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Kulturjudentum in der Geschichte der Juden in Deutschland: von der Bildung zur Erinnerungskultur

  
Nov 11, 2024

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Die Frage, was jüdisch bzw. was deutsch-jüdisch ist, scheint keine endgültige Antwort zu finden, obwohl sie immer wieder gestellt wird und dabei zu produktiven Überlegungen führt. Die Reflexionen der Herausgeberin des Bandes Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden, Elke-Vera Kotowski, die diese Frage an den Anfang ihrer Publikation setzt, können als Paradesbeispiel dafür dienen: Sie verzichtet auf eine eigene einheitliche Antwort, da sie wohl weiß, dass die Beitragenden vielfache Ansätze liefern werden, die als Teilantworten auf diese Frage gelten können (Kotowski 2015: 4). Mit den Definitionen von Kultur verhält es sich nicht unähnlich, obwohl es sich um einen Begriff und nicht um einen Bestandteil des eigenen Selbstverständnisses1handelt, der notwendigerweise an der Kreuzung individueller und kollektiver Bestimmungen definiert werden muss. In der Einleitung der Kulturgeschichte der Juden, die er herausgegeben hat, plädiert David Biale für einen Ansatz, der die jüdischen Kulturen im Plural erfasst. Nichtsdestoweniger betont er, dass zwischen ihnen ein Kontinuum der textuellen Traditionen besteht, das auf eine religiöse Einheit hinweist (Biale 2005: 22). Dieses Zusammenspiel von Pluralität und Kontinuität sollte hinterfragt werden, wenn von Kulturjudentum die Rede ist.

Mit Kulturjudentum verbindet man üblicherweise die Idee eines jüdischen Selbstverständnisses, das nicht auf Religionszugehörigkeit, sondern auf kulturellen Inhalten beruht. Allerdings muss dann gefragt werden, von welcher Kultur die Rede ist und ob dabei die religiöse Dimension vollkommen ausgeblendet werden kann. Wenn man die Belege für den Ausdruck „Kulturjudentum“ in den deutsch-jüdischen Zeitschriften aus der Zeit vor 1933 heranzieht, merkt man, dass dem Ausdruck ein leidlich anderer Sinn als heute verliehen wird. In diesen Zeitschriften scheint die kulturelle Dimension, die als Ergebnis der Emanzipation gedeutet wird, nicht so sehr als Gegensatz zu der religiösen Bestimmung verstanden zu werden. Zum Beispiel definiert 1918 der Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab in der von Martin Buber herausgegebenen Zeitschrift Der Jude das moderne Kulturjudentum“ als rastlos gärende Mischung, die das alte Blut bei der, Emanzipation’ mit dem europäischen Geiste eingegangen ist“ (Bab 1918: 342). Hier scheint also das moderne Kulturjudentum“ durch den Kontakt der emanzipierten“ Juden mit der Kultur der Länder, in denen sie lebten, entstanden zu sein. Der heutige Ausdruck dagegen hat einen ähnlichen Sinn wie „cultural judaism“ in den Vereinigten Staaten oder „judaïsme culturel“ in Frankreich, bei denen die säkulare Dimension in den Vordergrund tritt. Zum Beispiel kann man der Beschreibung des Center for Cultural Judaism in New York folgende Definition entnehmen: „a rapidly increasing number of Jews throughout the world identify themselves as cultural, non-religious Jews2, wobei hier cultural“ als Synonym für non-religious“ gebraucht wird. Heute scheint allerdings der Ausdruck „Kulturjudentum“ für die Juden in Deutschland weniger gängig als in den USA oder in Frankreich zu sein3. Vielfach ist in Deutschland sowohl in der Forschung als auch in der Presse von jüdischer Kultur oder vom kulturellen bzw. geistigen Erbe der Juden in oder aus Deutschland die Rede.4 Der Ausdruck „Kulturjudentum“ scheint dagegen weitestgehend aus dem Diskurs verschwunden zu sein. Bei der vorliegenden Untersuchung wird es also darum gehen, in gebotener Kürze zu skizzieren, welche Auffassungen der Kultur für die Herausbildung eines jüdischen Selbstverständnisses in Deutschland von der Aufklärung bis 1933 ausschlaggebend wurden mit einem Ausblick auf das Erbe nach 1945. Dabei werde ich verschiedene Stationen und Forschungsansätze hervorheben, die meines Erachtens für das Verständnis der deutschjüdischen Kultur eine bedeutende Rolle spielen.

Wichtig wäre sicherlich zu untersuchen, welcher Kulturbegriff das eigene Selbstverständnis der Juden in verschiedenen Ländern geprägt hat. Ich will mich hier auf Deutschland beschränken und drei Aspekte dieser Frage beleuchten, die als eine erste Annäherung an das Thema verstanden werden können. Zunächst soll auf die Bedeutung des Bildungsbegriffs für die Juden in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert eingegangen werden, um zu zeigen, wie sich ihr Selbstverständnis im produktiven Dialog mit der deutschen Kultur, zu der sie auch beigetragen haben, genährt hat. In einem zweiten Schritt soll die Jüdische Renaissance“ im Fokus stehen, die einer Rückbesinnung auf die eigene, durch die Assimilation teilweise in Vergessenheit geratene, jüdische Tradition gleichkommt. Der dritte Teil wird der Rolle von Gedächtnis und Erinnerung für das Kulturjudentum gewidmet, was erlauben soll, eine sehr bedeutende Facette des Erbes des deutschen Judentums nach 1945 in den Blick zu nehmen. Einerseits wurde damit die religiöse Bedeutung der Erinnerung im Judentum weitergeführt, andererseits handelte es sich um eine Neuinterpretation derselben und um eine mögliche Antwort auf die Zerstörung, die die Shoah für die europäischen Juden bedeutete.

JUDENTUMUND BILDUNG

Wenn man sich mit der Geschichte der Juden in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert befasst, stößt man genau so oft auf den Begriff der Bildung wie auf den Begriff der Kultur. Die Unterscheidung beider Begriffe gehört zu den Besonderheiten der deutschen Auffassung der geistigen Welt. In seiner Schrift aus dem Jahre 1784 mit dem Titel Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ geht es dem Philosophen Moses Mendelssohns um die Definition der Begriffe Bildung, Kultur und Aufklärung. Für ihn „zerfällt [Bildung] in Kultur und Aufklärung“ (Mendelssohn 1784: 194), wobei er mit Kultur die schönen Künste meint, was er auch das Praktische nennt. Die Aufklärung verweist für ihn auf die Erkenntnisfähigkeit und den damit einhergehenden Gebrauch der Vernunft. Demnach verfügt eine gebildete Gesellschaft über ein ausgeglichenes Maß an Kultur und Aufklärung. Am Anfang dieser Schrift betont der Philosoph, dass sich die Notwendigkeit einer Definition dieser Begriffe daraus ergibt, dass die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung […] in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge [sind]“ (Ebd.:193). Deshalb müssen die Grenzen zwischen ihnen deutlich bestimmt werden. In den folgenden Jahren gewinnt der Begriff der Bildung sowohl für deutsche Juden als auch für nicht jüdische Deutsche an Bedeutung und wird zu einem wichtigen Teil ihres Selbstverständnisses. Bei dieser Verbreitung des Bildungsbegriffs in der jüdischen Bevölkerung kann man weder von einer Anpassung der Juden an die deutsche Gesellschaft noch von der Aneignung eines fremden Begriffs sprechen, obwohl letzterer aus der Tradition des deutschen pietistischen Protestantismus stammt (Jensen 2011: 342). In der Tat wurde dieser Begriff für beide Gruppen zur gleichen Zeit wirkmächtig und „trug dazu bei, die Beziehungen zwischen gebildeten Juden und Nichtjuden zu gestalten.“5(Ebd.) Der Begriff „Bildung“ ist von dem Themenkomplex der Emanzipation der Juden in Deutschland nicht zu trennen, da sie oft von den Zeitgenossen als Vorbedingung zur Gleichstellung betrachtet wurde. So zum Beispiel bei Christian von Dohm, der die „sittliche Bildung und Aufklärung der Juden“ für ihre Emanzipation für notwendig hielt (1973:120). Dohms Idee war allerdings, dass mit dem Aufgehen der Juden in der deutschen Kultur, sie ihre Religion und ihre Kultur aufgeben würden. Wie das Beispiel Mendelssohns zeigt, haben allerdings die deutschen Juden diesen Begriff aktiv mitgestaltet und zu seiner Popularisierung beigetragen. Es ist ein gutes Beispiel für die „Wechselwirkung“ von Juden und Nicht-Juden im kulturellen Bereich, der somit zu einem gemeinsamen Feld wurde. (Stern 2002: 12-13). Die „Haskala“, die als die jüdische Übersetzung von Aufklärung gelten kann und den Eintritt osteuropäischer Juden in die sich modernisierende Welt begleitete, übertrug das Bildungsideal in die eigene jüdische Erziehungsagenda, wobei letztere sowohl religiös-jüdische als auch säkulare Elemente beinhaltete (Jensen 2011: 343). Zu betonen ist also, dass die Aneignung des Bildungsideals und der bürgerlichen Werte der deutschen Gesellschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht so sehr das Ergebnis einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft ist, die gleichsam passiv durch die vermehrten Kontakte und die zunehmende Offenheit letzterer erfolgt wäre. Vielmehr zeugt diese Verinnerlichung von dem Wunsch, aktiv am kulturellen Leben teilzuhaben, was auch zu einer Veränderung des Verhältnisses zur Ästhetik führte (Ebd.).

Der Wille zur Mitgestaltung, der dabei deutlich hervortritt, bestätigt die Kritik, die Klaus Hödl gegenüber dem Verständnis der Juden als einer, Minderheit’, die zur deutschen Kultur einen, Beitrag’ geleistet hätte (Hödl 2015: 60), formuliert. Gegen den Gebrauch dieser Begriffe wendet er ein, dass dabei „implizit davon ausgegangen wird, dass Juden sich gewissermaßen außerhalb der allgemeinen Gesellschaft befinden“ würden (Ebd.). Er betont weiter, dass der jüdische Charakter des Anteils der Juden an der allgemeinen Kultur nicht deutlich auszumachen sei. Allerdings kann gegen diese Ansicht eingewandt werden, dass Hödl hiermit auch die Möglichkeit bestreitet, zwischen Juden und Nichtjuden deutlich zu unterscheiden. Dies mag für Juden, die sich nicht mehr als Juden verstanden haben, zutreffen, erscheint aber als fraglich für den Teil der deutschen Juden, die sich selbst als Juden wahrgenommen und bezeichnet haben und somit gezeigt haben, dass sie an dieser Identität festhielten (Hödl 2015: 65). Der Historiker Steven Lowenstein betont seinerseits auch, wie schwierig es sei, den Anteil der Juden an der deutschen Kultur genau zu bemessen; allerdings bemüht er sich, ein möglichst genaues Panorama davon zu liefern (Lowenstein 2000: 302). Außerdem kann man sich fragen, ob diese Aussage teilweise eine Invisibilisierung der Juden im öffentlichen kulturellen Bereich billigt, unter der zumindest manche Juden gelitten haben. Zwei Beispiele unter vielen anderen können in diesem Zusammenhang angeführt werden. In einer Rezension schrieb Franz Rosenzweig 1915 folgende Diagnose: „Was wir empfangen, dürfen wir nicht als Juden empfangen, was wir leisten, sollen wir nicht als Juden leisten“6. Hiermit ist gemeint, dass die Integration der Juden das Aufgeben oder zumindest ein Zurückstellen der eigenen Identität erforderte, insofern als sie eben nicht in den Vordergrund rücken durfte. Der Verzicht auf die Affirmation der eigenen Identität war der Preis für die Anerkennung.

Rosenzweig hatte unter anderem den Philosophen Hermann Cohen im Sinn, der erst im hohen Alter angefangen hatte, sich in seinen Publikationen mit dem Judentum auseinanderzusetzen7. Nichts anderes schreibt der Schriftsteller Moritz Goldstein in dem Text „Deutsch-jüdischer Parnass“, in dem er die Rolle der Juden im deutschen Literaturbetrieb folgendermaßen beschreibt: „Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“ (Goldstein 1912: 283)8. Damit ist sowohl die herausragende Rolle einiger deutscher Juden im kulturellen und intellektuellen Bereich angesprochen, als auch die Verachtung, ja die Feindschaft, der sie oft ausgesetzt waren. Eine paradoxe Situation wird also skizziert, in der die Juden gleichzeitig präsent und doch nicht willkommen seien. In diesem Text spricht sich außerdem Goldstein für eine Veränderung des Selbstverständnisses der Juden in Deutschland: Problematischer als die mangelnde Anerkennung von deutscher Seite ist für Goldstein das mangelnde Selbstbewusstsein der Juden und das Fehlen einer jüdischen Öffentlichkeit“ (Ebd.: 282), das er darauf zurückführt, dass [e]s in Deutschland, überhaupt in Westeuropa, nicht möglich [sei], zur Gesamtheit der Juden als Juden zu sprechen, soviel wir auch über uns sprechen lassen müssen“ (Ebd.). Die von Goldstein und von Rosenzweig thematisierte Unmöglichkeit, sich als Jude in der Öffentlichkeit zu prä- sentieren und auszudrücken, deutet also auf ein Gefühl des Verlusts und des Opfers, das untersucht werden muss, wenn man die eigene Beschaffenheit des Kulturjudentums näher definieren möchte.

VERLUST UND RENAISSANCE

Die Aneignung des bürgerlichen Bildungsideals durch die deutschen Juden ging einher mit einer Relativierung der religiösen Dimension des eigenen Selbstverständnisses und vielleicht auch der eigenen kulturellen Merkmale. Das Kompositum „Kulturjudentum“ beinhaltet bereits diese Idee des Verlusts, da es als eine Einschränkung der jüdischen Identität verstanden werden kann. Eine solche Diagnose wurde besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts gestellt. Dabei spielten vor allem zwei Aspekte eine wesentliche Rolle. Auf der einen Seite kam nach der Euphorie, die mit der deutschen Reichsgründung 1871 einherging, Ende der 1870er Jahre eine neue Welle des Antisemitismus auf, die sich im so genannten „Berliner Antisemitismusstreit“ prominent ausdrückte und kontrovers diskutiert wurde9. Damit sind die Debatten gemeint, die 1879 von dem antisemitischen Text des Historikers Heinrich von Treitschke mit dem Titel Unsere Aussichten ausgelöst wurden, in dem er sich gegen „ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur“ aussprach (Treitschke 2003: 14)10. Im Zuge dieser Debatten und mit dem Aufbau der zionistischen Bewegung kam die Idee auf, dass die Assimilation gescheitert sei und dass eine Rückbesinnung auf die eigene jüdische Identität notwendig sei. Diese Bewegung wurde vom Philosophen Franz Rosenzweig in seinem Tagebuch als „Dissimilation“ bezeichnet, über die er schreibt: „zu beachten wird dabei in allen Zeiten die Dissimilation sein, die stets neben der selbstverständlichen Assimilation einhergeht“ (Rosenzweig 1979: 770). Für ihn gehen beide Tendenzen Hand in Hand und relativieren einander. Diese Gegenüberstellung von Assimilation und Dissimilation hat in der Sozialgeschichte der Juden Epoche gemacht und wurde unter anderem von der Historikerin Shulamit Volkov erforscht (Volkov 2006: 256-275). Volkov erklärt den Willen zur Dissimilation zum einen mit den Schranken, denen sich Juden, die sich assimilieren wollten, ausgesetzt sahen. Zum anderen versteht sie aber auch die Dissimilation als Ergebnis einer sozialen Dynamik, bei der sich eine Gruppe mit denselben sozialen, kulturellen und familiären Praktiken bildete, die eine Form der nicht nur passiv erlittenen Isolation pflegte (Volkov 1985: 199). Ferner war das Thema der gescheiterten Assimilation auch ein Argument für das negative Fazit aus der Emanzipationsbewegung nach 1945, das zum Beispiel einen wesentlichen Bestandteil von Gershom Scholems Kritik an dem Ausdruck „deutsch-jüdische Symbiose“ bildete (Scholem 1970: 9). Auch diejenigen, wie der Historiker George Mosse und der Literaturwissenschaftler Manfred Voigts, die die Rolle der Juden in der deutschen Gesellschaft vor 1933 nicht als eine Verlusterfahrung, ja als „Selbstaufgabe“ deuten (Ebd: 9), sehen in der Fokussierung der jüdischen Elite auf Bildung ein Problem, das darin besteht, dass ihre kulturelle Integration nicht politisch umgesetzt wurde und sie gewissermaßen machtlos ließ (Mosse 1992: 90; Voigts 2004: 13). Mit dem Journalisten und Politiker Achad Ha’am wurde auch die kulturelle Komponente zu einem bedeutenden Bestandteil des Zionismus, der nicht mehr nur ein politisches Ziel, sondern auch ein kulturelles verfolgte. Obwohl diese Tendenz der zionistischen Bewegung stets in der Minderheit blieb, wurden ihre Forderungen nach Integration kultureller Aspekte in den Zionismus von der Mehrheit übernommen (Mendes-Flohr, 2011, 455-456). Beim Aufbau der Hebräischen Universität in Jerusalem war die Idee eines Kulturjudentums zentral, das sehr breit aufgefasst wurde und zu einem der Grundpfeiler der aufzubauenden Nation werden sollte (Trimbur, 2016:22). Im kulturellen Bereich hat die Kritik der Assimilation bei den Juden in Deutschland bereits in den 1910er und 1920er Jahren eine Rückbesinnung auf das eigene jüdische Erbe mit sich gebracht, die man nach dem Titel eines Essays Martin Bubers als „Jüdische Renaissance“ bezeichnet hat (Buber 1901: 7-10). Dieses Bedürfnis führte zu einer Neubelebung des jüdischen Kulturlebens in der Weimarer Republik (Brenner 1996: 37-49). Unter anderen Ausdrucksformen dieser Tendenz ist die so genannte Lehrhaus-Bewegung von besonderer Bedeutung, da sie es der meist urbanen und bürgerlichen Bevölkerung erlaubt hat, sich das jüdische Wissen wiederanzueignen, das in den Familien der assimilierten Kreise nicht mehr vorhanden war. Der Historiker Michael Brenner betont, dass die Vermittlung von jüdischem Wissen in der Weimarer Republik sowohl traditionelle und restaurative als auch innovative Elemente umfasste (Brenner 1996: 81). Diese Bewegung zur Förderung der Erwachsenenbildung bezog sich sowohl auf die uralte Tradition des Bet-Ha-Midrasch, des an die Synagoge angebauten Lehrhauses, als auch auf den Trend zur Gründung zahlreicher Volkshochschulen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, der sich nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärkte. In der Zeit davor hatte sich die jüdische Erwachsenenbildung auf einzelne Vorträge (Ebd.) im Rahmen der jüdischen Gemeinden beschränkt, und die neue Idee, die sich zu der Zeit durchsetzte, bestand darin, durch den Unterricht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Bildungseinrichtung zu schaffen, was eines der zentralen Ziele der Volkshochschulen aufgriff. Im Gegensatz zu den Volkshochschulen, die vor allem von der Arbeiterklasse besucht wurden, richteten sich die jüdischen Bildungseinrichtungen vor allem an die Mittelschicht, die oftmals wohlhabend war. Mit der Wissenschaft des Judentums, die bereits seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bestand11, hatten die Lehrhäuser und jüdischen Volkshochschulen den Willen gemeinsam, sich in einem säkularen Rahmen mit Themen zur jüdischen Religion, Kultur und Tradition zu beschäftigen und durch die Durchsetzung wissenschaftlicher Standards das gesamte Wissensniveau zu heben. Dadurch war das Interesse für diesen Stoff faktisch nicht mehr zwangsläufig mit einer religiösen Praxis gekoppelt, was auch das Aufkommen eines jüdischen Selbstverständnisses möglich machte, das nicht mehr religiöser, sondern kultureller Natur war. Diese Einrichtungen antworteten auch auf ein Bedürfnis, dem innerhalb des universitären Lebens nicht entsprochen wurde. Trotz der wiederholten Bemühungen der Begründer der Wissenschaft des Judentums gab es nämlich in der Zwischenkriegszeit an deutschen Universitäten keinen Lehrstuhl, der sich der Erforschung des Judentums und seiner Kultur gewidmet hätte (Simon 1992: 154). Erst 1963 wurde von Jakob Taubes ein Institut für Jüdische Studien an der 1948 neu gegründeten Freien Universität Berlin geschaffen. In den zwanziger Jahren beschränkte sich an deutschen Universitäten das Studium der jüdischen Kultur und Religion auf zwei Aspekte: zum einen auf den biblischen Text und seine Geschichte, hauptsächlich im Rahmen der Fakultäten für Theologie, und zum anderen auf die hebräische Sprachwissenschaft und Archäologie, die den Instituten für Orientalistik zufielen, wie sie an der Berliner Universität seit ihrer Gründung im Jahr 1810 existierten. Also schien vor 1933 die jüdische Identität in zwei Elemente zu zerfallen, ein religiöses, das konfessionalisiert war, und somit nicht mehr das ganze Leben der Menschen bestimmte und ein kulturelles, das sich weitgehend autonom zum ersten verhielt. Diese Spaltung drückt sich in dem Ausdruck deutsche Bürger jüdischen Glaubens“ aus, der die konfessionelle Dimension des Judentums hervorhebt, indem er es auf den Bereich des Glaubens reduziert12.

JÜDISCHE KULTUR ALS ERINNERUNGSKULTUR

Einer der wesentlichen Aspekte der jüdischen Kultur ist die Erinnerungskultur, die, obwohl sie in der religiösen Praxis der Juden tiefe Wurzeln hat, in ihrem säkularen Selbstverständnis meistens auch eine wesentliche Rolle spielt. Das Imperativ sich zu erinnern (Zakhor) spielt in der Tat in der jüdischen Liturgie eine bedeutende Rolle, ist aber auch eng mit der Entstehung einer jüdischen Historiographie im modernen Sinne verbunden, wie es der Historiker Yosef Yerushalmi in seinem Essay mit dem Titel Zakhor. Jewish History and Jewish Memory gezeigt hat (Yerushalmi 1982: 5-6). Die Gegenstände der Erinnerung sind in erster Linie in Texten und in Worten enthalten, die die wichtigsten Vehikel der Tradition darstellen. Wie Amos Oz und Fania Oz-Salzberger (2012: 26) schreiben: “[…] in order to remain a Jewish family, a Jewish family perforce relied on words. Not any words, but words that came from books“. Damit meinen die Autoren nicht ausschließlich Worte aus heiligen Texten, sondern diejenigen aus den Büchern, die für eine Familie oder eine Gruppe von Bedeutung sind13.

Ein anderer Aspekt der Erinnerungskultur bezieht sich nach 1933 auf die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden im Rahmen der Shoah. Der Stellenwert der Erinnerung an die Shoah spielt bekanntlich im Selbstverständnis der Juden nach 1945 eine kaum zu überschätzende Rolle. Sie schafft ganz im Sinne dessen, was Dan Diner als „negative Symbiose“ (1987) bezeichnet hat, eine paradoxe und konfliktgeladene Verbindung zwischen Juden und Deutschen, die durch traumatische Erinnerungen an die Katastrophe geschaffen wurde. Diners Ausdruck war eine Neuinterpretation des Ausdrucks „deutsch-jüdische Symbiose“, den er genauso wie Gershom Scholem ablehnte. Für ihn konnte nicht über das jüdische Leben in Deutschland vor 1933 im Sinne eines fruchtbaren kulturellen Austauschs gesprochen werden. Die „negative Symbiose“ war laut Diner gleichsam eine ungewollte Tatsache, die nach der Shoah in Form einer Verbindung zwischen Tätern und Opfern – und ihren Nachkommen – entstanden war.

Die Funktion, die dieser Erinnerung im Verhältnis von Juden und Deutschen zukommt, wird auch von Scholem als eine große Herausforderung identifiziert, die allein eine Versöhnung zwischen beiden herbeiführen kann: „Nur im Eingedenken des Vergangenen, das niemals ganz von uns durchdrungen sein wird, kann neue Hoffnung auf Restitution der Sprache zwischen Deutschen und Juden, auf Versöhnung der Geschiedenen keimen.“ (Scholem 1970: 46). In dem eben zitierten Text, der zwanzig Jahre vor Diners Aufsatz verfasst wurde, spricht er von einem „Eingedenken des Vergangenen“. Die Wahl des Neologismus „Eingedenken“ stellt diesen gemeinsamen Prozess in einen religiösen Kontext. Dieser Begriff lässt sich aus zwei Bezügen heraus verstehen. Der erste stellt eine etwas ungewöhnliche Übersetzung des bereits erwähnten hebräischen Imperativs Zakhor: „erinnere dich“ dar. Daraus macht Scholem ein Gebot, eine jüdische Positionierung gegenüber der Vergangenheit und der Erinnerung, zum Prinzip der Beziehung zwischen Juden und Deutschen. Scholem zufolge fand die Beziehung zwischen beiden Gruppen bis 1933 unter deutschen Vorzeichen statt – dafür ist das bereits erwähnte Bildungsideal ein gutes Beispiel –, so dass es nun an der Zeit sei, die Beziehung im Sinne der Versöhnung unter jüdische Vorzeichen zu stellen, nämlich unter die Forderung des Eingedenkens. Scholem ist jedoch nicht der Schöpfer dieses Neologismus, den bereits Walter Benjamin in seinen Überlegungen zu Erinnerung und Gedächtnis in seinem Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“ verwendet hatte (Benjamin 1972: 611). Der Begriff des Eingedenkens bezeichnet bei Benjamin eine Form des Erinnerns, die zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis angesiedelt ist, eine Form der Resonanz, durch die sich das Individuum im kollektiven Gedächtnis wiederfindet, was sein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit stärkt14. In Scholems Verständnis, wie es in dem vorigen Zitat zum Ausdruck kommt, ist das „Eingedenken“ die Grundvoraussetzung für eine Hoffnung auf Versöhnung zwischen Juden und Deutschen, und auf „Restitution der Sprache“. Diesen Wunsch für die Zukunft bringt er also mit einer Form der Wiederherstellung der sprachlichen Beziehung, ja des Gesprächs zwischen beiden Gruppen in Verbindung. Es handelt sich hier um eine der wenigen Stellen, an denen Scholem seine Verbundenheit mit der deutschen Sprache formuliert. Damit zeigt er, dass er an der Bildung hängt, mit der vorliegende Überlegungen anfingen und die seine eigene Erziehung geprägt hatte. Diese Bildung gehörte noch für viele Juden aus Deutschland jenseits der Emigration zu der Erinnerung, die sie aus der Zeit vor 1933 mitgenommen hatten und pflegten. Wenn in Verbindung mit der Geschichte der Juden aus Deutschland von Erinnerungskultur die Rede ist, ist also nicht nur von der Erinnerung an die Shoah oder an die eigenen jüdischen Wurzeln die Rede, sondern oft von der Erinnerung an das Deutschland vor der Nazizeit, an seine Sprache und Kultur.

AUSBLICK: KULTURJUDENTUM UND DEUTSCH-JÜDISCHE SYMBIOSE

Die Fluchtlinie der hier angeführten Überlegungen ist ein Ausdruck, der bereits in den vorigen Seiten verwendet wurde, nämlich die deutsch-jüdische Symbiose“. Er wurde, wie bereits erwähnt, von Gershom Scholem radikal abgelehnt, weil er seiner Ansicht nach einer Verklärung des deutsch-jüdischen Verhältnisses gleichkam (Scholem, 1970 [1964], 9). Allerdings löste seine Stellungnahme Debatten aus, die zu der Verbreitung des Ausdrucks und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem, was die Rolle der Juden in der deutschen Kultur ausmachte, erheblich beigetragen haben. Scholem betonte vor allem den Verlust des Zusammenhalts in der jüdischen Gemeinschaft sowie das Aufgeben der eigenen kulturellen Merkmale aufgrund des Willens, in der deutschen Gesellschaft aufzugehen. Dabei sei der jüdische Wille zum Gespräch von den Deutschen nicht erwidert worden und zum Schrei ins Leere geworden. Scholems Gegner wiesen ihrerseits auf die produktive Dimension des deutsch-jüdischen Gesprächs hin und führten die zahlreichen Formen des Beitrags deutscher Juden zu der deutschen Kultur, Literatur und Wissenschaft.

Klaus Hödls kritische These zur Bewertung des Anteils der Juden an der deutschen Kultur wurde bereits erwähnt. Sie erscheint, wenn man sie in ein Verhältnis zum Themenkomplex der „deutsch-jüdischen Symbiose“ setzt, als ein ziemlich originelles Argument zugunsten des Bestehens eines solchen Verhältnisses. Traditionell wird die Symbiose von den Vertretern dieser These als das fruchtbare Ineinanderschmelzen zweier Kulturen verstanden. Hödl geht noch einen Schritt weiter, indem er die Existenz einer „jüdischen Differenz“ bestreitet (Hödl 2015: 65) und behauptet, dass es keine einseitige Anpassung gibt, sondern dass letztere im Miteinander etwas Neues hervorbringen“ (Ebd. 60). Dabei stützt er sich auf Beispiele aus der Geschichte der Wiener Juden und auf die Beiträge der postcolonial studies zur Geschichte von „Minderheiten“. Alle Reflexionen aus verschiedenen Richtungen, die hier skizziert wurden, haben auch zu zahlreichen Forschungsarbeiten geführt, aus denen die vorliegenden Überlegungen geschöpft haben.