebäude war tatsächlich ständig außer Betrieb und es gibt in den Akten keine Hinweise darauf, dass die Probleme irgendwie gelöst wurden. Für das Image der öffentlichen Verwaltung war das auch kein Erfolg, da vor allem in den Medien eine Identifikation der staatlichen Bürokratie mit nichtfunktionierender Technik stattfand. Diese negative Erfahrung mit der ersten Anlage im Kanzleramt führte dazu, dass nur zwei Jahre später (1978) eine neue Rohrpostanlage der Firma Siemens installiert wurde. Die PVC-Röhre der alten Anlage blieben erhalten, aber Steuertechnik, Zentrale und Stationen wurden ausgewechselt.
BArch, B 136/28927. BArch, B 136/28927. Beschreibung der neuen Siemens Rohrpost, Siemens an Bundesbaudirektion, 24. 02. 1978. Das wird oft als Unsichtbarkeit von Infrastrukturen bezeichnet: vgl. Gabriele Schabacher: Unsichtbare Stadt. Zur Medialität urbaner Architekturen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12/1 (2015), S. 79–90.
Die diesmal erfolgreiche technische Innovation spiegelte sich auch in der Berichterstattung wider: »Endlich läuft Rohrpost leiser«, berichtete das »Handelsblatt«; »Das Kanzleramt ist ›büffelfrei‹«, titelte die »Badische Zeitung« mit Verweis auf die Lautstärke der alten Anlage, die wie ein Büffel »gepustet« haben soll. »Die Welt« berichtete ebenso über die »neue Rohrpost« und erinnerte gleichzeitig an den bisherigen Misserfolg: »Im Kanzleramt ist man mit der Geduld am Ende«, da der »Aktenroboter«, wie die Rohrpost in der »Welt« genannt wurde, »seit fünf Monaten außer Betrieb« sei.
BArch, B 136/28927. Endlich läuft Rohrpost leiser, in Handelsblatt, 30. 10. 1978; Das Kanzleramt ist »büffelfrei«, in Badische Zeitung, 31. 10. 1978; Neue Rohrpost im Kanzleramt, in Die Welt, 31. 03. 1978. Vgl. dazu Cornelius Schubert: Innovation als Reparatur, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–13; sowie Jörg Potthast: Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft. Eine Ethnografie von Pannen an Großflughäfen. Bielefeld 2007.
Über diese neue Rohrpostanlage sind keine Fehlerberichte vorhanden, weshalb anzunehmen ist, dass sie ohne erwähnenswerte Probleme funktionierte; zwei Jahre nach ihrer Einrichtung wurde sie um drei Rohrpoststationen erweitert und ein Anzeigetableau wurde eingebaut.
BArch, B 136/28928. Siemens an Bundeskanzleramt, Berlin 01. 12. 1980, Erweiterung der Rohrpostanlage Simacom NW 100 TM. BArch, B 136/9834. Dipl.-Kfm. Gerold Stiegler, Lenkung des Schriftgutsverkehrs in einem Bürogroßraum-Gebäude; Ing. Olaf Jüngling, Rohrpostanlagen rationalisieren den innerbetrieblichen Schriftguttransport in Reparatur-Betrieben. Vgl. Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert. Zgl. Habilitation, Universität Darmstadt 2012. Bielefeld 2014. Dazu Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/2 (1996), S. 165–193. BArch, B 136/9834. Ing. Olaf Jüngling, Rohrpostanlagen rationalisieren den innerbetrieblichen Schriftguttransport in Reparatur-Betrieben. Diese Publikation, die Siemens als Informationsmaterial dem Bundeskanzleramt zur Verfügung stellte, erklärte mittels einer schematischen Darstellung auf welche Weise die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Abteilungen durch den Einbau einer Rohrpostanlage hätte organisiert werden können. BArch, B 136/28928. Bedienungsanleitung für die Rohrpostanlage im Bundeskanzleramt.
Für die Hersteller von Rohrpostsystemen war jedes Unternehmen, das an einer beschleunigten Vermittlung von Papier oder Objekten Interesse hatte, ein potenzieller Kunde. »Rationalisierung«, »Vereinfachung« und »Beschleunigung« waren die Schlüsselwörter der Werbung für Rohrpostanlagen nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Bibliotheken, Krankenhäuser und Hotels; sie gehörten dem Diskurs der Unternehmen und Hersteller sowie vieler Ingenieure und Techniker an.
Z. B. Karl Beckmann: Stadt-Rohrpostanlagen. Berlin-Schöneberg 1927; Svend Heinze: Rohrpostanlagen. Ihre Technik, Anwendung und Wartung, Goslar 1956. Zum scientific management in Bibliotheken vgl. Marion Casey: Efficiency, Taylorism, and Libraries in Progressive America, in: The Journal of Library History 16/2 (1981), S. 265–79.
So ist eine Übertragung von Diskursen zur Beschleunigung und »Rationalisierung« der Arbeitsflüsse, die für das 20. Jahrhundert und insbesondere für Fordismus und Taylorismus typisch waren, vom Bereich der Industrie zum Bereich der öffentlichen Verwaltung zu beobachten. Auch die Übertragung der Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Arbeitsorganisation fand im Bereich der Verwaltung statt, ohne dass dies problematisiert wurde, im Gegenteil: ›wissenschaftliche‹ Arbeitsrationalisierung wurde als Mittel betrachtet, um die Bürokratie zu vereinfachen.
Erst durch die Gewerkschaften wurde diese Annahme infrage gestellt. Vgl. Karsten Uhl: Maschinenstürmer gegen die Automatisierung. Der Vorwurf der Technikfeindlichkeit in den Arbeitskämpfen der Druckindustrie in den 1970er und 1980er-Jahren und die Krise der Gewerkschaften, in: TG Technikgeschichte 82/2 (2015), S. 157–179.
Technische Innovation wurde als Lösung für viele Probleme der Verwaltung vorgeschlagen, und das nicht nur von den Behörden selbst und den staatlichen technischen Kommissionen, sondern auch von einzelnen Beamtinnen und Beamten, die sich davon verbesserte Arbeitsbedingungen versprachen, wie das folgende Beispiel zeigt.
Ende 1969 reichte ein Übersetzer der Bundeskanzlei in Bern einen Vorschlag an die Personaldirektion, der den infrastrukturellen Ausbau als Ziel hatte, nämlich, eine Rohrpostverbindung bei der Bundesverwaltung einzurichten, die auch auf sämtliche föderale Gebäude erweitert werden konnte. Es ging also darum, ein Rohrpostnetz für die Bundesverwaltung in der Stadt Bern zu konzipieren, das unabhängig von der bereits existierenden Rohrpostanlage zwischen dem Parlament und dem Postamt Bollwerk gewesen wäre; Letztere wurde von den »journalistes parlamentaires« benutzt, um ihre Nachrichten in Form von Telegrammen zu verschicken. Diese Idee einer zusätzlichen Rohrpostanlage hatte als Ziel, den »transport ultra-rapide de certains documents (communications écrites urgentes, textes à traduire sur-le-champ, et cetera.)« durch die ganze Stadt Bern zu ermöglichen. So hätte das materielle Ensemble der vorgeschlagenen Rohrpostanlage schnellere und womöglich auch neue Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Abteilungen und den Verwaltungsgebäuden geschaffen; die Bundesverwaltung wäre gerade durch die Infrastruktur der Rohrpost zu einem auch physisch-materiell vernetzten und deswegen zusammenhängenden Ganzen geworden. Darüber hinaus wurde die Rohrpostanlage als Schritt hin zu einer »Rationalisierung der Arbeit« (»mesure de rationalisation du travail«) verstanden, die »viele Gründe zur Enervierung« erspart hätte (»supprimerait bien des causes d’énervement«).
BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. C. von Kaenel, traducteur au Service central de rédaction et de traduction de la Chancellerie fédérale, Section française, an Direction de l’Office fédéral du personnel, concerne: Suggestions de fonctionnaires de l’administration centrale de la Confédération. Berne, 3. 12. 1969. Hervorhebungen im Original. BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. Zentralstelle für Organisationsfragen der Bundesverwaltung, an Direktion der eidg. Bauten, Bauinspektion II, 27. Januar 1970, betreff. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970.
Der Vorschlag des Übersetzers zeigt sowohl die u. a. in der öffentlichen Verwaltung verbreitete Tendenz, Technik als Versprechen für eine bessere Organisation anzusehen,
Zur Infrastruktur als Versprechen vgl. Nikhil Anand / Akhil Gupta / Hannah Appel (Hg.): The Promise of Infrastructure. Durham, London 2018.
Jedenfalls sind die beiden Beispiele, die Funktionsfehler des Rohrpostsystems im deutschen Bundeskanzleramt und der abgelehnte Vorschlag des Übersetzers in Bern, nicht als Sonderfälle gegenüber einer funktionierenden Technik und einer absoluten Befürwortung von Innovation zu verstehen. Im Gegenteil wird das Scheitern technischer Systeme und Innovationen in der technikhistorischen Forschung als »Normalfall« angesehen, der »in den Handlungsmodus der modernen, durch Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft eingeschrieben« ist.
Helmuth Trischler / Kilian J. L. Steiner: Innovationsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Wissenschaftlich konstruierte Nutzerbilder in der Automobilindustrie seit 1950, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 455–488, insbesondere 460, 462. Vgl. David Edgerton: Creole Technologies and Global Histories: Rethinking How Things Travel in Space and Time, in: Journal of History of Science and Technology 1 (2007), S. 75–112, hier 112.
»Arbeitsrationale Organisation« und »Entlastung des Personals« wurden in den 1960er- bis 1980er-Jahren als Hauptgründe für die Errichtung von Rohrpostanlagen in Behörden angeführt. Vor allem Rohrposthersteller wie Siemens betonten, dass dies als Folge eine Erhöhung der Effizienz der Arbeitenden hätte, und stellten die von ihnen hergestellten Anlagen als Mittel der Modernisierung und Arbeitsrationalisierung dar.
Vgl. H. Dohse: Automatische Rohrpost- und Kastenförderanlagen in der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek/Automatic Pneumatic Tube and Box Handling Systems at Frankfurt’s Municipal and University Library/Systèmes automatiques de poste pneumatique et pour boîtes à la bibliothèque municipale et universitaire de Francfort, in: fördern und heben 5 (1966), S. 406–410; sowie Siemens & Halske Aktiengesellschaft, Wernerwerk für Fernsprechtechnik: Siemens-Kastenförderanlagen. Rationeller transportieren mit Kasten-Förderanlagen. Archivzentrum UB Frankfurt am Main, A 1 1177.
Zwischen 1961 und 1964 definierte das Zollamt von Frankfurt am Main seine eigene Arbeits-, Zeit- und Raumorganisation als rationalisierungsbedürftig: »bei der weitläufigen Aufsplitterung der Zollabfertigung und Sachbearbeitung« wurden »zwangsläufig zahllose Wege zurückgelegt«, was als »besonders zeitraubend und kräftezehrend« beschrieben wurde. Es wurde ein »Leerlauf« festgestellt, der für das »Leistungsergebnis« negative Folgen hatte. Diese als »nicht rationell« wahrgenommene Situation versuchte man durch technische Innovation zu lösen, die zu »Rationalisierung« und »Modernisierung« der Arbeitsvorgänge sowie des Material- und Papierflusses führen sollte.
Durch die Einführung einer Rohrpostanlage wurde geplant, nicht nur Zollurkunden, sondern auch kleine Objekte, Papier, Formulare, unterschiebene Dokumente und gestempelte Belege »prompt und rasch an jede beliebige Stelle zu befördern«. Die materielle Kommunikation per Rohrpost hätte es ermöglicht, »Materialien aller Art« im Dienste der Zollabfertigung zu transportieren. Diese waren beispielsweise »Dienstgeräte, Stempel, Siegel, Verschlußmaterialien, Warenproben«. Gerade diese »immutable mobiles«, also Objekte und Zeichen, die als solche mobilgemacht wurden und dabei Herrschaft ermöglichten,
Vgl. Bruno Latour, Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 259–307. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW], Abt. 488, Nr. 17 (Verbesserung der Kommunikationswege in der Zollabfertigungsstelle am Zollhof in Frankfurt und Einbau einer Rohrpost-Anlage, 1961–1963). Dienstanweisung Nr. 2 (Hauptzollamt Ffm, Zollabfertigung, Betr.: Sicherung der Zollurkunden vor Verlust; hier: Lauf der Zollurkunden vom Buchführer über die Zollabfertigung und zurück zu diesem); zur Rationalisierung der Arbeitsläufe s. auch Vorstehender des Zollamts an die Oberfinanzdirektion Frankfurt (Main) über die »Einrichtung einer Rohrpostanlage beim ZA I Ffm.-Zollhof und der ZZ I Ffm.-Westhafen, Frankfurt (Main)«. Vgl. Meneghello, Kulturgeschichte und STS kombiniert.
In der Zollbehörde, genauso wie im Krankenhaus, wurde die Rohrpost als hybrides Kommunikationssystem verstanden, das sowohl Mitteilungen als auch Materialien transportieren konnte. Diese kleinen »mobilen Objekte«
Vgl. Christian Vogel / Manuela Bauche: Mobile Objekte. Einleitung, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 39/4 (2016), S. 299–310. HHStAW, Abt. 488, Nr. 17. Hafenbetriebe der Stadt Frankfurt am Main an die Oberfinanzdirektion Frankfurt, Betrifft: »Schaffung eines Raumes für den Abgabenberechnungsautomaten des Zollamtes Frankfurt am Main – Zollhof«, Frankfurt am Main 04. 07. 1963.
Daraus folgt, dass die Bereiche der öffentlichen Verwaltung und der privaten Wirtschaft nicht als getrennt konzipiert werden können. Zum einen beeinflussten sich technische Neuerungen in den beiden Bereichen gegenseitig: Die Einführung von Rohrpostanlagen in Zollämtern war auch für die Beschleunigung logistischer Vorgänge im Gütertransport relevant, was wiederum eine Rolle in der Verbreitung von Rohrpostanlagen in der Zollverwaltung spielte. Zum anderen wurden Rationalisierungs-, Modernisierungsund Optimierungsdiskurse von der privaten Wirtschaft übernommen und im Bereich der öffentlichen Verwaltung angewendet.
Stefan C. Aykut / Jan-Peter Voß: Innovationen in Politik und Governance, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–16.
Der Fall des Frankfurter Zollamtes war nicht isoliert: Ungefähr zum selben Zeitpunkt wurden in schweizerischen Grenzbahnhöfen Rohrpostanlagen montiert. Analog zum oben genannten Beispiel wurde auch in diesen Fällen mit Rationalisierung, Automatisierung, Modernisierung, Kosten- und Personalersparnis und Beschleunigung von Arbeitsprozessen argumentiert. Schweizerische Grenzbahnhöfe waren schon seit dem frühen 20. Jahrhundert an Rohrpostanlagen interessiert gewesen: Bereits 1922 erkundigten sich die Schweizerischen Bundesbahnen beim Reichspostministerium, welche Erfahrungen es mit der Fa. Henrich und Henning (Deutsche Rohrpostwerke in Elberfeld) hätte, da diese Firma eine kleine Rohrpostanlage für den internationalen Bahnhof Chiasso liefern sollte.
BArch (Berlin Lichterfelde), R 4701/2656 (Ertheilung von Auskunft über Rohrpost-Einrichtungen), Schweizerische Bundesbahnen an das Reichspostministerium, Luzern 15. 02. 1922.
In den 1960er-Jahren ließ das Zollamt Chiasso seine Dienststelle an das Rohrpostsystem der Eisenbahnen anbinden.
BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). Amministrazione Merci Chiasso FFS e Ispettore Dogana Svizzera Chiasso Stazione: Accordo sull’uso della posta pneumatica da parte della Dogana Svizzera fra i fabbricati L e R e viceversa. Chiasso, 31. 08. 1970. BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). D. Camponovo, Ispettore (Ispettorato doganale Chiasso stazione), an Direzione delle Dogane, Lugano, 01. 07. 1969.
Diese Einschätzung ist in einer Kontinuitätslinie mit der Beschleunigung und Automatisierung des Verkehrs in der Schweiz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusehen; in diesem Rahmen ist auch die Einführung der Rohrpost innerhalb des Bahnhofsgeländes Chiasso in den 1960er-Jahren zu verstehen, da zu demselben Zeitpunkt die Automatisierung bei der Entwicklung der Eisenbahnen als höchste Priorität angesehen wurde und die Schweizerischen Bundesbahnen als Vorreiter in der Verkehrstechnologie »der Zukunft« präsentiert wurden.
Vgl. Gisela Hürlimann: »… das automatischste System der Zukunft«. Die Schweizerischen Bundesbahnen und die Automatisierung, 1960 bis 2000. SZG/RSH/RSS 56/1 (2006) (Verkehrsgeschichte), S. 76–85, sowie Thomas Frey: Die Beschleunigung des Schweizer Verkehrssystems 1850–1910. SZG/RSH/RSS 56/1 (2006) (Verkehrsgeschichte), S. 38–45. Ingo Schulz-Schaeffer: Innovation als soziale Konstruktion von Technik und Techniknutzung, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–18. Zu pneumatischem Verkehr und Zukunftsvorstellungen vgl. Bettel: Futures & Options, und Ders., Ware Zukunft.
Ähnlich wie die Rohrpostanlagen der deutschen Bundesverwaltung waren auch Rohrpostanlagen innerhalb von Bahnhöfen fehleranfällig. So wies zum Beispiel die Rohrpostanlage des neuen Warenzollamts an der italienisch-schweizerischen Grenze in Chiasso-Brogeda häufig Fehler auf. Die zuständigen Beamten dokumentierten die Fehler und fertigten grafische Schematisierungen an.
Ähnlich wurden technische Probleme mit der Rohrpostanlage im Landes- und Universitätskrankenhaus Innsbruck in den 1980er-Jahren gehandhabt: vgl. Meneghello, Kulturgeschichte und STS kombiniert. BAR, E6357F#2000/336#159* Brogeda: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 293/3.52 (1967–1969). Ufficio Doganale Chiasso-Strada, Chiasso 13. 05. 1968, an Direzione delle Dogane, Lugano, oggetto: Funzionamento difettoso della posta pneumatica. Rilievi richiesti dal Signor Boss, DGD, Capo Sezione del Servizio costruzioni. Vgl. Stefan Krebs / Gabriele Schabacher / Heike Weber: Kulturen des Reparierens und die Lebensdauer der Dinge, in: Dies. (Hg.): Kulturen des Reparierens. Dinge – Wissen – Praktiken. Bielefeld 2018, S. 9–46, hier S. 32; insbesondere zu Workarounds: Gabriele Schabacher: Im Zwischenraum der Lösungen. Reparaturarbeit und Workarounds, in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 4 (2017), S. XIII–XXVIII; zum bricolage Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris 1962.
Als Grund für die genannten Fehler und Mängel hielt die Zollbehörde fest, dass keine Studie im Vorfeld der Installation stattgefunden hatte. Interessanterweise wurde gerade diese Anlage als positives, nach den anfänglichen Problemen funktionierendes Vorbild für den Einbau der größeren Rohrpostanlage am Bahnhof Chiasso genannt,
BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: amministrazione federale delle dogane, direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970).
Reparatur und Instandhaltung werden von der neueren Innovationsforschung als Innovationsinstanzen interpretiert.
Cornelius Schubert: Innovation als Reparatur, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–13. Elke Schüßler / Benjamin Schiemer: Innovation und Organisation, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–16. Cornelius Schubert: Soziale Innovationen, in: Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute, S. 403–426.
Die hier analysierten Fallbeispiele zeigen sowohl, dass Infrastrukturen das Arbeitsumfeld und die Arbeitspraktiken mitgestalten als auch, dass sie selbst das Produkt von (Arbeits-)Praktiken sind, die Infrastrukturen erhalten und ständig neu konstruieren.
Vgl. Krebs / Schabacher / Weber: Kulturen des Reparierens. Vgl. Heike Weber: Zeitschichten des Technischen. Zum Momentum, Alter(n) und Verschwinden von Technik, in: Martina Heßler / Heike Weber (Hg.): Provokationen der Technikgeschichte. Zum Reflexionszwang historischer Forschung. Paderborn 2019, S. 107–150. Vgl. auch Ruth Oldenziel: Whose Modernism, Whose Speed? Designing Mobility for the Future, 1880s–1945, in: Frank James / Morag Shiach / Paul Greenhalgh / Robert Bud (Hg.): Being Modern. The Cultural Impact of Science in the Early Twentieth Century. London 2018, S. 274–289.
Auf der zeitlichen Ebene lässt sich eine Verschiebung von Kontrolle und Versicherheitlichung durch Technisierung (bei den Ministerien in Bukarest und Zagreb sowie bei den britischen Behörden in den frühen 1940er-Jahren) zu Rationalisierung und Automatisierung von Arbeitsvorgängen im Sinne einer Verwissenschaftlichung der Arbeitsorganisation (bei den Zollbehörden, Grenzbahnhöfen und Bundeskanzleien in Deutschland und in der Schweiz in den 1960er- und 1970er-Jahren) feststellen. Diese Verwissenschaftlichung wurde vom Unternehmenszum Verwaltungsbereich übertragen, sodass sich in dieser Hinsicht keine klare Trennung zwischen der Organisation dieser beiden Bereiche feststellen lässt. Aspekte der Kontrolle und Versicherheitlichung wurden auch in der Nachkriegszeit bei der Planung von Rohrpostsystemen berücksichtigt; da aber zu dem Zeitpunkt Chiffriersysteme weiterentwickelt und breiter eingesetzt wurden, spielte die Rohrpost für die Sicherheit der Übertragung von Nachrichten keine zentrale Rolle mehr.
Vgl. Arnold: Luft-Züge, S. 176–192 (zur Berliner Rohrpost im Krieg) und S. 193–210 (zur Rohrpost im gespaltenem Berlin).
In der öffentlichen Verwaltung wurde auch der Diskurs zu Arbeitsflüssen und Rationalisierung der Arbeitsorganisation von der privaten Wirtschaft übernommen. Dadurch wurde der Raum der Bürokratie neugestaltet: Während Infrastrukturen wie die Eisenbahn dazu dienten, das Territorium eines Staates besser zu integrieren,
Zur Eisenbahn vgl. Nadja Weck: Staat, Raum und Infrastruktur. Wie die Eisenbahn nach Galizien kam, in: Administory 2/1 (2018), S. 230–248. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0023. Zur Post sowie generell zu Raum und Verwaltung vgl. Stefan Nelle / Thomas Stockinger: Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert. Einleitung, in: Administory 2/1 (2018), S. 3–28. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0013.
Es kann zudem festgehalten werden, dass die Nutzung der Rohrpost in der Verwaltung bis in die 1980er-Jahre mit steigender Tendenz und mit sehr unterschiedlichen Resultaten stattfand. Die Anlagen konnten die interne Kommunikation verbessern, aber auch verschlechtern, wenn sie den Erfordernissen nicht entsprachen. Sie konnten den Verkehr beschleunigen, aber auch verlangsamen, wenn die Büchsen nicht an ihr Ziel ankamen. Sie konnten die Arbeitenden entlasten, aber auch mit zusätzlichen Aufgaben belasten und ihnen vor allem wertvolle Kontakte und inoffizielle Pausen entziehen, wenn sie, anstatt etwas zu bringen, immer an demselben Arbeitsplatz sitzen und von dort die Rohrpoststation bedienen mussten: Das, was aus der Sicht der »arbeitsrationalen Organisation« eine Einsparung von Arbeitswegen und Arbeitsstunden war, konnte aus der Sicht der Arbeitenden durchaus ein Beitrag zur Monotonie ihres Alltags werden. Je nach Perspektive können technische Systeme ganz unterschiedliche Bedeutungen und Assoziationen hervorrufen; so war es auch bei der Rohrpost, die als kommunikationshemmend oder -fördernd, als problemlösend oder -schaffend interpretiert wurde, ohne dass man ein eindeutiges Muster feststellen könnte, welche soziale Gruppe welche Rohrpostanlagen (und technische Innovation) wie interpretierte. Dieselbe Anlage konnte nämlich je nach Zeitpunkt und Raum, je nach Funktionsfähigkeit, je nach Nutzung und je nachdem, welche weitere Medien und Infrastrukturen vorhanden waren, anders wahrgenommen werden. Erfahrung von Technik konstituiert diese mit und trägt zu ihrer (Weiter-)Entwicklung (oder Abschaffung) bei.
Die Technikwahrnehmung war für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz pneumatischer Transportsysteme von Bedeutung. So spielten Emotionen und Wahrnehmungen von Technik auch im (Arbeits-)Alltag eine große Rolle für ihre Aneignung, Akzeptanz und Stabilisierung in den jeweiligen Einsatzbereichen.
Zur Verwaltungsgeschichte als Emotionengeschichte vgl. Peter Collin / Robert Garot / Timon de Groot: Bureaucracy and Emotions – Perspectives across Disciplines. Einleitung, in: Administory 3/1 (2018), S. 5–19. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0029. Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute, SAA 37/Li 424. SIMACOM von Siemens: Wirtschaftliche Systeme mit Zukunft, in: Der Anzeigenspiegel. Neue Siemens-Anzeigen, Juni-Juli 1975, N 16-7513.
Having studied in Venice and Utrecht, she held a scholarship at the International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) and received her PhD from Justus-Liebig-University of Giessen. Her dissertation
Her research and teaching foci include the history of science and technology, (cultural) translation, the history of infrastructures and sustainability.
Inhalt The Logic of Simplifying Public Administration in Hungary, 1900–1910 »A stupid dread of innovation«: Wandel, Zeitlichkeit und das Problem der Innovation in frühneuzeitlichen Verwaltungen M-Government: Recht und Organisation mobilen Verwaltens Antonio Serra, Early Modern Political Economist: From Good Government as Individual Behavior to Good Government as Practical Policy An Unbound Prometheus? Bureaucracy, Technology, Technocracy, and Administrative Innovation The Motives for and Consequences of the Introduction of Typewriters and Word Processing in the British Civil Service Die Gestaltung von Wandel und Innovation im Mehrebenensystem der Militärverwaltung Österreich-Ungarns um 1900 Innovation durch Technik? Rohrpostsysteme als Medientechnologien der Verwaltung im 20. Jahrhundert »Typewriting Medicine« – Bürotechnologische Innovationen und klinische Verwaltung am Beispiel der Charité Berlin, 1890–1932 Assessment as innovation: The case of the French administration in the nineteenth century Bürokratie, Wandel und Innovation – verwaltungshistorische Perspektiven McKinsey auf der Hardthöhe: Unternehmensberater im Bundesministerium der Verteidigung 1981/82 Ein neues Gedächtnis für die Verwaltung: born digitals und die Wissenschaft. Ein TagungsberichtEinführung und/oder Abschaffung von Arbeitsbüchern als Innovation. 1 The Only Game in Town? New Steering Models as Spaces of Contestation in 1990s Public Administration