Kulturjudentum in der Geschichte der Juden in Deutschland: von der Bildung zur Erinnerungskultur
Article Category: Research Paper
Published Online: Nov 11, 2024
Page range: 45 - 52
DOI: https://doi.org/10.2478/sck-2024-0004
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© 2024 Sonia Goldblum, published by Sciendo
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Die Frage, was jüdisch bzw. was deutsch-jüdisch ist, scheint keine endgültige Antwort zu finden, obwohl sie immer wieder gestellt wird und dabei zu produktiven Überlegungen führt. Die Reflexionen der Herausgeberin des Bandes
Mit Kulturjudentum verbindet man üblicherweise die Idee eines jüdischen Selbstverständnisses, das nicht auf Religionszugehörigkeit, sondern auf kulturellen Inhalten beruht. Allerdings muss dann gefragt werden, von welcher Kultur die Rede ist und ob dabei die religiöse Dimension vollkommen ausgeblendet werden kann. Wenn man die Belege für den Ausdruck „Kulturjudentum“ in den deutsch-jüdischen Zeitschriften aus der Zeit vor 1933 heranzieht, merkt man, dass dem Ausdruck ein leidlich anderer Sinn als heute verliehen wird. In diesen Zeitschriften scheint die kulturelle Dimension, die als Ergebnis der Emanzipation gedeutet wird, nicht so sehr als Gegensatz zu der religiösen Bestimmung verstanden zu werden. Zum Beispiel definiert 1918 der Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift
Wichtig wäre sicherlich zu untersuchen, welcher Kulturbegriff das eigene Selbstverständnis der Juden in verschiedenen Ländern geprägt hat. Ich will mich hier auf Deutschland beschränken und drei Aspekte dieser Frage beleuchten, die als eine erste Annäherung an das Thema verstanden werden können. Zunächst soll auf die Bedeutung des Bildungsbegriffs für die Juden in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert eingegangen werden, um zu zeigen, wie sich ihr Selbstverständnis im produktiven Dialog mit der deutschen Kultur, zu der sie auch beigetragen haben, genährt hat. In einem zweiten Schritt soll die Jüdische Renaissance“ im Fokus stehen, die einer Rückbesinnung auf die eigene, durch die Assimilation teilweise in Vergessenheit geratene, jüdische Tradition gleichkommt. Der dritte Teil wird der Rolle von Gedächtnis und Erinnerung für das Kulturjudentum gewidmet, was erlauben soll, eine sehr bedeutende Facette des Erbes des deutschen Judentums nach 1945 in den Blick zu nehmen. Einerseits wurde damit die religiöse Bedeutung der Erinnerung im Judentum weitergeführt, andererseits handelte es sich um eine Neuinterpretation derselben und um eine mögliche Antwort auf die Zerstörung, die die Shoah für die europäischen Juden bedeutete.
Wenn man sich mit der Geschichte der Juden in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert befasst, stößt man genau so oft auf den Begriff der Bildung wie auf den Begriff der Kultur. Die Unterscheidung beider Begriffe gehört zu den Besonderheiten der deutschen Auffassung der geistigen Welt. In seiner Schrift aus dem Jahre 1784 mit dem Titel Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ geht es dem Philosophen Moses Mendelssohns um die Definition der Begriffe Bildung, Kultur und Aufklärung. Für ihn „zerfällt [Bildung] in Kultur und Aufklärung“ (Mendelssohn 1784: 194), wobei er mit Kultur die schönen Künste meint, was er auch das Praktische nennt. Die Aufklärung verweist für ihn auf die Erkenntnisfähigkeit und den damit einhergehenden Gebrauch der Vernunft. Demnach verfügt eine gebildete Gesellschaft über ein ausgeglichenes Maß an Kultur und Aufklärung. Am Anfang dieser Schrift betont der Philosoph, dass sich die Notwendigkeit einer Definition dieser Begriffe daraus ergibt, dass die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung […] in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge [sind]“ (Ebd.:193). Deshalb müssen die Grenzen zwischen ihnen deutlich bestimmt werden. In den folgenden Jahren gewinnt der Begriff der Bildung sowohl für deutsche Juden als auch für nicht jüdische Deutsche an Bedeutung und wird zu einem wichtigen Teil ihres Selbstverständnisses. Bei dieser Verbreitung des Bildungsbegriffs in der jüdischen Bevölkerung kann man weder von einer Anpassung der Juden an die deutsche Gesellschaft noch von der Aneignung eines fremden Begriffs sprechen, obwohl letzterer aus der Tradition des deutschen pietistischen Protestantismus stammt (Jensen 2011: 342). In der Tat wurde dieser Begriff für beide Gruppen zur gleichen Zeit wirkmächtig und „trug dazu bei, die Beziehungen zwischen gebildeten Juden und Nichtjuden zu gestalten.“5(Ebd.) Der Begriff „Bildung“ ist von dem Themenkomplex der Emanzipation der Juden in Deutschland nicht zu trennen, da sie oft von den Zeitgenossen als Vorbedingung zur Gleichstellung betrachtet wurde. So zum Beispiel bei Christian von Dohm, der die „sittliche Bildung und Aufklärung der Juden“ für ihre Emanzipation für notwendig hielt (1973:120). Dohms Idee war allerdings, dass mit dem Aufgehen der Juden in der deutschen Kultur, sie ihre Religion und ihre Kultur aufgeben würden. Wie das Beispiel Mendelssohns zeigt, haben allerdings die deutschen Juden diesen Begriff aktiv mitgestaltet und zu seiner Popularisierung beigetragen. Es ist ein gutes Beispiel für die „Wechselwirkung“ von Juden und Nicht-Juden im kulturellen Bereich, der somit zu einem gemeinsamen Feld wurde. (Stern 2002: 12-13). Die „Haskala“, die als die jüdische Übersetzung von Aufklärung gelten kann und den Eintritt osteuropäischer Juden in die sich modernisierende Welt begleitete, übertrug das Bildungsideal in die eigene jüdische Erziehungsagenda, wobei letztere sowohl religiös-jüdische als auch säkulare Elemente beinhaltete (Jensen 2011: 343). Zu betonen ist also, dass die Aneignung des Bildungsideals und der bürgerlichen Werte der deutschen Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht so sehr das Ergebnis einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft ist, die gleichsam passiv durch die vermehrten Kontakte und die zunehmende Offenheit letzterer erfolgt wäre. Vielmehr zeugt diese Verinnerlichung von dem Wunsch, aktiv am kulturellen Leben teilzuhaben, was auch zu einer Veränderung des Verhältnisses zur Ästhetik führte (Ebd.).
Der Wille zur Mitgestaltung, der dabei deutlich hervortritt, bestätigt die Kritik, die Klaus Hödl gegenüber dem Verständnis der Juden als einer, Minderheit’, die zur deutschen Kultur einen, Beitrag’ geleistet hätte (Hödl 2015: 60), formuliert. Gegen den Gebrauch dieser Begriffe wendet er ein, dass dabei „implizit davon ausgegangen wird, dass Juden sich gewissermaßen außerhalb der allgemeinen Gesellschaft befinden“ würden (Ebd.). Er betont weiter, dass der jüdische Charakter des Anteils der Juden an der allgemeinen Kultur nicht deutlich auszumachen sei. Allerdings kann gegen diese Ansicht eingewandt werden, dass Hödl hiermit auch die Möglichkeit bestreitet, zwischen Juden und Nichtjuden deutlich zu unterscheiden. Dies mag für Juden, die sich nicht mehr als Juden verstanden haben, zutreffen, erscheint aber als fraglich für den Teil der deutschen Juden, die sich selbst als Juden wahrgenommen und bezeichnet haben und somit gezeigt haben, dass sie an dieser Identität festhielten (Hödl 2015: 65). Der Historiker Steven Lowenstein betont seinerseits auch, wie schwierig es sei, den Anteil der Juden an der deutschen Kultur genau zu bemessen; allerdings bemüht er sich, ein möglichst genaues Panorama davon zu liefern (Lowenstein 2000: 302). Außerdem kann man sich fragen, ob diese Aussage teilweise eine Invisibilisierung der Juden im öffentlichen kulturellen Bereich billigt, unter der zumindest manche Juden gelitten haben. Zwei Beispiele unter vielen anderen können in diesem Zusammenhang angeführt werden. In einer Rezension schrieb Franz Rosenzweig 1915 folgende Diagnose: „Was wir empfangen, dürfen wir nicht als Juden empfangen, was wir leisten, sollen wir nicht als Juden leisten“6. Hiermit ist gemeint, dass die Integration der Juden das Aufgeben oder zumindest ein Zurückstellen der eigenen Identität erforderte, insofern als sie eben nicht in den Vordergrund rücken durfte. Der Verzicht auf die Affirmation der eigenen Identität war der Preis für die Anerkennung.
Rosenzweig hatte unter anderem den Philosophen Hermann Cohen im Sinn, der erst im hohen Alter angefangen hatte, sich in seinen Publikationen mit dem Judentum auseinanderzusetzen7. Nichts anderes schreibt der Schriftsteller Moritz Goldstein in dem Text „Deutsch-jüdischer Parnass“, in dem er die Rolle der Juden im deutschen Literaturbetrieb folgendermaßen beschreibt: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“ (Goldstein 1912: 283)8. Damit ist sowohl die herausragende Rolle einiger deutscher Juden im kulturellen und intellektuellen Bereich angesprochen, als auch die Verachtung, ja die Feindschaft, der sie oft ausgesetzt waren. Eine paradoxe Situation wird also skizziert, in der die Juden gleichzeitig präsent und doch nicht willkommen seien. In diesem Text spricht sich außerdem Goldstein für eine Veränderung des Selbstverständnisses der Juden in Deutschland: Problematischer als die mangelnde Anerkennung von deutscher Seite ist für Goldstein das mangelnde Selbstbewusstsein der Juden und das Fehlen einer jüdischen Öffentlichkeit“ (Ebd.: 282), das er darauf zurückführt, dass [e]s in Deutschland, überhaupt in Westeuropa, nicht möglich [sei], zur Gesamtheit der Juden als Juden zu sprechen, soviel wir auch über uns sprechen lassen müssen“ (Ebd.). Die von Goldstein und von Rosenzweig thematisierte Unmöglichkeit, sich als Jude in der Öffentlichkeit zu prä- sentieren und auszudrücken, deutet also auf ein Gefühl des Verlusts und des Opfers, das untersucht werden muss, wenn man die eigene Beschaffenheit des Kulturjudentums näher definieren möchte.
Die Aneignung des bürgerlichen Bildungsideals durch die deutschen Juden ging einher mit einer Relativierung der religiösen Dimension des eigenen Selbstverständnisses und vielleicht auch der eigenen kulturellen Merkmale. Das Kompositum „Kulturjudentum“ beinhaltet bereits diese Idee des Verlusts, da es als eine Einschränkung der jüdischen Identität verstanden werden kann. Eine solche Diagnose wurde besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts gestellt. Dabei spielten vor allem zwei Aspekte eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite kam nach der Euphorie, die mit der deutschen Reichsgründung 1871 einherging, Ende der 1870er Jahre eine neue Welle des Antisemitismus auf, die sich im so genannten „Berliner Antisemitismusstreit“ prominent ausdrückte und kontrovers diskutiert wurde9. Damit sind die Debatten gemeint, die 1879 von dem antisemitischen Text des Historikers Heinrich von Treitschke mit dem Titel
Einer der wesentlichen Aspekte der jüdischen Kultur ist die Erinnerungskultur, die, obwohl sie in der religiösen Praxis der Juden tiefe Wurzeln hat, in ihrem säkularen Selbstverständnis meistens auch eine wesentliche Rolle spielt. Das Imperativ sich zu erinnern (
Ein anderer Aspekt der Erinnerungskultur bezieht sich nach 1933 auf die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im Rahmen der Shoah. Der Stellenwert der Erinnerung an die Shoah spielt bekanntlich im Selbstverständnis der Juden nach 1945 eine kaum zu überschätzende Rolle. Sie schafft ganz im Sinne dessen, was Dan Diner als „negative Symbiose“ (1987) bezeichnet hat, eine paradoxe und konfliktgeladene Verbindung zwischen Juden und Deutschen, die durch traumatische Erinnerungen an die Katastrophe geschaffen wurde. Diners Ausdruck war eine Neuinterpretation des Ausdrucks „deutsch-jüdische Symbiose“, den er genauso wie Gershom Scholem ablehnte. Für ihn konnte nicht über das jüdische Leben in Deutschland vor 1933 im Sinne eines fruchtbaren kulturellen Austauschs gesprochen werden. Die „negative Symbiose“ war laut Diner gleichsam eine ungewollte Tatsache, die nach der Shoah in Form einer Verbindung zwischen Tätern und Opfern – und ihren Nachkommen – entstanden war.
Die Funktion, die dieser Erinnerung im Verhältnis von Juden und Deutschen zukommt, wird auch von Scholem als eine große Herausforderung identifiziert, die allein eine Versöhnung zwischen beiden herbeiführen kann: „
Die Fluchtlinie der hier angeführten Überlegungen ist ein Ausdruck, der bereits in den vorigen Seiten verwendet wurde, nämlich die deutsch-jüdische Symbiose“. Er wurde, wie bereits erwähnt, von Gershom Scholem radikal abgelehnt, weil er seiner Ansicht nach einer Verklärung des deutsch-jüdischen Verhältnisses gleichkam (Scholem, 1970 [1964], 9). Allerdings löste seine Stellungnahme Debatten aus, die zu der Verbreitung des Ausdrucks und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem, was die Rolle der Juden in der deutschen Kultur ausmachte, erheblich beigetragen haben. Scholem betonte vor allem den Verlust des Zusammenhalts in der jüdischen Gemeinschaft sowie das Aufgeben der eigenen kulturellen Merkmale aufgrund des Willens, in der deutschen Gesellschaft aufzugehen. Dabei sei der jüdische Wille zum Gespräch von den Deutschen nicht erwidert worden und zum Schrei ins Leere geworden. Scholems Gegner wiesen ihrerseits auf die produktive Dimension des deutsch-jüdischen Gesprächs hin und führten die zahlreichen Formen des Beitrags deutscher Juden zu der deutschen Kultur, Literatur und Wissenschaft.
Klaus Hödls kritische These zur Bewertung des Anteils der Juden an der deutschen Kultur wurde bereits erwähnt. Sie erscheint, wenn man sie in ein Verhältnis zum Themenkomplex der „deutsch-jüdischen Symbiose“ setzt, als ein ziemlich originelles Argument zugunsten des Bestehens eines solchen Verhältnisses. Traditionell wird die Symbiose von den Vertretern dieser These als das fruchtbare Ineinanderschmelzen zweier Kulturen verstanden. Hödl geht noch einen Schritt weiter, indem er die Existenz einer „jüdischen Differenz“ bestreitet (Hödl 2015: 65) und behauptet, dass es keine einseitige Anpassung gibt, sondern dass letztere im Miteinander etwas Neues hervorbringen“ (Ebd. 60). Dabei stützt er sich auf Beispiele aus der Geschichte der Wiener Juden und auf die Beiträge der