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Bericht: Deutsche und französische Schulen in der Corona-Pandemie

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SYMPOSIUM CULTURE@KULTUR
Vom Umgang mit Krankheit im öffentlichen Raum. Ein internationaler Blick. De la gestion de la maladie dans l’espace public.Un regard international

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Seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es in allen betroffenen Ländern heftige, öffentlich geführte Debatten nicht nur über Form und Inhalt der zur Bewältigung dieser Krise getroffenen Maßnahmen, sondern auch über deren medizinische Sinnhaftigkeit und demokratische Legitimation. Die rasche, in manchen Staaten bzw. Regionen offensichtlich unkontrollierbare Ausbreitung des Corona-Virus zu Beginn der Pandemie stellte die politisch Verantwortlichen insbesondere in den pluralistisch-liberalen Gesellschaften vor die Schwierigkeit, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der in einem Rechtsstaat unabdingbaren Wahrung und dem Schutz von individuellen Freiheitsrechten auf der einen Seite und der Notwendigkeit, eben diese Freiheitsrechte mit dem Verweis auf die drohende Gefahr für die individuelle Gesundheit und die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt einzuschränken. Bei den Eingriffen in diese Freiheitsrechte sind Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen und deren demokratische Legitimation unverzichtbare Bedingungen rechtsstaatlichen Handelns und der Akzeptanz der Maßnahmen durch die Bevölkerung, und damit auch für die Wirksamkeit der Maßnahmen.

In der Bewältigung der Pandemie kam bzw. kommt dem Bildungssystem und dessen Resilienz besondere Bedeutung zu. Die praktisch zeitgleich in den meisten betroffenen Ländern vorgenommenen umfassenden Schulschließungen zu Beginn der Pandemie stellten schwerwiegende Eingriffe in ein ebenso komplexes wie sensibles gesellschaftliches Subsystem dar, deren kurzfristige Folgen zum damaligen Zeitpunkt kaum abgeschätzt werden konnten und deren langfristige Auswir-kungen für alle betroffenen Akteure weiterhin Gegenstand von pädagogischen und bildungspolitischen Debatten bleiben. In den nachfolgenden Ausführungen sollen anhand eines zwangsläufig synthetischen und vorläufigen Vergleichs Erfahrungen aus dem deutschen und dem französischen Umgang mit der Pandemie in den Schulen thematisiert werden. Dabei können im Rahmen dieses Beitrags notwendiger-weise nur sehr thesenhaft zwei Analyseebenen thematisiert werden. Zum einen die Auswirkungen auf das pädagogische Geschehen in den Schulen und die neuen Formen des Lernens und Unterrichtens mithilfe digitaler Techniken, die massiv zum Einsatz gekommen sind und alle Akteure der Schulge-meinschaft vor gewaltige Herausforderungen gestellt haben. Zum anderen die Ebene des politischen Managements des Gesamtsystems Schule, eine Frage in der sich Frankreich und Deutschland traditionell und nicht nur im Management von die Schulen betreffenden Krisen unterscheiden. Es soll gefragt werden, ob trotz der sehr unterschiedlichen Organisation der beiden Schulsysteme die Pandemie durchaus vergleichbare, aber natürlich auch spezifisch nationale Schwächen und Probleme einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht hat und die Leistung von Schule für die Kinder und Jugendlichen, wie für die Gesellschaft insgesamt neu bewertet werden muss mit allen aus dieser Erkenntnis sich ergebenden pädagogischen und bildungspolitischen Konsequenzen.

DIE PANDEMIE ALS DIGITALISIERUNGSSCHUB IN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN SCHULEN

Die Pandemie war in dieser Beziehung nicht nur Anlass für die bereits angesprochenen öffentlichen Debatten, sondern auch für in beiden Ländern kurzfristig aufgelegte Forschungsprojekte bzw. Bestandsaufnahmen zur Messung der Auswirkungen der mit den Schulschließungen einhergehenden ebenso plötzlichen wie notwendigen Umstellung auf neue Formen des Unterrichtens und Lernens und des sozialen Miteinanders. Dabei geht es nicht nur um durch das Homeschooling verursachte Lernrückstände, die in beiden Ländern festzustellen waren.1 Für Kinder und Jugendliche ist Schule auch ein zentraler Ort für ihre Persönlichkeitsentwicklung, für soziale Interaktionen, für körperliche Aktivität und für ihr psychisches Wohlbefinden. Darauf weist eine vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung herausgegebene Studie hin, in der der deutsche und internationale Forschungsstand zu den Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie rezipiert wird. Danach lassen sich neben den Lernrückständen vier weitere Dimensionen von Belastungen feststellen: psychische Gesundheit, körperliche Gesundheit, Gewalterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung (Bujard et al. 2021: 23ff). Auf die eminent wichtige Bedeutung gerade auch der ausserunterrichtlichen Aktivitäten in der Schule (Klassenfahrten, Schulkantine, freiwillige zusätzliche Arbeitsgemeinschaften, Pausengestaltung, etc.) für das Erlernen des Umgangs mit anderen Mitschülern und mit Erwachsenen verweist auch der französische Soziologe François Dubet2 der sich in seinen Forschungen sehr intensiv mit Chancengleichheit im französischen Bildungssystem beschäftigt hat. Er bedauert, dass in Frankreich stärker als in anderen Ländern der Auftrag der Schule auf die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen für die meritokratische Auslese reduziert werde, und die außerunterrichtlichen Aktivitäten, die wichtige, mit anderen Schülern geteilte Sozialisationserfahrungen für die Persön-lichkeitsbildung des Kindes und des Jugendlichen sind, als activités périscolaires (auch von Teilen des Lehrpersonals) geringgeschätzt würden und im Wesentlichen eigens dafür zuständigem Personal der vie scolaire überlassen würden. Gerade diese Aktivitäten und Erfahrungen hätten vielen Kindern und Jugendlichen aber in der Pandemie gefehlt und dieser Verlust dürfte ebenso schwer wiegen wie die feststellbaren Lernrückstände.

Wie zahlreiche Studien, in jüngerer Zeit insbesondere die internationalen Vergleichsstudien wie PISA, gezeigt haben, ist der Schulerfolg schon vor der Pandemie in beiden Ländern stark abhängig von der sozialen Herkunft. Besonders benachteiligt sind dabei Kinder und Jugendliche, die sich in einer bzw. mehreren Risikolagen befinden (alleinerziehende Elternteile, Kinder und Jugendliche aus armutsgefährdeten Elternhäusern, Kinder mit Migrationshintergrund etc). Unmittelbar im Zusammenhang mit der Umstellung auf Distanzunterricht äußerten daher nicht nur Bildungsforscher, sondern gerade auch die direkt betroffenen Akteure (Schüler, Eltern und pädagogisches Personal) in zahlreichen Umfragen die Befürchtung einer Verstärkung der ohnehin schon bestehenden sozialen Ungleichheiten im Zugang zu Bildungschancen. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland waren Schulen, Lehrer, Schüler und Eltern wenig gerüstet für die plötzliche Umstellung auf enseignement à distance bzw. homeschooling. Wie eine von der Max-Traeger-Stiftung und der Walter Hesselbach BGAG-Stiftung unterstützte und im Juni 2021 veröffentlichte Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zeigt, war der Nachholbedarf an entspre-chender technischer Ausrüstung in den deutschen Schulen im europäischen Vergleich besonders hoch. „Europäische Lehrkräfte setzten bereits 2013 digitale Medien zu 30% und 2018 zu 48% täglich im Unterricht ein. In Deutschland setzten digitale Medien 2013 nur 9% und 2018 nur 23% der Lehrkräfte täglich ein – also ein Drittel bzw. die Hälfte des Vergleichs-werts. Nach eigener Einschätzung war dieser Anteil bis zum Jahresbeginn 2020 bereits auf 39% gestiegen, aktuell dürfte der tägliche Einsatz bei 68% liegen” (Georg-August-Universität Göttingen 2021). Nicht nur bei Ausbruch der Pandemie, sondern auch Mitte 2021 lag die digitale Ausstattung der deutschen Schulen somit noch unter dem europäischen Durchschnitt. Dieser Befund wird durch den von der Kultus-ministerkonferenz und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten Bildungsbericht 2022 bestätigt (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 19). Die Hoffnungen, die Bund und Länder in den 2018 abgeschlos-senen und mit ca. 5 Mrd. Euro dotierten Digitalpakt Schule gesetzt hatten, scheinen sich zudem, zumindest anfangs, nur sehr zögerlich und je nach Bundesland sehr unterschiedlich verwirklicht zu haben., Die’ digitale Schule gibt es nicht, sondern im Gegenteil, es zeigen sich deutliche Unterschiede in der Akzeptanz und Umsetzung von Digitalisierungsanstren-gungen an den einzelnen Schulen, sodass die GEW-Studie von Digitalisierungsvorreitern und Digitalisierungsnachzüg-lern spricht, wobei die Schulen der letzten Kategorie sehr viel größere Probleme in der Aufrechterhaltung des pädagogischen Kontakts zwischen Lehrern und Schülern vor allem in der ersten Lockdown-Phase hatten und damit Lernrückstände viel weniger erfolgreich aufgeholt werden konnten.

Wenn die Ausstattung in Ansätzen vorhanden war, gelangte man rasch an die Grenzen der technischen und/oder pädagogischen Machbarkeit. Es fehlte an leistungsfähigen Lernplattformen, an erprobten pädagogischen Konzepten für diese neuen Lernsituationen, an entsprechenden Weiterbildungsmöglichkeiten der Lehrerschaft, an didaktischem Material, oder, noch viel einfacher, an verfügbaren bzw. funktionstüchtigen Endgeräten in den Schulen aber auch in den Familien. Die Pandemie hat in dieser Beziehung zweifellos eine Katalysatorwirkung gehabt und für eine Beschleunigung der technischen Ausstattung der Schulen, der Schüler und des Lehrpersonals gesorgt, denn im zweiten Jahr der Pandemie ist der Einsatz der digitalen Medien in den Schulen in Deutschland – wenn auch mit weiter bestehenden regionalen Unterschieden und ohne zu den Vorreitern auf europäischer Ebene zu gehören – weitestgehend eine Selbstverständlichkeit geworden. Damit ist aber noch nichts gesagt über die Qualität dieser neuen Unterrichtsformen, über die notwendige Neuausrichtung der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte, über die arbeitspolitischen Herausforderungen der Digitalisierung des Arbeitsplatzes Schule für die Arbeitszeit und die Arbeitsbelastung von Lehrkräften, sowie grundsätzlich über die erforderliche pädagogische Reflexion über die Konsequenzen der digitalen Medien nicht nur für die Lernfortschritte der Schüler, sondern auch für die anderen, bereits angesprochenen Leistungen der Schule als konkreter – und nicht nur virtueller – Ort für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler.

DIE PANDEMIE ALS GRADMESSER FÜR CHANCENUNGLEICHHEIT IM BILDUNGSWESEN

Auch in Frankreich, wo verstärkte staatliche Anstrengungen für eine entsprechende technische Ausstattung der Schulen im Jahre 2016 einsetzten, weisen Untersuchungen auf Defizite und Probleme, insbesondere in Schulen in ohnehin schon benachteiligten sozialen Brennpunkten in den städtischen Ballungszentren aber auch in Schulen im dünn besiedelten ländlichen Raum, dessen Anteil an der Landesfläche höher ist als in Deutschland. In diesen réseaux d’éducation prioritaire3 war, wie ein Bericht der nationalen Schulaufsichtsbehörde zur Umstellung auf EAD während des ersten Lockdowns in Frankreich dokumentiert, die drop-out-Quote besonders hoch. So schätzen die Autoren auf der Basis ihrer Befragungen, dass 10% der Schüler in Brennpunktschulen des Primarbereichs (gegenüber 6% der Primarschüler in Nicht-Brennpunktschulen) und 19% der Schüler in Brennpunktschulen der Sekundarstufe I (collège) (gegenüber 9% der Schüler in Nicht-Brennpunktschulen der Sekundarstufe I) während des ersten Lockdowns wegen fehlender technischer Möglichkeiten, insbesondere in den Familien, schulisch nicht betreut wurden bzw. nicht (ausreichend) betreut werden konnten (IGESR 2020: 27-28). Somit waren Lernrückstände unausweichlich und besonders dramatisch für die ohnehin schon benachteiligten Kinder und Jugendlichen in sozialen Problemlagen.

Die Autoren des Berichts der Generalinspektion sehen allerdings auch positive Entwicklungen paradoxerweise gerade als Folge der Pandemie. So habe sich die Beziehung zwischen Lehrkräften und Eltern gerade auch in den Brennpunktschulen verbessert, die Lehrkräfte hätten eine bessere Kenntnis des sozialen Umfeldes, aus dem die Kinder der Brennpunktschulen kommen und die Einstellung der Eltern dieser Kinder zu Schule, deren Anforderungen, den gebotenen Chancen habe sich ebenfalls verändert.

Aufschlussreich ist eine vom Meinungsforschungsinstitut IFOP im Juni 2021 bei Eltern durchgeführte Repräsentativbe-fragung zu ihren Erfahrungen mit Lockdown, EAD und dem Umgang des Schulsystems insgesamt mit der Pandemie (IFOP 2021). Auf die Frage, ob sie Lernrückstände als Folge der Corona-Krise für ihre Kinder befürchten, bejahten 52% aller Eltern diese Frage, wobei der Wert bei Eltern von Kindern in der gymnasialen Oberstufe mit 59% höher lag und bei Eltern von Kindern in einer Schule der éducation prioritaire sogar bei 72%. Wenn sich der höhere Wert bei Eltern von Schülern in den drei Abschlussklassen des Gymnasiums mit der Befürchtung erklären lässt, dass ihre Kinder Lernrückstände bis zu den Abiturprüfungen am Ende der Klasse 12 nicht aufholen könnten, dürfte bei Eltern von Kindern der éducation prioritaire (mehrheitlich Primarschulen und Schulen der Sekundarstufe I), der Grund sein, dass sie sich selbst nicht in der Lage sahen, ihren Kindern zu helfen oder entsprechende externe Unterstützung (Nachhilfe) finanzieren zu können. Im Durchschnitt beziffern die Eltern den Lernrückstand auf 5,3 Monate, wobei bei den Eltern, die mehr als 6 Monate Lernrückstand befürchten (43% der Eltern), die soziale und geographische Herkunft ein Erklärungsfaktor sein dürfte. Es handelt sich hierbei vor allem um Eltern in ländlichen Gebieten, sowie um Eltern mit niedrigem beruflichen Status (Arbeiter, Angestellte) und Eltern im Alter zwischen 40 und 60 Jahren. Eltern mit eigenem Hochschulabschluss und Eltern unter 30 Jahren liegen mit 35% für erstere und 33% für letztere Gruppe deutlich unter dem Durchschnitt. So ist es nur zu verständlich, dass sich 81% aller befragten Eltern besorgt zeigen über die Auswirkungen des corona-bedingten Rückstands auf das Bildungsniveau ihrer Kinder. 63% der Eltern haben die Situation des Homeschooling als schwierig erlebt, wobei auch hier wiederum ein Unterschied von bis zu 20 Punkten je nach Bildungsstand der Eltern besteht. Kritisch sehen die Eltern auch den Umgang des Gesamtsystems Schule bzw. des Bildungsministeriums mit der Corona-Krise. 48% der Eltern meinen, dass sich die Education nationale schlecht auf die Pandemie eingestellt habe. Wenn 79% der Eltern den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht für eine gute Sache halten, so denken 76%, dass die Lehrkräfte für den Umgang mit diesen Medien nicht ausreichend geschult seien, und 73% sind der Meinung, dass die Education nationale nicht in der Lage sei, den Einsatz von digitalen Medien im Unterricht zu organisieren.

Die von den französischen Eltern geäußerte Kritik am Umgang des Gesamtsystems Schule mit der Pandemie stellt die Frage nach der Resilienz des Bildungssystems bzw. der nationalen Bildungssysteme, denn wie man im Verlauf der Krise schnell feststellen konnte, haben die politisch Verantwortlichen gerade im Schulbereich unterschiedlich auf die Krise reagiert. Dabei sollen an dieser Stelle nicht auf die in einer pluralistischen Demokratie unvermeidlichen bzw. notwendigen (partei)politischen Kontroversen über Mittel und Wege aus der Krise bzw. Versuche, die getroffenen Maßnahmen des Krisenmanagements für eine politische Profilierung zu benutzen, eingegangen werden. Diese Entwicklungen hat es in den beiden hier untersuchten Ländern gegeben, gerade auch bezüglich der Maßnahmen, die den Bildungsbereich betrafen. Der Verlauf der Pandemie hat gezeigt, dass die Pandemie bzw. deren Bewältigung auf internationaler Ebene rasch ein Element systemischer Konkurrenz vor allem der entwickelten Nationen geworden ist, und das nicht nur für die Erforschung der Impfstoffe, sondern auch für die zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen auch und gerade in den Schulen.

DER UMGANG MIT CORONA IM SCHULSYSTEM ALS SPIEGELBILD DER STÄRKEN UND SCHWÄCHEN STAATLICHEN HANDELNS IN DER KRISE

So ist im deutsch-französischen Vergleich zunächst einmal die sehr unterschiedliche Dauer der Schulschließungen auffällig. In beiden Ländern setzte der erste Lockdown zeitgleich ein, die Dauer der völligen Schließung der Schulen im weiteren Verlauf der Pandemie bis Februar 2021 betrug in Frankreich allerdings nur 10 Wochen gegenüber 24 Wochen in Deutschland. Nach einem Bericht der OECD zur Krisenbewältigung im Schulbereich von 33 Mitgliedstaaten waren nicht nur das Infektionsgeschehen (Deutschland und Frankreich waren in der ersten Phase der Pandemie unterschiedlich betroffen), sondern auch und vor allem pädagogische Überlegungen, der Zustand des Gesundheitswesens und allgemeine Ziele öffentlicher Politik für diese Unterschiede verantwortlich (OECD 2021: 9). Nach Ende des ersten Lockdowns hat das französische Bildungsministerium oft gegen heftige Kritik von Teilen der öffentlichen Meinung das Prinzip der Offenhaltung der Schulen als eine im europäischen und internationalen Vergleich exception française verteidigt. Auch die Lehrerge-werkschaften hatten sich überwiegend für eine Offenhaltung der Schulen ausgesprochen, kritisierten aber immer wieder heftig die unzureichenden Maßnahmen, die diese Offen-haltung absichern sollten (fehlende Gesichtsmasken, Tests, Desinfektionsgel, sowie komplexe, sich oft ändernde und teilweise buchstäblich in letzter Minute den Schulen mitgeteilte Vorschriften z. B. bezüglich der Abstands-, Test- und Quarantäne-Regeln).

Diese Haltung lässt sich nicht nur mit den bereits ange-sprochenen negativen Erfahrungen der Schulschließung des ersten Lockdowns für die Lernfortschritte der Kinder und Jugendlichen und die Verstärkung der sozialen Ungleichheiten erklären, sondern auch durch die hohe Wert-schätzung von kultureller Exzellenz, wie sie die Schule in Frankreich vermitteln soll. Mehr als in anderen Ländern ist der soziale Aufstieg nach dem meritokratischen Prinzip der Bestenauslese an (allgemeinbildende) Schul- und Hochschulabschlüsse gebunden. Die Schule in Frankreich hat mehr als die Schule in anderen Ländern zur Entstehung der Republik und der Nation seit dem 19. Jahrhundert beigetragen. Sie ist der symbolische, konkret erfahrbare Ort, der die republikanischen Werte verkörpert und auf den alle individuellen und kollektiven, teilweise durchaus wider-sprüchlichen Ambitionen projiziert werden. Schließlich ist die Organisation von Schule als landesweit einheitliche Ganztagsschule mit systematischer Mittagstischversorgung auf allen Schulstufen und mit - zumindest dem Anspruch nach - einheitlichen Unterrichtsprogrammen, Schulrhythmen, Leistungsanforderungen und Evaluierungen ein wichtiger Faktor des sozialen Zusammenhalts mit positiven Konsequenzen z. B. für die Erwerbstätigkeit der Mütter oder um eventuelle (erzieherische) Defizite vor allem in sozial benachteiligten Familien zumindest teilweise auszugleichen. All diese Elemente klangen in den Begründungen der politisch Verantwortlichen für die Offenhaltung an, denn diese Funktionen kann Schule als virtueller Ort weit weniger gut erfüllen.

Eine Studie der Mannheimer Universität zeigt, dass auch in Deutschland schon während des ersten Lockdowns die Schulschließungen rasch Gegenstand von Kritik geworden sind. Die Mannheimer Forschergruppe befragte zwischen März und Juli 2020 wöchentlich eine Stichprobe von 3.600 Personen zu ihrer Meinung über die staatlicherseits getroffenen oder diskutierten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Unter allen getroffenen Maßnahmen haben die Schließungen von Schulen und Hochschulen nach einer anfänglich hohen Zustimmung (über 90%) im weiteren Verlauf der Krise massiv an Zustimmung verloren und ab Ende Mai 2020 lag hierfür die Zustimmungsquote konstant bei unter 25%, einem der niedrigsten Werte für alle getroffenen Maßnahmen (Blom 2020: 16-22).

Aber auch in Deutschland war der Umgang der Verantwortlichen des Schulsystems mit der Pandemie unmittelbar mit einer Grundfrage der staatlichen und gesellschaftlichen Organisation des Landes verbunden, nämlich dem Bildungsföderalismus. Da Bildung Ländersache ist, konnten die Beschlüsse zu den Schulschließungen in ganz Deutschland erst nach einem intensiven Abstimmungsprozess zwischen Bund und Ländern bzw. unter den Ländern in der Kultusministerkonferenz (KMK) gefasst werden. Die KMK muss ihre Beschlüsse einstimmig fassen, was langwierige Aushandlungen unter den 16 Ländern voraussetzt, um einen für alle Beteiligten annehmbaren Kompromiss über die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse in den Ländern hinweg zu finden. Dieser wird dann als Empfehlung an die Länder gerichtet, die diese in gesetzliche Normen umsetzen. Die KMK verzichtet darauf, den Ländern zu detaillierte Regeln vorzuschreiben, um einen Kompromiss möglich zu machen. Dieses Verfahren zwingt die Länder grundsätzlich zu einer kollektiven Vorgehensweise in der Bewältigung von Fragen und Problemen, die das deutsche Schulsystem als Ganzes betreffen, und von Alleingängen Abstand zu nehmen. So war der Beschluss der KMK vom 25. März 2020, die schriftlichen Abiturprüfungen in ganz Deutschland für das Schuljahr 2019/20 durchzuführen, eine Reaktion auf einen zuvor unternommenen und nicht mit den anderen Kultusministerien abgestimmten Vorstoß des Landes Schleswig-Holstein, die schriftlichen Abiturprüfungen angesichts der Entwicklung der Infektionszahlen auszusetzen und das Abiturzeugnis auf Grundlage der in den beiden Abschlussklassen der Sekundarstufe II erhaltenen Vornoten zu verleihen. Die schriftlichen Abiturprüfungen des Schuljahres haben letztlich - wenn auch zeitlich leicht verschoben – in ganz Deutschland stattgefunden. Die KMK hat ihren Beschluss mit der Notwendigkeit begründet, die Gleichwertigkeit der Bedingungen zur Erlangung von schulischen Abschlüssen zu gewährleisten, um letztlich deren Anerkennung als vollwertige Abschlüsse nicht zu gefährden.

Die Kritik an den langwierigen Entscheidungen der KMK und an der fehlenden unmittelbaren parlamentarischen Kontrolle dieser Symbolinstitution des, kooperativen Föderalismus’ begleitet das deutsche Schulsystem praktisch seit Gründung der Bundesrepublik. Die Dynamik des Infektionsgeschehens in den Jahren 2020 und 2021 und die Notwendigkeit, schnell und umfassend einschneidende Maßnahmen zu ergreifen, um die Gesundheit aller Akteure der Schulgemeinschaft zu schützen und dennoch dem Bildungsauftrag nachzukommen, hat dieser Kritik neuen Auftrieb verliehen. So wirft der Deutsche Lehrerverband, in dem ca. 165.000 der insgesamt 830.000 Lehrer an deutschen Schulen Mitglied sind, dem Föderalismus vor, in der Pandemie,,keine gute Figur” (FAZnet 21. Januar 2021) gemacht zu haben. Auch wenn er grundsätzlich am Bildungsföderalismus festhalten will, spricht er sich für die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der KMK aus, um die Entscheidungsfindung zu beschleunigen. Weiterhin fordert er verstärkte Investitionen in die digitale Ausstattung der Schulen, der Lehrer und der Schüler. Vergleichbare Forderungen stellte auch der Deutsche Gewerk-schaftsbund in einem Positionspapier von 2020, in dem er u.a. das Ende des Investitionsstaus an Schulen, einen Ausbau der digitalen Infrastruktur und der digitalen Lernan-gebote, massive Investitionen in Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte angesichts des sich in den kommenden Jahren abzeichnenden wachsenden Mangels an qualifiziertem pädagogischen Personal in den Schulen fordert. Mit Blick auf die Erfahrungen mit dem Bildungsföderalismus während der Pandemie liest man: "In dieser Zeit zeigen sich die Schwächen unseres Bildungsföderalismus deutlicher denn je. Zu verschieden, zu unübersichtlich, zu wenig: Das Vorgehen der Länder, ihre Schulen für die Zeit während und nach Corona fit zu machen, könnte unübersichtlicher nicht sein. Die Bundesländer sind daher aufgefordert unter Berücksichtigung regionaler Spezifika auf eine länderübergreifende größere Vergleichbarkeit ihrer Bildungssysteme und bildungspolitischen Wege hinzuwirken und damit der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet Rechnung zu tragen” (DGB Bundesvorstand 2020).

SCHLUSSBETRACHTUNGEN

Es ist trivial zu sagen, dass die Pandemie die Schulsysteme in beiden Ländern schwer erschüttert hat, dass niemand darauf vorbereitet war und dass alle beteiligten Akteure noch lange mit der Aufarbeitung der Folgen der Pandemie zu tun haben werden. Dies gilt sowohl für die Bemühungen, um die Lernrückstände bei den betroffenen Altersklassen aufzuholen als auch, um eventuelle neue Infektionswellen durch organisatorische und pädagogische Reformen im Umgang mit Krisen auf Ebene des Gesamtsystems Schule als auch auf der der Einzelschule besser bewältigen zu können. Für beide Länder gilt, dass Bildung wieder eine politische Priorität werden muss und dass es erheblicher, gerade auch finanzieller Anstrengungen bedarf, um die in der Pandemie wie unter einer Lupe deutlicher gewordenen strukturellen Schwächen und Defizite der beiden Schulsysteme zu beheben. Dabei zeichnen sich Konvergenzen in der Folgenbearbeitung ab, wie auch spezifische Lösungen, die sich auf die Situation des jeweiligen Landes beziehen. In beiden Ländern sind Programme aufgelegt worden, um die Lernrückstände aufzuholen;4 in beiden Ländern scheint jetzt weitgehend Konsens darüber zu herrschen, dass die Schulen im Falle einer neuen Pandemie-welle, wenn überhaupt, als letzte Einrichtungen geschlossen werden sollten. In Deutschland wird man mittel- und langfristig neue Formen des kooperativen Föderalismus finden müssen, denn die Länder brauchen auch in Zukunft die finanzielle Hilfe des Bundes und die Abschaffung des erst 2007 im Grundgesetz eingeführten Kooperationsverbots dürfte erneut zur Diskussion stehen, auch wenn bislang schon Kompromisse gefunden wurden, um das finanzielle Engagement des Bundes in der Bildung möglich zu machen, wie der Digitalpakt Schule gezeigt hat.

In beiden Ländern hat die Pandemie Schüler, Lehrer und Eltern gezwungen, in einer Situation auf die niemand vorbereitet war, innovative Lösungen zu finden, um Bildung zu ermöglichen, um an diese Situation angepasstes pädagogisches Material zu erstellen, um sich mit digitaler Technik vertraut zu machen, um sich mit Eltern auszutauschen, um sich mit Kollegen und Kolleginnen zu besprechen, etc. Viele der in diesem Beitrag erwähnten französischen und deutschen Studien zum Umgang der Schulen mit der Pandemie weisen auf das überaus starke persönliche Engagement vieler Lehrkräfte hin, unter teilweise sehr schwierigen, technischen und organisatorischen Bedingungen, den Kontakt zu ‘ihren’ Schülern nicht abreißen zu lassen, ohne dass sie dazu von der Ministerialverwaltung eines Kultusministeriums oder des nationalen Bildungsministeriums durch neue Gesetze, Erlasse oder sonstige Anweisungen aufgefordert worden seien, geschweige denn dass sie von diesen ebenfalls von der Krise oft überforderten autorités de tutelle eine effektive und adäquate Hilfestellung hätten erwarten können. Darauf weist François Dubet hin, wenn er sagt, dass die (französischen) Lehrer in der Pandemie Leistungen erbracht haben, die sie nie erbracht hätten, wenn sie dazu in ‘normalen’ Zeiten von ihrem Ministerium aufgefordert worden wären.5 Dubet sieht darin eine Chance für zukünftige Schulreformen, vor allem in einem stark zentralisierten und bürokratischen System wie dem französischen, wo Reformen in der Regel "von oben” nach jedem Minister- oder Regierungswechsel entschieden werden und allzu oft zu mehr oder weniger kategorischer Ablehnung und zu einer korporatistischen Verteidigung des Status quo in der (gewerkschaftlich organisierten) Lehrer-schaft führen. Die Pandemie habe aber gezeigt, dass die Basis verantwortlich handeln, Initiativen entwickeln und Innovationen akzeptieren könne und von politischer Seite unterstützt werden sollte. Eine bottom up Vorgehensweise im Schulsystem wäre eine stille, aber entscheidende und tiefgreifendere Reform als alle "von oben” dekretierten Reformen, die im Sand der Routinen und (korporatistischen) Interessen versickern. Eine Perspektive, die nicht nur für das französische Bildungssystem vielversprechend sein könnte.