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Zwischen Gesundheit und Wirtschaft: Normen und Interessenkonflikte in der behördlichen Arzneimittelregulierung im Deutschen Reich 1871–1945

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Die Arzneimittelversorgung gehört zu den zentralen Aufgaben der öffentlichen Gesundheitspflege. Obschon dieser Bereich seit dem späten Mittelalter relativ stark reglementiert ist,

Siehe überblickshalber: Rudolf Schmitz: Geschichte der Pharmazie, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des Mittelalters, Eschborn 1998, S. 507–548.

änderten sich die staatlich-regulativen Rahmenbedingungen seit der Reichsgründung 1871 von Grund auf. Dies war Folge des tiefgreifenden Wandels der medizinisch-pharmazeutischen Sphäre seit dem späten 19. Jahrhundert. Zu den Facetten dieses Wandels zählte neben der Verwissenschaftlichung der Medizin, der Einführung moderner Pharmakotherapien, der Institutionalisierung medizinischer Berufsstände und der Herausbildung des Sozialversicherungssystems vor allem auch die Industrialisierung und Kommerzialisierung des pharmazeutischen Sektors.

Zur medizinischen Modernisierung: Wolfgang U. Eckart: Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Berlin 82017, S. 171–298; zur Institutionalisierung und Professionalisierung medizinischer Berufsstände: Claudia Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, Göttingen 1985; zur Entstehung des Sozialversicherungssystems: Gerhard A. Ritter: Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983. Gut einführend in die pharmazeutischen Zusammenhänge: Christoph Friedrich / Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Geschichte der Pharmazie, Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Eschborn 2005.

Diese vielschichtig miteinander verflochtenen Prozesse gingen einher mit einer sukzessiven Verrechtlichung und Politisierung des Gesundheitswesens, bei der sich die Vorstellungen über die Regelungskompetenzen des Staates stark veränderten. All das stellte die staatlichen Verwaltungsorgane vor immense Herausforderungen, waren sie doch mit mannigfaltigen und neuartigen Problemlagen, Ansprüchen und Handlungsmaximen konfrontiert.

Der vorliegende Beitrag beleuchtet vor diesem Hintergrund die behördliche Regulierung des Arzneimittelwesens im Deutschen Reich von 1871 bis 1945. Diese Zeitspanne ist in der Forschung bisher kaum eingehender betrachtet worden, bietet sich aber aus zwei Gründen besonders an: Zum einen beschleunigte sich in dieser Zeit der wirtschaftliche Umbruch des Pharmasektors, der vor allem im Siegeszug der industriellen Arzneifertigware zum Ausdruck kam. Dieser Umbruch war Mitte des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen. Auch wenn wirtschaftliche Aspekte nach 1945 wichtig blieben, rückten nun andere Prozesse (etwa europäische Integration) und Probleme (etwa Arzneimittelsicherheit) in den Fokus – Aspekte, die bereits intensiver erörtert worden sind.

Siehe für die Zeit nach 1945: Niklas Lenhard-Schramm: Arzneimittelregulierung in der Bundesrepublik. Das Problem teratogener Medikamente in den 1950er und 1960er Jahren, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 37 (2019), S. 85–112, mit weiteren Nachweisen. Zustandekommen und Inhalt der Arzneimittelgesetze von 1961/76 eingehend thematisiert bei: Konrad Rotthege: Die Entstehung des Arzneimittelgesetzes vom 16. Mai 1961 unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung arzneimittelrechtlicher Bestimmungen und des Verkehrs mit Arzneimitteln, Frankfurt am Main 2011; Ute Stapel: Die Arzneimittelgesetze 1961 und 1976, Stuttgart 1988.

Zum anderen gab es – mit Ausnahme des Impf- und des Betäubungsmittelwesens – in Deutschland bis in die 1940er Jahre keine behördliche Arzneimittelregulierung in Form von Genehmigungsoder Zulassungsverfahren.

Bis zum AMG 1961 existierten keine Bestimmungen, die die Arzneimittelherstellung außerhalb der Apotheken von einer behördlichen Erlaubnis abhängig machten. Auch existierte bis 1943 kein Genehmigungsverfahren für neue Arzneifertigwaren, sodass behördliche Prüfungen im Untersuchungszeitraum nur in einigen Sonderbereichen (etwa bei Impfstoffen) eine Rolle spielten. Obgleich mit dem Arzneimittelwesen untrennbar verwoben, muss die behördliche Apothekenregulierung, die bis heute vom Arzneimittelrecht separiert ist, hier außen vor bleiben. Siehe dazu: Joe Weingarten: Staatliche Wirtschaftsaufsicht in Deutschland. Die Entwicklung der Apothekenaufsicht Preußens und Nordrhein-Westfalens von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Opladen 1989; Rudolf Schiedermair/Günther Blanke: Apothekengesetz. Kommentar und Materialien zum Bundesgesetz über das Apothekenwesen, Frankfurt am Main 1960.

Das Wirken der Behörden beschränkte sich daher im Kern auf den Bereich der Gubernative, das heißt auf die Ausarbeitung neuer Rechtsnormen. In diesem Punkt unterschieden sich die behördlichen Regulierungsformen und -kontexte erheblich von denen späterer Zeiten.

Die Arzneimittelregulierung geht freilich nicht in behördlichem oder, etwas weiter gefasst, in staatlichem Wirken auf. In Anlehnung an die einschlägige Forschung meint dieser Begriff hier alle Normen, Institutionen und Maßnahmen, die die Verfügbarkeit und Anwendung von Medikamenten regeln sollen.

Siehe dazu und zum Folgenden Lenhard-Schramm: Arzneimittelregulierung, S. 87–88; Jean-Paul Gaudillière / Volker Hess: General Introduction, in: Jean-Paul Gaudillière / Volker Hess (Hg.): Ways of Regulating Drugs in the 19th and 20th Centuries, Basingstoke 2013, S. 1–16; Arthur Daemmrich: Pharmacopolitics. Drug Regulation in the United States and Germany, Chapel Hill 2004, S. 3–5; Nils Kessel: Umstrittene Expertise. Der Beirat »Arzneimittelsicherheit« in der bundesdeutschen Arzneimittelregulierung 1968–1976, in: Medizinhistorisches Journal 44 (2009), S. 61–93, hier S. 61.

Insofern handelt es sich bei der Arzneimittelregulierung um ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht diverser Akteure und Systeme (etwa staatlich, medizinisch, wirtschaftlich), die in ihrem Handeln stets aufeinander bezogen und teils auch institutionell miteinander verwoben sind. Dieses Geflecht ist nicht nur von unterschiedlichen Interessen geprägt, sondern auch verschiedenen normativen Settings unterworfen, das heißt spezifischen Vorstellungskomplexen aus Regelungszielen und Mitteln, die zum Erreichen dieser Ziele als angemessen, legitim und sinnvoll gelten: Was im Arzneimittelwesen überhaupt regulierungsbedürftig ist (etwa Herstellung, Werbung, Abgabe), welche Mittel dabei anzuwenden sind (etwa Verbote, Kontrolle, Rezepte) oder welche Zwecke letztlich verfolgt werden sollen (etwa ökonomische, therapeutische, berufsspezifische), kann von den Regulierungsakteuren abweichend bewertet werden. Die Interessen der Akteure sind dabei nicht von expliziten wie impliziten Normen zu trennen, vielmehr bedingen sie sich wechselseitig, können aber zugleich mit denen anderer Akteure konfligieren. Dies gilt vor allem, wenn das historisch gewachsene Regulierungsgefüge durch neuen Regelungsbedarf und Versuche einer neuen und allseits verbindlichen Normierung herausgefordert wird. In diesem Fall treten Interessen- und Normenkonflikte besonders deutlich zutage und zeigen dadurch grundlegende Strukturmerkmale und -probleme des zu regulierenden Gegenstandes auf.

Die folgenden Ausführungen thematisieren daher, wie die zuständigen Behörden im Deutschen Reich mit den verschiedenen Ordnungsvorstellungen und Regelungsansprüchen umgegangen sind, die aus der Transformation des vormodernen Arzneimittelwesens in einen modernen Industriesektor resultierten. Nach der Reichsgründung 1871 wandten sich zahlreiche Akteure an die Behörden, um rechtlichen Regelungsbedarf aufzuzeigen, legislative Lösungsvorschläge zu präsentieren oder gesetzliche Gegenvorstellungen vorzubringen. Da die Adressaten dieser Vorstöße in der Regel Organe des Reichs waren, richtet sich der Blick hier auf die zuständigen Reichsbehörden, namentlich auf das Reichsministerium des Innern (RMI), das Reichsgesundheitsamt (RGA) und deren Vorläufer. In der Auseinandersetzung dieser Behörden mit den relevanten Akteuren und Berufsgruppen schlugen sich die disparaten Regelungsvorstellungen deutlich nieder. Interessenkollisionen waren und blieben dabei untrennbar mit unterschiedlichen Normen und Normvorstellungen verbunden: Vor allem Gesundheitsund wirtschaftspolitische Maximen und Rationalitäten standen oft im Widerspruch, blieben aber zugleich aneinander rückgekoppelt, da allen beteiligten Kreisen klar war, dass ein funktionsfähiges Gesundheitswesen nicht ohne eine intakte Wirtschaft auskommen kann – und umgekehrt. Die gesetzesvorbereitende Arzneimittelregulierung der obersten Reichsbehörden agierte insofern stets im Angesicht multipler normativer Settings.

Wie, weshalb und mit welchen Folgen sich die rechtlichen Normierungsansätze der staatlichen Arzneimittelaufsicht von 1871 bis 1945 veränderten und welchen Konjunkturen sie unterlagen, sollen die folgenden Ausführungen chronologisch nachzeichnen und erklären. Dabei geht es besonders um das behördliche Management (auch Missmanagement) verschiedener Normierungsvorstellungen. Argumentativer Ausgangspunkt ist der Befund, dass eine umfassende Reform des Arzneimittelrechts in diesem Zeitraum nicht gelang, obwohl sie wiederholt eingefordert wurde. Das Arzneimittelwesen war dabei zunächst durch eine von nicht-staatlichen Akteuren (Ärzte, Apotheker, Hersteller) dominierte Expertenregulierung geprägt, als sich die Notwendigkeit intensiverer regulatorischer Eingriffe aufgrund des angesprochenen Wandels immer deutlicher zeigte. Der Staat agierte dabei aus einer traditionell schwachen Regulierungsposition und war mit völlig verschiedenen Akteursgruppen konfrontiert, die ihrerseits durch diesen Wandel selbst stark tangiert (Apotheker) oder überhaupt erst hervorgebracht wurden (pharmazeutische Industrie) und dabei teils diametrale Ansprüche verfochten. Die Anpassung des Arzneimittelrechts an die dynamischen Wandlungsprozesse wurde dabei – so argumentiert dieser Aufsatz – zum einen blockiert und verzögert, weil die Behörden keine adäquaten Antworten fanden, um die konträren Interessen der stark positionierten Akteure zu überwölben und in ein umfassendes rechtliches Regelsystem einzubinden. Zum anderen wirkten auch äußere, nicht primär aus dem Gesundheitswesen stammende Ordnungsideen und Sachzwänge auf den Problemkreis ein. Dies erschwerte administrative Lösungen zweifelsohne. Wie sich zeigen wird, entzündeten sich die Konflikte vor allem am regulatorischen Antagonismus zwischen Gesundheits- und Wirtschaftspolitik, der über den Untersuchungszeitraum zwar nicht gänzlich, aber im Grunde weitgehend konstant blieb und der auch den roten Faden der folgenden Ausführungen bilden soll.

Kaiserreich

Bereits kurz nach der Reichsgründung 1871 waren Forderungen nach einer umfassenden Rechtsordnung für das Arzneimittelwesen laut geworden. Die ersten Impulse dazu kamen aus der organisierten Apothekerschaft.

Eine erste Initiative kam vom Deutschen Apotheker-Verein (DAV), der 1876 in einer Eingabe an den Bundesrath die Beschränkung der Gewerbefreiheit bei der industriellen Arzneimittelherstellung forderte. Siehe: Heinrich Hornung: Apotheken- und Arzneimittelgesetzeskunde. Mit geschichtlicher Rückschau, Stuttgart 1955, S. 98.

Lange Zeit war die Apotheke der exklusive Ort der Arzneimittelherstellung gewesen, dabei relativ streng reglementiert, weil sich Apotheker nach Dispensatorien und Pharmakopöen (amtliche Arzneibücher) zu richten hatten.

Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 10–13; Weingarten: Wirtschaftsaufsicht, S. 118–121.

Dieses System geriet aber zunehmend in Schieflage. Die vom Reich übernommene Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 hatte das Herstellungsmonopol der Apotheken prinzipiell aufgelöst. Ohne an ähnliche Vorgaben wie die Apotheker gebunden zu sein, durfte nunmehr jede Person außerhalb der Apotheken legal Arzneimittel produzieren, unabhängig von fachlicher Qualifikation oder behördlicher Konzession.

GewO = Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21.06.1869, in: BGBl. 1869, S. 245 (bis 1872 im gesamten Deutschen Reich eingeführt: RGBl. 1871, S. 392; RGBl. 1872, S. 170, 350). Siehe auch: Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 16, 35, 80–84; Axel Murswieck: Die staatliche Kontrolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik und den USA, Opladen 1983, S. 268. Lediglich die Herstellung von Impfstoffen, Sera und Betäubungsmitteln wurde mit der Zeit unter staatliche Aufsicht gestellt: Runderlass des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, 15.07.1929, in: VMBl. 1929, Sp. 664; Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln, 10.12.1929, in: RGBl. I 1929, S. 215.

Gerade die Herstellung außerhalb der Apotheken gewann aber mit dem Aufschwung der pharmazeutischen Industrie zusehends an Bedeutung und verdrängte die klassische Defektur und Rezeptur immer weiter.

Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 38–42.

Daraus erwuchs eine grundsätzliche Spannungslage zwischen Ordnungswünschen der medizinischpharmazeutischen Professionen einerseits und wirtschaftsliberalen Maximen andererseits. Dieser Gegensatz war keineswegs problemlos aufzulösen, zumal er nicht in einer politisch-administrativen Hand lag, denn in der stark föderativen Verfassung des Deutschen Reichs waren die »medizinalpolizeilichen« Kompetenzen stark zersplittert.

Gemäß Art. 4 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.04.1871 (RGBl. 1871, S. 63) fiel die Gesetzgebung bei der Medizinalpolizei (= Gesundheitsaufsicht) in die Zuständigkeit des Reiches, jedoch nicht ausschließlich. De facto handelte es sich um eine konkurrierende Gesetzgebung, obschon die Verfassung von 1871 diesen Begriff noch nicht kannte.

Nicht nur überlappten hier Zuständigkeiten von Reich und Ländern, auch befand sich die Behördenlandschaft auf Reichsebene vorerst noch im Aufbau. Mit der Gründung des Kaiserlichen Gesundheitsamtes (KGA) 1876, das dem Reichsamt des Innern (RAI) unterstand, war eine Instanz geschaffen, die medizinische und administrative Expertise zusammenführte und fortan eine zentrale Schaltstelle der Reichsgesundheitspolitik darstellte.

Zum KGA Axel C. Hüntelmann: Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876–1933, Göttingen 2008. Das Gesundheitswesen in der Ministerialbürokratie des Kaiserreiches ist dagegen bisher noch kaum erforscht.

Indes blieb das Gesundheitswesen von einer Logik des Nachtwächterstaates geprägt. Unter Politikern, Beamten und den Fachprofessionen hatte sich ein teils expliziter, teils impliziter Ordnungskonsens ausgeformt, der dem Staat nur beschränkte Steuerungsund Eingriffsmöglichkeiten in die medizinische Welt zugestand und ihn im Kern auf polizeiliche Funktionen der Gefahrenabwehr reduzierte.

Niklas Lenhard-Schramm: Das Land Nordrhein-Westfalen und der Contergan-Skandal. Gesundheitsaufsicht und Strafjustiz in den »langen sechziger Jahren«, Göttingen 2016, S. 88–100; Hüntelmann: Hygiene, S. 74: »Bismarck hatte […] eine Behörde empfohlen, die allein den Reichskanzler in Angelegenheiten der öffentlichen Gesundheitspflege beraten und weniger eine aktiv handelnde Wirkung entfalten sollte.«

Nach diesem Rollenmodell waren es in erster Linie die »unpolitischen« medizinischen Professionen,

Tobias Weidner: Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012.

denen die Entscheidung nicht nur über therapeutische Fragen und berufsständische Angelegenheiten, sondern auch über den Status von und den Zugang zu Arzneimitteln zufiel – Kompetenzen, die gegen staatliche Ansprüche und Eingriffsversuche zäh verteidigt wurden.

Siehe mit weiteren Nachweisen Lenhard-Schramm: Land, S. 88–100; Daemmrich: Pharmacopolitics, S. 10–11; zur ärztlichen Emanzipation von staatlichen Eingriffen und der Etablierung eigener Standesvertretungen Thomas Gerst: »Freiheit von beamtlicher Einmischung«. Auf dem Wege zur Professionalisierung ihres Berufsstandes strebten die Ärzte im 19. Jahrhundert zunächst in eine Gewerbeordnung, die sie von staatlicher Reglementierung befreite, in: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003), S. 2495–2497; Huerkamp: Aufstieg, S. 254–279.

Die verschiedenen Interessen und Rollenverständnisse waren mit verschiedenen normativen Vorstellungen und Ansprüchen verbunden, was enormes Konfliktpotenzial schuf und die Lösung zentraler Probleme im Arzneimittelwesen erschwerte. Dies galt namentlich für die Geheimmittel-Frage. Dabei handelte es sich um Präparate, die ohne Inhaltsangabe außerhalb der Apotheken verkauft wurden: oft als Universalheilmittel angepriesen und in großer Zahl den Markt flutend, aber nicht selten von minderwertiger Qualität.

Dazu eingehend Elmar Ernst: Das »industrielle« Geheimmittel und seine Werbung. Arzneifertigwaren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Würzburg 1975; ferner: Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 34–37.

Da eine gesetzliche Regelung auf Reichsebene nicht zu realisieren war, versuchten die Länder diesen Missständen mit Verwaltungsvorschriften Herr zu werden, auf deren Gestalt sie sich im Bundesrat 1903 und 1907 verständigt hatten.

Beschluss § 409, 23.05.1903, in: Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1903; Beschluss § 612, 27.06.1907, in: Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1907.

Das war aber nur bedingt erfolgreich. Während die Apothekerschaft diese Vorschriften als »krasse[n] Auswuchs des modernen Polizeistaates« und gesetzliche »Fehlgeburt« verwarf,

Pharmazeutische Zeitung (PZ) 1903, S. 568, 995.

hatten Industrievertreter bereits zuvor massive Proteste gegen restriktivere Regelungen dieser Materie erhoben.

Siehe diverse Intervention von Unternehmen und Landesregierungen in: Bundesarchiv (BArch), R 86/1688. Siehe zur Problematik der Regelungen aus Sicht der Apotheker auch: PZ 1906, S. 771–773, 781–783, 791–792.

Infolgedessen kam es wiederholt zu Übertretungen dieser Vorschriften. Weil ältere Regelungen nicht abgeschafft wurden, bestanden 1904 im Reich circa 200 verschiedene polizeirechtliche Normen zu den Geheimmitteln, die teils ebenso widersprüchlich waren wie unzählige Gerichtsurteile.

PZ 1906, S. 791. Aufstellungen einschlägiger Urteile in: PZ 1904, S. 253–255; PZ 1907, S. 885–887.

Da die exekutiven wie judikativen Normierungsbestrebungen weitgehend wirkungslos verpufften und kaum Abhilfe schufen, handelte es sich hier um den Bereich des Arzneimittelwesens, in dem der staatliche Regulierungsversuch am »krassesten versagte«.

Murswieck: Kontrolle, S. 271.

Infolgedessen versuchte die Reichsregierung ab 1908 mit mehreren Gesetzesinitiativen, den »Mißständen im Heilgewerbe« zu begegnen.

Bereits im Januar 1908 hatte die Reichsregierung einen vorläufigen Gesetzentwurf veröffentlicht (in: PZ 1908, S. 115–117), der Beschränkungen und Verbotsmöglichkeiten für den Geheimmittelverkehr vorsah. Eingang in die parlamentarischen Beratungen fand dann der Entwurf eines Gesetzes gegen Mißstände im Heilgewerbe, 18.11.1910, in: Verhandlungen des Reichstags 227 (1911), Nr. 535. In der Begründung des Entwurfs wurden gesundheitspolitische und volkswirtschaftliche Argumente miteinander verbunden. So habe das Geheimmittelwesen »schwere wirtschaftliche und gesundheitliche Nachteile im Gefolge. Große Mengen Geldes werden alljährlich für meist wertlose Zubereitungen, denen fälschlicherweise geheimnisvolle Heilwirkungen beigelegt werden, vergeudet. […] Zu den finanziellen Verlusten kommen schwerwiegende gesundheitliche Benachteiligungen. Wenn auch vielfach die Geheimmittel nur aus unschädlichen Bestandteilen zusammengesetzt sind, so enthalten sie doch auch häufig Stoffe, die arzneilich nicht bedeutungslos sind, ja sogar stark wirkende Eigenschaften besitzen.« Zu den Gesetzen: Cornelia Regin: Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995, S. 404–423.

Auch dies blieb erfolglos, da die Entwürfe – obschon sie im Untersuchungszeitraum die einzigen waren, die überhaupt die parlamentarische Ebene erreichten – an weltanschaulichen Standpunkten, Kompetenzkonflikten und ökonomischen Einwänden zerschellten: Apothekerschaft und Industrie erhoben massive wirtschaftliche Bedenken,

Diverse Stimmen aus der Apothekerschaft, Industrie und Politik sind wiedergegeben in: PZ 1910, S. 963–966, 973–974, 983–986, 993–994; PZ 1911, S. 136–137, 236–239; PZ 1912, S. 671.

während sich die Reichstagsmehrheit dafür aussprach, die Kurierfreiheit beizubehalten und das Heilwesen nicht weiter staatlich zu reglementieren.

Zu Reichstagsdebatte und zum Scheitern des Gesetzes eingehend Regin: Selbsthilfe, S. 423–442.

Hier zeigte das Parlament eine grundsätzlich andere Haltung als die Regierungsbehörden: Während die Reichstagsmehrheit der Kurierfreiheit den normativen Vorrang zuerkannte, setzten sich die Behörden energisch für dieses Gesetz ein, das weitergehende Interventionen in die medizinische Sphäre erlaubte.

Obgleich in der Folgezeit wiederholt ein Arzneimittelgesetz gefordert wurde,

Otto Anselmino: Apotheken-Betriebsordnungen, Berlin 1912, S. 2.

sahen die Behörden von einer Regulierung der Herstellung ab, zumal die Gewerbefreiheit als politisch sakrosankt galt.

Armin Linz: Entwicklung der Arzneimittelgesetzgebung bis 1947, in: PZ 89 (1953), S. 508–512, hier S. 509.

Stattdessen richteten sich die Regulierungsansätze auf einen Bereich, der seit dem 14. Jahrhundert traditionell stark reglementiert war: die Apothekenpflicht, die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit eine fachliche Kontrollinstanz in die Arzneimittelabgabe einschalten und zudem die Apotheken wirtschaftlich schützen sollte.

Ulla Meinecke: Apothekenbindung und Freiverkäuflichkeit von Arzneimitteln. Darstellung der historischen Entwicklung bis zur Kaiserlichen Verordnung von 1901 unter besonderer Berücksichtigung des Kurfürstentums Brandenburg und des Königreiches Preußen, Marburg 1971, S. 83–84. Dass die Regelungen zur Apothekenpflicht auch die Apotheken wirtschaftlich schützen sollten, wurde später höchstrichterlich festgestellt: RG, VI 373/29, Urteil v. 20.03.1930, in: RGZ 128, S. 298.

Die Gewerbeordnung von 1869 galt ausdrücklich nicht für die Apothekenkonzession und Arzneimittelabgabe, ermächtigte aber die Reichsregierung zum Erlass einer Verordnung zur Apothekenpflicht.

§ 6 Abs. 2 GewO 1869: »Eine Verordnung des Bundespräsidiums wird bestimmen, welche Apothekerwaaren [sic] dem freien Verkehr zu überlassen sind.«

Daher bot sich gerade hier eine Regulierungsoption, die sowohl dem Grundsatz der Gewerbefreiheit folgte als auch gesundheitspolitischen Erwägungen Rechnung trug – und insoweit den Weg des geringsten Widerstands bot.

Bereits am 25. März 1872 erließ die Reichsregierung eine entsprechende Rechtsverordnung. Demnach waren die in Verzeichnis A aufgeführten Zubereitungen (etwa Salben oder Pillen), sofern sie »zu Heilzwecken« dienten, und die in Verzeichnis B gelisteten Stoffe (etwa Morphium oder Chloroform) vom freien Verkehr außerhalb der Apotheken ausgeschlossen.

Verordnung, betreffend den Verkehr mit Apothekerwaaren [sic], 25.03.1872, in: RGBl. 1872, S. 85.

Diese Verordnung trug zur Konsolidierung der Rechtslage allerdings kaum bei, sondern entfachte vielmehr heftige Konflikte um die Reichweite der Apothekenpflicht, die vornehmlich zwischen Apothekern und Drogisten ausgetragen wurden.

Bei den Drogisten handelte sich um einen Berufsstand, der sich inzwischen fest etabliert hatte, der zahlreiche industriell gefertigte chemische und pharmazeutische Produkte vertrieb und der überwiegend von examinierten Apothekern betrieben wurde, denen aufgrund der strikten Regulierung der Apotheken eine entsprechende Apothekenkonzessionen verwehrt geblieben war. Meinecke: Apothekenbindung, S. 145–149, 159–168.

Letztere organisierten sich 1872 nun überhaupt erst als Berufsstand, um eine Ausweitung des freiverkäuflichen Arzneimittel-Sortiments zu erreichen.

Meinecke: Apothekenbindung, S. 154–155, zum Berufsstand allgemein S. 150–157.

Während die organisierte Apothekerschaft nun regelmäßig gerichtlich gegen die Drogisten vorging, liefen diese in der Öffentlichkeit und bei politischen Instanzen gegen die bestehende Rechtslage Sturm und erreichten, dass sich der Reichstag der Sache annahm. Dieser beschloss, die Reichsregierung um eine Reform der Abgabeverordnung zu bitten, nach der nur noch gesundheitsgefährdende Heilmittel der Apothekenpflicht unterworfen seien.

Verhandlungen des Reichstages, 1/IV, Bd. 1 (1873), S. 184–188; Drucksache Nr. 28, in: Verhandlungen des Reichstages Reichtages, 1/IV, Bd. 3 (1873), S. 151–153. Dazu: PZ 1873, S. 297–298, 353–354. Zur Öffentlichkeitsarbeit der Drogisten: Meinecke: Apothekenbindung, S. 156–157.

Wie sehr die Reichsgesundheitsverwaltung an einer konsensualen Regelung interessiert war, die die völlig konträren Normierungsinteressen zumindest teilweise harmonisieren sollte, wurde bald deutlich. Bereits 1874 berief das Reichskanzleramt eine Kommission ein, die unter Vorsitz des Medizinalbeamten Carl Louis Kersandt (1821–1892) und Beteiligung der betroffenen Interessengruppen eine Neuregelung ausarbeiten sollte.

Zu den Hintergründen: PZ 1874, S. 657.

Da für eine Freigabe von Artikeln aus der Apothekenpflicht aus rein gesundheitspolitischen Gründen keine Notwendigkeit bestand, handelte es sich vor allem um einen Versuch, die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen auszugleichen. Während der Direktor der Zentralabteilung im Reichskanzleramt, Paul Eck (1822–1889), noch eine Einigung erhoffte, obwohl die Beteiligten »ganz verschiedene Standpunkte« einnähmen, erklärte Kersandt, dass die Apothekenpflicht »die Regel und die Freigabe einzelner Artikel die Ausnahme bilden solle«. An diesem Grundsatz müsse »festgehalten« werden.

Die Kommission tagte in 4 Sitzungen vom 26.10. bis 28.10.1874 im RKA. Siehe die abgedruckten Protokolle in: PZ 1874, S. 753–754 (Zitate 753), 767–68, 773–774, 783–784.

Insofern war schnell klar: Es handelte sich lediglich um eine Feinjustierung der bestehenden Vorschriften, da deren prinzipielle Änderung nicht beabsichtigt war. Infolgedessen fanden einige Beschlüsse Eingang in die neue Verordnung, die am 4. Januar 1875 erlassen wurde. Sie kam den Drogisten entgegen, indem sie einige Stoffe für den Verkauf außerhalb der Apotheke freigab. Im Kern behielt sie aber den bisherigen Rechtsansatz bei und beschränkte sich im Wesentlichen auf klarere Begriffsdefinitionen.

Verordnung, betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln, 04.01.1875, in: RGBl. 1875, S. 5. Aus Verzeichnis B wurden etwa 42 gestrichen, während zugleich 49 neue Artikel aufgenommen wurden. Dazu und zu den Begriffspräzisierungen: Meinecke: Apothekenbindung, S. 188–194.

Die grundsätzlichen Probleme waren mit der neuen Verordnung nicht gelöst, weshalb auch die Kritik nicht abebbte. Unterdessen zeichnete sich ein tiefer Wandel des Arzneimittelsektors immer deutlicher ab. Während die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1883 die Zahl der Medikamentenverbraucher erheblich erhöhte,

§ 6 des KVG 1883 (RGBl. 1883, S. 73) gewährte erkrankte Versicherten die Versorgung mit Arzneien. Dazu Meinecke: Apothekenbindung, S. 188–194, allgemein auch Ritter: Sozialversicherung.

kamen mit dem Durchbruch der modernen Pharmaindustrie neue Arzneien in immer rascherer Folge auf den Markt. Als erste vollsynthetische Arzneipräparate von größerer Bedeutung wurden 1884 Antipyrin (Hoechst) und 1888 Phenacetin (Bayer) eingeführt.

Zum Aufstieg der Pharmaindustrie: Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 20–50; Friedrich / Müller-Jahncke: Geschichte, S. 977–1076.

Damit gewannen nicht nur wirtschaftliche Normativitäten an Bedeutung (sowohl die Krankenkassen als auch die Pharmahersteller stilisierten ihr ökonomisches Wohlergehen als Voraussetzung für eine optimale Gesundheitsversorgung), vielmehr wurde nun auch die Listenregulierung durch den pharmazeutischen Fortschritt permanent überholt. Dessen war sich auch der Direktor des KGA, Karl Köhler (1847–1912), bewusst. Wie dieser im September 1887 betonte, entsprachen die Vorschriften »nicht mehr durchgängig dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft und den Anforderungen des Verkehrs«, was auch wirtschaftliche Fragen umschloss.

BArch, R 86/2555, fol. 1, Einladungsschreiben KGA, 19.09.1887.

Daher berief er wieder eine Reformkommission ein, womit das KGA den Ansatz von 1874 wiederholte. Die Anpassung der Verzeichnisse bedeutete indes eher ein symbolisches Entgegenkommen, als eine prinzipielle Änderung der Regulierungsarchitektur zum Ausgleich der unterschiedlichen Positionen. Dass dies zunehmend schwerer wurde, hing nicht zuletzt mit der Ausweitung des Akteurkreises zusammen: Erstmals war auch die pharmazeutische Industrie vertreten.

Die nichtveröffentlichten Protokolle der Kommission, die vom 24.10. bis 29.10.1887 unter Vorsitz Köhlers im KGA tagte, finden sich in: BArch, R 86/2555, fol. 55–282, Mitgliederliste fol. 47–50. Siehe auch: BArch, R 86/2556.

Damit verstärkte sich aber die Tendenz des KGA, am bestehenden System festzuhalten, welches die Überwachung und Kontrolle der Arzneimittelabgabe vor allem den Apothekern überantwortete. Am 27. Januar 1890 wurde eine neue Verordnung erlassen, die die bisherigen Regelungen ersetzte und neben einer inhaltlichen Präzisierung vor allem die Verzeichnisse grundlegend überarbeitete.

Verordnung, betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln, 27.01.1890, in: RGBl. 1890, S. 9. Dazu auch: BArch, R 86/1579. Die VO wurde mehrfach aktualisiert (RGBl. 1895, S. 1, 455; RGBl. 1897, S. 707).

Allerdings blieben die Vorschriften ebenso unzureichend wie umstritten. Nicht nur waren die Listen bei ihrem Inkrafttreten längst überholt, vielmehr boten sich auch rechtliche Schlupflöcher.

Zum Beispiel konnten apothekenpflichtige Heilmittel, wenn sie als Vorbeugungsmittel deklariert waren und keine apothekenpflichtigen Substanzen enthielten, auch außerhalb von Apotheken legal verkauft werden. Zu diesen Problemen Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 73–76, 83.

Die Drogistenwie die Apothekerschaft forderten daher eine weitere Rechtsreform, bei der vor allem der Heilmittel-Begriff konkretisiert werden sollte. Angesichts der Novelle der Gewerbeordnung petitionierten die Drogisten 1896 beim Reichstag und RAI bezüglich einer Revision der Abgabeordnungen, die den Kreis der freiverkäuflichen Mittel erweitern sollte.

Siehe zur Debatte im Reichstag: Verhandlungen des Reichstages, 9/IV, Bd. 4 (1896), S. 2521–2525; zur Petition der Drogisten vom 04.07.1896: Meinecke: Apothekenbindung, S. 202; BArch, R 86/1579.

Der Staatssekretär des Innern, Karl Heinrich von Boetticher (1833–1907), erkannte die Wünsche prinzipiell an

PZ 1898, S. 639–640. Zur Haltung Boettichers gegenüber den Drogisten Verhandlungen des Reichstages, 9/IV, Bd. 4 (1896), S. 1300.

und initiierte daraufhin eine Kommission, die 1898 zusammentrat und in der neben dem KGA und den Bundesstaaten auch die chemische Industrie, Apotheker und Drogisten vertreten waren.

Die Kommission tagte am 08. und 09.09.1898 und am 13.06.1899; siehe: PZ 1898, S. 639–640.

Nachdem 1899 ein entsprechender Entwurf veröffentlicht worden war,

PZ 1899, S. 835–836, Apotheker-Zeitung (AZ) 1899, S. 715–716.

versuchten sowohl die Drogisten als auch die Apotheker durch Stellungnahmen, Entwürfe und Petitionen an den Reichstag, auf die künftige Regelung Einfluss zu nehmen.

Diverse Stellungnahmen in: AZ 1899, S. 716, 769–770; AZ 1900, S. 33–35; PZ 1899, S. 856, 865–866; PZ 1900, S. 253–254; zur Petition der Drogisten an den Reichstag: Verhandlungen des Reichstages, 10/II, Anlageband 3 (1901), Aktenstück Nr. 269.

Je mehr sich die Forderungen von außen verstärkten und sich dabei die Interessen und Begründungsmuster auffächerten, desto mehr setzte sich im KGA das Bestreben durch, am bestehenden System festzuhalten. Diesem Ansatz folgte auch die neue Verordnung, die am 22. Oktober 1901 erlassen wurde, in der Fachwelt bald nur noch als »Kaiserliche Verordnung« firmierte und letztlich bis 1969 gültig blieb. Während auch diese strukturell den vorigen Regelungen entsprach und die Verzeichnisse sowie einige Begrifflichkeiten anpasste, enthielt sie im ersten Teil eine wichtige Änderung. So ermächtigte die Vorschrift den Reichskanzler, »weitere, im Einzelnen bestimmt zu bezeichnende Zubereitungen, Stoffe oder Gegenstände von dem Feilhalten und Verkaufen außerhalb der Apotheken auszuschließen«.

Verordnung, betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln, 22.10.1901 = KVO, in: RGBl. 1901, S. 380, § 4. Dazu auch: Meinecke: Apothekenbindung, S. 200–207.

Damit konnten beide Verzeichnisse jederzeit und ohne mühselige Auseinandersetzungen mit den Fachverbänden ergänzt werden, was der dynamischen Situation auf dem Arzneimittelmarkt durchaus entsprach.

Bis 1918 wurde die KVO nur noch einmal geändert: am 31.03.1911 (RGBl. 1911, S. 181).

Neben der Apothekenpflicht wurde der Arzneimittelverkehr auch durch die Verschreibungspflicht reguliert. Seit dem 19. Jahrhundert erließen die Länder nach Übereinkunft im Bundesrat wiederholt Vorschriften über die Abgabe stark wirkender Arzneimittel, die nur gegen ärztliches Rezept an den Verbraucher abgegeben werden durften.

Mangels reichsgesetzlicher Grundlage wurde die Verschreibungspflicht durch landesrechtliche Vorschriften geregelt. Um eine reichseinheitliche Durchführung zu gewährleisten, stimmten sich die Länder seit 1891 im Bundesrat über »Vorschriften, betreffend die Abgabe stark wirkender Arzneimittel« ab. Siehe: Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1891, Drucksache Nr. 63, 23.06.1891; Beschluss § 410, 02.07.1891. Erste Überlegungen zur Vereinheitlichung waren bereits 1879 diskutiert worden, siehe: BArch R 1501/110205. Eine eingehende Anpassung der Vorschriften erfolgte auf 1896 (Protokolle über die Verhandlungen des Bundesrats des Deutschen Reichs 1896, Drucksache Nr. 37, 04.03.1896; Drucksache Nr. 48, 23.04.1896; Beschluss § 159, 12.03.1896; Beschluss § 293, 13.05.1896). Der Beschluss des Bundesrates wurde in Preußen im Ministerialblatt verkündet (MBliV 1896, S. 123). An dieses System wurde nach 1918/19 im Reichsrat angeknüpft, siehe dazu: Lenhard-Schramm: Land, S. 116–117; insgesamt auch: BArch R 1501/110380–110388. Die rechtliche Grundlage für die zuständigen Minister, die Verordnungen zur Verschreibungspflicht zu erlassen, bildete in Preußen § 136 des Gesetzes über die allgemeine Landesverwaltung, 30.07.1883, in: PrGS 1883, S. 195–236. Von einigen Ausnahmen abgesehen, wurde die Verschreibungspflicht in Deutschland erst mit einer Verordnung der Bundesregierung von 1968 (BGBl. I 1968, S. 914–938) einheitlich geregelt.

Auch diese Vorschriften funktionierten nach dem Listenprinzip. Dabei wurden in der Regel nur solche Arzneistoffe in die Verzeichnisse aufgenommen, die sich bereits seit einiger Zeit auf dem Markt befanden und gegen die Bedenken aus Fachkreisen laut geworden waren. Gerade hier erwies sich die Listenregulierung als besonders schwerfällig, da die Behörden kaum selbstständig nach unerwünschten Wirkungen forschten.

Dies lässt sich am Beispiel des Schlafmittels Veronal nachvollziehen, das 1903 von der Firma Merck auf den Markt gebracht, aber erst 1908 der Verschreibungspflicht unterstellt wurde; siehe: BArch, R 1501/110392. Wie der Fall Contergan zeigt (dazu Lenhard-Schramm: Land, S. 120–121, 249–305), blieb dieses Problem im Prinzip bestehen, bis 1964 eine automatische Rezeptpflicht für neue Arzneistoffe eingeführt wurde (BGBl. I 1964, S. 365).

Trotzdem galt die Verschreibungspflicht als das wichtigste Instrument, um starke und schädliche Arzneistoffe vom Verbraucher fernzuhalten, zumal bis 1961 keine Rechtsvorschrift existierte, die ein behördliches Arzneimittelverbot vorsah. Auch in diesem System fiel die Kontrolle über die Arzneimittelabgabe fachlichen Experten zu: den Ärzten.

Wenngleich die Verschreibungspflicht der gleichen Regulierungsstruktur wie die Apothekenpflicht unterlag, war sie relativ unumstritten. Dieser Unterschied hing einerseits mit einer anders gelagerten gesundheitspolitischen Bedeutung der Verschreibungspflicht zusammen, ging es hier doch um potenziell gefährliche Stoffe, in deren Regulierung mit der Ärzteschaft ein machtvoller Akteur eingebunden war, der seine Kompetenzen keineswegs geschmälert sehen wollte. Nicht weniger relevant war andererseits die deutlich geringere wirtschaftliche Bedeutung verschreibungspflichtiger Mittel, die einen insgesamt deutlich kleineren Teil des Arzneimittelmarktes ausmachten. Aber auch hier hielten die Regierungen am Status quo fest, der ohne Gesetzesnovellen angepasst werden konnte, aufgrund der landesweisen Regelungen aber nicht unproblematisch blieb. Da sich mit diesen Regelungen nur der Vertrieb, nicht jedoch die Herstellung kontrollieren und regulieren ließ,

Stapel: Arzneimittelgesetze, S. 82–83.

blieben zentrale Probleme ungelöst.

Weimarer Republik

Mit welcher Wucht die verschiedenen Ansprüche und Normierungsvorstellungen zur Arzneimittelregulierung aufeinanderprallen konnten und dadurch die administrative Erarbeitung einer neuen Gesamtregelung erschwerten, zeigte sich besonders deutlich ab 1919. Die demokratische Neuorganisation des Staatswesens bewirkte zunächst eine Pluralisierung der politischen wie administrativen Entscheidungsinstanzen, die durchaus unterschiedliche Interessen verfolgten. Während der Reichstag in Fragen der Arzneimittelregulierung erstaunlich still blieb, gewannen die obersten Reichsbehörden, die nun Verfassungsrang erhielten, weiter an Bedeutung. Auch die Lobbyverbände konnten ihren Einfluss ausbauen und erwirken, dass die Geschäftsordnung der Reichsministerien 1924 ein Anhörungsrecht der Fachverbände festschrieb.

Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Besonderer Teil (GGO II). Hrsg. v. RMI. Berlin 1924, § 27. Exemplar in: BArch, R 43-I/1957, fol. 46–62; zur Ausarbeitung derselben: BArch, R 1501/117047–117049.

Nicht minder folgenreich war die wirtschaftliche Lage. Angesichts der krisenreichen konjunkturellen Entwicklung der Nachkriegsjahre schlossen sich die wichtigsten deutschen Chemie- und Pharmaunternehmen Ende 1925 zur IG Farben zusammen.

Gottfried Plumpe: Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904–1945, Berlin 1990; Helmuth Tammen: Die I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft (1925–1933). Ein Chemiekonzern in der Weimarer Republik, Berlin 1978.

Dies bewirkte einen enormen Bedeutungsgewinn der pharmazeutischen Industrie. Neben der ohnehin weiter fortschreitenden Verlagerung der Arzneimittelherstellung von der Apotheke in die Industrie,

Eingehend beschrieben von Wilhelm Bartmann: Zwischen Tradition und Fortschritt. Aus der Geschichte der Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering von 1935–1975, Stuttgart 2003.

hatte Letztere ihre Kräfte auch zur Durchsetzung eigener Interessen weiter bündeln können.

Dies bedingte einen erhöhten Regelungsbedarf, denn die Arzneimittelherstellung außerhalb der Apotheken war nach wie vor rechtlich ungeregelt. Anstatt das Arzneimittelwesen direkt einer gesetzlichen Globallösung zuzuführen, wählte das RMI zunächst die bestehenden Regelungen als Ansatzpunkt und beschränkte sich darauf, die bereits existierende Liste apothekenpflichtiger Arzneimittel – jeweils einem Votum des nunmehrigen RGA entsprechend – punktuell zu ergänzen.

Die KVO von 1901 wurde in der Weimarer Republik 11 Mal geändert: am 18.02.1920 (RGBl. 1920, S. 253), 21.04.1921 (RGBl. 1921, S. 490), 31.07.1922 (RGBl. I 1922, S. 710), 13.01.1923, 23.06.1923, 16.11.1923 (RGBl. I 1923, S. 68, 511, 1117), 09.12.1924, 24.12.1924 (RGBl. I 1924, S. 772, 966), 27.03.1925 (RGBl. I 1925, S. 40), 26.01.1929 (RGBl. I 1929, S. 19) und 30.09.1932 (RGBl. I 1932, S. 492). Eine größere Änderung erfuhr die KVO dabei am 09.12.1924, als ihr ein weiteres Verzeichnis C zugefügt wurde, das dem Verzeichnis der »Vorschriften über den Verkehr mit Geheimmitteln« entsprach, die der Bundesrat 1903 erstmals auf Reichsebene erlassen hatte (siehe oben). Siehe zu den Änderungen die RGA-Vorgänge: BArch, R 86/5050–5055.

Da die Reichsregierung aber lediglich die Apothekenpflicht ausweitete, kamen die Initiativen vor allem aus jenen Kreisen, die für eine Ausweitung freikäuflicher Mittel eintraten. Der Hauptverband der Ortskrankenkassen etwa verwies im Mai 1923 in einer Eingabe an das RMI auf die »gewaltig« gestiegenen Arzneimittelpreise in den Apotheken und den daraus resultierenden volkswirtschaftlichen Schaden. Bei harmlosen Mitteln wollte der Verband daher »den kostspielig gewordenen Apparat der Apotheken ausschalten« und stattdessen eigene Abgabestellen einrichten.

BArch, R 1501/110457, fol. 2–3, Hauptverband deutscher Ortkrankenkassen an RMI, 14.05.1923.

In noch drastischeren Worten warnte kurz darauf der Deutsche Drogisten-Verband in einer Petition an den Reichstag vor »Gefahren« für die »Lebensfähigkeit« nicht nur des eigenen Standes, sondern auch von Industrie, Großhandel, Krankenkassen und Ärzten, wenn die Apotheken bei einer rechtlichen Reform des Arzneimittelwesen weiterhin wirtschaftlichen Schutz erführen.

BArch, R 1501/110457, fol. 9–10, Deutscher Drogisten-Verband (DDV) an Reichstag, Juli 1923, mit Anlagen.

Hintergrund waren Pläne für ein Apothekengesetz, die seit den frühen 1920er Jahren von verschiedener Seite verstärkt ventiliert worden waren. Da dieses Vorhaben wegen der Komplexität der Materie vorerst nicht zu verwirklichen war,

Weingarten: Wirtschaftsaufsicht, S. 59. Die Probleme scheinen auch in den Regierungsakten des Öfteren auf. Siehe etwa: BArch, R 1501/110457, fol. 7, 24, 42–43.

beschritten die Reichsbehörden einen anderen Weg. Während das RMI aufgrund der »entgegenstehenden wirtschaftlichen und medizinalpolizeilichen Bedenken« weitere Änderungen der Abgabeverordnungen bevorzugte,

Da die reichsgesetzliche Regelung des Apothekenwesens nicht rasch realisierbar war, bat das RMI das RGA am 28.05.1923 um Einschätzung, ob eine Änderung der KVO »notwendig oder dringlich« sei: BArch, R 1501/110457, fol. 7.

konzentrierten sich die Arbeiten im RGA bereits seit Sommer 1921 auf eine rechtliche Gesamtregelung des Arzneimittelwesens.

In einem Bericht an das RMI hatte das RGA bereits am 01.08.1921 die Schaffung eines »Mantelgesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln« angeregt: BArch, R 1501/110457, fol. 24, 65.

Da detaillierte Rechtsnormen wegen der divergierenden Ansprüche kaum umsetzbar waren, lag das Ziel in einem »Mantelgesetz«: Dieses sollte nur einen groben Rahmen vorgeben und den Erlass von Einzelverordnungen und Ausführungsbestimmung vorsehen, um den Reichsbehörden flexible Anpassungen an den dynamischen Arzneimittelmarkt zu ermöglichen. Wie das RGA dem Ministerium im Juli 1923 berichtete, hatte eine Umfrage unter den Landesregierungen die mehrheitliche Zustimmung zu einem solchen Gesetz ergeben. Dementsprechend verlieh RGA-Präsident Franz Bumm (1861–1942) diesem Plan noch einmal Nachdruck:

Durch Schaffung eines derartigen Mantelgesetzes und Erlaß entsprechender Ausführungsbestimmungen würde es möglich werden, den derzeitigen höchst unbefriedigenden Zustand in der Arzneimittelgesetzgebung nach einheitlichem Maßstabe unter Berücksichtigung der seit Erlaß der alten Verordnungen eingetretenen großen Veränderungen wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Art zu ändern.

BArch, R 1501/110457, fol. 19–24, RGA an RMI, 26.07.1923.

Das RMI reagierte auf diesen Vorstoß skeptisch bis abwartend. Erst einige Monate später, am 13. November 1923, bat es das RGA um »gefällige Äußerung, in welcher Richtung eine Abänderung der zur Zeit bestehenden Vorschriften über den Verkehr mit Arzneimitteln« befürwortet werde. Ziel war eine Beratungsgrundlage für ein Projekt, das von zahlreichen unterschiedlichen Interessen und Ansprüchen konterkariert zu werden drohte. Auch das RMI ging dabei von einem Mantelgesetz aus, das »im wesentlichen nur eine Ermächtigung für den Reichsminister des Innern zu enthalten hat, den Verkehr mit den vorgenannten Mitteln mit Zustimmung des Reichsrats zu regeln.«

BArch, R 1501/110457, fol. 25, RMI an RGA, 13.11.1923.

Das RGA stimmte einer solchen Form zu und skizzierte in einem Bericht vom Mai 1924 diejenigen Bereiche des Arzneimittelwesens, bei denen ein großer Regelungsbedarf bestand, weil sie gar keinen, unzureichenden oder aber abweichenden landesrechtlichen Vorschriften unterlagen.

Dazu zählten etwa so zentrale Bereiche wie die Herstellung von und der Verkehr mit Arzneimitteln (auch im Großhandel, mit Impfstoffen usw.), aber auch Fragen der Verschreibungspflicht, des Arzneibuchs oder der Arzneitaxe. Siehe: BArch, R 1501/110457, fol. 65–69, RGA an RMI, 19.05.1924; ferner: BArch, R 1501/110458, fol. 239–240, RGA an RMI, 04.10.1924.

Wie wichtig eine Abstimmung unter den Behörden war, wurde immer deutlicher, zumal weitere Interessenverbände ihre Ansprüche anmeldeten und zum Teil auch mit eigenen Gesetzentwürfen hervortraten.

BArch, R 1501/110457, fol. 41, 73–75, Deutscher Industrie- und Handelstag an RMI, 28.11.1923; PZ an RMI, 02.09.1924. Das RGA lehnte diesen Entwurf der PZ ab, zumal er wegen detaillierter Regelungen der Idee eines allgemeinen Mantelgesetzes widersprach: BArch, R 1501/110458, fol. 239–240, RGA an RMI, 04.10.1924.

Doch angesichts gegensätzlicher Normierungsansprüche bremste das RMI den Plan einer gesetzlichen Gesamtlösung bald wieder aus und richtete den Blick erneut auf eine Änderung der Kaiserlichen Verordnung von 1901. Das RMI sandte am 9. September 1924 ein Rundschreiben an die Länder, das vom RGA entworfen worden war, welches sich auch grundsätzliche »Fingerzeige« über die Haltung der Länder zur künftigen Entwicklung des Arzneimittelrechts erhoffte.

BArch, R 1501/110457, fol. 83, RGA an RMI, 07.08.1924, mit Anlagen.

In dem Schreiben wurde nicht nur um Stellungnahme zu etwaigen Änderungen der Abgabeverordnung gebeten, sondern auch auf die Positionen der »beteiligten Wirtschaftskreise« hingewiesen, die »mit steigendem Nachdruck eine grundsätzliche Neuregelung des ganzen Fragengebiets« forderten. Während die organisierte Apothekerschaft eine weitere Beschränkung der Arzneimittelabgabe verlangte, forderten Drogisten, Industrie, Großhandel und Krankenkassen, den Umfang freiverkäuflicher Medikamente auszuweiten. Diese Positionen waren unvereinbar. Die Beamten der Reichsregierung waren sich darüber im Klaren: Da eine Änderung der Kaiserlichen Verordnung »starke wirtschaftliche Kämpfe« auslösen könne, warfen sie die Frage auf, ob rechtliche Reformen »überhaupt« sinnvoll seien.

BArch, R 1501/110457, fol. 90–92, RMI an die Landesregierungen, 09.09.1924.

Insoweit fielen die Reichsbeamten in den traditionellen nachtwächterstaatlichen Rollenmodus zurück und verhielten sich abwartend.

Dementsprechend war das RMI (BArch, R 1501/110457, fol. 90) zunächst davon ausgegangen, »einer Änderung der Verordnung nicht nähertreten zu sollen.«

Das Rundschreiben wurde bald auch den Fachverbänden bekannt, die nunmehr ihre Einwirkungsversuche auf das RMI forcierten.

In der PZ 1924, S. 983–985, wurde der Inhalt des Rundschreibens deutlich kritisiert, da man in ihm vor allem die Positionen der Nicht-Apotheker vertreten sah. Da dies »unter dem Drucke der rührigen Agitation der Gegenparteien« zustande gekommen und »die Initiative den Händen der Apotheker längst entglitten« sei, bat der DAV, ihm die Umfrageergebnisse zugänglich zu machen und dazu gehört zu werden. Das RMI wies dieses Ansinnen mit dem Hinweis zurück, dass »eine Anhörung der Interessenten in dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht beabsichtigt« sei: BArch, R 1501/110457, fol. 93, 94, DAV an RMI, 16.10.1924; RMI an DAV, 20.10.1924. Vor allem aber sah sich das RMI mit einer regelrechten Flut von Eingaben von Drogisten und »biochemischer Vereine« konfrontiert, die ebenfalls Vorschläge für rechtliche Reformen übersandten (BArch, R 1501/110457, fol. 95–312).

Nachdem es Ende 1924 zu einer größeren Novelle der Apothekenpflicht gekommen war, die aber die grundsätzlichen Probleme nicht hatte lösen können, rückten im Laufe des Jahres 1925 wieder die Bemühungen um ein Arzneimittelgesetz in den Mittelpunkt. Nachdem auch im Reichstag der Wunsch nach einem solchen Gesetz laut geworden war, wandten sich Abgeordnete und der Drogisten-Verband im April 1926 an das RMI. Dieses konnte sich den Normierungsdruck nicht weiter entziehen und erklärte, einen Gesetzentwurf durch das RGA ausarbeiten zu lassen, »da das Bedürfnis nach dem Erlaß eines solchen Gesetzes hier bereits hervorgetreten sei, bevor im Reichstag von Abgeordnetenseite diese Wünsche vorgebracht worden« seien.

BArch, R 1501/110458, fol. 226–227, Vermerk RMI, 19.04.1926.

Da auch mehrere Länder die Dringlichkeit einer gesetzlichen Neuregelung betont hatten, wies das RMI das RGA am 23. April 1926 an, »die beschleunigte Aufstellung eines Entwurfes für ein solches Rahmengesetz in die Wege zu leiten.«

BArch, R 1501/110458, fol. 242–243, RMI an RGA, 23.04.1926. Dort auch Hinweise auf Standpunkte der Länder.

Kurz darauf erbat das RMI auch von den Landesregierungen Vorschläge für einen Gesetzentwurf.

RMI an die Landesregierungen, 09.09.1924, abgedruckt in: PZ 1926, S. 931–933.

Im RGA wurde daraufhin vor allem durch Oberregierungsrat Armin Linz (1889–1982) ein Gesetzentwurf erarbeitet.

Siehe zu Armin Linz: Deutsche Apotheker-Zeitung (DAZ) 1959, S. 570–571; PZ 1982, S. 968; NDB 14, S. 639.

Das Vorhaben, alle arzneimittelrechtlichen Vorschriften in einem Mantelgesetz-Entwurf zusammenzufassen, zog sich in die Länge: Einerseits musste sich das RGA mit dem RMI auf die Grundlinien des Gesetzes verständigen.

Siehe etwa BArch, R 1501/110458, fol. 474–475, RGA an RMI, 20.08.1926.

Andererseits versuchten die einschlägigen Fachverbände, in ihrem Sinne auf die Arbeiten einzuwirken, etwa durch öffentliche Interventionen oder durch verschiedenste Eingaben an die Behörden.

Siehe im Vorgang des RMI (BArch, R 1501/110458) etwa die Eingaben des DDV (Bl. 332–333), des DAV (Bl. 452–453) oder des Zentralverbandes der chemisch-technischen Industrie (Bl. 466–467). Diverse weitere Eingaben in selbiger Akte. Hinzu kamen auch informatorische Gespräche den Fachverbänden (Bl. 471–472).

Während die Hinzuziehung der Fachverbände für einen späteren Zeitpunkt im Reichsgesundheitsrat (ein dem RGA beigeordnetes Beratungsgremium aus Beamten, Medizinern und anderen Fachvertretern) vorgesehen war,

Siehe etwa BArch, R 1501/110458, fol. 452–453, RGA an RMI, 28.06.1927. Zum Reichsgesundheitsrat: Thomas Saretzki: Reichsgesundheitsrat und Preußischer Landesgesundheitsrat in der Weimarer Republik, Berlin 2000.

kam es zunächst darauf an, sich mit den anderen Ländern sowie den Reichsressorts zu verständigen. Nach mehreren inneramtlichen Vorentwürfen stellte das RGA im März 1928 einen Entwurf fertig, der zunächst den Ländern zur Stellungnahme zuging.

So RGA-Präsident Carl Hamel (1870–1949) vor dem Reichstag am 26.03.1928, in: Verhandlungen des Reichstags 395 (1928), S. 13740; Linz: Entwicklung, S. 509.

Unterdessen nahm die Zahl von Anträgen und Resolutionen betroffener Fachverbände auch in der Folgezeit nicht ab.

Siehe etwa: BArch, R 86/5054, Eingabe des DDV, 29.05.1929; Eingabe des Reichsverbandes des pharmazeutischen Großhandels, Okt. 1929, in: AZ 1929,

Nach der grundsätzlichen Zustimmung durch die Länder ging der Entwurf an die Reichsministerien. Im Reichswirtschaftsministerium (RWM), bis dahin noch kaum involviert, stieß der Entwurf auf Ablehnung, da er dort als nicht hinnehmbares Industriehemmnis galt. Durch eine bewusste Indiskretion des RWM gelangte er Ende 1930 an die Öffentlichkeit und wurde in diversen Fachorganen abgedruckt.

Zuerst (16.12.1930) abgedruckt in: Süddeutsche Apotheker-Zeitung (SAZ) 1930, S. 704–706. Bald folgten auch andere Fachzeitschriften: PZ 1930, S. 1471–1473; AZ 1930, S. 1628–1630. Zur Indiskretion des RWM: Hornung: Arzneimittelgesetzeskunde, S. 99; Linz: Entwicklung, S. 509.

Auch wenn es sich nur um einen Vorentwurf handelte, der sich vom authentischen Entwurf in mehreren Punkten unterschied, entfachte er heftige Kritik, namentlich von Industrieverbänden und Drogisten, die sich aufgrund der Fortführung des Apothekenvorbehaltes und staatlicher Eingriffsmöglichkeiten wirtschaftlich stark benachteiligt sahen und deshalb den »Kampf gegen das Arzneimittelgesetz« zur »Notwendigkeit der Selbsterhaltung« stilisierten.

Zitat in: Chemisch-technische Zeitschrift 1931, Nr. 15/16. Siehe auch vielstimmige Kritik in: AZ 1931, S. 100–101, 117–118, 182–183, 220 und passim, eine erste Zusammenfassung der Debatte S. 1043–1045.

Oberregierungsrat Linz beschrieb die Agitation gegen den Entwurf als »allgemeines Kesseltreiben, das vor nichts zurückschreckte und in seiner Bedenkenlosigkeit wohl kaum einen Vorgang hat.«

Linz: Entwicklung, S. 510.

Das RMI geriet nun zusehends unter Druck. Nachdem es den tatsächlichen Gesetzentwurf bereits den Ländern zur Stellungnahme übersandt hatte, ließ es diesen Entwurf auch in der pharmazeutischen Fachpresse veröffentlichen.

Der amtliche Entwurf eines Reichsarzneimittelgesetzes, in: PZ 1931, S. 73–75; SAZ 1931, S. 54–56.

Das RGA stellte im August 1931 einen überarbeiteten Entwurf fertig, der kurz darauf im Reichsgesundheitsblatt sowie in der Fachpresse publiziert wurde.

Entwurf eines Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln und Giften (Arzneimittelgesetz), in: 2. Beiheft zum Reichs-Gesundheitsblatt 6 (1931), S. 63–77 (Beilage zu Nr. 34); SAZ 1931, S. 490–498; BArch, R 86/3078, RMI an RGA, 11.12.1931.

Dieser Entwurf folgte dem ursprünglichen Plan eines Rahmengesetzes, das die Verwaltung zur flexiblen Anpassung der Rechtsvorschriften ermächtigten sollte. Dementsprechend ermächtigte er die zuständigen Behörden zum Erlass von Rechtsverordnungen, die Betriebserlaubnisse und -kontrollen sowie die Arzneimittelkennzeichnung und -werbung betrafen. Diese Ermächtigungen erschienen besonders der Industrie viel zu eingreifend, auch von Drogisten kam starke Kritik. Der neue Entwurf wurde als wirtschafts- und fortschrittsfeindlich verworfen, zugleich mit Entlassungen gedroht, was angesichts der Wirtschafskrise und Massenarbeitslosigkeit besonders heikel war.

Zu Stellungnahmen von Industrie, Apothekern und Drogisten siehe die vielen Äußerungen: AZ 1931, S. 1220, 1265–1266, 1450–1451, 1532–1533, 1557–1558, 1589, 1622–1623; PZ 1931, S. 1045–1046, 1059, 1087–1088, 1261–1263, 1281–1282, 1352–1353, 1394–1395, 1436–1437; SAZ 1931, S. 652. Siehe auch Linz: Entwicklung, S. 510.

Neben solch wirtschaftlich motiviertem Widerspruch kamen auch aus rechtlicher Perspektive Bedenken. Aus Gründen der Rechtskonformität erhob das Reichsministerium der Justiz einige Einwendungen gegen die strafrechtlichen Bestimmungen des Gesetzentwurfes.

BArch, R 86/3078, RMJ an RMI, 19.08.1931; Vermerk RMI, 28.08.1931; RMI an RGA, 28.08.1931.

Angesichts des energischen Widerstandes ließ das RMI den Entwurf vom RGA abermals überarbeiten.

BArch, R 86/3078, RMI an RGA, 11.12.1931.

Der im Februar 1932 an die Länder gesandte Entwurf war weiter entschärft und liberalisiert worden. Eine Registrierungspflicht für Arzneipräparate existierte nicht mehr, Bestimmungen zur Überwachung der Herstellerbetriebe fielen weg, während den Fachverbänden eine Mitsprache beim Erlass weiterer Vorschriften eingeräumt werden sollte.

BArch, R 86/3078, RMI an die Landesregierungen, 02.02.1932. Siehe dort den Entwurf (Anlage 1) samt Begründung der wichtigsten Änderungen (Anlage 2). Auch abgedruckt in: PZ 1932, S. 219–221 (siehe auch S. 327, 367); SAZ 1932, S. 110–113.

Angesichts der heftigen Angriffe gegen die bisherigen Regierungsarbeiten legte das RMI beim Rundschreiben an die Länder ebenso Wert auf eine vertrauliche Behandlung des Entwurfs wie das RGA bei einem Schreiben an die Interessenverbände, die im März 1932 zur Diskussion des Entwurfes im Rahmen einer Sondersitzung des Reichsgesundheitsrates eingeladen wurden.

BArch, R 86/3078, RMI an die Landesregierungen, 02.02.1932; Verfügung RGA, 09.03.1932: »Ich bitte, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln, was nicht ausschließt, daß der Entwurf in einem engeren Kreise der Interessenten zur Erörterung gestellt wird. Keineswegs aber darf der Entwurf der Presse zum Abdruck, auch nicht auszugsweise, oder zur Besprechung übergeben werden.«

Nachdem die Länder prinzipiell zugestimmt hatten,

BArch, R 86/3078, Vermerk RGA, ohne Datum; Niederschrift über die Beratung des Reichsgesundheitsrates vom 07.04.1932. Siehe auch: Hornung: Arzneimittelgesetzeskunde, S. 99.

zeigten sich auch die beiden wichtigsten Verbände der pharmazeutischen Groß-Industrie mit dem Entwurf grundsätzlich einverstanden.

Die waren der Verband der chemisch-pharmazeutischen Großindustrie (Cepha) und der Verband pharmazeutischer Fabriken; deren Stellungnahmen in: BArch, R 86/3078, Beratungen des Reichsgesundheitsrates vom 21. und 22.03.1932. Siehe auch: Wolfgang Wimmer: »Wir haben fast immer was Neues«. Gesundheitswesen und Innovationen der Pharma-Industrie in Deutschland, 1880–1935, Berlin 1994, S. 71, mit Anm. 181; Ernst Urban: Gedanken über den Arzneimittelgesetzentwurf, in: PZ 1932, S. 425–427, hier S. 425 (siehe auch S. 367). Kritik kam dagegen vom Zentralverband der chemisch-technischen Industrie, siehe die zitierten Beratungen sowie: PZ 1932, S. 237–238, 327. Am 07.04.1932 folgte eine weitere Beratung mit Vertretern von Interessengruppen, die von sekundärer Bedeutung für das Gesetz waren (etwa Werbe-Branche, Kosmetik-Industrie usw.).

Ein Erfolg war ihm trotzdem nicht beschieden. Obwohl ein massiver Widerstandsblock überwunden schien, blieben die Drogisten bei einer strikt ablehnenden Haltung und verwarfen den Entwurf als »apothekenfreundlich«.

BArch, R 86/3078, Niederschrift über die Sitzungen des Reichsgesundheitsrates vom 21. und 22.03.1932. Siehe neben weiterem Material in dieser Akte auch Ernst Sontag: Entwurf eines Arzneimittelgesetzes (Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln und Giften), Berlin 1932; Wimmer: Neues, S. 71.

Zudem petitionierten nun vor allem zahlreiche kleine Interessenverbände gegen das Gesetz, etwa aus der Kosmetikbranche oder aus der Werbe- und Papierindustrie.

Diverse Petitionen und Widerstände, unter anderem der Süßwaren-Industrie und von Konsum- und Handelsverbänden, sind dokumentiert in: BArch, R 86/3078.

Da die Reichsbehörden einen Erlass des Gesetzes per Notverordnung nicht ernsthaft in Erwägung zogen

So wurde zumindest der Zentralverband der chemisch-technischen Industrie informiert, siehe dessen Rundschreiben Nr. 18/32, 23.03.1932, in: BArch, R 86/3078.

und der Reichstag aufgrund der politischen Staatskrise des Jahres 1932 kaum noch tagte, verschwand der Entwurf vorerst in den Schubladen der Reichsbehörden.

Zum Fortgang der Arbeiten in der zweiten Jahreshälfte 1932, die sich im Wesentlichen auf Frage der Berücksichtigung von Arzneimittelmustern beschränkte, siehe: BArch, R 86/3078.

Dass die Reichsgesundheitsbehörden in der Weimarer Republik gewillt und prinzipiell auch in der Lage waren, reichsgesetzliche Vorschriften im Arzneimittelwesen einzuführen, zeigt das Opiumgesetz von 1929.

Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz), 10.12.1929, in: RGBl. I 1929, S. 215.

Während dieses Gesetz aber vor allem aufgrund internationaler Verpflichtungen zustande kam, fehlte beim Arzneimittelgesetz nicht nur solch regulatorischer Rückenwind auf Regierungsebene. Vielmehr kam von dort wirtschaftspolitischer Gegenwind, der sich durch die Wirtschafts- und Staatskrise der späten Weimarer Republik immer weiter intensivierte. Die Folge war eine ungewöhnlich hohe Dichte an Gesetzentwürfen, die in rascher Folge vorgelegt wurden, dabei aber immer weiter an Substanz verloren, bis ein Minimalkonsens erreicht war, der nichts Wesentliches änderte, sondern eher den Status quo in eine juristische Form goss.

NS-Zeit

Im NS-Regime änderten sich seit Januar 1933 die nicht nur allgemeinen politischen, sondern auch die administrativen Rahmenbedingungen. Trotz Gleichschaltung der Bürokratie und Einführung des »Führerprinzips« mutierte das Gesundheitswesen nun schrittweise zu einem polyzentrisch strukturierten Kräftefeld, auf dem diverse Akteure (Staat, Partei, Sonderbevollmächtigte, Fachverbände usw.) in bisweilen unscharfer Kompetenzabgrenzung teils gemeinsame, teils gegensätzliche Interessen und Normierungsziele verfolgten.

Dazu umfassend Winfried Süß: Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939–1945, München 2003, S. 43–178.

Auch die weiteren Regulierungsbestrebungen im Arzneimittelwesen blieben davon nicht unberührt. Bereits kurz nach Machtantritt der Nationalsozialisten zeigten sich erste Spannungen zwischen der eher politisch orientierten Ministerialbürokratie und der untergeordneten Fachbehörde des RGA. Nachdem der 1932 beratene Entwurf vom RGA abermals überarbeitet und dadurch in seiner Regulierungsreichweite erneut eingedampft worden war, fand er zwar im August 1933 die abschließende Zustimmung aller zuständigen Reichsbehörden. Dass diese vierte Fassung des Entwurfes dennoch keine Gesetzeskraft erlangte, war Folge der nationalsozialistischen Durchwirkung des Regierungsapparates, in dem die NSDAP mit ihren eigenen gesundheitspolitischen Normierungsideen nun an Gewicht gewann.

Armin Linz: Arzneimittelgesetzentwurf in der Fassung von 1933, in: Die Pharmazeutische Industrie 12 (1950), S. 57–61, hier S. 57.

Der im RGA zuständige Referent Linz wies die »Schuld« für das Scheitern in der Rückschau dem vorgesetzten Ministerium zu. Die Verbitterung über die ideologisch motivierte Obstruktion von oben trat dabei klar hervor:

Die politischen Veränderungen hatten sich schließlich soweit ausgewirkt, daß das Reichsministerium des Innern es für notwendig hielt, den Entwurf der Partei zur Billigung vorzulegen. Die Folge waren endlose Verhandlungen, Gegenentwürfe, war Kampf der von der Partei unterstützten »biologischen« Richtung gegen die »Retortenmedizin«, war Kampf von Blut und Boden gegen wissenschaftliche Errungenschaften der pharmazeutischen Industrie. Das Reichsministerium des Innern war diesem Sturm nicht gewachsen. Hatte doch der Minister, der allen Dingen der Schulmedizin skeptisch gegenüberstand, den Hersteller eines stark umstrittenen Erzeugnisses der biologischen Richtung zu seinem persönlichen Berater für Arzneimittelfragen gemacht!

Linz: Arzneimittelgesetzentwurf, S. 57.

Vor diesem Hintergrund kam es vorerst zu einem arzneimittelrechtlichen Stillstand.

Zwar wurde die KVO am 04.10.1933 noch einmal geringfügig geändert (RGBl. I 1933, S. 721), doch war dies die letzte Änderung bis zu ihrem Außerkrafttreten im Jahr 1969.

Die Eingriffe des NS-Regimes beschränkten sich im Wesentlichen auf die »Arisierung« und Gleichschaltung der Apothekerschaft, die mit der Reichsapothekerordnung von 1937 ihren wesentlichen Abschluss fand.

Reichsapothekerordnung, 18.04.1937, in: RGBl. I 1937, S. 457. Siehe zur NS-Gleichschaltung und Verdrängung jüdischer Apotheker: Gerald Schröder: NS-Pharmazie. Gleichschaltung des deutschen Apothekenwesens im Dritten Reich, Stuttgart 1988; Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten, Frankfurt am Main 1991; insgesamt auch: Caroline Schlick: Apotheken im totalitären Staat. Apothekenalltag in Deutschland von 1937 bis 1945, Stuttgart 2008.

Dagegen blieb das Arzneimittelwesen außerhalb der Apotheken weiterhin unreguliert. Eine Hauptursache dieser Stagnation lag in gesundheitspolitischen Ideologemen des Nationalsozialismus, die im Zitat von Linz bereits anklangen. Besonders in Parteikreisen wurde das Konzept der »Neuen Deutschen Heilkunde« propagiert, das sich an völkischen und naturheilkundlichen Axiomen orientierte und dabei für die Nutzung pflanzlicher und homöopathischer Arzneimittel warb.

Alfred Haug: Die Reichsarbeitsgemeinschaft für eine Neue Deutsche Heilkunde (1935/36). Ein Beitrag zum Verhältnis von Schulmedizin, Naturheilkunde und Nationalsozialismus, Husum 1985.

Eng damit verwandt war die Vorstellung von einer »Wiedergeburt der Pharmazie«, nach der die industrielle Arzneimittelproduktion gedrosselt und die Rezeptur und Defektur in den Apotheken wieder ausgebaut werden sollte.

Gerald Schröder: Die »Wiedergeburt« der Pharmazie. 1933 bis 1934, in: Herbert Mertens / Steffen Richter (Hg.): Naturwissenschaft, Technik und NS-Ideologie. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Dritten Reichs, Frankfurt am Main 1980, S. 166–188.

Diese Konzepte liefen sich in der administrativen Praxis der NS-Gesundheitspolitik rasch fest. Vor allem aber stießen sie auf den entschiedenen Widerstand der pharmazeutischen Industrie, die sich 1933 zum Schutz ihrer Interessen enger organisiert hatte, Unterstützung aus wirtschaftsorientierten Regimekreisen erhielt und dabei ihre Marktposition letztlich noch ausbauen konnte.

Ulrich Meyer: Pharmazeutische Industrie und NS-Staat, in: Akten des 35. Internationalen Kongresses für Geschichte der Pharmazie Luzern, 19.–22.9.2001, Liebefeld 2004 (CD); Ulrich Meyer: Pharmazeutische Industrie und »Neue Deutsche Heilkunde«, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 23 (2005), S. 165–182. Bereits 1933 hatte sich die Reichsfachschaft der pharmazeutischen Industrie (Reipha) gebildet, die noch im gleichen Jahr eine verbandseigene Zeitschrift (»Die Pharmazeutische Industrie«) und die Erstauflage der Roten Liste herausgegeben hatte. Siehe dazu allgemein: Friedrich/Müller-Jahncke: Geschichte, S. 568–570, 1036–1039.

Aufgrund der Gleichschaltung der verschiedenen Fachverbände und der Ausschaltung einer regierungskritischen Öffentlichkeit gingen die medial wahrnehmbaren Konflikte um das Arzneimittelrecht nach der Konsolidierung des NS-Regimes immer weiter zurück. Die Normenkonflikte verlagerten sich nun in den Arkanbereich der Administration.

Am 20.04.1934 kam es in der Reichskanzlei zur Gründung eines Ständigen Ausschusses, der bestehende und künftige Gegensätzlichkeiten zwischen Apothekern, Industrie und Ärzten beseitigen sollte, siehe: Meyer: Pharmazeutische Industrie und NSStaat, o. S.

Die disparaten Interessenlagen hatten damit ihr Spiegelbild im polykratischen Machtgefüge des NS-Regimes gefunden.

In der Reichsverwaltung wurde dennoch weiter an einem Arzneimittelgesetz gearbeitet. 1938 legte das RGA einen neuen (fünften) Gesetzentwurf vor, der insgesamt sehr allgemein gehalten war.

BArch, R 86/4054, Entwurf eines Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln und Giften (Arzneimittelgesetz). Abgedruckt in: PZ 1950, S. 682–683; Rotthege: Entstehung, S. 288–292 (dort auf 1939 datiert, siehe zur Erläuterung des Entwurfs S. 96–105). Siehe auch dessen Verfasser: Linz: Arzneimittelgesetzentwurf, S. 57–58.

Laut der Begründung sollte es »nur ein Rahmengesetz« bilden, »das sich in der Hauptsache auf die Begriffsbestimmungen, die Abgrenzung des Geltungsbereichs, die Ermächtigung zum Erlass von Ausführungsverordnungen und die notwendigen allgemeinen Vorschriften beschränkt und damit nur den Rahmen andeutet, in dem sich die Durchführung bewegen soll«.

BArch, R 86/4054, Entwurf der Begründung zum Arzneimittelgesetz.

Dementsprechend sah der Entwurf so viele Ermächtigungen für den RMI vor wie keiner der vorigen Entwürfe. Konzeptionell bedeutete dies eine Rolle rückwärts, waren es doch zuvor nicht zuletzt die weitgefassten Ermächtigungen gewesen, an denen sich die Kritik in besonderem Maße entzündet hatte. Aus diesem Grund ereilte ihn das gleiche Schicksal wie seine Vorgänger: Er gelangte nicht über das Entwurfsstadium hinaus. Wie zuvor, kam auch diesmal der entscheidende Widerspruch aus dem RWM.

Linz: Entwicklung, S. 511. Laut Hornung: Arzneimittelgesetzeskunde, S. 99, erhob auch das preußische Finanzministerium Einspruch gegen den Entwurf. Über die Hintergründe ist nichts bekannt.

Eine Zäsur auch für die Arzneimittelregulierung bedeutete der Zweite Weltkrieg, der hier große Dynamisierungseffekte schuf. Die Verknappung kriegswichtiger Ressourcen und die damit verbundenen Zwänge zur Wirtschaftslenkung hatten ihren institutionellen Ausdruck im Ministerrat für die Reichsverteidigung gefunden, der seit 1939 als eine Art »Kriegskabinett« fungierte und mittels Umlaufverfahren faktisch die Gesetzgebungsmacht übernommen hatte, die nach dem Ermächtigungsgesetz der – nicht mehr tagenden – Reichsregierung zukam.

RGBl. I 1939, S. 1539.

Neben neuen Regelungen zur Apotheken- und Verschreibungspflicht sowie zur Arzneimittelwerbung

Mit Verordnung vom 13.03.1941 (RGBl. I 1941, S. 136) durften verschreibungspflichtige Arzneimittel nur noch in Apotheken »feilgehalten oder verkauft« werden. Zudem legte eine Polizeiverordnung vom 29.09.1941 (RGBl. I 1941, S. 587) fest, dass sich ein Großteil der Werbung nur an ein Fachpublikum richten durfte (zur Gültigkeit nach 1945: BArch, B 142/1433, 1437–1438). Bereits am 23.12.1939 hatte der Ministerrat die Gewerbeordnung dahingehend geändert, dass Änderungen der Apothekenpflicht künftig »im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsminister« zu beschließen seien (RGBl. I 1940, S. 21; dazu auch: BArch, R 43-II/737, fol. 34–43).

wurde nun erstmals ein Bereich rechtlich geregelt, an dem sämtliche Regulierungsversuche der letzten sieben Jahrzehnte gescheitert waren: die Arzneimittelherstellung. In der ersten Kriegshälfte blieb auch die Arzneimittelregulierung vorwiegend friedensmäßig organisiert,

Süß: Volkskörper, S. 185.

weshalb noch 1941 ein erneuter Anlauf des RMI für ein Arzneimittelgesetz (auf Grundlage des Entwurfs von 1938) am Widerstand des RWM scheiterte.

BArch 1501/3809, Leonardo Conti: Die Arzneimittelversorgung.

Seit Mitte des Krieges stellte sich aber immer deutlicher die Ineffizienz der Arzneimittelpolitik heraus, der es an einer zentralen Koordinierungsinstanz fehlte und die durch die permanente Konkurrenz zwischen Innen- und Wirtschaftsressort geprägt blieb.

Süß: Volkskörper, S. 184–187

Infolgedessen griffen die staatlichen Instanzen, teils in Konkurrenz, teils in Kooperation, seit 1942/43 immer tiefer in die Arzneimittelherstellung ein. Bereits Anfang 1942 hatte der RMI Wilhelm Frick (1877–1946) in seiner Funktion als Generalbevollmächtigter für die Reichsverwaltung (GBV) eine Verordnung für die Herstellung von Arzneifertigwaren ausarbeiten lassen. Laut Frick war diese Verordnung »kriegswichtig, da sie dazu dient, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Deutschen Volkes und seines Tierbestandes während des Krieges sicher zustellen [sic].« Frick leitete den Regelungsbedarf hier also von Beginn aus einer gesundheitspolitischen Normativität her. Nach dem Entwurf wurde die Herstellung neuer Arzneifertigwaren »mit sofortiger Wirkung verboten.« Die Regelung sollte grundsätzlich nicht für bereits im Verkehr befindliche Präparate oder in den Apotheken hergestellte Arzneimittel gelten. Des Weiteren war die Möglichkeit vorgesehen, die Verordnung im Einzelfall auch auf bereits im Verkehr befindliche Mittel auszudehnen. Für die Herstellung neuer Arzneifertigwaren war ferner die Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen vorgesehen.

BArch, R 43-II/737, fol. 45, GBV an den Ministerrat für die Reichsverteidigung, 18.02.1942.

Während dem GBV die Zustimmung der anderen Ministerratsmitglieder als bloße Formsache erschien,

BArch, R 43-II/737, fol. 45, GBV an den Ministerrat für die Reichsverteidigung, 18.02.1942.

sah er sich bald eines Besseren belehrt. Die Behörde des Reichsmarschalls Hermann Göring (1893–1946) – zugleich Vorsitzender des Ministerrats, während der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, als dessen Geschäftsführer fungierte – hielt die Verordnung für überflüssig, da sich die Herstellung von Arzneifertigwaren auch durch andere Vorschriften regeln und verbieten lasse.

BArch, R 43-II/737, fol. 47, Der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches an den Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, 25.02.1942.

Auch der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) war mit der Verordnung »nicht einverstanden«, da er seine Kompetenzen im Bereich der Tierarzneimittel übergangen sah.

BArch, R 43-II/737, fol. 47, RMEL an den Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, 28.02.1942.

Die grundsätzlichste Kritik kam aber von RWM Walter Funk (1890–1960). Dieser wies auf die zahlreichen pharmazeutisch wie chemisch verwendbaren Erzeugnisse hin, »die eine sehr erhebliche allgemeine wirtschaftliche und technische Bedeutung haben, deren Beurteilung den medizinischen Stellen nicht überlassen werden kann und die diese Stellen bestimmt auch gar nicht übernehmen wollen.«

BArch, R 43-II/737, fol. 54–55, RWM an den Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, 28.02.1942.

Gleichwohl erklärte sich Funk damit einverstanden, die Angelegenheit in einer gemeinsamen Besprechung zu prüfen.

Der GBV hatte inzwischen eine Stellungnahme aus der Abteilung Volksgesundheit des RMI eingeholt. Darin wies das Ministerium den Einwand zurück, es gebe seit 1939 andere rechtliche Bewirtschaftungsvorschriften, um die Arzneimittelherstellung zu regulieren. Diese ermöglichten es nämlich allein dem Wirtschaftsminister, hier regelnd einzugreifen, ihr Sinn sei also

ein rein wirtschaftspolitischer. Die Arzneimittel können aber in erster Linie nicht ein Gegenstand der Wirtschaftspolitik sein. Daß sie das in Deutschland im Gegensatz zu fast allen Ländern nicht sind, ist im wesentlichen Schuld für die abwegige Entwicklung des Arzneimittelwesens bei uns.

Unverkennbar standen hier wirtschafts- und gesundheitspolitische Normen in Konflikt: Während das Wirtschaftsressort hier vor allem ein Problem der Ressourcenverteilung erkannte (die bereits durch andere Vorschriften weitgehend geregelt war), betonte die oberste Reichsgesundheitsbehörde die »abwegige Entwicklung« des deutschen Arzneimittelwesens, die sich nun »katastrophal« zuzuspitzen drohe, zumal bald »selbst die kriegswichtigen Arzneimittel nicht mehr vorhanden« sein werden.

BArch, R 43-II/737, fol. 53, GBV an den Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches, 24.03.1942, darin die Stellungnahme des RMI.

Dem GBV ging es also vor allem um die Geltung gesundheitspolitischer Grundsätze. Daher stellte er seine erfolglosen Bemühungen um ein Arzneimittelgesetz deutlich heraus:

Ich habe mich seit 1933 bemüht, eine umfassende gesetzliche Regelung für das Gesamtgebiet des Arzneimittelwesens herbeizuführen. Ich habe diese bei Ausbruch des Krieges zurückstellen müssen, dann aber die Arbeiten daran aus der Erwägung heraus, daß gerade die Kriegsverhältnisse hier eine Bereinigung verlangen, während des Krieges doch wieder aufgenommen und zu Ende geführt. Im November 1941 wurde die Kriegswichtigkeit des Gesetzentwurfs abgelehnt. Es wurde mir die Anregung gegeben, das Notwendigste durch Einzelverordnungen zu regeln. Um eine solche Verordnung handelt es sich im vorliegenden Falle.

BArch, R 43-II/737, fol. 53, GBV an den Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches, 24.03.1942.

Der RMI versuchte nun, Druck zu machen. Er bestand auf der »sofortigen Inkraftsetzung« der Verordnung und bat um »die persönliche Entscheidung des Herrn Reichsmarschalls, an den ich mich direkt gewandt habe«. Beiläufig erwähnte das Schreiben, »daß der Reichsführer SS die vorgeschlagene Verordnung sehr begrüßt hat.«

BArch, R 43-II/737, fol. 53, GBV an den Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches, 24.03.1942

Trotz aller Beschleunigungsversuche des RMI scheiterte die rasche Durchsetzung der Verordnung an den unterschiedlichen Normierungsvorstellungen der involvierten Verwaltungsstellen. Nachdem der Reichsmarschall seine Bedenken zurückgestellt hatte, konnte auch der RMEL nach einigen formalen Änderungen für einen neu gefassten Entwurf gewonnen werden. Erst als die Bestimmung gestrichen wurde, das Herstellungsverbot auch auf einzelne, bereits im Verkehr befindliche Arzneifertigwaren ausdehnen zu können, erhob auch der RWM keine Bedenken mehr.

BArch, R 43-II/737, fol. 56, GBV an den Ministerrat für die Reichsverteidigung, 26.11.1942.

Obschon dieser Mitte Dezember 1942 nochmals um Prüfung bat, ob die Verordnung tatsächlich »erforderlich« sei,

BArch, R 43-II/737, fol. 58, GBW an GBV, 14.12.1942.

stimmten alle beteiligten Stellen zu. Reichsmarschall Göring erließ die Verordnung daraufhin am 11. Februar 1943.

BArch, R 43-II/737, fol. 60–61, Reichskanzlei, Verfügung, 16.01.1943, siehe auch fol. 62–65.

Die eine Woche später veröffentlichte Vorschrift, die die Herstellung neuer Arzneifertigwaren »mit sofortiger Wirkung« untersagte, aber nicht für in den Apotheken zubereitete Arzneimittel und bereits auf dem Markt befindliche Arzneifertigwaren galt,

Verordnung über die Herstellung von Arzneifertigwaren, 11.02.1943, in: RGBl. I 1943, S. 99.

wurde bald unter dem Begriff der ›Stoppverordnung‹ berühmt.

Die Durchführungsvorschriften der Stoppverordnung legte der RMI vom 17. Mai 1943 im Einvernehmen mit den anderen Ressorts fest. Sie enthielten Begriffspräzisierungen, konkretisierten den Geltungsbereich der Verordnung und regelten die Modalitäten der Ausnahmegenehmigung. So hatten Pharmahersteller ihren Anträgen

Angaben über die Bezeichnung, Zusammensetzung, Darreichungsform, Packungsgröße, Einzelgabe, Gebrauchsanweisung und Zweckbestimmung des Mittels mit etwaigen Unterlagen über die pharmakologische und klinische Wirkung beizufügen.

Runderlass RMI, 17.05.1943, in: MBliV 1943, Sp. 865, Zitate Sp. 867f.

Auch wenn der Gesundheitsverwaltung damit gewisse Richtlinien an die Hand gegeben waren, war der behördliche Ermessensspielraum letztlich nicht weiter begrenzt, denn ein Anspruch auf Ausnahmegenehmigung bestand nicht – mit Blick auf die Verwaltungsvorschriften verblieb das Handeln der Beamten zu wesentlichen Teilen in einem nur schwach normativierten Rahmen.

Über den Gegensatz zwischen wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Ansprüchen waren sich auch diejenigen Beamten klar, die die Stoppverordnung in der Praxis durchführten. Während die formale Erteilung von Zulassungs- und Ablehnungsbescheiden dem RMI oblag, fiel die (letztlich entscheidende) fachliche Prüfung und Beurteilung dem RGA zu, namentlich der Abteilung für Physiologie und Pharmakologie. Wie deren Leiter Gerhard Kärber (1901–1989) nach dem Krieg darlegte, habe das RGA die Prüfung als »gesundheitspolitische Aufgabe« gesehen.

Gerhard Kärber: Die Durchführung der Ministerratsverordnungen über die Herstellung von Arzneifertigwaren (1943–1945), in: PZ 1951, S. 376–382, hier S. 377.

Damit machten sich die Beamten des RGA, die in den Konkurrenzkampf zwischen Innenund Wirtschaftsressort nicht unmittelbar involviert waren,

So wies Kärber: Durchführung, S. 381, etwa darauf hin, dass die formale Erteilung der Bescheide durch das RMI für das RGA eine »gewisse Entlastung« brachte.

vor allem den ärztlichen Normhorizont zu eigen und wiesen die rein wirtschaftliche Auslegung der Verordnung als »befremdlich« zurück. Am ärztlichen Ideal einer medizinischen Objektivität festhaltend, nahm Kärber für das RGA in Anspruch, die Vorschriften »in wirklicher Unabhängigkeit, sorgfältig und sachkundig ausgeübt« und sich nicht zugunsten von Drittinteressen korrumpiert zu haben.

Kärber: Durchführung, S. 381. Nicht ohne unterschwelligen Stolz hob Kärber den »Ruhm der Unbestechlichkeit« hervor, den das RMI dem RGA attestiert habe (S. 377).

Allerdings musste Kärber einräumen, dass »die kriegswirtschaftlichen Gegebenheiten nicht unberücksichtigt« bleiben konnten. Von den über 100 noch während des Krieges beantragten Ausnahmegenehmigungen betrafen nicht wenige Ersatzpräparate, die unter ›normalen‹ Bedingungen eher nicht die Zustimmung des RGA gefunden hätten. Dass dieses aber mehr als die Hälfte der Anträge genehmigte, führte nun zu einer paradoxen Situation: Die Ausnahmegenehmigung wurde zur Regel und die Gesundheitsbehörden versagten nur bei offensichtlich nicht verkehrsfähigen Präparaten die Genehmigung. Dies sollte nach 1945 für weitere Probleme sorgen und zur Notwendigkeit beitragen, die Rechtslage mit einem Arzneimittelgesetz zu bereinigen.

Schluss

Die Arzneimittelregulierung im Deutschen Reich war zwischen 1871 und 1945 von tiefen Gegensätzen geprägt. Einerseits handelte es sich um ein Feld, auf dem von Beginn an ein enormer Reformbedarf gesehen wurde, weil ein grundlegender Wandel der pharmazeutischen Welt das zunächst noch vormoderne Regulierungsgefüge zusehends als unzulänglich erscheinen ließ. Andererseits gelang eine wirkliche Reform dieses Gefüges nicht, obwohl sich alle beteiligten Akteure über die Notwendigkeit einer Anpassung an die Strukturen des sich modernisierenden und industrialisierenden Pharmasektors im Klaren waren. Die Arzneimittelregulierung war und blieb dabei ein komplexes System, in dem verschiedene Akteure widerstreitende Ziele mit unterschiedlichen Mitteln verfolgten – also stets aus anderen normativen Kontexten heraus agierten. Dabei entfaltete sich vor allem ein normativer Grundantagonismus. Auf der einen Seite stand das gesundheitspolitische Normengebäude, das sich vornehmlich an medizinischen Maßstäben ausrichtete und insbesondere mit ärztlichen Argumenten operierte. Hiernach war die Volksgesundheit das oberste Gut, dessen Schutz nicht zuletzt durch eine striktere Regulierung erreicht werden sollte. Demgegenüber stand ein ökonomischmarktliberales Normengebäude, das seine rechtliche Entsprechung in der Gewerbefreiheit fand. Demnach war die Einschränkung von Arzneimittelherstellung und -abgabe nur insoweit akzeptabel, wie es unumgänglich notwendig war.

Auch wenn dieser Gegensatz durch querliegende Konfliktlinien (Reich vs. Länder, Fachamt vs. Regierungsbehörde, Schulmedizin vs. Alternativmedizin usw.) unterlaufen wurde, traten die Gesundheits- und die Wirtschaftspolitik mit ihren je eigenen Zielen und Ordnungslogiken als die beiden prägenden und weitgehend konstanten normativen Zugänge deutlich hervor. Freilich waren auch sie nicht scharf voneinander zu trennen. Typisch war vielmehr eine wechselseitige Durchdringung gesundheitspolitischer und wirtschaftlicher Maximen. Auch medizinischpharmazeutische Professionen argumentierten ökonomisch, wenn sie die Wirtschaftlichkeit ihrer Arbeit als unumgängliche Voraussetzung für medizinisch einwandfreies Handeln reklamierten. Umgekehrt argumentierten auch primär wirtschaftliche Akteure, namentlich die Drogisten und die Industrie, medizinisch, wenn sie betonten, dass (volks-)wirtschaftliche Ziele nur auf einem soliden gesundheitspolitischen Fundament zu verwirklichen seien.

Aufs Ganze gesehen, zeigten sich die Reichsbehörden mit dem administrativen Management dieses Normenund Interessenkonfliktes völlig überfordert. Dies galt vor allem für die gesetzesvorbereitende Verwaltung: das primäre Handlungsfeld der Reichsbürokratie. Diese folgte traditionell einer nachtwächterstaatlichen Regulierungslogik, nach der sich der Staat (auch) aus der Arzneimittelregulierung weitgehend herauszuhalten und diese den Fachkreisen zu überlassen hat. Damit einher ging eine konsensuale Ausrichtung des staatlichen Amtshandelns. Rechtliche Normsetzung sollte allein im Einklang mit den involvierten Fachkreisen erfolgen, ja bestenfalls nur Anregungen der Experten in Gesetze übertragen. Doch mit dem Wandel der pharmazeutischen Sphäre, insbesondere mit dem Aufkommen neuer, verstärkt wirtschaftlich orientierter Professionen (Drogisten, Industrie), kam es zu einem normativen Patt zwischen ökonomischen und medizinischen Maximen, der auch deshalb kaum aufzulösen war, weil sich beide Normativitäten gegenseitig durchdrangen. Eingewoben in diesen widersprüchlichen Anspruchskontext konnten die Reichsbehörden in ihrem traditionell passiven Rollenmodus kaum mehr adäquat auf die gegensätzlichen Normierungsansprüche reagieren. Dadurch wurde die bürokratisch-legislative Neuregelung des Arzneimittelwesens, obgleich dringend eingefordert, weitgehend gelähmt. Um einen Weg aus dieser regulativen Sackgasse zu finden, behalfen sich die Reichsbehörden zunächst damit, bestehende Regelungen zur Apothekenpflicht geringfügig zu modifizieren. Damit provozierten sie aber weiteren Widerstand und prolongierten den grundsätzlichen Normenkonflikt zwischen Gesundheit und Wirtschaft.

Das Ziel einer gesetzlichen Gesamtlösung war vor diesem Hintergrund kaum zu verwirklichen. Alle Versuche des RGA und des RMI, ein tragfähiges Arzneimittelgesetz zu schaffen, waren von dem Bemühen geleitet, es auf einen allseitigen Minimalkonsens zu gründen. Doch die verschiedenen Ziele und Ordnungsvorstellungen aller beteiligten fachlichen und staatlichen Akteure blieben derart widersprüchlich, dass man sich bei den Entwürfen nur zu einem Mantelgesetz durchringen konnte, das sich neben einigen Legaldefinitionen zentraler Begriffe auf Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen beschränkte. Damit sollte der rechtliche Status quo einstweilen beibehalten und nur behutsamevolutionär weiterentwickelt werden. Jedoch war den Versuchen, den disparaten Normierungsansprüchen mit Verwaltungsvorschriften und Rechtsverordnungen zu begegnen, kein Erfolg beschieden, zumal sich mit der Zeit auch die Vorstellungen in der Reichsbürokratie immer weiter auseinanderdividierten. Während das RGA als Gesundheitsbehörde eher der medizinischen Normativität verhaftet blieb, war das RMI eher auf einen Ausgleich mit der Wirtschaft bedacht, zumal sich seit den 1930er Jahren mit dem RWM ein mächtiger Akteur auf interministerieller Ebene einschaltete. Im NS-Regime kamen dann alternativmedizinische Ordnungsideen hinzu, die einen Regulierungskonsens zunächst in weite Ferne rückten. Erst die mit dem Weltkrieg verbundenen Regulierungszwänge ermöglichten dann 1942/43, was in den sieben Jahrzehnten zuvor stets gescheitert war: eine gesetzliche Regelung des Arzneimittelwesens außerhalb der Apotheken.

Nach 1945/49 sollte der Konflikt zwischen Wirtschafts- und Gesundheitspolitik in der Arzneimittelregulierung wiederaufflammen. Dies führte dazu, dass Bund und Länder an der rechtlich fragwürdigen Stoppverordnung von 1943 festhielten, weil sich eine rechtliche Gesamtlösung als nur schwer durchführbar erwies.

Die »Stoppverordnung« wurde am 08.01.1959 vom Bundesverfassungsgericht als nichtig erklärt, siehe: BVerfGE 9 (1959), S. 83. Zur Fortgeltung nach 1945 und den damit verbundenen Problemen: BArch, B 142/1432.

Dass 1961 dann ein Arzneimittelgesetz in Kraft trat, das bereits 1976 durch ein komplett neues Arzneimittelgesetz ersetzt wurde, war wesentlich anderen Faktoren zu verdanken: dem Prozess der europäischen Integration, der eine Harmonisierung nationaler Rechtsnormen verlangte, und dem Entstehen einer kritischen Laienöffentlichkeit, die angesichts diverser Medikamenten-Skandale (etwa Contergan) neue Handlungsimperative formulierte, indem sie vehement nach strikteren regulatorischen Eingriffen des Staates in das Arzneimittelwesen verlangte.

Lenhard-Schramm: Arzneimittelregulierung.