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Diffusion of innovations theory in German physiotherapy - A qualitative study of the innovation-decision-process among German Early Adopters / Diffusionstheorie in der Physiotherapie - Eine qualitative Untersuchung des Innovations-Entscheidungsprozesses bei deutschen «Early Adoptern


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EINLEITUNG

Gesundheitssysteme weltweit werden heute durch steigende Zahlen chronisch kranker Menschen belastet (Häuser et al. 2013; Löllgen, 2021). Trotz großer wissenschaftlicher Fortschritte bleibt die medizinische Versorgung Betroffener jedoch hinter ihrem Potential zurück (Berwick, 2003). Das ungenutzte Potential liegt dabei unter anderem in der langsamen Translation von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in die klinische Praxis. Während die Translationszeit für die medizinische Versorgung auf circa 17 Jahre geschätzt wird (Morris et al. 2011), ist mittlerweile bekannt, dass nur 50 % aller Innovationen überhaupt in die Versorgung von Patient_innen integriert werden (Bauer & Kirchner, 2020). Diese Problemstellung hat zur Entstehung der Implementierungswissenschaften geführt, die sich einer effektiveren Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der evidenzbasierten Praxis in der Gesundheitsversorgung widmet.

Evidenzbasierte Praxis (EBP) beschreibt nach Sackett (1997) „die gewissenhafte, explizite und umsichtige Nutzung der derzeit besten Evidenz bei Entscheidungen über die Versorgung einzelner Patienten“. Auch der Deutsche Verband für Physiotherapie (ZVK e.V.) sieht eine Evidenzbasierung und leitliniengerechte Therapie als „Grundbausteine der modernen Physiotherapie“ (PhysioDeutschland, 2022). Verschiedene Studien zeigen auf, dass eine evidenzbasierte und leitliniengerechte Physiotherapie eine effektive Intervention für diverse Erkrankungen mit gesellschaftlicher Tragweite wie lumbale Rückenschmerzen oder koronare Herzerkrankungen ist und Kosten in der Gesundheitsversorgung reduzieren kann (Achttien et al., 2013; Hanney et al. 2016). Gleichzeitig deutet eine aktuelle Arbeit im Kontext der deutschen Physiotherapie darauf hin, dass viele deutsche Physiotherapeut_innen aktuelle Leitlinien nicht kennen und Interventionen nutzen, die nicht von wissenschaftlicher Seite empfohlen werden (Bahns et al. 2021).

Barrieren, die die Umsetzung einer EBP in der Physiotherapie behindern, konnten in den letzten Jahren zunehmend identifiziert werden. Scurlock-Evans et al. (2014) halten in einem systematischen Review Zeitmangel, Mangel an wissenschaftlichen Fähigkeiten und falsche Vorstellungen von einer EBP als Hauptbarrieren fest. Aktuelle Arbeiten mit Bezug zur deutschen Physiotherapie lassen vermuten, dass sich diese auch auf Letztere übertragen lassen (Braun et al. 2022).

Trotz dieser Barrieren zeigen Braun et al. (2022), dass es deutsche Berufsangehörige gibt, die eine EBP erfolgreich in ihrer Arbeit umsetzen. Als eine Theorie der Implementierungswissenschaften untersucht die Diffusionstheorie den Prozess, in dessen zeitlichem Verlauf eine Innovation über verschiedene Kanäle an die Mitglieder eines sozialen Systems kommuniziert wird. Personen, die innerhalb eines sozialen Systems Innovationen früher umsetzen als andere werden dabei als „Early Adopter“ beschrieben (Rogers, 2003). Sie spielen in der Verbreitung von Innovationen eine bedeutende Rolle, da sie solche an andere Personen in ihrem sozialen System weitergeben und dazu beitragen, dass eine kritische Masse an Übernehmer_innen erreicht wird (Abb. 1). Als Innovation wird dabei jede Idee und Tätigkeit, sowie jedes Objekt verstanden, das von ihren jeweiligen Nutzer_innen als neu angesehen wird (Karnowski, 2017). Mit dem Innovations-Entscheidungsprozess liefert die Diffusionstheorie außerdem ein Modell, welches den Übernahmeprozess von Innovationen bei Individuen von der ersten Kenntnis bis zu ihrer nachhaltigen Implementierung beschreibt (Abb. 2).

Abbildung 1:

Übernehmergruppen im Zeitverlauf nach Rogers (Karnowski, 2019).

Abbildung 2:

Der Innovations-Entscheidungs-Prozess (Karnowski, 2019).

Wie es Early Adoptern der deutschen Physiotherapie gelingt, eine EBP in ihr therapeutisches Handeln zu integrieren, wurde bisher nicht untersucht und könnte relevante Einblicke liefern, wie in Zukunft effektive Implementierungsstrategien für die deutsche Physiotherapie gestaltet werden können. Im Rahmen dieser Arbeit wurde daher die EBP als eine Innovation im diffusionstheoretischen Sinne definiert und die Diffusionstheorie als eine Theorie der Implementierungswissenschaften herangezogen, um mithilfe eines qualitativen Forschungsansatzes den Innovations-Entscheidungsprozess bei Early Adoptern der deutschen Physiotherapie zu rekonstruieren.

FORSCHUNGSMETHODE

Qualitative Forschung in den Implementierungswissenschaften beschäftigt sich mit dem „Wie“ und „Warum“ einer Implementierung und wird genutzt, um den Prozess einer Implementierung zu untersuchen (Hamilton & Finley, 2019). Erhebung und Analyse qualitativer Daten sind hier häufig durch den theoretischen Rahmen der Studie geprägt (Damschroder et al., 2017). In dieser Arbeit wurde daher der Innovations-Entscheidungs-Prozess der Diffusionstheorie herangezogen, um die qualitative Datenerhebung und -analyse zu leiten und mithilfe semistrukturierter Leitfadeninterviews die Implementierung einer evidenzbasierten Praxis zu rekonstruieren. Die Arbeit schließt sich damit aktuellen Entwicklungen der diffusionstheoretischen Forschung an, die kritisieren, dass Diffusionsstudien meist Querschnittstudien meist Querschnittstudien sind, in denen eine große Anzahl von Personen quantitativ befragt wird. Dies versperrt nach Karnowski (2017) „den Blick auf verschiedene Bereiche des Diffusionsprozesses“, darunter auch den Prozess der Implementierung. Besonders narrative Berichte von Early Adoptern könnten nach Meyer (2004) wichtige Einblicke in den Verlauf eines Diffusionsprozesses liefern und ein besseres Verständnis über diesen ermöglichen. Er betont, dass bisherige Diffusionsstudien Forscher_innen nicht „nah genug“ an das Forschungsfeld heranbringen, und dass qualitativ orientierte Forschungsmethoden, die sich auf die kontinuierliche Untersuchung des Diffusionsprozesses über die Zeit fokussieren, hier hilfreich sein könnten (Meyer, 2004).

Für die Rekrutierung der befragten Teilnehmer_innen (TN) wurde ein Kriterien-basiertes-Sampling genutzt (Patton, 2015). Über eine Ausschreibung in den sozialen Medien wurden Physiotherapeut_innen über die Studie informiert und aufgefordert, an dem Samplingverfahren teilzunehmen. Nach Rogers (2003) ist die ‚Innovativität‘ das wichtigste Klassifikationskriterium einzelner Übernehmergruppen. Mithilfe der ‚Innovativeness Scale‘ nach Hurt et al. (1977) wurde die Zugehörigkeit der TN zur Gruppe der Early Adopter erhoben (Abb. 3) und über die Dimension fünf der deutschen Version des ‚Evidence based practice inventory‘ (EBPI) (Braun et al. 2019) Personen identifiziert, die sich durch eine hohe EBP-Adhärenz auszeichneten (Tab. 1).

Abbildung 3:

Kategorisierung verschiedener Übernehmergruppen mithilfe der Innovativeness-Scale (Yamamoto & Ahmet Selim Karakose, 2020).

Abbildung 4:

Einteilung der Hauptkategorien anhand des theoretischen Hintergrunds.

Einschlusskriterium ‚starke EBP-Ausprägung‘ in Dimension 5 des EBPI (modifiziert nach Braun et al., 2022).

Skala der Dimension Vollständig ausgefüllt Grenzwert starke EBP-Adhärenz Starke Ausprägung der EBP-Adhärenz
4–24 47 ≥ 19 26 (55,32 %)

Aus 47 Personen wurden 14 Early Adopter mit einer starken EBP-Adhärenz identifiziert (Tab. 2, 3). Im Juni 2022 wurden alle 14 per E-Mail zur Durchführung eines Interviews kontaktiert. Der Erstautor (NLR) führte mit den ersten fünf rückgemeldeten TN ein semistrukturiertes Leitfadeninterview über die Plattform ‚Zoom’ (Version 5.10.6) durch. Das erhobene Audiomaterial wurde anschließend basierend auf den Empfehlungen von Dresing und Prehl (2018) in Textform transkribiert. Die Organisation und Analyse des Datenmaterials fand computergestützt mit der Auswertungssoftware ‚MAXQDA2022‘ statt. Die Auswertung erfolgte gemischt deduktiv und induktiv mithilfe der ‚Qualitativen Inhaltsanalyse‘ nach Kuckartz und Rädiker (2022) und wurde durch den Erstautor durchgeführt.

Ausprägung der Innovativität und Übernehmergruppen bei den TN der Sampling-Befragung.

Innovativität nach Innovativeness-Scale Übernehmergruppe Kategorisierung der TN (n = 47)
> 80 Innovators 11
6980 Early Adopter 23
57–68 Early Majority 13
46–56 Late Majority 0
46 > Laggards 0

Fragebogendaten der Interviewteilnehmer_innen (W = weiblich; M = männlich; KH = Krankenhaus; AN = Arbeitnehmer; AG = Arbeitgeber).

TN Alter Geschlecht Abschluss Berufserfahrung Arbeitsumfeld Arbeitsverhältnis Leitende Funktion EBPI Score IS-Score
TN1 26 W Bachelor 4 Jahre Praxis AN Ja 20 80
TN2 34 W Bachelor 14 Jahre KH AN Nein 19 80
TN3 27 M Bachelor 1 Jahr Praxis AN Nein 24 71
TN4 33 M Master 10 Jahre Praxis AG Ja 21 80
TN5 43 M Ausbildung 14 Jahre Praxis AN Nein 20 78
ERGEBNISSE

Im Hinblick auf die Zielsetzung dieser Arbeit, die Implementierung einer EBP zu rekonstruieren, wurden die vier Hauptkategorien ‚Wissen‘, ‚Überzeugung & Entscheidung‘, ‚Implementierung‘ und ‚Bestätigung‘ aus dem Innovations-Entscheidungsprozess abgeleitet.

Nachdem das gesamte Datenmaterial ausgewertet wurde, ergaben sich weitere Subkategorien. Das vollständige Kategoriensystem ist in Abb. 5 dargestellt und wird im Folgenden ausgeführt. Beispielzitate werden mit Fall- und Zeilennummer des Transkripts in Klammer angegeben, z.B. (TN1, 48).

Abbildung 5:

Implementierung einer EBP bei Early-Adoptern der deutschen Physiotherapie.

Hauptkategorie Wissen

Das erste Wahrnehmen einer Innovation steht am Beginn des Innovations-Entscheidungsprozesses. Wird die Charakteristik des ersten Kontaktes der befragten TN zur EBP betrachtet, lassen sich die Subkategorien ‚Inspiration‘ und ‚Irritation‘ voneinander unterscheiden. Als Auslöser für die Auseinandersetzung mit der EBP wird von den TN der Kontakt zu anderen EBP-adhärent arbeitenden Therapeut_innen beschrieben. Sie führen den ersten Kontakt zur EBP auf besondere Einzelpersonen zurück und berichten von Dozent_innen, Kolleg_innen und Bekannten, die sie zu einer Auseinandersetzung mit der EBP inspiriert haben:

Da hatte ich eine Fortbildung beim (Name des Dozenten). Und der (Name) ist halt ein absoluter Wissenschaftler. Und der hat eine ganz tolle Art, die Praxis mit der Wissenschaft zu vereinen, und da kam ich irgendwo so auf den Trichter: Hey, da steckt ja noch viel mehr dahinter.“ (TN4, 48)

(anonymisiert vom Autor)

Die TN betonen hier, dass diese Vorbildfiguren Wissenschaft und Praxis in ihrer therapeutischen Arbeit kohärent miteinander verbunden haben. Sie beschreiben eine herausstechende Kompetenz, die sie inspiriert hat, sich selbst mit der EBP zu beschäftigen. Eine zumeist früh in der beruflichen Laufbahn verortete Inspiration hatte den TN zufolge anhaltende Effekte auf den eigenen Umgang mit Informationen und hat zukünftige Berufsentscheidungen maßgeblich beeinflusst.

Wo es den TN oder dem beruflichen Umfeld hingegen nicht gelang, ein solches kohärentes Bild zu erzeugen, beschrieben sie (TN1, TN2, TN3) einen Zustand, der ‚Irritation‘. Sie berichteten, dass sie auf Fragen häufig keine zufriedenstellenden Antworten erhielten und beschrieben die theoretischen Konzepte der physiotherapeutischen Grundausbildung als „diffus“ und „wenig zielgerichtet“ (TN1, 32).

„Am meisten dann, wenn man hinterfragt hat. ( ) Da habe ich selbst schon in den Fortbildungen gemerkt, okay, die sind nicht offen genug, dass man Fragen stellt. Oder die Erklärungsmodelle, die sie bringen, sind sehr schwammig“

(TN2, 59)

Konfrontiert mit einer Irritation fanden die TN einen selbstmotivierenden Umgang mit der gespürten Unsicherheit. Sie begannen selbstständig, Informationen kritisch zu hinterfragen und starteten damit den Implementierungsprozess.

„Zu meiner Zeit war kein einziger unserer Lehrer in der Schule akademisiert. Und die hatten ein bisschen Angst vor der Wissenschaft. ( ) Und ja, das hat mir den Anreiz gegeben, viel mal drüber nachzudenken.“

(TN4, 72)
Hauptkategorie Überzeugung & Entscheidung

Die Hauptkategorie ‚Überzeugung & Entscheidung‘ bezieht sich auf den Zeitpunkt, an dem die TN die Entscheidung getroffen haben, die EBP in ihrer therapeutischen Praxis umzusetzen. Hier erlebten sie keinen, wie im Innovations-Entscheidungs-Prozess formulierten, konkreten Entscheidungsmoment. Vielmehr sprachen sie von immer wiederkehrenden kleinen „Aha-Momenten“ (TN1, 315), die über eine lange Zeit die therapeutische Praxis verändert haben. Das Bewusstsein der TN über die Relevanz der EBP wuchs mit längerer Auseinandersetzung und führte immer wieder zu neuen Entscheidungen, die den Implementierungsprozess fortlaufend stützten.

„Aber so ganz vorsichtig hineingerutscht. Genau. Und das wurde dann immer intensiver, bis ich mich dann selbst dafür entschieden habe, den Bachelor zu machen.“

(TN2, 53)

„Dass da eine Lücke existiert? Das kam dann so nach und nach. Also anfangs, ich weiß noch die ersten ungefähr zwei Jahre von meinem SpoWi-Studium, da war ich noch nicht so. Dann gegen Ende mehr dann auch durch Rückenschmerz und so weiter, da kam es dann mehr.“

(TN3, 158)

Die TN betonten jedoch auch, dass sie selbst den Prozess der Implementierung als nicht abgeschlossen wahrnehmen. Obwohl sie in der Samplingbefragung eine hohe EBP-Adhärenz angaben, formulierten sie, dass die Entscheidung und Umsetzung der EBP ein wiederkehrender dynamischer Prozess ist, der trotz einer starken Orientierung an Evidenzen nicht abgeschlossen sei.

„Also es geht mir ein Stück weit immer noch so, dass ich sage, das eine ist es, darüber Bescheid zu wissen. Das andere ist, es tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Also ich bin auch noch weit davon entfernt, das irgendwie bei jedem Patienten umsetzen zu können. Aber es lässt mich jetzt nicht an dem Gesamtkonstrukt ‚Evidenzbasierte Arbeit‘ zweifeln. Das nicht.“

(TN1, 237, EBPI-Score 20)

„A: Hast du da für dich schon Lösungswege gefunden, damit umzugehen? B: Noch nicht final. Ich glaube, ich bin da dabei und ich werde da noch länger dabei sein.“

(TN3, 96, EBPI Score 24)
Hauptkategorie Implementierung

Die Hauptkategorie ‚Implementierung‘ fasst die Textstellen zusammen, in denen die TN von konkreten Entscheidungen und Verhaltensänderungen berichteten, die sie zur Implementierung der EBP umgesetzt haben. Die Hauptkategorie wird in die Subkategorien ‚Barrieren‘ und ‚Strategien‘ unterteilt.

Subkategorie Barrieren

Die TN bezogen sich bei der Beschreibung ihres persönlichen Implementierungsprozesses auf folgende Barrieren: Zeitmangel, fehlender Austausch mit Kolleg_innen, Compliance der Patient_innen, mangelnde finanzielle Ressourcen, Selbstzweifel und die Außenwahrnehmung der Physiotherapie.

Die am häufigsten genannte Barriere war der Zeitmangel, der gemäß der TN in unterschiedlichen Kontexten von Bedeutung ist. Die TN berichteten von Zeitmangel durch „hohes Patientenaufkommen“ und „Personalknappheit“ (TN2, 125), aber auch über eine hohe Diversität des beruflichen Feldes, in dem es „schier unmöglich“ (TN1, 91) sei, die gesamte Studienlage zu überblicken. Eine weitere Barriere war der mangelnde Austausch mit Kolleg_innen. Verschiedene TN (TN1, TN2, TN3) vermissen Möglichkeiten des Austauschs am Arbeitsplatz und fühlten sich durch ihre EBP-Adhärenz isoliert.

„Ich glaube, die Kombi, die macht es einem dann extrem schwer, wenn fast alle anders denken oder es nicht so stützen, nicht so kennen.“

(TN3, 75)

Auch die Erwartungshaltung, die Patient_innen mit in die Therapie bringen, wurde von verschiedenen TN (TN1, TN3, TN4) als eine Barriere beschrieben. Die Patient_innen erwarteten demnach Interventionen, die aus Sicht der TN nicht mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar sind. TN4 beschrieb hier, dass dies auch ein wirtschaftliches Problem erzeuge:

„Eine der größten Barrieren für mich ist das Denkverhalten der Patienten, es gibt noch viele die viel übrig haben für alternative Medizin ( ). Und das ist extrem schwierig, da die Balance zu finden, das ist ja auch ein wirtschaftliches Problem für uns.“

(TN4, 106)

Die TN betonten dabei, dass eine EBP-adhärente Praxis verstärkt die körperliche Aktivität der Patient_innen fördern müsse. Auf diesen Methoden zu verharren, würde jedoch dazu führen, Patient_innen und damit Kund_innen zu verlieren und der Rolle als „Dienstleister“ (TN4, 153) nicht gerecht zu werden. Dies erzeuge einen „Balanceakt für die innere Überzeugung“, der auch von anderen TN beschrieben wurde (z.B. TN3, 90).

„Man kann halt nicht mit jedem Patienten direkt ins Training gehen und sagen: ‚Hey, du musst trainieren! Du musst trainieren! Du musst trainieren! Dann wird alles besser!‘ (lacht) Und das ist so ein großer Balanceakt, auch für die innere Überzeugung.“

(TN4, 115)

Die bisher dargestellten Barrieren wurden jeweils von mehreren TN berichtet. Drei weitere Barrieren wurden von einzelnen TN beschrieben. TN5 berichtete, dass er in seiner beruflichen Laufbahn immer wieder eine „finanzielle Barriere“ (TN5, 278) erlebt habe, die ihn von einer akademischen Ausbildung als Physiotherapeut abgehalten hat. Sein Beruf als Physiotherapeut, so beschrieb er, kreiere eine „prekäre Arbeitssituation“ (TN5, 298), die ihm nicht ausreichende Mittel und Möglichkeiten biete, sich auch mit Kind professionell weiterzuentwickeln. Die Barriere des ‚Selbstzweifels‘ wurde von TN2 beschrieben.

B: Ja, total. Sicher. Ich habe halt gefragt, bin ich dafür überhaupt intelligent genug? Also checke ich das überhaupt?“

(TN2, Pos. 214)

Sie gab als einzige TN an, kein Abitur abgeschlossen und zunächst an ihren persönlichen Kompetenzen gezweifelt zu haben. Durch diese Zweifel habe sie die Entscheidung zu einem Studium für längere Zeit hinausgezögert. Sie äußerte, dass dies aus ihrer Perspektive eine Barriere sei, die viele Therapeut_innen ohne Abiturabschluss erleben. Die Barriere ‚Außenwahrnehmung der Physiotherapie‘ wurde ebenfalls von TN2 genannt. Nach ihrer Aussage können die Umsetzung einer EBP auch in der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen behindert werden. Sie fühle sich teilweise „belächelt“ und habe das Gefühl, sich als Physiotherapeutin gegenüber Ärzten in Diskussionen „beweisen“ zu müssen.

„Also da finde ich, das fällt auch total auf, dass wir da noch nicht so ganz auf dem Schirm sind, dass wir auch evidenzbasiert arbeiten. Also gerade je nachdem, mit welchen Ärzten man sich unterhält. Das könnte noch so ein Hindernis manchmal sein. Wo man dann doch vielleicht mal so ein bisschen überlächelt wird oder so.“

(TN2, 324)
Subkategorie Strategien

Die Subkategorie ‚Strategien‘ umfasst schließlich die Lösungsmöglichkeiten, die von den TN gefunden wurden, um die EBP erfolgreich zu implementieren. Sie berichteten von einer Vielzahl an Strategien, die individuell für ihren beruflichen Kontext und Werdegang sind und durch ihre persönlichen Eigenschaften und Lebensumstände determiniert werden. Die unterschiedlichen Strategien werden hier den Themenfeldern ‚Austausch‘, ‚Umweltgestaltung‘, ‚Wissenschaftskonsum‘ und ‚Selbstorganisation‘ zugeordnet.

Mehrere TN suchten ‚Austausch‘ in Online-Formaten. Sie wurden aktiv in Netzwerken wie „Junges Schmerznetzwerk“ (TN1, 103) und „Netzwerk Frühmobilisation“ (TN2, 162). Aber auch im Praxisumfeld versuchten sie, mehr Austausch zu etablieren. Einige TN veranstalteten Journal-Clubs, interne Fortbildungen und Supervisionen (TN1, TN2, TN5), um den Austausch unter Kolleg_innen anzuregen. Funktionierte dies nicht, war die Aussicht nach mehr Austausch ein Anreiz, den Arbeitsplatz zu wechseln (TN3, 69) oder zusätzliche Arbeitsverhältnisse einzugehen, in denen Austausch über wissenschaftliche Literatur stattfindet (redaktionelle Tätigkeit, TN1, 98). Der Austausch half den TN dabei, einen besseren Überblick über wissenschaftliche Literatur zu behalten (TN1, 91) und Wissenslücken schneller zu schließen (TN4, 246). Gleichzeitig motivierte er, sich weiterzubilden, da Einflüsse von Kolleg_innen das eigene Denken herausforderten (TN5, 190).

Neben diesen Austauschmöglichkeiten gestalteten einige TN ihre Arbeitswelt so, dass die Implementierung einer EBP unterstützt wurde. So reduzierten TN1 und TN3 ihre Stunden, um mehr Zeit für die wissenschaftliche Recherche zu haben, und TN4 organisierte als Praxisleitung die Therapiezeit so, dass Patient_innen die Möglichkeit gegeben wird, für zusätzliche Therapiezeit eine Zuzahlung zu leisten. TN3 wechselte bewusst den Arbeitgeber, um mit anderen wissenschaftlich orientierten Therapeut_innen zusammenzuarbeiten und TN1 ließ ihre Praxis als Kooperationspartner für einen dualen Studiengang „zertifizieren“, um vermehrt Kontakt zu EBP-orientierten Therapeut_innen zu erhalten (TN1, 113).

Neben diesen Möglichkeiten der ‚Umweltgestaltung‘, spielte auch die fortlaufende Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Informationen über diverse Online-Inhalte eine wichtige Rolle. Die genutzten Strategien werden unter dem Begriff ‚Wissenschaftskonsum‘ zusammengefasst, der sich aus einer Aussage von TN5 ableitet:

„Meine Denkprozesse und mein Handeln ist informiert durch das, was ich aus der Wissenschaft konsumiere.“

(TN5, 7)

Plattformen, auf denen wissenschaftliche Informationen zusammengefasst und aufbereitet werden, vereinfachten für die TN deren Umsetzung. Gleichzeitig äußerten alle TN, dass sie diverse physiotherapeutische Informationsmöglichkeiten nutzten, die sie in ihrer Freizeit konsumierten, und deren Nutzung außerhalb einer gerichteten Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Artikeln geschehe:

„Man braucht eine gute Plattform für sich, wo man sich schnell informieren kann, und wo man auch drauf vertrauen kann, was die einem da jetzt sagen, wo man nicht immer gleich alles nochmal nachlesen muss.“

(TN4, 194)

„Ich habe eine Stunde Fahrt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Da höre ich dann irgendwelche Podcasts ( ). Also, dass ich da die Freizeit eben noch etwas damit fülle.“

(TN1, 226)

Hier wurde von den TN eine Vielzahl an Möglichkeiten genannt. Dazu gehörten Online-Kurse, E-Mail-Newsletter, Podcasts sowie Inhalte in sozialen Medien. Der „Konsum“ dieser Inhalte soll Zeit sparen, führt jedoch auch dazu, dass eine selbstständige Recherche und kritische Studienbewertung teilweise ausbleiben:

„Wirklich dann die Primärrecherche auf PubMed, die ist halt schon recht aufwendig. Also da musst du auch erstmal einen Überblick verschaffen und will ich da mich ordentlich durcharbeiten und ich denke, dass es da auch deswegen diese Organisationen gibt, die das für einen tun, sodass das als Kliniker nicht mehr ganz schwer ist.“

(TN3, 228)

Die Einblicke in das Informationsverhalten der TN können auch als eine Form der Selbstorganisation beschrieben werden. Von zwei TN (TN1, TN2) wurde diese Kompetenz als entscheidend für den Implementierungsprozess hervorgehoben. Sie beschrieben, dass sie durch ihr Bachelorstudium gelernt haben, ihre Zeit selbst zu organisieren und einzuteilen. Dies sei von großer Bedeutung, da ein Großteil der eigenen Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur in der Freizeit stattfinde (TN1, 270), und es dabei helfe, sich auch in neuen beruflichen Kontexten schnell zurechtzufinden (TN1, 316).

Hauptkategorie Bestätigung

In der Hauptkategorie ‚Bestätigung‘ wird dargestellt, welche Erfahrungen und Informationen die TN nach einer erfolgreichen Implementierung überzeugt haben, die EBP langfristig beizubehalten. Die TN berichteten hier von einer gewachsenen Kompetenz, mehr Gelassenheit und Orientierung in der Therapie sowie einer verbesserten Kommunikation mit anderen Berufsgruppen. Die Ausrichtung der Therapie an wissenschaftlichen Erkenntnissen mache sie als Therapeut_innen „selbstbewusster“ (TN1, 319) und gebe ihnen in herausfordernden Situationen wie der COVID19-Pandemie Sicherheit, die richtige Therapie zu wählen (TN2, 17). Gleichzeitig helfe die Auseinandersetzung mit Evidenzen, die Wirkmechanismen der eigenen Therapie besser zu verstehen (TN3, 23), und verschaffe Gewissheit darüber, dass die genutzten Interventionen in einer Therapie wirklich funktionieren (TN4, 31). Dies sei auch in der Kommunikation mit „Ärzten [ ] extrem hilfreich“ und trage dazu bei, den Wert der eigenen Therapie zu erhöhen (TN4, 35).

DISKUSSION

Im Rahmen dieser Arbeit wurde die Implementierung der EBP bei Early Adoptern der deutschen Physiotherapie untersucht. Als theoretische Grundlage diente der Innovations-Entscheidungsprozess, der eine strukturierte Rekonstruktion der persönlichen Implementierungsprozesse ermöglichte.

Die Aussagen der TN deuten darauf hin, dass Early Adopter auch in der deutschen Physiotherapie zur Verbreitung der EBP beitragen. Viele Praktiker_innen erleben den Übertrag und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die therapeutische Praxis als eine Herausforderung (Scurlock-Evans et al., 2014). In der Subkategorie ‚Inspiration‘ heben die TN die besondere Rolle von Vorbildfiguren hervor, denen dieser Übertrag erfolgreich gelingt. Die nachhaltige Wirkung, die solche Vorbildfiguren auf den Implementierungsprozess der TN hatten, könnte darauf hindeuten, dass der nachgewiesene Mangel an Vorbildfiguren in der Physiotherapie (Condon et al., 2016) ein bedeutsamer Faktor ist, warum viele Therapeut_innen eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung in Bezug auf EBP-Aktivitäten entwickeln (Salbach et al., 2007).

Nach Rogers (2003) ist die wichtigste Eigenschaft für die schnelle Übernahme von Innovationen die Innovativität, die er z.B. mit „erhöhten Problemlösungsfähigkeiten“ in Verbindung bringt. Diese Eigenschaften lassen sich auch bei den TN finden. Konfrontiert mit einer Irritation im physiotherapeutischen Lernprozess begannen sie sich auf die Suche nach zufriedenstellenden Antworten zu machen. Die Berichte liefern damit mögliche Hinweise darauf, dass die Innovativität ein Faktor ist, der Therapeut_innen, die eine EBP erfolgreich implementieren, von solchen unterscheidet, die zwar eine positive Einstellung gegenüber einer EBP haben, diese jedoch nicht in ihre Praxis übernehmen. Die befürwortende Haltung gegenüber einer EBP ohne deren Implementierung stellt in der Forschung zur EBP-adhärenz ein häufig beschriebenes Phänomen dar (Salbach et al., 2007; Scurlock-Evans et al., 2014). Basierend auf den Erkenntnissen dieser Arbeit könnte die physiotherapeutische Forschung zum Konstrukt der Innovativität möglicherweise an den ersten Untersuchungen zur Lehre mithilfe des Innovations-Entscheidungsprozesses (Schmidt & Brown, 2007) anknüpfen um die Innovativität von angehenden Physiotherapeut_innen durch neue Lehrmethoden positiv zu beeinflussen.

Mithilfe des qualitativen Untersuchungsansatzes gelang es in dieser Arbeit sich dem Implementierungsprozess der TN zu nähern und erlebte Barrieren und Strategien zu rekonstruieren. Ein verstärkter Austausch mit Kolleg_innen spielte dabei eine besondere Rolle. Die TN gaben an, vielfältige Versuche unternommen zu haben, mehr Kolleg_innen von der EBP zu überzeugen. Sie zeigten hier ebenfalls Hinweise auf eine Angehörigkeit zur Early Adopter Gruppe und unterstützen damit die in dieser Arbeit genutzte Samplingmethode.

Eine weitere Strategie, um die EBP in ihre therapeutische Arbeit zu implementieren, fanden die TN in Form des ‚Wissenschaftskonsums‘. Wie auch bei vielen Physiotherapeut_innen im englischen Sprachraum (Condon et al., 2016) ist ein Durchlaufen des fünfschrittigen EBP-Prozesses bei den TN selten. Vielmehr beschrieben sie eine dynamische Auseinandersetzung über verschiedene Online-Plattformen, die vor allem in der Freizeit stattfindet. Gerade für die Barriere Zeit scheint diese Strategie besonders hilfreich zu sein. Hier ergeben sich gleichzeitig Fragen der Qualitätssicherung. Neuere Studien zeigen, dass Online-Informationen über Rückenschmerzen häufig nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisstand sind (Suhail & Quais, 2022). Eine kritische Betrachtung der Inhalte von Wissenschaftskommunikationsplattformen der deutschen Physiotherapie könnte hier Einblicke liefern, inwieweit sich diese Plattformen für eine Diffusion der EBP eignen. In der Hauptkategorie ‚Bestätigung‘ wurde zusammengefasst, was die TN dazu bewegt, die EBP langfristig beizubehalten. Die Berichte der TN liefern vielfältige Argumente für eine EBP, gleichzeitig lässt sich die Rolle der EBP als eine Innovation in der Physiotherapie anhand der Berichte auch kritisch betrachten. Während die TN von einem positiven Effekt auf ihre persönliche Arbeit berichteten, veränderte sich ihre Situierung im sozialen System der Physiotherapie durch die Implementierung nicht. Trotz der EBP-Implementierung beschrieb TN5 eine prekäre Arbeitssituation und TN1 und TN3 betonten, dass sie nicht wüssten, wie lange sie ihre persönliche Motivation im Kontext der physiotherapeutischen Arbeitsbedingungen noch aufrechterhalten möchten. Insgesamt zeigt sich, dass die Implementierung der EBP bei den TN mit viel Aufwand, hoher Eigenmotivation, hoher Frustrationstoleranz, hohem Durchsetzungsvermögen und einem zeitweiligen Zurückstellen anderer Lebensbereiche in Verbindung steht. Gleichzeitig führt eine Implementierung anscheinend nicht zu einem besseren Einkommen oder neuen beruflichen Perspektiven im therapeutischen Bereich. Der relative Vorteil einer Innovation ist ein wichtiger Faktor für deren flächendeckende Übernahme (Karnowski, 2017, S. 61). Dies scheint ein bedeutender Aspekt zu sein, der gemeinsam mit den beschriebenen Barrieren betrachtet und auf der systemischen Ebene des sozialen Systems der Physiotherapie gelöst werden muss. Neben diesem Bedarf an weiteren Einblicken in die Diffusionsprozesse der deutschen Physiotherapie lässt sich auf der Ebene des Individuums festhalten, dass die Implementierung einer EBP von einer hohen Individualität gekennzeichnet ist. Während die Implementierungswissenschaft sich häufig auf das Identifizieren von Barrieren und Förderfaktoren fokussiert, sollten in Zukunft auch erfolgreiche Übernehmer_innen verstärkt befragt werden, um relevante Einblicke in die Diffusion der EBP oder anderer klinischer Innovationen zu erhalten.

Schlussfolgerung

In dieser Arbeit wurde die Diffusionstheorie als eine Theorie der Implementierungswissenschaften ausgewählt, um den Implementierungsprozess einer EBP bei Early Adoptern der deutschen Physiotherapie zu untersuchen. Bei der Implementierung der EBP stießen die befragten TN auf unterschiedliche Barrieren und entwickeln die Strategien, ‚Austausch‘, ‚Umweltgestaltung‘, ‚Wissenschaftskonsum‘ und ‚Selbstorganisation‘, um diese zu überwinden. Die Strategien waren dabei durch eine hohe Individualität geprägt und durch eine Vielzahl persönlicher sowie umweltbezogener Faktoren beeinflusst. Die Ergebnisse dieser Arbeit schließen damit an bisherige Erkenntnisse zur EBP an. Wie Scurlock-Evans et al. (2014) zusammenfassen, kann es keinen „one-size-fits-all“-Ansatz zur Verbesserung der EBP-Implementierung geben. Abgesehen von den persönlichen Eigenschaften und Voraussetzungen des Individuums ist die Betrachtung ihres Umfeldes und der Kultur ihrer Arbeitseinrichtungen und Organisationen von Bedeutung, um in Zukunft wirksame Implementierungsstrategien zu entwerfen.

eISSN:
2296-990X
Sprachen:
Englisch, Deutsch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Medizin, Klinische Medizin, andere