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Staat, Raum und Infrastruktur: Wie die Eisenbahn nach Galizien kam

   | 08. Aug. 2018

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Indem Preußen, Russland und Österreich in den Jahren 1772, 1793 und 1795 das Staatsgebiet Polen-Litauens unter sich aufteilten, besiegelten sie das Ende des seit Jahrhunderten bestehenden Vielvölkerreichs. ›Galizien‹

Von 1867 bis 1918 trug das im Nordosten des Habsburgerreichs gelegene Kronland die offizielle Bezeichnung ›Königreich Galizien und Lodomerien‹.

wurde das unter habsburgische Herrschaft geratene Territorium genannt, es bildete fortan den nordöstlichen Rand der Monarchie. Auf Veranlassung Maria Theresias und ihres Nachfolgers Joseph II. wurde dort sogleich mit dem Bau von Chausseen begonnen.

Andreas Helmedach: »Integration durch Verkehr. Das Habsburgerreich«, in: Osteuropa. Interdisziplinäre Monatszeitschrift zur Analyse von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Zeitgeschichte in Osteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa 55/3 (2005), S. 18–31, hier S. 22.

Damit knüpften sie an eine Verkehrs- und Straßenpolitik an, die bereits seit der Regentschaft Karls VI. (1711–1740) mit wechselnden Schwerpunktsetzungen betrieben worden war.

Herbert Knittler unterteilt die im 18. und 19. Jahrhundert herrschende Epoche der Chausseen in vier Phasen, die sich in etwa mit den Regierungszeiten Karls VI., Maria Theresias, Josephs II. und schließlich Franz II. (I.) und seines Sohnes Ferdinand decken; Herbert Knittler: »Das Verkehrswesen als Ausgangspunkt einer staatlichen Infrastrukturpolitik«, in: Herbert Matis (Hg.): Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1981, S. 137–160.

Maria Theresia und Joseph II. setzten insbesondere auf die integrative Wirkung, die der Chausseebau und die Herstellung von Verbindungen in die Nachbarprovinzen zur Folge haben sollten.

Wiederum war die verbindende Kraft eines der Hauptargumente, als ab den 1830er Jahren für den Bau von Eisenbahnstrecken geworben wurde. So argumentierte Franz Riepl, Professor an der Polytechnischen Hochschule in Wien, in seiner im Jahr 1836 verfassten Studie über den Eisenbahnbau, dass durch die Herstellung von Eisenbahnverbindungen das Zusammengehörigkeitsgefühl der verschiedenen »Völkerschaften« wachsen und dann auch »der Galizier und Lombarde […] ein eifriger Oesterreicher werden«

Österreichisches Staatsarchiv (Wien) [ÖStA], Allgemeines Verwaltungsarchiv [AVA], Verkehr [Vk], Hofstellen und Ministerien – Vereinigte Hofkanzlei [VH], Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 3–52, Franz Riepl: »Unterthänigstes Gutachten«, 18. 3. 1836.

würde.

Die vielseitigen Vorteile des neuen Verkehrsmittels wurden jedoch nicht nur in Wien erkannt, auch in den Provinzen wurde auf die Eisenbahn als Fortschrittsbringer gesetzt. Diesem Umstand wird in den ›Klassikern‹

Aus der Fülle an Literatur seien hier nur zwei der wichtigsten Titel genannt: Hermann Strach et al. (Hg.): Geschichte der Eisenbahnen der Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie, 7 Bde., Wien 1898–1908; Alois Czedik: Der Weg von und zu den österreichischen Staatsbahnen 1824–1854/1858, 1882–1910, 3 Bde., Cieszyn 1913.

über das habsburgische Eisenbahnwesen oft zu wenig Beachtung geschenkt. Weil in ihnen die Geschichte des Eisenbahnbaus vorwiegend aus der Perspektive der Zentrale geschrieben wurde, verfestigt sich auch nachträglich der – oft durchaus intendierte – Eindruck, die Fortschritte dieses größten Infrastrukturprojektes des 19. Jahrhunderts seien hauptsächlich durch staatliche Initiative entstanden. Den Auf- und Ausbau von Infrastrukturen lediglich auf das Engagement ›von oben‹ zurückzuführen, lässt jedoch ein unvollständiges Bild entstehen. Am Beispiel Galiziens soll im Folgenden gezeigt werden, wie durch die Initiative und das Engagement regionaler Akteure der Eisenbahnbau im nordöstlichen Kronland vorangetrieben und damit auch zur Komplettierung eines monarchieweiten Eisenbahnnetzes beigetragen wurde. Indem im vorliegenden Beitrag die in Sachen Eisenbahnbau in Wien beziehungsweise Lemberg (Lwów, Ľviv) unternommenen Schritte miteinander verglichen werden, sollen Antworten auf die Frage gefunden werden, welchen Anteil galizische Akteure am Ausbau der Landeshauptstadt Lemberg zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt in dieser Region hatten.

Auf eine einfache Formel gebracht, sind die Hauptmotive für den Auf- und Ausbau von Infrastrukturen gemäß Dirk van Laak, der sich in zahlreichen Aufsätzen mit diesem Thema auseinandersetzt, »Anschluss« und »Integration«.

Dirk van Laak: »Infrastrukturen und Macht«, in: François Duceppe-Lamarre / Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte, München 2008, S. 106–113, hier S. 111. Zur Bedeutung von Infrastrukturen für das Verhältnis zwischen Staat und Raum siehe auch den Beitrag von Stefan Couperus et al. in diesem Band.

Die Aussicht, mittels neuer Transporttechnologie in kürzerer Zeit zu anderen Orten zu gelangen und Anschluss an wichtige Handelsplätze und Wirtschaftszentren zu erlangen, gehörte auch zu den Beweggründen, die im 19. Jahrhundert zum Bau von Eisenbahnstrecken führten. Sobald die ersten Strecken gebaut worden waren, konnten von jeder sich auf ihnen befindlichen Station weitere Verbindungen geplant und hergestellt werden. Die Eisenbahn konstituierte also neue oder verfestigte bestehende Räume, indem sie bestimmte Orte miteinander verband und andere außer Acht ließ.

Der Ausbau von Eisenbahnnetzen war vor allem eine Frage der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel und der Prioritäten bei ihrer Verteilung. Letztere unterschieden sich zwischen den beteiligten Gruppen von Akteuren beträchtlich, denn während sich die meisten von ihnen der raumbildenden Wirkung der Infrastrukturprojekte bewusst waren oder wurden, wollten nicht alle dieselben Räume entstehen sehen. Die Regierenden großer Imperien sahen den Vorteil eines weitverzweigten Eisenbahnnetzes oft darin, dass auch weit entfernt gelegene Regionen des Territoriums ans Zentrum angeschlossen und in ein einheitlicher werdendes Staatsgebiet eingebunden werden konnten. Die Herstellung eines Eisenbahnnetzes half also aus dieser Sicht, das Territorium des Staates genauer zu umreißen und zu einem größeren Ganzen zu integrieren. Private Eisenbahnunternehmer verfolgten mit ihrem Engagement für den Eisenbahnbau hingegen andere Ziele und hatten andere Raumvisionen. Welche unterschiedlichen Raumentwürfe im Laufe von mehreren Jahrzehnten Eisenbahndebatten aufkamen, wird im vorliegenden Beitrag ergründet.

Zur sozialen Konstitution von Räumen siehe die Einleitung zu diesem Band, Abschnitt 4.

Der Beitrag gliedert sich in die folgenden drei Themenbereiche. Zunächst werden die von staatlicher Seite in den Aufbau eines Eisenbahnnetzes gesetzten Hoffnungen und Erwartungen mit denen verglichen, die die Einführung des neuen Verkehrsmittels in Galizien zu wecken vermochte. Das im Jahr 1836 von Franz Riepl verfasste und von höchsten Stellen in Empfang genommene »Unterthänigste Gutachten« wird auf jene Vorteile untersucht, die er dem Staat in handelspolitischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht durch den Bau einer die Monarchie durchmessenden Nord-Süd-Transversale

Für die von Brody bis Triest reichende Strecke könnte genauso gut die Bezeichnung ›Ost-West-Transversale‹ verwendet werden. Bei seinen Erläuterungen zur Herstellung der Eisenbahnstrecke unterteilt Riepl in einen nördlich und einen südlich der Donau liegenden Abschnitt. Dieser Untergliederung Riepls folgend wird auch hier die Bezeichnung ›Nord-Süd-Transversale‹ verwendet.

in Aussicht stellte. Riepls Prophezeiungen werden jenen galizischer Eisenbahnpioniere gegenübergestellt.

Während sich der erste Abschnitt den in das neue Verkehrsmittel gesetzten Erwartungen widmet, untersucht der zweite Abschnitt, inwiefern die habsburgische Eisenbahnpolitik in der ersten Staatsbahnperiode (1841–1854) den Eisenbahnbau in Galizien beförderte oder verzögerte. Im dritten Abschnitt werden am Beispiel der Herausbildung Lembergs zum Verkehrsknotenpunkt die Fortschritte im Bahnbau während der zweiten Privatbahnepoche (1854–1873) resümiert. Dabei soll insbesondere geklärt werden, ob, wie von Riepl prophezeit, das Eisenbahnnetz in seiner letztlich gebauten Form tatsächlich eine integrative Wirkung zugunsten des habsburgischen ›Gesamtstaates‹ entfalten und die Stärkung Wiens als Zentralort bewirken konnte.

Eisenbahnvisionen für die Habsburgermonarchie und Galizien

Nachdem die im 18. Jahrhundert im Alpenvorland und im Karst verfolgten Kanalbauprojekte des Habsburgerreichs wegen finanzieller Probleme nicht zu bewältigen gewesen waren, wurde nach technischen Ersatzmöglichkeiten für die Weiterentwicklung von Kommunikation und Verkehr gesucht. Der Verkehr auf Schienen geriet ins Blickfeld von Männern wie Franz Joseph von Gerstner (1756–1832) und seinem Sohn Franz Anton von Gerstner (1796–1840).

Helmedach: »Integration durch Verkehr«, S. 25.

Bereits im Jahr 1829 war auch Franz Riepl, zu dieser Zeit schon ein anerkannter Eisenbergbau- und Hüttenfachmann, mit seinem Projekt einer ›Wien-Bochnia-Bahn‹

Im Entwurf der ›Wien-Bochnia-Bahn‹ wurde Wien mit den mährischschlesischen Industriegebieten und den weiter nördlich in Westgalizien gelegenen Salzbergwerken rund um Bochnia verbunden; vgl. Nikolaus Reisinger: »Franz Riepl und die Anfänge des österreichischen Eisenbahnwesens«, in: Herwig Ebner / Paul W. Roth / Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.): Forschungen zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes. Festschrift für em. o. Univ.-Prof. Dr. Othmar Pickl zum 70. Geburtstag, Graz 1997, S. 307–331, hier S. 308f.

an die Öffentlichkeit getreten. Besondere Aufmerksamkeit hatte er damit bei Salomon Mayer Freiherr von Rothschild erregt, dem Wiener Spross der in verschiedenen europäischen Staaten ansässigen Rothschild-Dynastie. Salomon von Rothschild hatte spätestens seit den ermutigenden Berichten, die sein Bruder Nathan Rothschild aus London über den Erfolg der Eisenbahn in England an ihn und seine Brüder in Paris und Frankfurt geschickt hatte, begonnen, sich für Möglichkeiten der Finanzierung von Eisenbahnprojekten zu interessieren.

Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Ostfildern 2005, S. 110.

Bis zur Bewilligung für den Bau der Strecke von Wien nach Bochnia und zur Aufforderung an Riepl zur Erstellung eines Gutachtens vonseiten der Regierung

Den Auftrag zur Erstellung des Gutachtens hatte Riepl vom Obersten Hofkanzler Anton Friedrich Graf Mittrowsky bekommen, der wiederum durch ein kaiserliches Handschreiben vom 27. 2. 1836 dazu aufgefordert worden war, ein solches einzuholen; vgl. Reisinger: »Franz Riepl und die Anfänge«, S. 314.

sollte es noch bis zum Jahr 1836 dauern.

Aus eisenbahntechnischer Sicht war die ebenfalls 1836 erfolgte Eröffnung der auf Pläne der Gerstners zurückgehenden Pferdeeisenbahn zwischen Budweis (České Budějovice), Linz und Gmunden noch bedeutsamer als die Erteilung des Privilegs an Salomon von Rothschild. Bereits 1831 war außerdem die Strecke der Pferdebahn zwischen Prag (Praha) und Lana (Lány u Rakovníka) fertiggestellt worden. Über die Entwicklung der Pferdeeisenbahn ausführlich Hermann Strach: »Geschichte der Eisenbahnen Oesterreich-Ungarns. Von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1867«, in: Hermann Strach (Hg.): Geschichte der Eisenbahnen der Oesterreichisch-Ungarischen Monarchie, Bd. 1/1, Wien 1898, S. 73–503, hier S. 106–108. Die zwei mit Pferden betriebenen Strecken Prag – Lana und Linz – Gmunden sowie die dampfbetriebene Kaiser-Ferdinands-Nordbahn waren die einzigen Bahnen, die den Charakter reiner Privatunternehmungen trugen. Aufgrund der Verleihung des Privilegs vor Festlegung der Konzessionsnormen im Jahr 1838 sollte die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn in den darauffolgenden Jahrzehnten in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung einnehmen. Lange Jahre schützte sie das 1836 erteilte Privileg vor der Verstaatlichung, und so wurde sie erst im Jahr 1906 und damit sehr viel später als andere Bahnunternehmen verstaatlicht. Einzelheiten zu den Privilegien jener in der »wahrhaft liberalen Ära: 1824–1841« gegründeten Bahnen bei Markus Klenner: Eisenbahn und Politik 1758–1914. Vom Verhältnis der europäischen Staaten zu ihren Eisenbahnen, Wien 2001, S. 126–156.

In diesem Jahr vergab Kaiser Ferdinand I. dann das erste Privileg zum Bau und Unterhalt einer dampfbetriebenen Eisenbahn an das Wiener Bankhaus des Salomon von Rothschild.

Der Titel des im Jahr 1836 an Rothschild erteilten Privilegs enthält auch die detaillierte Streckenführung und lautete wie folgt: »Privileg zur Errichtung einer Eisenbahn zwischen Wien und Bochnia mit den Nebenbahnen nach Brünn, Olmütz, Troppau, Bielitz und Biala dann zu den Salzmagazinen in Dwory, Wieliczka und bey Bochnia«. Das Privileg ist abgedruckt in: Joseph Pollanetz / Heinrich von Wittek: Sammlung der das Oesterreichische Eisenbahnwesen betreffenden Gesetze, Verordnungen, Staatsverträge und Constitutiv-Urkunden, Bd. 2/1, Wien 1871, S. 5–9.

Außerdem wurde der Vereinigten Hofkanzlei am 18. März 1836 Riepls »Unterthänigstes Gutachten« vorgelegt, in welchem die grundlegendsten technischen, finanziellen und politischen Aspekte des Eisenbahnbaus für die Monarchie erörtert wurden. Bestandteil dieses Konvoluts war zudem der Vorschlag für den Routenverlauf einer das gesamte Imperium durchmessenden Eisenbahnstrecke.

Das Privileg zum Bau der ersten dampfbetriebenen Eisenbahnstrecke und das Gutachten von Riepl bildeten nicht nur den Ausgangspunkt für die Entstehung eines monarchieweiten Eisenbahnnetzes und damit auch die Basis des heutigen Streckensystems,

Nikolaus Reisinger: Franz Riepl und seine Bedeutung für die Entwicklung des österreichischen Eisenbahnwesens, unpublizierte Dissertation, Universität Graz 1999, S. 6.

sondern waren auch für den Beginn des Eisenbahnzeitalters in Galizien von großer Bedeutung. Denn Ersteres sah als Endpunkt der in Wien beginnenden Strecke einen Ort in Westgalizien vor. Das in der Nähe von Krakau gelegene Bochnia war wegen seiner Salzvorkommen zum Endpunkt der anfänglich ›Wien-Bochnia-Bahn‹ genannten und später in ›Kaiser-Ferdinands-Nordbahn‹ umbenannten Strecke auserkoren worden. Das Gutachten Riepls wiederum bestimmte als nordöstlichsten Punkt des beigefügten Routenvorschlags die an der galizisch-russischen Grenze gelegene Stadt Brody.

Die Bauarbeiten an der Strecke der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn waren schon gut zwei Jahre im Gange, und der Streckenabschnitt zwischen Wien und Brünn (Brno) war bereits fertiggestellt, als die Eisenbahn im Jahr 1839 zum ersten Mal auf der Tagesordnung des Lemberger Landtags, auch ›galizischer Sejm‹ genannt, stand. Wie aus dem Tätigkeitsbericht des Sejms dieses Jahres hervorgeht, hatten sich die beiden polnischen Adligen Aleksander Fredro und Leon Sapieha mit ihrem Anliegen, die in Bau befindliche Eisenbahnstrecke zwischen Wien und Bochnia in östliche Richtung zu verlängern, an Wiener Hofstellen gewandt. Die »Wichtigkeit dieses Vorschlags«, heißt es im Tätigkeitsbericht weiter, »springt sogleich in die Augen«.

Übersetzungen aus dem Polnischen und Ukrainischen stammen von der Verfasserin. Im Original polnisch: Czynności Sejmu za rok 1839 [Tätigkeitsbericht des Sejms aus dem Jahr 1839], zitiert nach Stanisław Pigoń: »Komentarz«, in: Aleksander Fredro: Pisma wszystkie, Bd. 15: Pisma polityczno-społeczne. Aneksy, hg. von Stanisław Pigoń, Warszawa 1980, S. 114–116, hier S. 114.

In einem Brief, den Fredro am 26. Dezember 1839 an seinen adligen Standesgenossen Wladyslaw Sanguszko

Władysław Sanguszko (1803–1870), Graf und Pferdezüchter, ansässig in Guminsk bei Tarnów, wo er sich ein Schloss erbaute; vgl. Aleksander Fredro: Pisma wszystkie, Bd. 14: Korespondencja, hg. von Stanisław Pigoń, Warszawa 1976, S. 92.

schrieb, findet sich ebenfalls ein Hinweis auf den gemeinsam mit Sapieha unternommenen Vorstoß in der Eisenbahnfrage:

In diesen Tagen haben wir unsere Ansichten über das Projekt einer Eisenbahn zwischen Bochnia und Brzezany kundgetan. Ohne Zweifel wäre eine Eisenbahn von großem Nutzen für unser Land; es geht nur darum, dass jemand den Geldbeutel öffneteine Bagatelle!

Im Original polnisch. Brief von A. Fredro an W. Sanguszko vom 26. 12. 1839, in: Fredro: Korespondencja, S. 91f.

Indem Fredro hier mit Ironie bemerkte, mit welcher Leichtigkeit ein Geldgeber für das Eisenbahnprojekt zu finden sei, wies er auf ein Hindernis hin, das dem Eisenbahnbau Galiziens und der gesamten Monarchie dauerhaft im Wege stehen sollte: seine Finanzierbarkeit. Fehlende finanzielle Mittel waren es auch, die den Sejm, der das Eisenbahnprojekt zwar grundsätzlich für gut befand, zögern ließen. Zunächst wurde daher auf der Sitzung der galizischen Landstände am 12. Oktober die galizische Eisenbahnkommission gegründet.

Ihor Žaloba: Infrastrukturna Polityka Avstrijs’koho urjadu na pivničnomu schodu monarchii v ostannij čverti XVIII – 60-ch rokach XIX st., Černivci 2004, S. 126.

Diese bei den Landesstellen angesiedelte und vom Kaiser bestätigte Kommission sollte sich zunächst näher mit den Realisierungsmöglichkeiten einer Eisenbahn für Galizien auseinandersetzen und ihre Ergebnisse dann »so schnell wie möglich den gewählten Ständen« präsentieren.

Im Original polnisch. Tätigkeitsbericht des Sejms aus dem Jahr 1840, zitiert nach Pigoń: »Komentarz«, S. 114.

Die Eisenbahn als Teil der ›praca organiczna‹ und Instrument zur Integration

Beim Vergleich der in das neue Verkehrsmittel gesetzten Erwartungen spielen die verschiedenen Ansichten über Galizien eine wesentliche Rolle. Für diejenigen polnischen Aristokraten, die sich für die Einführung der Eisenbahn einsetzten, war Galizien ein Teilgebiet des annektierten polnisch-litauischen Staates. Die Herrschenden in Wien hingegen sahen es als eine neu hinzugewonnene Region, die es so rasch wie möglich in bestehendes Staatsgebiet einzugliedern galt. Entsprechend dieser divergierenden Auffassungen von Galizien unterschieden sich die politischen Motive derjenigen, die in Galizien und Wien für die Einführung des neuen Verkehrsmittels warben.

Nach Ansicht verschiedener Forscher, welche sich mit dem Leben Aleksander Fredros und Leon Sapiehas beschäftigten, waren es auch hauptsächlich politische Beweggründe, welche die beiden dazu bewogen, sich für das neue Verkehrsmittel einzusetzen.

Biografische Angaben zu Aleksander Fredro finden sich bei Krystyna Czajkowska: »Wstęp i Komentarze«, in: Aleksander Fredro: Pisma wszystkie, Bd. 15: Pisma polityczno-spoteczne. Aneksy, hg. von Stanisław Pigoń, Warszawa 1980, S. 5–22. Zu Leon Sapiehas Motiven für den Einsatz in Eisenbahnfragen vgl. Stefan Kieniewicz: Adam Sapieha (1828–1903), Ľviv 1939; Ihor Žaloba: »Leon Sapieha – a Prince and a Railway Entrepreneur«, in: Ralf Roth / Günter Dinhobl (Hg.): Across the Borders. Financing the World’s Railways in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Aldershot 2008, S. 49–62.

Die beiden Adligen gehörten einer Generation von Polen an, die sich um die Wiedererrichtung des zuvor in den drei Teilungen von der Landkarte verschwundenen polnischen Staates bemühten. In den Novemberaufstand des Jahres 1830, bei dem zum ersten Mal bewaffnet für die Unabhängigkeit Polens gekämpft wurde, waren Fredro und Sapieha auf unterschiedliche Weise involviert gewesen. Der 1793 in Surochów in der Nähe von Jarosław geborene Fredro stand in jungen Jahren in Diensten der napoleonischen Armee. Im Jahr 1830 trat er in Lemberg einem Bürgerkomitee zur Unterstützung der Aufständischen bei, zwei Jahre später versteckte er auf seinem Landgut Aufständische, die aus dem preußischen Teilungsgebiet geflohen waren.

Czajkowska: »Wstęp«, S. 7.

Leon Sapieha, im Jahr 1803 in Warschau geboren, war Spross einer alten polnisch-litauischen Adelsfamilie. Aufgrund seiner Beteiligung am Novemberaufstand im Jahr 1830 war er gezwungen, das russische Teilungsgebiet zu verlassen. Er emigrierte zuerst nach London und ließ sich später in Galizien nieder. Dort erwarb er unweit von Przemyśl das Landgut Krasiczyn, das er, wie es im »Österreichischen Biographischen Lexikon« heißt, »zu einer Musterwirtschaft machte«.

Marian Tyrowicz: »Sapieha Leon Fürst«, in: Eva Obermayer-Marnach et al. (Hg.): Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 9: Rázus Martin – Savić Žarko, Wien 1988, S. 421.

Wie bei einer Vielzahl ihrer adligen Standesgenossen wuchs auch bei Fredro und Sapieha mit der Zeit immer mehr die Überzeugung, dass die Unabhängigkeit des polnischen Staates nicht durch bewaffnete Aufstände zu erringen sei, sondern nur, indem sie sich selbst kontinuierlich für eine Hebung der wirtschaftlichen Lage Galiziens und für die Verbesserung der Bildung breiterer Schichten der polnischen Bevölkerung einsetzten. Auch wenn ihre Biografen den für diese politische Strategie üblichen Terminus ›organische Arbeit‹

Zur Definition der ›organischen Arbeite‹ vgl. Manfred Alexander: Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003, S. 235f.

(›praca organiczna‹) nicht ausdrücklich verwenden, sind die Motive, die nach ihrer Darstellung Fredros und Sapiehas Überzeugungen und Handlungen leiteten, doch eindeutig dieser seit den missglückten Aufstandsversuchen von 1830/1831 immer mehr Anhänger findenden Ideologie zuzuordnen.

Neben seinem Interesse an kulturellen Fragen setzte sich Fredro seit dem Jahr 1839 auch mit den Möglichkeiten einer Eisenbahn für Galizien und deren Finanzierung auseinander. Fredro zog sich seit Herbst 1842 immer mehr von seinen politischen Ämtern zurück. Obwohl seinen Posten in der Eisenbahnkommission dann jemand anderer übernahm, engagierte er sich auch weiterhin für die Einführung des neuen Verkehrsmittels in Galizien.

Pigoń: »Komentarz«, S. 115.

Fredros wirksamer, wenn auch nur kurzer Auftritt auf der politischen Bühne ist nach Ansicht Krystyna Czajkowskas mit dessen patriotischer Haltung und seinem Willen verbunden, etwas zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage Galiziens beizutragen.

Czajkowska: »Wstęp«, S. 6f.

Die gleichen Motive sehen auch diejenigen, welche sich mit Leben und Werk Leon Sapiehas beschäftigt haben, als Hauptquelle für dessen lebenslangen Einsatz für die Eisenbahn in Galizien. Der polnische Historiker Stefan Kieniewicz stellt anhand eines fiktiven Gespräches, das er zwischen Leon Sapieha und seinem Sohn Adam stattfinden lässt, einen Zusammenhang zwischen Leon Sapiehas Überzeugung von der Wirksamkeit der ›organischen Arbeit‹ und dessen politischem Handeln her:

Bei einem Ausritt auf dem Landgut Krasiczyn nahm Leon Sapieha im Sommer 1844 seinen Sohn mit und sprach mit ihm zum ersten Mal über öffentliche Angelegenheiten. Die Unabhängigkeit des Vaterlandessprach erist unser Ziel und die Arbeit dafür ist unsere allerhöchste Pflicht. Aber Polen ist schwach, arm und selbst seine Landsleute wollen nichts von ihm wissen. Ein weiterer Aufstand würde mit einer noch größeren Niederlage enden. Man kann das Land voranbringen, indem man es stärkt und aufklärt. Der Fürst begann nun vor seinem 15-jährigen Sohn Schritt für Schritt das Programm der organischen Arbeit zu entfalten [»roztaczał krok za krokiem program organicznej pracy«]. Die Sparkasse, die landwirtschaftliche Vereinigung, das Eisenbahnnetz, Fabriken und Bankenall dies würde den Polen dereinst als Waffe im Kampf um die Unabhängigkeit dienen.

Kieniewicz: Adam Sapieha, S. 11.

Bei dieser Darstellung der Handlungsmotive Sapiehas dürfen die Hintergründe, vor denen Kieniewiczs 1939 veröffentlichte Biografie entstand, nicht aus dem Blickfeld geraten. Sapiehas Handeln, das hier allein mit dessen Altruismus und mit seiner Überzeugung begründet wird, für das Wohl des Vaterlandes zu kämpfen, sollte auch als Vorbild in der zugespitzten Lage der Zwischenkriegszeit dienen. Jedoch betont auch der ukrainische Historiker Ihor Žaloba in seinem vor wenigen Jahren veröffentlichten Aufsatz über Leon Sapieha, dass dessen Einsatz für die Eisenbahn in Galizien nicht allein auf Gewinn ausgerichtet war, sondern vor allem auf seine Überzeugung zurückzuführen sei, damit mehr für die Unabhängigkeit Polens tun zu können als durch bewaffnete Aufstände.

Žaloba: »Leon Sapieha«, S. 49.

Während galizische Eisenbahnpioniere den Ausbau des Eisenbahnnetzes als ein Mittel zur Wiedererlangung eines polnischen Staates betrachteten, pries Riepl die Eisenbahn als Instrument zur Konsolidierung habsburgischer Herrschaft. Riepl verfasste sein »Gutachten« im Auftrag der Hofkanzlei und auf Geheiß des Kaisers. Das kommt unter anderem zum Ausdruck, wenn er wiederholt betont, dass die Eisenbahn einzig und allein der »Wohlfahrt des Staates« dienen solle. Ein sich wie die Habsburgermonarchie auf ein so gewaltiges Gebiet erstreckender Staat würde davon profitieren, wenn sich die Distanzen im Land verringerten. Die verschiedenen hier lebenden »Völkerschaften« würden einander besser kennenlernen, und das Zusammengehörigkeitsgefühl würde wachsen. Die Herstellung eines Eisenbahnnetzes führe somit gleichsam zu einer Vernetzung der verschiedenen Provinzen. Die Vorteile der Eisenbahn sieht Riepl in »socialer Hinsicht« daher vor allem in ihrer integrativen Wirkung:

Ein großer Staat, welcher aus verschiedenen Völkerschaften und Elementen besteht, nimmt an innerer Stärke zu, in welchem seine heterogenen Bestandteile in materieller und socialer Hinsicht zusammen hängen. Der vereinzelte Verkehr im Kleinen stiftet individuelle Freundschaften, – ein großes natur- und zweckmäßig gepflegtes Handels-Netz bringt ganze Völker in den innigsten Verband, und macht selben zum Gegenstand des wechselseitigen Bedürfnisses.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 17r.

Verbesserung der handels- und wirtschaftspolitischen Lage

Sowohl bei Riepl als auch bei den galizischen Akteuren war die in Aussicht gestellte Verbesserung der handels- und wirtschaftspolitischen Lage ein Hauptargument, mit dem für den Bau der Eisenbahn geworben wurde. Eine Karte, auf der die Route der von Riepl als »Nord-Süd-Transversale« bezeichneten Strecke eingezeichnet wäre, sucht man in Riepls Gutachten vergeblich. Stattdessen findet sich auf Seite 3 eine schriftliche Beschreibung über:

[…] den Riesenplan einer Eisenbahn-Anlage von Brody oder besser Stanislau über Stry, Sambor (mit einem Flügel nach Lemberg) nach Przemysl, Jaroslau, Bochnia, Podgorze, Schwarzwasser, Schweinsbrücke, Pölten, Weisskirchen, Leipnik, Prerau, Hollein, Napagedl, Ungarisch Hradisch, Lundenburg, Wien, Bruck an der Leytha, Wieselburg, Warasdin, Laibach, Görz, Monfalcone nach Triest.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 3v.

Riepls Konzept sah außerdem die Anlage von Flügelbahnen vor, die von der Hauptstrecke abzweigen sollten.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 4r.

Nach seinen Berechnungen würde die Gesamtstrecke mit Flügelbahnen eine Länge von 300 deutschen Meilen (2274 Kilometern) ergeben:

Wenn man diese Haupt-Trace mit Aufmerksamkeit verfolgt, so zeigt sich, daß selbe sammt den Flügelbahnen nach Troppau, Ollmütz und Prag, nach Brünn, Presburg, Raab und Pesth, nach Grätz und von Monfalcone nach Padua, Verona, Mantua und Mailand auf einen Gesammtwege von mehr als 300 deutschen Meilen […] disponibel habe.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 4r.

Die ganze Dimension des Vorhabens wird auf einer von Nikolaus Reisinger unter Berücksichtigung dieser Routenbeschreibung entworfenen Karte deutlich (Abb. 1). Mit der Empfehlung, eine Transversale mit abzweigenden Flügelbahnen zu errichten und somit ein Verkehrsnetz zu schaffen, hoben sich Riepls Pläne von anderen zu dieser Zeit bestehenden Entwürfen ab; diese sahen zwar auch die Schaffung überregionaler Verbindungen vor, beschränkten sich aber auf die Herstellung einzelner Strecken. Eine weitere Neuheit war, dass bei Riepl die Endpunkte der von ihm angedachten Verbindung zugleich Anknüpfungspunkte zu weiteren Bahnen bildeten.

Reisinger: Franz Riepl und seine Bedeutung, S. 12.

Die Herstellung des von ihm geplanten Liniennetzes mit zahlreichen Anbindungen in die Nachbarländer sollte die Position der Habsburgermonarchie stärken und ihr mehr Möglichkeiten der Einflussnahme sichern. Auf welche Art und Weise sich durch die Anlage des von ihm favorisierten Eisenbahnnetzes Verschiebungen von Handelsrouten innerhalb Europas ergeben würden, kommt in der folgenden Passage zum Ausdruck, wo er schreibt, Riepl sieht vor allem die Zeitersparnis, wenn er im Weiteren vorrechnet, dass sich die Reisezeit auf dem von ihm vorgeschlagenen Landweg von Triest bis zum Norden auf drei bis sechs Tage reduzieren ließe. Auf der »sehr gefährlichen Seefahrt zwischen den levantinischen Küsten und jenen der Nord- und Ostsee« wären hierfür zwei bis drei Monate nötig.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 16v.

Abbildung 1

Franz Riepls Entwurf zum Bau eines die gesamte Monarchie umfassenden Eisenbahnnetzes von 1836 (Quelle: Reisinger: Franz Riepl und seine Bedeutung; reproduziert mit Genehmigung des Urhebers).

dass durch das fragliche große Eisenbahn Netz ein großer Transito-Handelszug erfolgen, und die Handelsplätze Odessa, Hamburg und Danzig einen guten Theil ihres Geschäfts verlieren müßtenbesonders die levantinischen, nordafrikanischen, italienischen, südfranzösischen Handelsartikel müßten nach Böhmen, Oberschlesien, Galizien, dem Königreiche Pohlen, Wolhynien etc. diesen Straßenzug nehmen, und die Produkte aus dem Norden und Nordosten zur Gegenfracht werden.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 16v.

Auch in Galizien weckten die Routenplanung und mögliche Verbindungen in Nachbarländer Hoffnungen auf eine Verbesserung der Handelsbeziehungen und die Einbindung in ein größeres Gebiet. In einem an Leon Sapieha gerichteten Brief vom 12. Januar 1841 erläutert Fredro, wie die Routen verlaufen müssten, damit sich Galizien erneut zu einem wichtigen Handelsschnittpunkt entwickeln könnte. Eine in Richtung Dniester angedachte Route ließe sich bis zum Schwarzen Meer und »vielleicht sogar bis nach Konstantinopel« verlängern und würde so »zu einer für Europa wichtigen Handelsroute«. Ein zweiter Vorschlag sah die Herstellung einer Strecke zwischen Jarosław, dem San und der Weichsel vor. Auf diese Weise war eine Verbindung zwischen Galizien und der Ostsee möglich. Von Krakau aus wäre durch die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn zum einen die Verbindung nach Wien gewährleistet. Zum anderen ließe sich »von Krakau aus auch eine Verbindung zur preußischen Eisenbahn nach Bieruń, Opole, Wrocław und weiter nach Berlin – zur Elbe – nach Hamburg und in den Himmel, wenn Sie das wünschen«, herstellen.

Im Original polnisch. Brief von A. Fredro an W. Sanguszko vom 12. 1. 1841, in: Fredro: Korespondencja, S. 99f.

Sowohl Riepl als auch Sapieha und Fredro gerieten ins Schwärmen angesichts der positiven Handelsentwicklung, die sich durch die zunächst auf dem Reißbrett erstellten Eisenbahnverbindungen ergeben würde. Dabei unterschieden sich die für die gesamte Monarchie in Aussicht gestellten Veränderungen jedoch in einigen Punkten von den für Galizien prognostizierten. Während Riepl beispielsweise den Bedeutungsverlust bestimmter Handelsverbindungen zugunsten der Monarchie prophezeite, spekulierten galizische Akteure gerade auf den Bedeutungsgewinn dieser Handelsverbindungen zugunsten Galiziens. Riepl beispielsweise stellte in Aussicht, dass die Bedeutung wichtiger Hafenstädte wie Odessa, Hamburg oder Danzig durch die Herstellung der neuen Eisenbahnverbindungen abnehmen würde. Fredro und Sapieha erhofften sich jedoch gerade von der Stärkung der Handelsverbindungen zwischen Schwarzem Meer und Ostsee bessere Entwicklungschancen für Galizien. Für die Herstellung eines monarchieweiten Eisenbahnnetzes warb Riepl in seinem 1836 der Vereinigten Hofkanzlei vorgelegten Gutachten auch mit dem Argument, dass sich das Verhältnis zwischen den einzelnen Provinzen verbessern würde. Auch die Galizier erhofften sich eine bessere Anknüpfung an die südlichen und westlichen Provinzen der Habsburgermonarchie, spekulierten aber ebenso auf eine Stärkung der Beziehungen ins nördlich und südlich gelegene Ausland bis hin zum Orient. Beide Visionen gingen also von der Konstruktion neuer Verkehrs- und Wirtschaftsräume durch die Eisenbahn aus. Bei Riepl wurde jedoch die Kongruenz mit dem staatlich-politischen Raum der Habsburgermonarchie betont, der nach innen an Kohärenz und gegenüber seinem europäischen Umfeld an Zentralität gewinnen sollte. Bei Fredro hatten die Anschlüsse innerhalb der Monarchie keine Priorität. Seine Überlegungen zielten auf die Schaffung eines besser zu integrierenden Wirtschaftsraums, der sich nicht annähernd mit dem Kaisertum Österreich deckte, sondern eher die Vision eines künftigen polnischen Staates darstellte.

Prognosen für die Entwicklung von Wien und Lemberg

Nicht nur hinsichtlich der Ausrichtung und Ausdehnung der zu schaffenden Räume unterschieden sich die Positionen der galizischen Eisenbahnpioniere von denen Riepls. Auch die Prognosen, welche beide Seiten über den Bedeutungszuwachs bestimmter Städte aufstellten, wichen klar voneinander ab. Riepl weist Wien in seiner Streckenplanung eine zentrale Position zu. Damit orientiert er sich an der Wege- und Verkehrsplanung der Voreisenbahnzeit, in der die habsburgische Haupt- und Residenzstadt durch die Anlage sternförmig von ihr ausgehender »Hauptcommerzialstrassen« zum wichtigsten Knotenpunkt geworden war.

Mit dem Ziel, einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen, war in der Habsburgermonarchie seit dem 18. Jahrhundert der Chausseebau vorangetrieben worden. Anfänglich verliefen die als ›Hauptcommerzialstrassen‹ bezeichneten Hauptlinien noch sternförmig von Wien aus in alle Richtungen. Seit der Regentschaft Karls VI. wurde dann damit begonnen, auch Wege zu schaffen, welche die Hauptstraßenzüge miteinander verbanden; vgl. Helmedach: »Integration durch Verkehr«, S. 21.

Wenn Riepl etwa schreibt: »Wien würde durch dieses Eisenbahn-Netz und die Donau der Hauptstappelplatz des mitteleuropäischen Handels und des Verkehrs zwischen dem Mittelmeere, dem Norden und Nordosten Europas!«,

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 1, Zl. 62 ex 1838, fol. 16v–17r.

sieht er Wien nicht nur als Zentrum der Habsburgermonarchie, sondern eines noch größeren Gebiets.

Während Riepl durch die Herstellung des von ihm vorgesehenen Liniennetzes eine Stärkung der Hauptstadt in Aussicht stellt, wird Wien in den Unterlagen der Galizier als ein Streckenendpunkt unter vielen behandelt. Zwar gehen die Galizier auch nicht explizit auf Lemberg als wichtigen Eisenbahnknotenpunkt ein, eine besondere Stellung erhält die galizische Landeshauptstadt aber dann, wenn nachdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sie bei der Routenplanung auf keinen Fall ausgespart werden dürfe und sie auch wirklich in jedem Streckenentwurf mitbedacht wird. Auf der mentalen Karte von Galizien hatte Lemberg als einstmals wichtiger Handelsschnittpunkt der von West nach Ost und von Süd nach Nord verlaufenden Verbindungen die Jahrhunderte überdauert. Das zeigt sich, wenn bei der Planung überregionaler Routenverbindungen durch Lemberg führende Strecken konzipiert wurden, die sich am Verlauf einstiger Handelsrouten orientierten. Die Vorstellung, dass sich Galizien durch ein klug angelegtes Streckennetz zu einem Schnittpunkt zwischen Orient und Okzident sowie Ostsee und Schwarzem Meer entwickeln könnte, hat einen weit in die Geschichte zurückreichenden Ursprung. Im Mittelalter waren zwei wichtige Handelsrouten durch Galizien verlaufen. Eine hatte von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer geführt, eine war von Mainz und Regensburg über Böhmen, Ungarn oder Kleinpolen nach Kiew und weiter zum Kaspischen Meer verlaufen.

Anna Veronika Wendland: »Galizien: Westen des Ostens, Osten des Westens«, in: Österreichische Osthefte. Zeitschrift für Mittel-, Ost- und Südosteuropaforschung 42 (2000), S. 389–421, hier S. 391.

In Galizien hatten sich diese Wege gekreuzt, und die Stadt Lemberg, in welcher der Umschlag der auf diesen Handelsrouten transportierten Waren stattfand, hatte prosperiert.

Yaroslav Hrytsak: »Lviv: A Multicultural History through the Centuries«, in: Harvard Ukrainian Studies 24 (2000), S. 47–73, hier S. 48.

Mit der Herstellung von Eisenbahnstrecken verband sich für die Galizier vor allem der Wunsch, die wirtschaftliche Lage ihres Landes zu bessern. Auf längere Sicht sollten ein gut ausgebautes Verkehrsnetz und ein wirtschaftlich prosperierendes Galizien wieder Teil eines polnischen Staates werden, für dessen Wiederbelebung sich die galizischen Eisenbahnpioniere einsetzten. Eine Abspaltung Galiziens war natürlich nicht im Sinne der Wiener Regierung. In der Anfangsphase setzte sie stattdessen auf den Bau einer Eisenbahnlinie, die, wie von Riepl vorgeschlagen, das gesamte Territorium der Monarchie von Süden nach Norden durchmaß und die verschiedenen Provinzen miteinschloss.

In dieser ersten Phase des Eisenbahnbaus fanden das Nachdenken über praktikable Verläufe von Eisenbahnrouten, das Vermessen von Räumen und das Kartografieren von Landschaften statt. Diese intensive Auseinandersetzung bewegte sich vorerst – vor dem tatsächlichen Baubeginn der wesentlichen Strecken – hauptsächlich auf der Ebene des konzipierten Raumes, des ›espace conçu‹ (Henri Lefebvre).

Henri Lefebvre: The Production of Space, Oxford 1991, S. 38.

Sie richtete sich vorderhand auf die Schaffung oder die bessere Integration von Wirtschaftsräumen, die aber von keiner Seite ohne Bezug zu staatlichen Räumen gedacht wurden. Bei Riepl und seinen Auftraggebern war es das Kaisertum Österreich, das in seinen bestehenden Grenzen besser zu einem einheitlichen Territorium integriert werden sollte. Bei Fredro und seinen Mitstreitern stand die Stärkung Galiziens als ökonomischer Raum im Vordergrund. Als Fernperspektive zeichnete sich ab, dass dieses Galizien Teil oder sogar Ausgangspunkt eines wiedererstandenen Staats-Raumes Polen werden sollte. Dass sich derart divergierende Raumvisionen auch vielfach auswirkten, als es um die faktische Einleitung des Eisenbahnbaus in und für Galizien ging, wird im folgenden Abschnitt gezeigt.

Habsburgische Eisenbahnpolitik – staatliche und private Initiativen

Mit Bitterkeit schilderte Leon Sapieha seinem Freund Aleksander Fredro in einem Brief aus dem Jahr 1841 seine Versuche, Gelder für den Bau der galizischen Eisenbahn zu sammeln.

Brief von L. Sapieha an A. Fredro vom 13. 3. 1841, in: Fredro: Korespondencja, S. 577–579.

Diese Bitterkeit ist angesichts der vergeblichen Mühe verständlich, mit welcher der polnische Adlige in Wien nach Geldgebern gesucht hatte. Die beiden Aristokraten warben 1844 auch bei Salomon von Rothschild um finanzielle Unterstützung, stießen jedoch auf taube Ohren.

Brief von Fredro an Tadeusz Wasilewski vom 29. 12. 1844, in: Fredro: Korespondencja, S. 120. Rothschild gehörte dann neben Leon Sapieha und weiteren galizischen Landbesitzern und Händlern jedoch zu den Gründungsmitgliedern der »Galizischen Carl-Ludwig-Bahn«, die im Jahr 1857 aus der Ostgalizischen Eisenbahngesellschaft hervorging. Zu ihrer Gründung vgl. Žaloba: »Leon Sapieha«, S. 57.

Bereits in der ersten Privatbahnepoche war von offizieller galizischer Seite um Mithilfe bei Bahnbauprojekten im nordöstlichen Kronland geworben worden. Die Bemühungen Sapiehas, einen privaten Finanzier für die galizischen Eisenbahnprojekte zu finden, sollten sich 1841 als vergeblich erweisen, denn das Bahnbauwesen der Habsburgermonarchie befand sich zu dieser Zeit gerade an der Schwelle von einem privat zu einem staatlich organisierten System, und private Anleger investierten kaum noch in den Bahnbau.

Die Mehrzahl der Forscher teilt die Geschichte der österreichischen Eisenbahnpolitik in vier Phasen ein. Einer ›ersten Privatbahnepoche‹ von 1824 bis 1841 folgte nach diesem Modell von 1841 bis 1854 die ›erste Staatsbahnepoche‹, auf diese wiederum eine ›zweite Privatbahnepoche‹ von 1854 bis 1873, welche schließlich durch die ›zweite Staatsbahnepoche‹ abgelöst wurde. Markus Klenner weicht von dieser Periodisierung ab und unterteilt die Eisenbahnpolitik der Habsburgermonarchie nur in zwei Phasen. Der ersten Privatbahnepoche (1824–1841), die er als »wahrhaft liberale Ära« bezeichnet, folgt bei ihm eine Periode, in der der Staat als »Herr der Eisenbahnen« fungierte. Die Existenz der ›zweiten Privatbahnepoche‹ stellt er mit Hinweis auf die weitreichende Entscheidungskompetenz des Staates in Zweifel. So behielt der Staat auch nach der 1854 erfolgten Verlautbarung, künftig den privaten Eisenbahnbau wieder zuzulassen, weitreichende Aufsichts- und Interventionsbefugnisse; Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 126–193. – Eine Periodisierung unter »geopolitischen Gesichtspunkten« nimmt Günter Dinhobl vor und unterteilt in drei Epochen: erstens von den Korridoren zum Korridor-Netz (vom Beginn bis Anfang der 1860er Jahre); zweitens Erweiterung zum flächendeckenden Korridor-Netz (1860er bis 1914); drittens Aufbrechen des Korridornetzes (Lokalbahnära) (seit den 1880er Jahren); vgl. Günter Dinhobl: »›… die Cultur wird gehoben und verbreitete‹. Eisenbahnbau und Geopolitik in ›Kakanien‹«, in: Endre Hárs et al. (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn, Tübingen 2006, S. 79–96.

Dass gerade die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, geschützt durch ihr Privileg von 1836, einer Verstaatlichung entging,

Die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn war im Jahr 1851 die einzige Privatbahn, die sich noch überwiegend in privatem Besitz befand. Alle anderen Bahnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstaatlicht oder überwiegend in staatlichem Besitz; vgl. Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 165.

änderte an dieser Situation aus Sicht der Galizier nichts.

Am Beginn der ersten Staatsbahnepoche schien dann zunächst Hoffnung zu bestehen, dass der Bau bereits projektierter galizischer Strecken nun bald in Angriff genommen würde. Die Vereinigte Hofkanzlei hatte 1843 eine Empfehlung ausgesprochen, die galizische Eisenbahn auf Staatskosten zu bauen.

In einem Vortrag vom 14. 7. 1843 heißt es: »Die treugehorsamste vereinigte Hofkanzlei hat […] beschlossen, dem Präsidium der allgemeinen Hofkammer das Gesuch der galizischen Stände um die Uibernahme der in Galizien herzustellenden Staats-Eisenbahnen […] dringend zu empfehlen«. Die galizische Eisenbahn könnte dabei »als integrierender Bestandteil der großen Hauptstrecke von Osten nach Westen […] als Staatseisenbahn geführt« werden: ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 7, VIII. 1 Galizische Eisenbahnen 1841–1845, »Allerunterthänigster Vortrag der treugehorsamen vereinigten Hofkanzley über die Bitte der galizischen Stände wegen Führung einer Staatseisenbahn durch Galizien«, 14. 7. 1843.

Es sollten dann aber noch etliche Jahre vergehen, bis in Galizien tatsächlich ernsthaft mit der Realisierung begonnen wurde. Die Eisenbahnverbindung zwischen Wien und der galizischen Landeshauptstadt wurde erst im Jahr 1861 eröffnet.

Es kam während dieser Zeit jedoch zu keinem vollständigen Erliegen der Bahnbautätigkeit auf galizischem Territorium, denn die Bauarbeiten der privaten Kaiser-Ferdinands-Nordbahn gingen in den 1840er und 1850er Jahren trotzdem weiter.

Das wirft die Frage auf, welche Umstände einen Ausbau des galizischen Streckennetzes verhinderten, als der Staat Herr der Eisenbahnen war.

Der 1843 von der Vereinigten Hofkanzlei verfasste Vortrag an den Kaiser, der eine Fürsprache zum Bau der galizischen Eisenbahnen auf Staatskosten enthielt, war zur endgültigen Entscheidungsfindung an das Präsidium der allgemeinen Hofkammer weitergeschickt worden. Deren Präsident war seit dem Jahr 1840 Karl Friedrich Freiherr Kübeck von Kübau. In Kübecks Antwortschreiben an die Vereinigte Hofkanzlei vom 20. Juni 1843 unterstrich dieser zwar, dass auch er von den Vorteilen einer Eisenbahn in Galizien überzeugt sei, es jedoch zweckmäßiger fände, zunächst »mit jenen Bahnlinien beginnen zu lassen, deren Angriff sich als dringend darstellte, und durch die kommerzielle Stellung der österreichischen Monarchie zu dem Auslande geboten war«.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 7, VIII.1.

Im Ringen um die Entscheidungsgewalt über das seit 1841 staatlich organisierte Bahnwesen hatten sich drei Regierungsstellen gegenüber gestanden: das Kriegsministerium, die Vereinigte Hofkanzlei und die Hofkammer. Letzterer – mit ihrem Präsidenten Kübeck, einem überzeugten Verfechter des Staatsbahnsystems – war im Laufe der Zeit die größte Entscheidungsmacht zugefallen,

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 163. Weitere Nachweise bei Nadja Weck: Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, Ľviv), unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien 2016; siehe dort insbesondere das Kapitel II.2 »Habsburgische Eisenbahnpolitik – staatliche und private Initiativen: Die Herstellung des materiellen Raumes«, S. 70–85.

weswegen der Empfehlung der Vereinigten Hofkanzlei zum Bau der Eisenbahn in Galizien keine weitere Beachtung geschenkt wurde.

Am 19. Dezember 1841 waren in einer »Allerhöchste[n] Entschließung« die Weichen für die künftige Entwicklung des staatlichen Eisenbahnbaus gestellt worden. Darin enthalten waren auch die Bahnstrecken, denen Kübeck Priorität hinsichtlich ihrer Errichtung zugestanden hatte. Grundlage dieses Konzepts zum Ausbau des monarchieweiten Eisenbahnnetzes war Riepls Entwurf der Nord-Süd-Transversale. Wien fungierte als Knotenpunkt von vier die Monarchie erschließenden Hauptlinien.

Reisinger: »Franz Riepl und die Anfänge«, S. 319.

Die angedachten Routen des neuen Netzplanentwurfs sollten für die Monarchie wichtige überregionale Verbindungen darstellen (Abb. 2). Die von Wien in nördlicher Richtung geplante Strecke sollte daher über Prag bis an die sächsische Grenze führen, ihre Fertigstellung war für 1851 vorgesehen. Im Süden war der Ausbau der Strecke nach Triest geplant, und im Westen erachtete man eine Verbindung nach München, die entweder über Linz und Salzburg oder über Passau führen sollte, als sinnvoll. Die nordöstliche Richtung fand man durch die im Bau befindliche Kaiser-Ferdinands-Nordbahn abgedeckt.

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 161; Burkhard Köster: Militär und Eisenbahn in der Habsburgermonarchie 1825–1859, München 1999, S. 162.

Zu den Strecken, deren Bau von staatlicher Seite gesehen den größten Stellenwert haben sollte, zählte keine der von den Galiziern gewünschten Bahnen.

Abbildung 2

Die mit dem »A. h. Kabinettsschreiben« vom 19. Dezember 1841 zu Staatsbahnen erklärten »für die Staatsinteressen wichtigsten Bahnen« (Quelle: Köster: Militär und Eisenbahn, S. 80; reproduziert mit Genehmigung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam).

Einer der Hauptgründe, warum der habsburgische Staat erst ganz am Ende der ersten Staatsbahnepoche mit Bahnbauarbeiten auf galizischem Territorium begann,

Im Dezember 1851 wurde der Beschluss zum Bau der Staatsbahn Krakau – Dębica gefasst, dieser Streckenabschnitt sollte nach Vollendung an die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn verpachtet werden. Erst im Januar 1853 wurde mit Vorarbeiten auf diesem Streckenabschnitt begonnen. Im Jahr 1856 – also bereits zwei Jahre nach dem offiziellen Ende der ersten Staatsbahnepoche – sollte der Staat dann den Streckenabschnitt Krakau – Dębica fertigstellen.

lag also darin, dass die von galizischer Seite gewünschten Bahnstrecken nicht Bestandteil des 1841 festgelegten Netzentwurfs waren. Die im Dezember 1841 verkündeten Staatsbahndirektiven samt Netzplanentwurf verliehen dem staatlichen Bahnbau ein enges Korsett. Die drei Hauptstrecken dieses Konzepts sollten den wirtschafts- und handelspolitischen Vorteilen des Staates entsprechen.

Die vom Hofkammerpräsidenten gegen den Weiterbau von Eisenbahnstrecken ins Innere Galiziens vorgebrachten Einwände waren variantenreich und zeugen davon, wie konsequent Kübeck die Durchsetzung des Staatsbahnsystems verfolgte. Seine Ablehnungsgründe reichten vom Hinweis auf die engen finanziellen Rahmenbedingungen bis dahin, dass es Galiziens Nachbarschaft zu Russland unbedingt notwendig mache, den Eisenbahnbau in diesem Kronland einzig in staatlicher Regie durchzuführen. Die zahlreichen Vertröstungen und Verzögerungen müssen für die galizische Seite durchaus frustrierend gewesen sein, und es konnte der Eindruck entstehen, die Regierung in Wien versuche den Bahnbau im nordöstlichen Kronland mit Absicht zu verzögern.

In den Jahren 1843 und 1844 von Kübeck verfasste Schreiben den galizischen Eisenbahnbau betreffend belegen jedoch, dass dessen ablehnende Haltung gegenüber den Bahnbauplänen der Galizier mit seinem unbedingten Willen zur Durchsetzung des Staatsbahngedankens zu begründen ist.

ÖStA, AVA, Vk VH, Karton 7, VIII. 1 Galizische Eisenbahnen, Note Kübecks an die Vereinigte Hofkanzlei, 20. 6. 1843; »Vortrag des Hofkammerpräsidenten Freiherrn von Kübeck über das Gesuch mehrerer galizischer Gutsbesitzer«, 2. Hälfte 1844.

Dies entsprach der damals herrschenden Überzeugung, wonach der Staat bei der Lenkung der wirtschaftlichen Entwicklung die zentrale Rolle übernehmen sollte.

Žaloba: Infrastrukturna Polityka, S. 158.

Nicht zuletzt durch Kübecks konsequente Haltung konnte sich das Staatsbahnsystem tatsächlich durchsetzen. Im Jahr 1854 verfügte die Habsburgermonarchie mit 1700 Streckenkilometern in Betrieb und 900 Kilometern im Bau über das größte Staatsbahnnetz der Welt.

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 162.

Der Staat betrieb alle ihm gehörenden Bahnen selbst, nur zwei dampfbetriebene Bahnstrecken waren noch in privatem Besitz.

Im Privatbesitz waren die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn und die im Ausbau bis Raab befindliche Ostbahn Wien – Bruck sowie sämtliche Pferdebahnen; vgl. Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 162.

Trotzdem war die Staatsbahn in eine Sackgasse geraten. Denn obwohl die Länge an Streckenkilometern während der Staatsbahnepoche erheblich zugenommen hatte, war das habsburgische Schienennetz im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nur in bescheidenem Maße gewachsen.

Im Jahr 1840 verfügte die Habsburgermonarchie über 144 Streckenkilometer, im Jahr 1860 waren es 4543. Im Vergleich dazu waren es in England 1348 Kilometer im Jahr 1840 und 16.787 Kilometer im Jahr 1860; in Deutschland 549 (1840) und 11.633 Kilometer (1860); in Frankreich 497 (1840) und 9528 Kilometer (1860); vgl. Klenner: Eisenbahn und Politik, Tabelle A »Entwicklung des Dampfeisenbahnnetzes 1840–1891«, S. 212. Diese Zahlen zeigen, dass der staatlich organisierte Ausbau des Eisenbahnnetzes in den 1840er Jahren zwar eine beträchtliche Steigerung auf rund das Zehnfache brachte, die absolute Steigerungsrate in Bahnkilometern im Vergleich zu den anderen angeführten Staaten aber nur bescheiden ausfiel; vgl. Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 160.

In anderen europäischen Staaten, die weiterhin auf privaten Bahnbau gesetzt hatten, war der Zuwachs an Streckenkilometern weitaus beträchtlicher. Dort konnten privat erbaute, zunächst nicht zusammenhängende Bahnen später zu einem einheitlichen Netz zusammengefasst werden.

Auf diese Art war das preußische Eisenbahnnetz in kurzer Zeit stark gewachsen; vgl. Köster: Militär und Eisenbahn, S. 295. Aufgrund der unterschiedlichen Spurweiten der verschiedenen privaten Eisenbahnsysteme waren Umbaumaßnahmen nötig, bevor einheitliche Netze entstehen konnten.

Die kaiserliche Regierung in Wien hingegen hatte privates Kapital ungenutzt gelassen und damit das Entstehen weiterer Strecken verhindert.

Der Bedarf an weiteren Eisenbahnstrecken wäre weit größer gewesen, hätte die staatlichen Kapazitäten jedoch über die Maßen strapaziert. Hinzu kam, dass die Habsburgermonarchie seit Ende der 1840er Jahre mit einer Reihe von politischen Ereignissen im In- und Ausland konfrontiert war – allen voran der Revolution von 1848/1849 und dem Krimkrieg von 1854 bis 1856 –, die sich negativ auf den Staatshaushalt und damit auch auf das ohnehin knapp bemessene Budget des staatlichen Bahnwesens auswirkte.

Zur Finanzmisere des neoabsolutistischen Österreich und ihren Auswirkungen auf die Eisenbahnpolitik vgl. Harm-Hinrich Brandt: Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978, Bd. 1, S. 315–326.

Der Hauptgrund dafür, dass in Galizien während der ersten Staatsbahnepoche keine weiteren Bahnbauprojekte realisiert wurden, waren die budgetär wie auch planerisch eng gezogenen Grenzen des staatlichen Bahnwesens. Zumindest fallweise scheinen aber auch Befürchtungen im Spiel gewesen zu sein, dass ein nicht im Sinne gesamtstaatlicher Integration betriebener Eisenbahnbau auch zentrifugale Wirkungen entfalten konnte, etwa in Kübecks Verweis auf die Nähe Galiziens zu Russland.

Die am Beginn der 1840er Jahre von staatlicher beziehungsweise galizischer Seite entwickelten Pläne zielten auf die Schaffung von Eisenbahnnetzen für unterschiedliche Räume. Die kaiserliche Regierung in Wien plante die Herstellung eines Eisenbahnnetzes für das gesamte staatliche Territorium mit darüber hinausreichenden Verbindungen in alle vier Himmelsrichtungen. Fredro, Sapieha und ihre Mitstreiter planten dagegen für einen Raum, der insbesondere im Norden und Süden weit über Galiziens Grenzen hinausreichte und in dem Lemberg eine wichtige Schnittpunktfunktion haben sollte. Während diese Pläne zur Schaffung von Eisenbahnnetzen lediglich auf dem Papier existierten, befand sich die Eisenbahnstrecke Wien – Krakau bereits im Ausbau. Ein wichtiger Grund, warum sich der Privatunternehmer Salomon von Rothschild für die Herstellung dieser Verbindung eingesetzt hatte, war wirtschaftlicher Natur. Die Ausbeutung der Salzvorkommen der in der Nähe von Krakau gelegenen Orte Bochnia und Wieliczka versprach finanziellen Gewinn.

An dieser Stelle zeigt sich, dass eine strenge Unterteilung in ›staatliche‹ oder ›private‹ Interessen wenig Sinn macht. Während manche ›Private‹ wie Fredro und Sapieha in größeren Dimensionen dachten und durchaus Staatsbildung als Ziel hatten, handelten manchmal im Namen des Staates wirkende Akteure auch aus vorwiegend kurzfristig-wirtschaftlichen Gründen.

Lemberg wird Verkehrsknotenpunkt – Baufortschritte in der zweiten Privatbahnepoche (1854–1873)

Angesichts der beträchtlich stärker gewachsenen Eisenbahnnetze anderer europäischer Länder musste sich Wien in der Vergangenheit begangene Fehler in der Eisenbahnpolitik eingestehen. Als der Staat erkannte, dass er zukünftig nicht mehr den Mindestansprüchen beim Eisenbahnbau und -betrieb entsprechen können würde, leitete er einen Richtungswechsel ein. Mit der Entscheidung, in Zukunft wieder private Unternehmen am Eisenbahnwesen zu beteiligen, wurde ab 1854 die zweite Privatbahnepoche eingeläutet.

In der Ausgabe der »Wiener Zeitung« vom 10. November 1854 wurden die von Regierungsseite erstellten neuen Direktiven für das Eisenbahnwesen verkündet. Indem der Staat darin in Aussicht stellte, dass »der Privatspekulation bei dem Eisenbahnbau in Oesterreich ein gewinnversprechendes Feld eröffnet«

Oesterreichisch Kaiserliche Wiener Zeitung (10. 11. 1854), S. 2.

würde, versuchte er, privaten Anlegern ihre finanzielle Beteiligung am Eisenbahnbau schmackhaft zu machen. Einer in weiten Teilen Europas aufkommenden wirtschaftsliberalen Grundströmung war es zu verdanken, dass der Staat hier so rundheraus um Privatkapital warb. Ein Jahrzehnt früher wäre das noch unmöglich gewesen.

Wenn es in dem Zeitungsartikel jedoch weiter heißt, dass »andererseits aber jedes Privatunternehmen dem Dienste der Gesamtinteressen untergeordnet«

Oesterreichisch Kaiserliche Wiener Zeitung (10. 11. 1854), S. 2.

würde, wird deutlich, dass der Staat sich nach wie vor das letzte Wort im Eisenbahnwesen vorbehielt. Ein kompletter Übergang zum Privatbahnsystem war ursprünglich nicht geplant und erfolgte erst allmählich.

Siehe dazu die Ausführungen bei Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 168f.

Mit der Verkündigung des neuen Konzessionsgesetzes konnten private Anleger seit 1854 nicht nur neue Bahngesellschaften gründen, sondern Staatsbahnen auch käuflich erwerben.

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 165.

Durch die »Wiener Zeitung« erfuhr die Öffentlichkeit, welche Hauptlinien von Regierungsseite erwünscht seien. Gesellschaften, die um Genehmigungen zum Bau dieser vom Staat gewünschten Strecken warben, konnten mit Staatsgarantien rechnen.

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 167.

Der neue Netzplan (Abb. 3) sah die Herstellung von 31 Hauptlinien mit einer Gesamtlänge von 1240 deutschen Meilen (etwa 9400 Kilometern) vor, er sollte den »Bedürfnissen des Reiches und jedes Kronlandes« entsprechen. Bei dessen Ausarbeitung hatte man sich auf eine Denkschrift Carl von Ghegas gestützt, die dieser im Mai 1853 dem Handelsministerium vorgelegt hatte. Vom Erbauer der Semmeringbahn hatte man auch die Idee zu jeweils drei die Monarchie von Norden nach Süden und von Westen nach Osten durchziehenden Hauptlinien übernommen.

In seinem 1853 verfassten »Entwurf eines allgemeinen Eisenbahnnetzes für die österreichische Monarchie« teilte Carl von Ghega das zu errichtende Eisenbahnnetz in drei Kategorien ein. Folgende Strecken gehörten zur Kategorie 1: Laibach – Triest, Steinbrück – Agram – Belgrad, Krakau – Lemberg – Czernowitz, Bruck – Salzburg, Kufstein – Verona sowie Verona – Mailand; vgl. Wolfgang Straub: Carl Ritter von Ghega, hg. von Johannes Sachslehner, Wien 2004, S. 187.

Auf diese Weise sollten »die wichtigsten Orte der Monarchie nicht blos untereinander, sondern auch mit sämmtlichen Nachbarstaaten in segensverheißende Verbindung gebracht«

Oesterreichisch Kaiserliche Wiener Zeitung (10. 11. 1854), S. 1.

werden.

Abbildung 3

Eisenbahnnetz der österreichischen Monarchie 1854 (Quelle: Köster: Militär und Eisenbahn, S. 269; reproduziert mit Genehmigung des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam).

Für Galizien war die Herstellung von vier der insgesamt 31 zu erbauenden Bahnverbindungen des neuen Eisenbahnnetzes geplant.

Die Strecken: 1.) Oświęcim – Podgórze; 2.) Oświęcim – Chełmek (hier war ein Anschluss an die Krakauer Bahn geplant); 3.) Krakau – Przemyśl – Lemberg – Brody; 4.) Przemyśl – Czernowitz bis an die moldauische Grenze.

Für diejenigen Galizier, die während der Staatsbahnperiode nicht müde geworden waren, immer wieder neue Vorschläge für den Bahnbau in ihrem Land einzubringen, muss die Verkündigung dieser vier für Galizien gewünschten Strecken neuer Ansporn gewesen sein.

Die drei Hauptstrecken, die den Grundstein für die Herausbildung Lembergs zum Verkehrsknotenpunkt bilden sollten, wurden in der von 1854 bis 1873 dauernden ›zweiten Privatbahnepoche‹ gebaut.

Einen umfassenden Überblick über die Entwicklung des gesamten galizischen Netzes, der hier wegen der Schwerpunktsetzung des Beitrages nicht gegeben werden kann, bieten Žaloba: Infrastrukturna Polityka; Bernhard Neuner: Bibliographie der österreichischen Eisenbahnliteratur. Von den Anfängen bis 1918, 3 Bde., Wien 2002.

Die Anbindung der galizischen Landeshauptstadt an Wien und das Anwachsen des galizischen Schienennetzes fanden somit in einer Periode statt, die auch als ›Goldenes Zeitalter des österreichischen Eisenbahnwesens‹ bezeichnet wird, wuchs das österreichische Streckennetz in diesem Zeitraum doch um das Sechsfache.

Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 171.

Die Herstellung der neuen Strecken von Lemberg nach Krakau (1861), Czernowitz (1866) und Brody (1869) ging auf lang gehegte Pläne zurück und wurde von zwei verschiedenen Bahnbaugesellschaften durchgeführt. Sowohl in organisatorischer als auch in finanzieller Hinsicht spielte Leon Sapieha, der bereits Ende der 1830er Jahre den Anstoß zum Eisenbahnbau in Galizien gegeben hatte, eine herausragende Rolle. Sein Enthusiasmus in Sachen Eisenbahnbau war Vorbild für andere galizische Aristokraten – unter ihnen auch sein Sohn Adam Sapieha –, die sich auf vielfältige Weise für den Bau von Strecken in ihrem Kronland engagierten.

Die zum Bau der Verbindung zwischen der galizischen und der bukowinischen Landeshauptstadt an die Lemberg-Czernowitz-Bahngesellschaft vergebene Konzession war die erste, über die auch im habsburgischen Parlament, dem Reichsrat, diskutiert und abgestimmt wurde.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das Parlament noch nicht in Angelegenheiten des Eisenbahnbaus involviert gewesen. Im Februarpatent des Jahres 1861 war jedoch festgelegt worden, dass künftig »alle Angelegenheiten der Reichsfinanzen überhaupt« parlamentarisch behandelt werden müssten. Da dies auch die Gewährung von Staatsgarantien – in diesem Fall für das galizisch-englische Bahnkonsortium – einschloss, wurde die Lemberg-Czernowitz-Bahn zur ersten im Parlament diskutierten Bahnlinie; vgl. Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 174.

Der Bau der Strecke von Lemberg nach Tarnopol und Brody war von Streitigkeiten auf verschiedenen Ebenen gekennzeichnet. Die zwischen mehreren Bahnkonsortien, verschiedenen Städten und zwei Großmächten ausgetragenen Interessenskonflikte verzögerten die Herstellung dieser Eisenbahnverbindungen. Im Pokern der verschiedenen galizischen Eisenbahnkonsortien mit der Regierung zeigte sich auch das gewachsene Selbstbewusstsein der Galizier, welche in der Vergangenheit in Eisenbahnangelegenheiten immer wieder vertröstet worden waren. Erst 1869 wurde die Strecke von Lemberg nach Brody und 1871 nach Tarnopol von der Carl-Ludwig-Bahngesellschaft hergestellt; nochmals einige Jahre später kamen dann die ersten beiden grenzüberschreitenden Eisenbahnverbindungen nach Russland.

Die drei Routen, durch die Lemberg in den 1860er Jahren an den Westen (Krakau), Osten (Brody und Podwołoczyska) sowie Südosten (Czernowitz) angebunden wurde, legten den Grundstein für seine Einbindung ins europäische Eisenbahnnetz. Nachdem die Verbindungen mit diesen drei Städten hergestellt worden waren, entwickelte sich die galizische Landeshauptstadt in den folgenden Jahrzehnten zu einem regionalen Verkehrsknotenpunkt. Lemberg war um 1900 mit einer Vielzahl europäischer Haupt- und Großstädte verbunden. Mit täglich mehrmals von Lemberg in Richtung Krakau und Wien verkehrenden Zügen war die Verbindung zwischen der galizischen Landeshauptstadt und der Residenzstadt Wien sicherlich die wichtigste. Aber auch von Lemberg nach Czernowitz (und von dort weiter nach Rumänien) sowie nach Podwołoczyska (mit weiterer Verbindung in Richtung Kiew und Odessa) verkehrten mehrmals täglich Züge in beide Richtungen. Für die Donaumonarchie hatte Lemberg somit eine wichtige Bedeutung hinsichtlich des Verkehrs und der Kontakte in östlicher und südöstlicher Richtung. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war außerdem eine Reihe von Lokalbahnstrecken entstanden, durch die Lemberg mit vielen kleineren, in allen Himmelsrichtungen gelegenen Orten in seiner näheren Umgebung verbunden war. Die Eisenbahn hatte einen wichtigen Anteil daran, dass Galizien enger an Wien angebunden und in die Monarchie integriert werden konnte. Der Raum, der durch den Ausbau des galizischen Eisenbahnnetzes entstanden war, reichte jedoch insbesondere in östlicher und südlicher Richtung über die Grenzen des Territoriums der Habsburgermonarchie hinaus. Diese Anbindung Galiziens in alle Richtungen kam dem Raumentwurf, der mit dem Gedanken an die Schaffung eines künftigen anderen Staats-Raums korrespondierte, somit am nächsten. Als mit dem Ende der Habsburgermonarchie Galizien Teil der Zweiten Polnischen Republik wurde, fügte sich das galizische Streckensystem problemlos in das Eisenbahnnetz des wiedergegründeten polnischen Staates ein.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Eisenbahnnetz Österreich-Ungarns immer stärker ausgebaut worden. Besonders in den 1850er und 1860er Jahren hatte der Eisenbahnbau große Fortschritte gemacht. Während in ›Cisleithanien‹ ein polyzentrisches Netz mit den Knotenpunkten Wien, Prag, Brünn und Lemberg entstanden war, hatte sich in der ungarischen Reichshälfte ein auf Budapest ausgerichtetes Eisenbahnnetz herausgebildet.

Als Grund für die Entstehung des zentralistisch auf Budapest ausgerichteten Eisenbahnnetzes benennt Andreas Helmedach die von 1867 bis 1891 betriebene Staatsbahnpolitik, »in deren Verlauf private Linien und der Fuhrpark verstaatlicht wurden«; Helmedach: »Integration durch Verkehr«, S. 25.

Im Zuge der Gründung des k. k. Eisenbahnministeriums im Jahr 1896 und der darauf folgenden Verstaatlichung von Bahnen wurden im Laufe der Zeit dann auch die meisten galizischen Eisenbahngesellschaften verstaatlicht.

Bereits im Jahr 1876 kam die schwer verschuldete Dniester-Bahn unter staatliche Kontrolle. Der Grund für die staatliche Übernahme der meisten anderen galizischen Bahnunternehmen war ebenfalls deren schlechte wirtschaftliche Lage. Einen Sonderfall stellte wiederum die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn dar. Nach 50 Jahren sollte das im Jahr 1836 erteilte Privileg enden, wurde nach zahlreichen Verhandlungen im Jahr 1885 jedoch um weitere 55 Jahre verlängert. Im Jahr 1906 erfolgte dann jedoch die Verstaatlichung. Angaben zur Verstaatlichung der einzelnen galizischen Bahnen bei Neuner: Bibliographie, Bd. 2. Hintergründe zur Verstaatlichung und zur zweiten Staatsbahnära sowie der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn bei Klenner: Eisenbahn und Politik, S. 184–190.

Die angeschlagene wirtschaftliche Lage einer Vielzahl privater Eisenbahnunternehmen war der Grund für deren Verstaatlichung.

Resümee

Das von staatlicher und regionaler, das heißt galizischer Seite zutage tretende Engagement für das neue Verkehrsmittel lässt sich im Wesentlichen auf die beiden eingangs erörterten Erwartungshaltungen »Anschluss« und »Integration« zurückführen. Riepl betonte die integrative Wirkung als einen der Hauptvorteile der zu errichtenden Nord-Süd-Transversale. Die galizische Seite sah den Nutzen von Eisenbahnverbindungen auch zu Regionen und Städten, die sich außerhalb des österreichischen Territoriums befanden. Riepl stellte die Stärkung Wiens in Aussicht und knüpfte damit an die Wege- und Verkehrsplanung des Voreisenbahnzeitalters an. Die Regierung in Wien sah den Vorteil eines weitverzweigten Eisenbahnnetzes darin, auch weit entfernt vom Zentrum gelegene Regionen in das staatliche Herrschaftsgebiet einzubinden. Für die Galizier war die Aussicht, mittels Eisenbahnverbindungen Anschluss an wichtige Märkte und Handelszentren zu bekommen, das stärkere Motiv. Sie hofften auf ein Wiedererstarken Lembergs als eines wichtigen Schnittpunkts alter Handelsbeziehungen und dachten dabei an wirtschaftliche und auf längere Sicht auch staatliche Raumbildungen, die sich nicht oder nur partiell mit dem Raum der Habsburgermonarchie deckten.

Im zweiten Teil stand die Frage im Mittelpunkt, ob das zwischen 1841 und 1854 staatlich organisierte Bahnwesen den Bemühungen galizischer Akteure um den Weiterbau des galizischen Streckennetzes entgegenkam oder nicht. Diese Frage muss angesichts der Tatsache, dass in der ersten Staatsbahnepoche keines der von galizischer Seite favorisierten Bahnbauprojekte in Angriff genommen wurde, verneint werden. In Galizien wurde lediglich an Strecken weitergearbeitet, die sich bereits seit der ersten Privatbahnepoche in Bau befanden. Der Grund für diese Verzögerungen beim Ausbau des galizischen Schienennetzes lag in der Überzeugung, dass der Auf- und Ausbau des Eisenbahnnetzes einzig den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Staates entsprechen sollte. Dieser von staatlicher Seite organisierte Bahnbau, dessen wichtigster Verfechter Hofkammerpräsident Kübeck von Kübau war, ließ keine Privatinitiative in Eisenbahndingen zu. Für den Ausbau des Schienennetzes sollten einzig staatliche Ressourcen und staatliche Expertise genutzt werden. Darin spiegelte sich nicht nur eine allgemeine Haltung der vormärzlichen und neoabsolutistischen Bürokratie, als deren Vertreter par excellence Kübeck öfters eingestuft worden ist, zum Verhältnis des Staates und seiner Angehörigen. Zumindest gelegentlich betraf die Neigung zum Paternalismus und die Angst vor Kontrollverlust auch explizit die Abwehr einer wahrgenommenen Gefahr, dass sich die Raumbildung durch neue Infrastrukturen von den Interessen des Staates entfernen könnte, etwa durch eine Begünstigung russischer oder polnisch-nationaler Interessen.

Während der ersten Staatsbahnepoche war die Habsburgermonarchie tatsächlich zu dem Land mit dem größten von staatlicher Seite erbauten und betriebenen Streckennetz geworden. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Preußen, in denen auch die Beteiligung privaten Kapitals zugelassen worden war, nahmen sich die Erfolge jedoch bescheiden aus.

In der seit den 1990er Jahren anhaltenden Debatte, ob Infrastruktur einzig vom Staat bereitgestellt und unterhalten werden müsse oder ob privaten Anbietern das nicht sehr viel effizienter gelänge, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Van Laak: »Infrastrukturen und Macht«, S. 107.

Für die vorliegende Untersuchung kann vermutet werden, dass die Beteiligung privater Bahnunternehmen den Ausbau des habsburgischen Eisenbahnnetzes während der ersten Staatsbahnepoche befördert hätte. Im Gegensatz zu privaten Eisenbahnunternehmen, deren Aktivitäten sich auf den Bau einzelner Strecken zu wirtschaftlich interessanten Orten beschränkten, zielte der Staat auf die Herstellung eines weitverzweigten Netzes. Der Raum, auf den sich dieses Eisenbahnnetz erstreckte, verfestigte sich im Laufe der Zeit immer mehr als staatliches Territorium.

Am Beispiel des Mitte des 19. Jahrhunderts staatlich organisierten Eisenbahnwesens der Habsburgermonarchie wird deutlich, dass Infrastrukturprojekte zwar in großem Umfang geplant werden können, deren Umsetzung jedoch aufgrund der Vielzahl beteiligter Akteure auch immer einer gewissen Unvorhersehbarkeit unterliegt. Dirk van Laak spricht von der »Eigenlogik von Infrastrukturen«.

Van Laak: »Infrastrukturen und Macht«, S. 109.

Mit der stark reglementierten und strikt auf staatliche Regie setzenden Eisenbahnpolitik hatte Hofkammerpräsident Kübeck versucht, die Fortschritte im Eisenbahnwesen zu steuern und im Sinne des Staates zu beeinflussen. Trotz des Festhaltens an den staatlichen Grundsätzen war der Staat am Ende zur Übernahme von höheren Kosten und mehr Bahnbauprojekten gezwungen als ursprünglich geplant. Zusätzlich wirkte sich die Mitte des 19. Jahrhunderts angespannte Lage im In- und Ausland negativ auf das Bahnbauwesen aus. Der Ausbau des Streckennetzes wurde gebremst, und am Ende musste Kübeck einsehen, dass ein so ehrgeiziges Projekt wie die Errichtung eines monarchieweiten Eisenbahnnetzes ohne private Initiative nicht zu bewältigen war.

Infrastrukturen sind Medien, die räumliche, soziale und politische Grenzen überwinden helfen oder neue Räume erst hervorbringen.

Van Laak: »Infrastrukturen und Macht«, S. 113.

Wie von Riepl prophezeit, schuf das dichter werdende Eisenbahnnetz Verbindungen zwischen verschiedenen Regionen der Monarchie. Auch die von Riepl vorhergesagte und in der Staatsbahnperiode angestrebte Stärkung der zentralen Stellung Wiens wurde durch die hinzugewonnene Funktion als Eisenbahnknotenpunkt zusätzlich unterstrichen. So wie die Entstehung von Infrastrukturen jedoch einer gewissen ›Eigenlogik‹ unterliegt, können sich im Laufe der Zeit auch die ursprünglich mit ihrer Herstellung verbundenen Intentionen ändern.

Im Zeitalter der Eisenbahn war die immer stärkere Ausdehnung und Verästelung dieses Infrastrukturnetzes ein kaum aufzuhaltender Prozess. Die Herausbildung eines weitverzweigten, polyzentrischen Eisenbahnnetzes war daher eine logische Folge der seit 1854 verfolgten Eisenbahnpolitik, bei der auch wieder private Initiative im Eisenbahnbau zugelassen worden war. Einer der wichtigen Verkehrsknotenpunkte in diesem polyzentrischen Eisenbahnnetz der österreichischen Reichshälfte war das im Nordosten gelegene Lemberg. Durch die Stärkung der Landeshauptstädte durch ihre zusätzliche Funktion als Eisenbahnknotenpunkte büßte Wien etwas von seiner zentralen Stellung ein. Entgegen der von Riepl in Aussicht gestellten integrativen Wirkung eines umsichtig geplanten Eisenbahnnetzes konnte zugleich auch ein gegenteiliger Effekt eintreten, der die Schwächung Wiens zugunsten der Landeshauptstädte nach sich zog.

Publikationen mit Quellencharakter

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eISSN:
2519-1187
Sprache:
Englisch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Geschichte, Themen der Geschichte, Verfassungs- u. Rechtsgeschichte, Andere Themen der Geschichte, Rechtswissenschaften, Öffentliches Recht, andere, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Kommunale Politik und Verwaltung