«Ein Unfall, eine Unachtsamkeit, ein falscher Schritt. Von einer Sekunde auf die andere ist nichts mehr so, wie es einmal war.» (Höllwerth, 2017, S. 25 zit. nach Hirsch et al., 2017). Diese Aussage beschreibt, wie die Ehefrau eines Betroffenen das Schädel-Hirn-Trauma erlebte. Als Folge einer Gewalteinwirkung auf den Kopf kann es zu einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) kommen. Dies führt zu einer Funktionsstörung und/oder Schädigung des Gehirns in Form einer Verletzung oder Prellung der Hirnstrukturen und/oder des Schädels (Firsching et al., 2015). Diese Verletzungen werden am häufigsten durch Stürze sowie durch Verkehrs-, Sport- und Arbeitsunfälle verursacht (FRAGILE Suisse, 2020; Hacke, 2016). Jährlich erleiden in der Schweiz pro 100›000 Einwohner 200 bis 300 Personen ein SHT (Swiss Neurological Society, o. J.). Die Inzidenz für ein SHT ist im frühen Erwachsenenalter durch Verkehrsunfälle und im höheren Alter durch das zunehmende Sturzrisiko erhöht (Sendroy-Terrill et al., 2010). Das SHT zählt in Europa zu den Hauptursachen für Todesfälle und Beeinträchtigungen. Einen Einfluss auf die Inzidenz und den Behandlungserfolg bei einem SHT haben zudem die ökonomische Situation, soziale Ressourcen sowie darauffolgende therapeutische Möglichkeiten (Röhrer, 2015). Das Ausmass der Einschränkung ist je nach Schweregrad des SHT verschieden. Um welchen Schweregrad es sich bei einem SHT handelt, wird üblicherweise mit der Glasgow-Coma-Scale (GCS) eingeschätzt, wobei in leichtes SHT (lSHT; 13–15 Punkte), mittleres SHT (mSHT; 9–12 Punkte) und schweres SHT (sSHT; 3–8 Punkte) unterteilt wird (Firsching et al., 2015; Hacke, 2016).
Zur Behandlung und Therapie von SHT im Akut- und Rehabilitationsbereich gibt es bereits Leitlinien – im Gegensatz zum poststationären Langzeit-Setting, (Bayley et al., 2018; Firsching et al., 2015). Die neurologische Rehabilitation wird in die Rehabilitationsphasen A bis F unterteilt (Wallesch et al., 2005). Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf Interventionsansätzen bei mittlerem und schwerem SHT (msSHT) im poststationären Setting, was den Rehabilitationsphasen E und F von Wallesch et al. (2005) entspricht. Die Phase E fokussiert auf die berufliche Wiedereingliederung der Betroffenen. Zu bestehenden Therapien aus der Akut- und Rehabilitationsphase können arbeitsrehabilitative Leistungen, wie Fortbildungen, Umschulungen, begleitete Hilfe am Arbeitsplatz sowie Arbeits- und Berufsförderung hinzukommen (Reuther et al., 2012; Wallesch et al., 2005). Therapien der Phase F betreffen den Erhalt von Funktionen sowie die Verminderung von Spätfolgen bzw. die Vermeidung von sekundären Komplikationen (Wallesch et al., 2005).
Zu den von Hartmann und Sanchez Camacho (2021) erfassten Einschränkungen der Langzeitfolgen von msSHT gehören u. a. verminderte Belastbarkeit und erhöhte Müdigkeit. Müdigkeit, welche nicht nur auf Schlafentzug oder körperliche Anstrengung und Stress zurückzuführen ist, ist pathologisch (Finsterer & Mahjoub, 2014) und wird in der vorliegenden Arbeit als Fatigue bezeichnet. Das markanteste Anzeichen für Fatigue ist ein nicht erholsamer, nicht regenerierender Schlaf. Fatigue zeichnet sich durch anhaltende, unüberwindbare Gefühle mentaler und/oder physischer Erschöpfung aus und betrifft meist den ganzen Körper. Dieses Gefühl der Erschöpfung mindert die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit der Betroffenen (Lorenzen, 2010). Fatigue kann sowohl nicht-neurologische als auch neurologische Ursachen haben, resultierend aus Störungen des peripheren und zentralen Nervensystems (Finsterer & Mahjoub, 2014). Fatigue ist eine häufige Folge von chronischen Erkrankungen, wie Krebs, sowie chronischen Beeinträchtigungen des Nervensystems, z. B. Multiple Sklerose, Schlaganfall und SHT (Lorenzen, 2010).
Die Inzidenz von Fatigue nach Schädel-Hirn-Traumata, im Englischen Post Traumatic Brain Injury Fatigue (PTBIF) beträgt bis zu 73 %, wobei nicht abschliessend geklärt ist, welche Faktoren zu PTBIF führen (Mollayeva et al., 2014). Fatigue muss multidimensional betrachtet werden, da emotionale und motivationale Faktoren wie Angst, Depression und Schlaf sowie kognitive und physische Faktoren zu beachten sind (Beaulieu-Bonneau & Ouellet, 2017). Zudem ist Fatigue ein subjektives Phänomen (Beaulieu-Bonneau & Ouellet, 2017), welches objektiv schwer nachweisbar ist (Ziino & Ponsford, 2005), da objektive kognitive Einschränkungen nur geringfügig mit subjektivem Empfinden zusammenhängen (Azouvi et al., 2004). Aus physiologischer Sicht können Schäden am Gehirn zu einem höheren Energieverbrauch führen (Ziino & Ponsford, 2005). Eine mögliche Erklärung für Fatigue ist die Coping-Hypothese (van Zomeren & van den Burg, 1985). Diese besagt, dass die mentale Informationsverarbeitung aufgrund reduzierter Aufmerksamkeitsressourcen länger dauert (Azouvi et al., 2004). Durch das verminderte Energielevel ist die Performanz auch bei automatisierten, einfachen Aufgaben eingeschränkt, weshalb Fatigue im Alltag ein allgegenwärtiges Problem darstellt (Azouvi et al., 2004). Dies wirkt sich auf das Wohlbefinden, die Lebensqualität und den gesamten Lebensstil der Betroffenen aus (Belmont et al., 2009; Ouellet & Morin, 2006). Fatigue nach msSHT zeigt einen signifikanten langfristigen Effekt: Nach zwei Jahren berichten knapp 70 %, nach zehn Jahren knapp 55 % der Betroffenen von Fatigue (Ponsford et al., 2014). Zudem besteht in Bezug auf das erste Jahr nach einem SHT die Tendenz, dass Fatigue nach mSHT stabil bleibt, während sich bei sSHT eine Zunahme zeigt. Fatigue kann durch das steigende Aktivitätslevel und durch die zunehmende Krankheitseinsicht verstärkt werden, da den Betroffenen die Veränderungen im Alltag vermehrt bewusst werden (Beaulieu-Bonneau & Ouellet, 2017).
In den Leitlinien für die Akut- und Rehabilitationsphase nach msSHT sind Interventionsansätze für Fatigue nach SHT enthalten (Bayley et al., 2018). Im Anschluss an die stationäre Versorgung mangelt es jedoch an spezifischen Interventionen bzw. Interventionsansätzen für Fatigue nach msSHT, da diverse Studien alle drei Schweregrade des SHT miteinbeziehen (Blake & Batson, 2009; Cantor et al., 2014; Kolakowsky-Hayner et al., 2017; Raina et al., 2016). Um klare Aussagen zu potenziellen Interventionen bzw. Interventionsansätzen für Personen mit Fatigue nach msSHT machen zu können, sollen präzisere Einschränkungen bzgl. Zeit seit der Verletzung und Schweregrad gemacht werden (Cantor et al., 2014). Diese Interventionen sollen durch das interprofessionelle Team umgesetzt werden, was zu besseren Behandlungsergebnissen beiträgt (Evans et al., 2008; Levine & Flanagan, 2010). In der vorliegenden Arbeit umfasst das interprofessionelle Team das ärztliche, ergotherapeutische, logopädische, pflegerische, physiotherapeutische und neuropsychologische Fachpersonal. Die interprofessionelle Arbeit kann durch ein gemeinsames Sprachverständnis, welches die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) (vgl. Abb. 1) ermöglicht, unterstützt werden (World Health Organization (WHO), 2005). Um die relevantesten Aspekte der ICF von bestimmten Krankheitsbildern zusammenzufassen, werden fortlaufend ICF Core Sets entwickelt. In der vorliegenden Arbeit wird nebst der allgemeinen ICF auch Bezug zum Core Set für SHT genommen (ICF Research Branch, 2017).
Übersicht der Wechselwirkungen der ICF-Komponenten.
Durch die verschiedenen Komponenten der ICF ist es möglich, die Schwierigkeiten und Ressourcen von Betroffenen zu analysieren, zu strukturieren und Interventionsansätze für das interprofessionelle Team aufzuzeigen (WHO, 2005). Das Ziel ist somit anhand der ICF Interventionsansätze für Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeitbereich aufzuzeigen. Die zentrale Frage lautet: «Welche interprofessionellen Interventionsansätze gibt es bei Menschen mit Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeitbereich?»
Die Fragestellung wird anhand eines systematischen Literaturreviews beantwortet. Um die für die Fragestellung relevanten Keywords und Synonyme zu sinnvollen Suchkombinationen zusammenzusetzen (vgl. Tabelle 1), wurde eine Proberecherche durchgeführt. Zur Überprüfung aller relevanten Keywords wurde die Indexsuche auf PubMed genutzt.
Keywordtabelle.
Schädel-Hirn-Trauma | (mittleres/schweres) SHT, Gehirnverletzungen | (severe/moderate) traumatic brain injury, traumatic brain injur*, tbi, brain injury, head injury |
Fatigue | Müdigkeit, Ermüdung, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Verminderte Belastbarkeit | Fatigue, mental fatigue, physical fatigue |
Langzeitfolgen | Nicht stationär, Alltag, Lebensqualität | Longterm, longterm therapy, longterm treatment chronic, outcome, home treatment |
Interventionen | Therapie | Intervention, intervent* treatment, therapy, therap* strategies, strateg*, home treatment * |
Daraufhin wurden die definitiven Suchkombinationen und die endgültigen Ein- und Ausschlusskriterien definiert, um eine aussagekräftige Antwort auf die Fragestellung zu ermöglichen. Die Publikationen sollen Interventionsmöglichkeiten für Fatigue nach einem msSHT im poststationären Langzeit-Setting enthalten. Hartmann und Sanchez Camacho (2021) belegten mit ihrer Inhaltsanalyse, dass Überlebende von msSHT auch nach ihrem stationären Rehabilitationsaufenthalt noch mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert sind. Entsprechend dieser Ergebnisse wurden nur Studien eingeschlossen, welche sich mit dem poststationären Zeitraum bzw. den Rehabilitationsphasen E und F nach Wallesch et al. (2005) befassen. Der Fokus auf Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeit-Setting wird auch durch die Forderung von Cantor et al. (2014) nach einer spezifischeren Eingrenzung bzgl. Schweregrade des SHT und Zeit seit dem Ereignis unterstützt. Zusätzlich erfolgt eine Fokussierung auf erwachsene Personen, da gemäss der Leitlinie für SHT im Kindesalter Unterschiede zwischen SHT im Erwachsenen-, Jugend- und Kindesalter bestehen. Diese Unterschiede basieren auf altersabhängigen metabolischen Voraussetzungen, Verletzungsmechanismen und Körper-Kopf-Proportionen (Jorch et al., 2011). Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit werden der Fragile Suisse, einer schweizerischen Organisation für Menschen mit Hirnverletzungen und deren Angehörige, zur Verfügung gestellt. Deshalb werden nur Studien aus Ländern mit einem ähnlichen soziodemografischen Hintergrund wie die Schweiz inkludiert. Aufgrund von Sprachkenntnissen wird lediglich deutsch-und englischsprachige Literatur inkludiert.
Die systematische Literaturrecherche wurde von den Verfasserinnen unabhängig voneinander im Zeitraum zwischen dem 06.12.2019 und 05.02.2020, mithilfe der medizinischen Datenbanken CINAHL, PubMed, Medline, Cochrane Library, PsycINFO, Web of Science, AMED und OTseeker, durchgeführt. Dieser Prozess ist in Abb. 2 anhand eines Flussdiagramms dargestellt sowie im Rechercheprotokoll (
Systematische Literaturrecherche.
Während der Recherche wurden die Publikationen unter Anwendung der Ein- und Ausschlusskriterien anhand des Titels und ggf. des Abstracts beurteilt, wobei die relevanten Treffer im Rechercheprotokoll festgehalten wurden. Das Abstract der Publikation wurde hinzugezogen, falls der Titel nicht aussagekräftig genug war. Im Verlauf der Datenbankrecherche sowie bei der Datenauswertung nach Abschluss der Recherche zeigte sich, dass ab der Suchkombination 1 in der Datenbank AMED keine neuen Publikationen mehr gefunden werden konnten, womit eine Datensättigung erreicht wurde.
Der Selektionsprozess beinhaltete ein kritieriengeleitetes Screening von Titel, Abstract und Methdoenteil. Hinsichtlich der Ein-Ausschlusskriterien konnten 15 Studien zur Volltextanalyse inkludiert werden. Diese wurden von J. B. und F. L unabhängig voneinander gelesen und hinsichtlich der Ein-/Ausschlusskriterien überprüft. Die Endselektion wurde im Rahmen eines Konsensusprozesses durchgeführt.
Die kritische Studienwürdigung wurde mittels Law et al. (1998) durchgeführt.
Die aus den Studien extrahierten Informationen wurden der ersten und zweiten Ebene des ICF-Core Sets für SHT zugeordnet, was einer deduktiven inhaltsanalytischen Vorgehensweise entspricht. Inhlate, welche dem Core Set nicht zugeordnet werden konnten wurden in zusätzliche Domänen bzw. Kategorien der gesamten ICF zugeordnet.
Anhand der definierten Ein- und Ausschlusskriterien konnten vier quantitative Studien eingeschlossen werden. Diese werden in den folgenden Abschnitten kritisch beleuchtet, wobei die Gütekriterien (Law et al., 1998; Onwuegbuzie & McLean, 2003; Raithel, 2008), detailliert beschrieben in, beurteilt werden. Ebenfalls wird das Evidenzlevel anhand der SIGN-Klassifikation (Windeler, 2008) eingeschätzt.
Eine Übersicht über die inkludierten Studien zeigt Tabelle 2.
Charakteristika der Inkludierten Studien (N=4).
Inhalte | Beaulieu-Bonneau & Morin (2012) fatigue, and sleep, and explore correlates of sleepiness and fatigue separately for each group.\nMethods\ nParticipants were 22 adults with moderate/severe TBI (time since injury >1 year; mean=53.0±37.1 months | Lequerica et al. (2017) yet little is known about its persistence and resolution. The objective of the study was to identify factors related to PTBIF remission and resolution. TBI Model System registrants at five centres participated in interviews at either one and two years post-injury (Y1-2 Cohort | Quera Salva et al. (2019) | Schnieders et al. (2012) |
Land | Kanada | USA | Frankreich | Niederlande |
Studiendesign / Messzeitpunkte | Fall-Kontroll-Studie; Datenerhebungen an zwei Tagen, einmalige Durchführung der Assessments | Kohortenstudie; Durchführung der gleichen Assessments an zwei verschiedenen Zeitpunkten: Y1-2: Durchführung bei einem und zwei Jahren nach SHT Y2-5: Durchführung bei zwei und fünf Jahren nach SHT | Randomised Controlled Trial (RCT); Datenerhebungen zu Beginn der Behandlung, nach 2 Wochen, nach 4 Wochen, Behandlungsende sowie 2 Wochen nach Behandlungsende, Nutzung der gleichen Assessments zu jedem Zeitpunkt | Fall-Kontroll-Studie; Durchführung eines Assessments (CIS-20R) vor Inklusion der Teilnehmenden im Rahmen des Rekrutierungsprozesses (n=332); Einmalige Durchführung der Assessments am Datenerhebungstag |
Inhalte | Beaulieu-Bonneau & Morin (2012) fatigue, and sleep, and explore correlates of sleepiness and fatigue separately for each group.\nMethods\ nParticipants were 22 adults with moderate/severe TBI (time since injury >1 year; mean=53.0±37.1 months | Lequerica et al. (2017) yet little is known about its persistence and resolution. The objective of the study was to identify factors related to PTBIF remission and resolution. TBI Model System registrants at five centres participated in interviews at either one and two years post-injury (Y1-2 Cohort | Quera Salva et al. (2019) | Schnieders et al. (2012) |
Stichprobe/Rekrutierung | n=44 (SHT-Gruppe n=22, gematchte Kontrollgruppe n=22) msSHT, 18–65 Jahre alt; SHT-Gruppe: rekrutiert aus Krankenakten, Empfehlungen von Fachpersonen einer lokalen Rehabilitationseinrichtung, Kontakte einer regionalen Gesellschaft für SHT; Betroffene Kontrollgruppe: rekrutiert durch persönliche Empfehlungen, andere Studien, Aushänge in Bildungs-& Gesundheitszentren; Fachpersonen blind für SHT-/Kontrollgruppe | n=79 (Y1-2 n=47, Y2-5 n=32) msSHT, 16–65 Jahre alt; Rekrutierung der Teilnehmenden aus einer nationalen medizinischen Datenbank | n=20 (Interventionsgruppe n=10, Kontrollgruppe n=10) randomisierte Zuteilung, Fachpersonen gegenüber der Zuteilung verblindet; sSHT, 18–65 Jahre alt; Rekrutierung der Teilnehmenden von Teilnehmerlisten von poststationären Rehabilitationsangeboten zweier Rehabilitationskliniken einer Stadt | n=90 (Fatigue Gruppe (F): n=48, keine Fatigue Gruppe (NF): n=42) Einteilung in F-/NF-Gruppen anhand des CIS-20R vor Inklusion, randomisierte Auswahl für die definitive Rekrutierung, Anfrage von je 50 Personen msSHT, 18–65 Jahre alt; Rekrutierung der Teilnehmenden aus einer Datenbank einer auf SHT spezialisierten Rehabilitationsklinik |
Langzeitaspekt/poststationär | mind. 1 Jahr nach Ereignis, poststationär | mind. 1 Jahr nach Ereignis, poststationär | mind. 6 Mt. poststationär, zu Hause lebend | poststationär seit mind. 1 Jahr |
Setting | zwei Untersuchungstage; beide an einem Schlafzentrum, Schlaftagebuch zuhause für 14 Tage | Die Teilnehmenden unterzogen sich an jeweils einer der insgesamt fünf Rehabilitationskliniken den Assessments | Intervention wird zu Hause durchgeführt; Assessments in Besprechungen mit ärztlichem Fachpersonal, Ort unbekannt | 2-tägige Erhebungsprozedur, Ort unbekannt |
Inhalte | Beaulieu-Bonneau & Morin (2012) fatigue, and sleep, and explore correlates of sleepiness and fatigue separately for each group.\nMethods\ nParticipants were 22 adults with moderate/severe TBI (time since injury >1 year; mean=53.0±37.1 months | Lequerica et al. (2017) yet little is known about its persistence and resolution. The objective of the study was to identify factors related to PTBIF remission and resolution. TBI Model System registrants at five centres participated in interviews at either one and two years post-injury (Y1-2 Cohort | Quera Salva et al. (2019) | Schnieders et al. (2012) |
In allen vier Studien wird das Vorgehen nachvollziehbar beschrieben und relevante Einflussfaktoren werden berücksichtigt. Zur Datenerhebung werden gängige sowie reliable und valide Assessments eingesetzt. Zudem weist die Studie von Schnieders et al. (2012) eine vergleichsweise grosse Stichprobe auf. In anderen Studien wird die Stichprobengrösse auf eine Sample Size Calculation abgestützt (Quera Salva et al., 2019) und multi-zentrisch durchgeführt (Lequerica et al., 2017). Die inkludierten Studien unterscheiden sich jedoch auch in verschiedenen Aspekten, welche in Tabelle 2 ersichtlich sind.
Die Ergebnisse der inkludierten Studien werden im folgenden Abschnitt mittels des ICF Core Sets für SHT dargestellt, z. B. (
ICF-Codierungen.
Menschen nach msSHT zeigen im Alltag, verglichen mit gesunden Personen, signifikant stärkere Fatigue (
Betroffene nach msSHT zeigen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit in Bezug auf das Gehirn, langfristig medizinisch beeinträchtigt zu sein (
Beaulieu-Bonneau und Morin (2012) empfehlen eine angemessene Aufklärung über Risiken und Vorteile der verschiedenen Kompensationsstrategien für Fatigue (
Medikamente werden, im Vergleich mit gesunden Personen, signifikant mehr von Menschen nach einem msSHT (
Ergebnisse aus den inkludierten Studien, welche nicht in das ICF Core Set für SHT eingeordnet werden konnten, werden im folgenden Abschnitt durch weitere ICF-Kategorien ergänzt (vgl. Abb. 3) (WHO, 2005).
Die Prävalenz von Vitamin-D-Mangel bei Menschen mit Fatigue nach msSHT ist signifikant höher (
Personen mit Fatigue nach msSHT weisen im Vergleich mit Personen nach msSHT ohne Fatigue einen vermeidenden Bewältigungsstil (
Ein weiterer Einflussfaktor ist Licht (
Die Beurteilung der Gütekriterien (vgl. Tab. 3) zeigt, dass sich die inkludierten Studien in ihrer Reliabilität sowie in der internen und externen Validität unterscheiden. Die Einschätzung wird damit begründet, dass die Studiendesigns (Beaulieu-Bonneau & Morin, 2012; Lequerica et al., 2017; Schnieders et al., 2012) bzw. die Beschreibung der Studienausführung (Quera Salva et al., 2019) auf unterschiedlich hohe Biasrisiken hinweisen. In Bezug auf die interne Validität wird in Beaulieu-Bonneau und Morin (2012) eine Wechselwirkung zwischen zwei Einflussfaktoren (Koffein und Medikamente) erkannt, bei welcher die Richtung der Verzerrung unbekannt ist. Dies wird jedoch nicht in die statistische Auswertung einbezogen. Weitere Biasrisiken sind Alphafehler-Kumulierungen, welche Lequerica et al. (2017) und Schnieders et al. (2012) mit der Bonferroni-Korrektur umgangen haben. Ein Großteil der genutzten Assessments (vgl. Tab. 2) sind Fragebögen bzw. Formulare, welche die Teilnehmenden selbst ausfüllen, was aufgrund der Subjektivität ein erhöhtes Biasrisiko birgt. In Anbetracht der durch die PTBIF verursachten Symptome besteht zudem die Frage, ob die Vielzahl an Assessments die Ergebnisse negativ beeinflusst, da durch deren Menge die Symptome verstärkt werden können. Weitere potenzielle Einflussfaktoren sind Ko-Interventionen. Diese sowie die Informationen, welche die Kontrollgruppe betreffen, sind in Quera Salva et al. (2019) unbekannt. In Bezug auf die externe Validität aller Studien ist anzumerken, dass die Studienergebnisse nicht verallgemeinerbar sind, da nur ein Bezug auf bestimmte Rehabilitationskliniken erfolgte (vgl. Tab. 2). Aufgrund dieser Faktoren wird das Evidenzlevel, wie in Tab. 3 ersichtlich, eingeschätzt.
Gütekriterien und Evidenzniveau.
Objektivitäta | ✓ | ✓ | ±e | ✓ |
Reliabilitätb | ✓ | ✓ | ±e | ✓ |
Interne Validitätc | × | ± | ±e | ± |
Externe Validitätc | ✓ | ✓ | ±e | ✓ |
Evidenzlevel nach der SIGN-Klassifikationd | 2− | 2++ | 1− | 2+ |
Das Ziel des vorliegenden systematischen Literaturreviews ist es, anhand von Studien Interventionsansätze bei Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeit-Setting aufzuzeigen. Die Erkenntnisse aus den inkludierten Studien wurden in die ICF eingeordnet, um Interventionsansätze für das interprofessionelle Team aufzuzeigen. Alle Studien können signifikante Effekte nachweisen (vgl. Tab. 2). Es zeigt sich, dass Fatigue die Partizipation im Alltag einschränkt und über längere Zeit hinweg bestehen bleibt. Fatigue weist signifikante Zusammenhänge mit Schlafstörungen, Depressionen, Ängsten und Vitamin-D-Mangel auf.
Aufgrund des Zusammenhangs zwischen Fatigue nach msSHT und einer schlechteren Schlafqualität (Schnieders et al., 2012) könnten Strategien für Schlafstörungen ebenfalls für das Fatigue-Management angewendet werden (Nguyen et al., 2017) (
Interventionsansätze bei Fatigue nach msSHT im poststationären Setting.
Im Rahmen der systematischen Recherche konnte nur eine kleine Anzahl relevanter Studien gefunden werden (N=4). Die Studien unterscheiden sich zudem stark in ihrer Methodik (analytische Beobachtungsstudien [n=3], Interventionsstudie [n=1]) und weisen meist relativ kleine Stichproben, unterschiedliche Messmethoden und -instrumente auf. Die Ergebnisse der Studien sind somit nicht repräsentativ. Dies zeigt sich ebenso anhand der Beurteilung der Gütekriterien, denn durch die Studiendesigns entstehen u. a. hohe Biasrisiken, weswegen die externe Validität sowie teilweise die interne Validität der Studien eingeschränkt ist. Infolge der angewandten Methodik in den Studien bietet die vorliegende Arbeit lediglich Interventionsansätze, weswegen auch keine abschliessenden Implikationen für die Praxis möglich sind. Somit werden Interventionsstudien spezifisch für Betroffene mit Fatigue nach msSHT benötigt. Diese sollen zudem verstärkt auf den Langzeiteffekt von Fatigue nach msSHT fokussieren. Hinzukommt, dass die Berufsgruppen des interprofessionellen Teams unterschiedlich stark in der Evidenz vertreten sind und z. B. in der vorliegenden Arbeit keine Implikationen für die Berufsgruppe «Pflege» möglich sind. Des Weiteren kann es sein, dass trotz der vertieften Recherchen nicht alle relevanten Studien gefunden wurden. Aufgrund der Sprachkenntnisse und der zur Wahl stehenden Datenbanken wurden schlussendlich nur englischsprachige Studien einbezogen, wodurch die Auswahl noch zusätzlich eingeschränkt wurde.
Wie bereits zu Beginn der vorliegenden Arbeit erwähnt, mangelt es an spezifischen Studien bzgl. Interventionen bei Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeitbereich. Viele Studien fokussieren sich auf Fatigue nach SHT, ohne die Schweregrade des SHT zu berücksichtigen. Deren Ergebnisse bzgl. geeigneter Interventionen sowie die Studienergebnisse, welche den Fokus auf Fatigue nach anderen Diagnosen wie Schlaganfall, Multiple Sklerose oder Krebs haben, sollten spezifisch für Fatigue nach msSHT geprüft werden. Zudem fehlt es an Studien mit hohem Evidenzniveau (z. B. RCTs, Metaanalysen), um die formulierten Interventionsansätze und Interventionen für msSHT evidenzbasiert überprüfen zu können. Daraus resultierende Ergebnisse sollen als Guideline formuliert zusammengetragen werden und nach Evidenzniveau klassifiziert werden. Ein weiterer Gedanke wäre die Entwicklung eines Core Sets für PTBIF, da in der vorliegenden Arbeit ICF Komponenten gefunden wurden, die nicht im SHT Core Set vertreten sind. Weiter stellt sich die Frage nach einer einheitlichen Sammlung an Assessments zur zuverlässigen Erhebung von Fatigue nach SHT, da in den gefundenen Studien zahlreiche Assessments verwendet wurden und es keine spezifischen Assessments für PTBIF zu geben scheint.
Die vorliegende Arbeit zeigt, dass Fatigue nach msSHT den Alltag der Betroffenen im poststationären Langzeitsetting signifikant einschränken kann und damit die Lebensqualität vermindert. Einschränkungen zeigen sich in verschiedenen Aspekten, z. B. in der Tagesroutine der Betroffenen und in den Bereichen Partizipation und Produktivität. Um die Symptome von Fatigue nach msSHT zu evaluieren, könnten regelmässige Erhebungen, z. B. anhand eines Schlaftagebuchs, sinnvoll sein, da auf diese Weise ein Verlauf sichtbar wird, welcher als Grundlage für nachfolgende Interventionen genutzt werden könnte. Zudem sollten andere potenziell zugrunde liegende bzw. zusammenhängende Erkrankungen, wie Schlafstörungen, Depressionen, Ängste, Vitamin-D-Mangel und endokrine Ursachen, erfasst und behandelt werden. Bei den Interventionsansätzen für Fatigue nach msSHT gibt es medikamentöse wie auch nicht-medikamentöse Möglichkeiten, welche angewendet werden können. Zu den nicht-medikamentösen Möglichkeiten für Fatigue nach msSHT zählen bisher Kompensationsstrategien, Strategien zum Energiemanagement, z. B. Ruhezeiten- und Schlafoptimierung, sowie die tägliche Lichttherapie mit blau angereichertem weissem Licht. Um diese Interventionen umzusetzen, wird eine interprofessionelle Zusammenarbeit des ergotherapeutischen, physiotherapeutischen, pflegerischen, logopädischen, neuropsychologischen und ärztlichen Fachpersonals benötigt. Wie im Diskussionsteil der vorliegenden Arbeit ersichtlich, gibt es zahlreiche weitere Ansatzpunkte für das interprofessionelle Team. Diese zusätzlichen Interventionsansätze müssen jedoch zuvor noch für Fatigue nach msSHT im poststationären Setting überprüft werden. Somit bestehen noch keine abschliessenden Erkenntnisse für Interventionsmöglichkeiten bei Fatigue nach msSHT im poststationären Langzeit-Setting.