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Gestalten statt verwalten? These zu Janusköpfigkeit als Kern des verwalterischen Habitus in NS-Zeit und Gegenwart.

   | May 24, 2021

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Die These und ihr Ort

Dieser Beitrag expliziert den Entwurf einer These zur Verwaltung, die das Umgehen-Können mit Multinormativität als zentrales Konstituens des Feldes ausweisen möchte. Meine bei einer Studie zu Behördenkommunikation empirisch gewonnene und mit historiografischen Befunden kongruierende (Hypo-) These ist, dass eine basale Fähigkeit oder sogar Neigung zu Widersprüchlichem oder sogar Paradoxalem, zu Janusköpfigkeit, zu Ambivalenz das Bürokratische ausmacht, unter dem NS-Regime wie in der Gegenwart, möglicherweise auch zu anderen Zeitpunkten. Genauer beschreibe ich die vielgestaltigen Anhaltspunkte, die mich zu der These gebracht haben, im übernächsten Abschnitt (»Indizien«).

Zustande gekommen ist die These in einem inter- und transdisziplinären Prozess angewandter Forschung an einer Hochschule, die auch künftiges Verwaltungspersonal ausbildet.

Für stets kritische und unermüdliche Diskussionen früherer Versionen der Argumentation danke ich der Soziologin Marianne Egger de Campo (HWR Berlin), die auch den Begriff der Janusköpfigkeit einführte. Ebenfalls danke ich dem Strafrechtler Erik Kraatz (HWR Berlin), vor allem für den Anschluss an rechtswissenschaftliche Debatten um Schreibtischtäter. Im Verlauf haben wir uns zu dritt gemeinsam auf die Stichhaltigkeit meiner These verständigt, und wir werden interdisziplinär weiter daran arbeiten. Den Historikern Frédéric Bonnesoeur (Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin) und Kai Müller (Stiftung Topographie des Terrors, KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen) danke ich für die Revision des geschichtswissenschaftlich orientierten Teils meiner Ausführungen. Der Historikerin Anna Corsten (Uni Leipzig) danke ich für spontanen Austausch, vgl. Anm. 114.

Formuliert ist sie in sozialtheoretischer Absicht und in deutlicher Nähe zur Soziologie, sie basiert aber auch auf Befunden und Diskursen aus anderen Disziplinen, insbesondere auf solchen aus der Geschichtswissenschaft. Ich bin weder Historikerin noch Soziologin, sondern eine ethnografisch, also: empirisch arbeitende Philosophin, aber auch gelernte Grafikerin; von 2017 bis 2019 habe ich am Arbeitsbereich „Organisationssoziologie“ am Fachbereich „Allgemeine Verwaltung“ der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin ein interdisziplinäres Projekt zu kontemporärer Behördenkommunikation mit besonderem Blick auf Grafik-Design durchgeführt. Von dieser Position aus habe ich zwischen Debatten um Amtssprache und Verwaltungsmodernisierung disziplinübergreifend Konstruktionen des Bürokratischen wahrgenommen, die ich von einer universitären Position aus vermutlich anders eingeordnet hätte. Ausgehend von einer – mir leicht zugänglichen – Debatte um Adolf Eichmann habe ich die Befunde im Verlauf mit aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschung zu Verwaltung unter dem NS-Regime verbunden. Diese hat nämlich Hochkonjunktur, spielt jedoch in der Soziologie eine ebenso marginale Rolle wie in der gegenwärtigen Verwaltungsausbildung in Deutschland – trotz der Bedeutung, die die Verwaltung für das NS-Regime und für die Shoah hatte. Deshalb beziehe ich mich auch auf genau diesen Zeitraum, aber auch, weil die im Titel genannte Unterscheidung ›Gestalten vs. Verwalten‹ gerade mit Blick auf diesen Zeitraum besonders nahe zu liegen scheint. Mit meiner These möchte ich zu einer längst überfälligen Re-Soziologisierung von Debatten um Verwaltung beitragen, indem ich Grundlagen für einen praxistheoretisch orientierten, disziplinübergreifend anschlussfähigen Ansatz schaffe, der administrative Praktiken unter dem NS-Regime in einer Soziologie der Verwaltung der deutschen Gegenwart explizit berücksichtigt.

Pierre Bourdieus Praxeologie grundlegend modifizierend frage ich prinzipiell danach, wie man den Habitus der Verwaltung beschreiben kann, ohne einen absoluten, scharfen Schnitt anzunehmen, der kollektive Dispositionen unter dem NS-Regime erschöpfend von solchen in der Gegenwart trennt. Da es sich um dasselbe soziale Feld handelt, gehe ich nicht von einer kategorischen Differenz aus. Diese Prämisse erfordert weder das Unterstellen politischer Gesinnungen noch eine abschließende Klärung der Frage, ob man das NS-Regime überhaupt als Staat bezeichnen kann; wäre sie ganz falsch, könnte man überhaupt nicht von NS-Verwaltungsgeschichte sprechen. Meine durch einen verbindenden, praxeologischen Blick auf nur scheinbar separierte Phänomene und Diskurse gewonnene These ist disziplinübergreifend anschlussfähig, aber auch für die Verwaltungsausbildung und für die breite Öffentlichkeit relevant. Entwickeln lässt sich damit, so meine ich, ein fundamental neues analytisches Instrumentarium, mit dem sich sogar ethisch kategorisch differentes Verwaltungshandeln, etwa mildes und brutales, als in derselben Disposition wurzelnd beschreiben lässt wie Verwaltungshandeln überhaupt. So ließen sich einerseits erstmals Handlungsspielräume mit genuin soziologischen Mitteln systematisch als etwas Verwaltungsimmanentes beschreiben, und andererseits lässt sich damit einem wie ich meine stetig virulenten Reifikationsproblem der Verwaltungsforschung begegnen. Denn obwohl sich in der Geschichtswissenschaft seit etwa 15 Jahren ein klarer Wandel der Perspektive weg von bloß personellen Dis-/Kontinuitäten vor und nach 1933/1945 hin zu tendenziell schöpferischen Qualitäten von Verwaltung abzeichnet, den meines Erachtens im Prinzip auch der 2018er-Band der Administory »Emotionen und Bürokratie« reflektiert, so konnte man die mit diesem Blickwechsel verbundene, auch alltagsweltlich etablierte Leitunterscheidung zwischen Aktiv und Passiv oder zwischen Subjekt und Objekt bislang noch nicht überwinden; man kehrt lediglich deren Vorzeichen um.

Alltagsweltlich unterstellt man dem Habitus der Verwaltung gerne eine »gewisse Unbeweglichkeit des Geistes«:

Otto Köpping: Amtsdeutsch: wie es ist und wie es sein soll, Berlin 1925, S. 3, zitiert nach Arno Scherzberg: Die Sprache der Verwaltung – zwischen Verständlichkeit und juristischer Präzision, in: Kurt Herzberg (Hg.): Gute Verwaltung durch besseres Verstehen. Chancen und Grenzen einer bürgerfreundlichen Behördensprache, Tagungsband, Wiesbaden 2015, S. 31–55, hier S. 46, und nach Rudolf Fisch: Die weitreichende Wirkung der Verwaltungssprache, in: Veith Mehde / Ulrich Ramsauer / Margit Seckelmann: Staat, Verwaltung, Information. Festschrift für Hans Peter Bull zum 75. Geburtstag, Berlin 2011, S. 559–577, hier S. 561.

Den »farblosen Beamten […] ohne eigenen Charakter«

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, München 1968 [1933], S. 72.

erlebt man seit jeher als starr und unkreativ, mithin als austauschbar oder fungibel; umgekehrt lässt sich somit leicht von »schöpferische[n] Antibürokrat[en]«

Bettina Stangneth im Interview mit Welt Online, Artikel von Alan Posener: Eichmann zog in Jerusalem eine perfide Show ab, in: Welt Online, online unter: https://www.welt.de/kultur/history/article13063495/Eichmann-zog-in-Jerusalem-eine-perfide-Show-ab.html (21. 1. 2021), meine Hervorhebungen.

sprechen. In aktuellen Verwaltungsmodernisierungskontexten etablierte Motti wie »Gestalten statt verwalten!«

Sebastian Muschter: Gestalten statt Verwalten! Lernen aus der LAGeSo-Krise, Eltville 2018.

oder »Creative Bureaucracy«

Charles Landry / Margie Caust: The Creative Bureaucracy & its Radical Common Sense, Gloucestershire 2017.

schreiben mit solchen Klischees verbundene Dichotomien zwischen aktiv und passiv implizit fort, indem sie die schöpferische Seite von Verwaltung betonen, dadurch die Leitunterscheidung selbst aber beibehalten. Teilweise tauchen diese Dichotomien sogar, wenngleich weniger schrill, auch innerhalb von soziologischer Verwaltungsforschung auf, vor allem beim nicht eigens reflektierten Voraussetzen einer »idealtypische[n] Unterscheidung zwischen traditionellen ›Staatsdiener‹-Werten […] und ›Dienstleister‹-Werten«,

Karin Gottschall et al.: »Effizienz, Kundenorientierung, Flexibilität, Transparenz […] – dadurch verkaufen wir uns ja sozusagen«: Werthaltungen im öffentlichen Dienst in Deutschland in marktnahen und marktfernen Bereichen, in: Patrick Sachweh / Sascha Münnich (Hg.): Kapitalismus als Lebensform? Deutungsmuster, Legitimation und Kritik in der Marktgesellschaft, Wiesbaden 2017, S. 81–106, hier S. 83. Ähnlich: Ariadne Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹ als ›Dienstleistungsunternehmen‹ revisited: Berufliches Handeln und Selbstdeutungen von Frontline-Beschäftigten nach zwanzig Jahren New Public Management, in: Zeitschrift für Sozialreform, 60/2 (2014), S. 175–201. – Vgl. zu den Argumentationen: Heike Guthoff: Von Leichen und Zuständigkeiten. Behördenkommunikation als Selbstinszenierung, in: Erik Kraatz (Hg.): Veränderungen der Kommunikationsformen und Wandel der Kommunikationskompetenzen als neue Herausforderungen für Studium und Lehre an den Fachhochschulen für den öffentlichen Dienst. Redebeiträge und Thesen des 29. Glienicker Gesprächs 2018, Hamburg 2018, S. 41–4, insb. S. 43f.

oder beim exklusiven Kontrastieren von Kunst und Verwaltung, indem etwa im »Künstler […] das stärkste Gegenmodell«

Oliver Schmidtke: Staatlichkeit, Deliberation und Facework, Eine qualitative Analyse von Interaktionen in der öffentlichen Verwaltung, Köln 2018, S. 12.

zur Bürokratie gesehen wird. Zwar weiß der Alltagsverstand paradoxerweise auch, dass es »sehr darauf an[kommt], mit wem in der Verwaltung wir es zu tun haben«,

Wolfgang Seibel: Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung, Berlin 22017, S. 133, meine Hervorhebungen.

und dass es dabei durchaus möglich ist, dass jemand kunstvoll »mit Amtsbegriffen und Referatsinterna hin- und herjongliert«.

Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Reinbek 2014 [2011], S. 338.

Die entsprechende wissenschaftliche These »Verwaltung ist eine Kunstfertigkeit«

Johannes Nettelbeck: Verwalten von Wissenschaft, eine Kunst, Berlin 2019, S. vi.

setzt sich zwar der Sache nach mehr und mehr durch, aber die damit verbundenen begrifflichen Schwierigkeiten wurden bislang nicht reflektiert: Kann man Verwaltung zu einer schöpferischen sozialen Entität erklären, und muss man, falls nicht, automatisch wieder auf das Unschöpferische zurückfallen bzw. umgekehrt ableiten, dass Bürokrat nicht sein kann, wer für etwas glüht? Was für einen theoriebezogenen Perspektivwechsel motiviert die soziologische Aussage eines Historikers, dass »›Staatsdiener‹ […] mehr sind als bürokratische Abziehbilder und austauschbare Produzenten von Aktenvermerken«,

Wolfram Pyta: Einleitung. Spezifika des Projekts, in: Ders. et al. (Hg.): Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg zur Zeit des Nationalsozialismus. Zusammenfassung zentraler Forschungsergebnisse, Heidelberg 2017, S. 7–10, hier S. 9f.

oder diejenige der Herausgeber dieses Hefts, »dass Verwaltung nicht lediglich leidenschaftsloser Vollstrecker […] oder Exekutor […] ist«?

Aus dem »Call for Papers« für dieses Heft.

So wichtig und richtig es mir auch scheint, Denkbewegungen wie diese anzuerkennen und soziologisch einzuordnen, so problematisch erscheint mir doch das bloße Umkehren der Vorzeichen der auch alltagsweltlich etablierten Aktiv-Passiv-Dichotomie („nicht lediglich [L]eidenschaftslos[e]“, „mehr […] als […] [A]ustauschbare“). Denn die Unterscheidung selbst überwindet man damit nicht, vielmehr setzt man sie voraus, man reifiziert sie. Ich plädiere deshalb dafür, nicht nur die Vorzeichen dieser Unterscheidung umzukehren, also pointiert formuliert nicht bloß das Gestalterische am Verwalterischen zu betonen, sondern die Unterscheidung bei der Beschreibung von Verwaltung ganz fallen oder jedenfalls in den Hintergrund treten zu lassen. An diese Theoriestelle lässt sich, so meine ich, jedenfalls im Prinzip eine Betrachtungsperspektive setzen, die eine grundsätzliche Fähigkeit, wenn nicht sogar Neigung zu Widersprüchlichem als analytisch zentral ausweist. Genauso verstehe ich auch die Herausgeber, wenn sie der eben zitierten ex-negativo-Formulierung (»nicht […] Vollstrecker […] oder Exekutor«) unmittelbar entgegensetzen: »Verwaltung bewegt sich vielmehr in einem Geflecht unterschiedlicher Normativitäten.« Den mit dieser Kontrastierung verbundenen Gedanken möchte ich ausbuchstabieren.

Zwar ist, wie eben angedeutet, sogar der Alltagsverstand zumindest offen für so etwas wie ›Zwei-in-eins-Figuren‹ (austauschbare Automaten vs. mit-wem-man-es-zu-tun-hat), bemerken und lösen muss der Alltagsverstand die Unvereinbarkeit der Perspektiven allerdings nicht. »Was die theoretische von der alltäglichen Auseinandersetzung mit dem Bürokratiephänomen […] unterscheidet, ist der nüchterne Blick für Dilemmata und Gegenmittel«, meint der Politik- und Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel in seiner »theoriegeschichtlichen Einführung in die Verwaltung«, anscheinend deskriptiv.

Seibel: Verwaltung verstehen, S. 135.

Bis heute liegt jedoch kein systematisch-deskriptiver Ansatz mit einem solchen Blick vor. Seibel selbst versteht unter »Dilemmata« vor allem ausweglose Situationen, und dementsprechend wendet er sich insbesondere Phänomenen zu, die zu Debakeln, zu »Verwaltungsdesastern«

Wolfgang Seibel / Kevin Klamann / Hannah Treis: Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen, Frankfurt am Main 2017.

werden. Kenntnisreich und auf unkonventionelle Weise verbinden Seibel et al. bürokratietheoretische Konzepte unterschiedlichster Provenienz,

Übersichtlich in Wolfgang Seibel / Kevin Klamann / Hannah Treis: Verwaltungsdesaster, S. 107, 214, 266, 290f.

einen eigenen, integrierenden Ansatz hat Seibel jedoch noch nicht entwickelt. Gleichwohl haben seine aktuellen Arbeiten auch eine meiner These ähnliche Stoßrichtung. Denn der Dilemma-Begriff weist auch auf Zwiespältigkeiten hin, im Prinzip also auf »Ambivalence«

Wolfgang Seibel: Pragmatism in Organizations. Ambivalence and Limits, in: Tammar B. Zilber / John M. Amis / Johanna Mair (Hg.): The Production of Managerial Knowledge and Organizational Theory. New Approaches to Writing, Producing and Consuming Theory, Bingley 2019, S. 43–58.

als Disposition und nicht bloß auf zwickmühlenartige Situationen, insofern Seibel Ambivalenz nämlich mit einer »logic of appropriateness«,

Seibel: Pragmatism in Organizations, S. 43.

mit einem Sinn für Angemessenheit, mit einer Art ›sense pratique‹ (Bourdieu) verbindet. Ich verstehe Seibels Aussage daher auch normativ als Appell an die Wissenschaft, einen Ansatz mit einem »nüchterne[n] Blick für Dilemmata« zu entwickeln, und ich wende diesen Blick dispositionenoder habitustheoretisch. Um Missverständnisse zu vermeiden: Damit meine ich nicht, dass die Verwaltung einen Habitus hätte, während man in anderen sozialen Bereichen nicht von einem solchen sprechen könne. Ich verstehe den Habitusbegriff als ein Instrument, mit dem sich gesellschaftliche Bereiche grundsätzlich untersuchen lassen. Diese sozialtheoretische Perspektive stellt die soziologische Theorie jedoch vor enorme Herausforderungen, da das Phänomen der Sache nach Gegenstand der Forschung ist und dabei auch begrifflich als feldspezifischer (Kollektiv-)Habitus bezeichnet wird, obwohl es diesen Begriff streng genommen (noch) gar nicht gibt.

Im folgenden Abschnitt expliziere ich daher zunächst meinen dispositionentheoretischen Blick genauer. Anschließend lege ich dar, welche Forschungsgebiete, -ergebnisse und -debatten mich in der Gesamtschau zu meiner These gebracht haben. Schließlich sondiere ich das theoretisch-methodologische und das für die Verwaltungsausbildung relevante Potenzial der These.

Die These und ihre methodologische Prämisse: Habitus

Innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu Verwaltung unter dem NS-Regime wird oft ein Bedarf an sozialwissenschaftlichem Analyseinstrumentarium geäußert,

Zum Beispiel: Sören Eden / Henry Marx / Ulrike Schulz: Ganz normale Verwaltungen? Methodische Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Organisation am Beispiel des Reichsarbeitsministeriums 1919 bis 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 66/3 (2018), S. 487–520; Michael Wildt: Der Holocaust, organisationssoziologisch betrachtet. Ein Lehrstück für Historiker (Rezension zu Kühl: Ganz normale Organisationen), in: Mittelweg 36 24/6 (2015), S. 106–118.

die Antworten der Soziologie fallen jedoch dünn und einseitig aus. Denn obwohl die seit rund 80 Jahren entstehende geschichts- und politikwissenschaftliche Forschung zu Verwaltungshandeln unter dem NS-Regime insgesamt gerade nicht, wie der in NS-Forschung ausgewiesene Soziologe Stefan Kühl meint, »absolut ›soziologiefrei‹« ist,

Stefan Kühl: Im Prinzip ganz einfach. Zur Klärung des Verhältnisses der Soziologie zum Nationalsozialismus, Working Paper 6/2013, online unter: https://www.uni-bielefeld.de/soz/personen/kuehl/pdf/Working-Paper-6_2013-Stefan-Kuehl-Im-Prinzip-ganz-einfach-Version-4-31052013-CitaviDefaultCitationStyle-10062013.pdf (21. 1. 2021), Anm. 8.

hat die Soziologie selbst bislang »auf jede soziologische Einordnung verzichtet«.

Kühl: Im Prinzip ganz einfach, Anm. 8.

Einerseits kann die deutschsprachige soziologische NS-Forschung insgesamt nur als »Hesitant Development«

Maja Suderland / Michaela Christ: National Socialism as a Research Topic in German-Language Sociology. Thoughts on a Hesitant Development, in: The Journal of Holocaust Research, 33/3 (2019), S. 191–211.

bezeichnet werden, und andererseits ist seit spätestens den 1990er-Jahren eine »Entsoziologisierung der Diskurse um öffentliche Verwaltungen«

Peter Richter: Die Organisation öffentlicher Verwaltung, in: Maja Apelt/Veronika Tacke (Hg.): Handbuch Organisationstypen, Wiesbaden 2012, S. 91–112, hier S. 105.

zu verzeichnen: »Eine moderne, umfassende Verwaltungssoziologie existiert eigentlich nicht«,

Peter Richter: Organisation, S. 105.

und »[e]s gibt keine einigermaßen geschlossene Bürokratietheorie«.

Hans-Ulrich Derlien / Doris Böhme / Markus Heindl: Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden 2011, S. 15.

Wenn Verwaltungspraktiken aus der NS-Zeit in der hochschulischen Verwaltungsausbildung zwischen Recht, Wirtschaft, Modernisierung und Digitalisierung überhaupt thematisiert werden, dann also, das hat eine erste Recherche klar gezeigt, konsequenterweise bloß aus einer rein ethischen, nie jedoch aus einer soziologischen Perspektive.

Auf die »ungeschriebene Soziologie des Nationalsozialismus«

Christian Dries: Rezension zu Christ / Suderland (Hg.): Soziologie und Nationalsozialismus, in: H-Soz-Kult, online unter: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-21837 (21. 1. 2021).

hatte initial und eindringlich vor allem die Soziologin Michaela Christ hingewiesen,

Michaela Christ / Maja Suderland (Hg.): Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven, Berlin 2014.

und der unterdifferenzierte Titel eines neueren Sammelbandes »Soziologische Analysen des Holocaust«

Alexander Gruber / Stefan Kühl (Hg.): Soziologische Analysen des Holocaust. Jenseits der Debatte über »ganz normale Männer« und »ganz normale Deutsche«, Wiesbaden 2015.

legt beredtes Zeugnis von diesem blinden Fleck der Soziologie ab. Die große »Ordnung des Terrors« von Wolfgang Sofsky

Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993.

ist insofern nicht mehr mit aktueller Forschung vereinbar, insofern Konzentrationslager inzwischen nicht mehr wie bei Sofsky als autarke und also von etwa Kommunalverwaltungen unabhängige Gebilde betrachtet werden können.

Vgl. Frédéric Bonnesoeur: Im guten Einvernehmen. Die Stadt Oranienburg und die Konzentrationslager Oranienburg und Sachsenhausen 1933–1945, Berlin 2018. Schon früh: Sybille Steinbacher: Dachau. Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt am Main u.a. 1994.

Trotzdem beziehen sich zum Beispiel Derlien et al. in ihrem Lehrbuch »Bürokratietheorie«

Derlien et al.: Bürokratietheorie.

durchweg positiv auf Sofsky, und Suderland übersieht in ihrer aktuellen Sofsky-Relektüre gegenwärtige Tendenzen innerhalb der Geschichtswissenschaften.

Maja Suderland: Relektüre. »Absolute Macht […] ist ziellose, negative Praxis […].« Wolfgang Sofskys Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager (1993), in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 15 (2014), S. 1–12.

Das hängt wie ich meine schlicht damit zusammen, dass die Soziologie mit Massen an Forschung konfrontiert ist, die sie erst einmal für sich erschließen muss; kein Mensch kann das auf einen Schlag oder binnen einiger Jahre alleine leisten, und so entstehen eben blinde Flecken trotz überbordender Fußnotenapparate, während umgekehrt innerhalb der Geschichtswissenschaft soziologische Aussagen nicht als solche in Erscheinung treten. (Ich plädiere deshalb für eine gegenseitige Öffnung disziplinärer Grenzen.) Die Arbeit »Ganz normale Organisationen« von Stefan Kühl kann gegenwärtig zwar als die einschlägige großangelegte soziologische Studie zum NS bezeichnet werden, die wegen ihres organisationssoziologischen Ansatzes auch für die Verwaltungsforschung relevant ist.

Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014.

Kühl schließt klar an die Systemtheorie Niklas Luhmanns an. Diese ist im Prinzip mit einem rollentheoretischen Denken verbunden, und mein modifizierter Anschluss an Bourdieu stellt – auch als Angebot an die Geschichtswissenschaft – eine sozialtheoretische Alternative dazu dar. Eine solche liegt bislang nämlich schlicht nicht vor, und so beziehen sich begrifflich interessierte Historiker/innen

Wie Anm. 19, außerdem z. B.: Wolfram Pyta: Verwaltungskulturen im NS, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, XI/1 (2017), S. 41–46.

zurzeit eben vor allem auf Kühl, mithin auf Luhmann.

Mit Kühl gehe ich davon aus, dass »eine Soziologie der Verwaltung im NS-Staat […] nur Teil einer Soziologie der Ausdifferenzierung […] der Moderne sein [kann]«,

Kühl: Im Prinzip ganz einfach, S. 2.

die er mit Luhmann systemtheoretisch fasst. Während Fritz Morstein Marxens »Dilemma des Verwaltungsmannes«

Fritz Morstein-Marx: Das Dilemma des Verwaltungsmannes, Berlin 1965.

vor allem normativ orientiert ist, hat Luhmann mit Ambivalenz verbundene Phänomene zwar deskriptiv scharf analysiert, aber seine organisationssoziologischen Analysen und insbesondere sein mit Normenvielfalt verbundenes Konzept der »Brauchbaren Illegalität«

Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 41995 [1964], Kap. 22.

sind nicht verwaltungsspezifisch verfasst. Mit Luhmann muss man »widersprüchliche[r] Normorientierung«

Luhmann: Funktionen und Folgen, S. 305.

als etwas begreifen, das entweder durch »latente Rollen« oder durch »ausdrücklich tolerierte Abweichungen« zu lösen wäre,

Luhmann: Funktionen und Folgen, S. 305.

völlig unabhängig davon, um was für eine Organisation es sich handelt. Wenngleich auch bei Bourdieu ähnlich reduktionistische Tendenzen zur Auflösung von auch phänomenologisch beschreibbaren Differenzen zwischen den von Bourdieu so genannten Sozialen Feldern – seiner praxistheoretischen Variante einer »Soziologie der Ausdifferenzierung […] der Moderne« (Kühl) – angelegt sind, sind bereits damit zwei analytische Aspekte benannt, die die praxistheoretische von der systemtheoretischen Perspektive unterscheiden: Denn erstens ist der Habitusbegriff eine Alternative zum soziologischen Rollenbegriff, kurz gesagt: »Der Kellner spielt nicht […] den Kellner«,

Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, S. 197.

er ist es; von „feldspezifischen Rollen […], sei es als Beamte“ kann man mit Bourdieu also gar nicht sprechen.

Klaus Eder: Der Klassenhabitus in Abgrenzung zum Klassenbewusstsein bei Karl Marx, in Alexander Lenger / Christian Schneickert / Florian Schumacher (Hg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013, S. 57–73, hier S. 64.

Zweitens gerät aus einer Habitusperspektive niemals bloß das Ausdrückliche in den Blick, und dieser Punkt wird auch im »Call for Papers« für dieses Heft betont: »Verwaltung bewegt sich […] in einem Geflecht unterschiedlicher Normativitäten. Diese müssen weder ein gesetzesähnliches ausdifferenziertes Normenprogramm aufweisen noch eine Bindungskraft, die ihre Stärke aus gerichtlicher Durchsetzbarkeit oder aus der Autorität höherer politischer Instanzen gewinnt.« Im Falle von Normenvielfalt »den Widerspruch [ausdrücklich] in die Normordnung selbst aufzunehmen«,

Luhmann: Funktionen und Folgen, S. 305, meine Hervorhebung.

das sehe ich in diesem Sinn nicht im Anschluss an Luhmann als annähernd dramatischen »letzten Ausweg«,

Luhmann: Funktionen und Folgen, S. 305.

den diese oder jene Organisation sozusagen im Notfall gehen kann. Meine Janusköpfigkeitsthese zielt im Sinne des »Call for Papers« vielmehr darauf, das Umgehen-Können mit Multinormativität als ganz normales Konstituens des feldspezifischen Habitus der Verwaltung betrachten zu können. In direktem Anschluss an Bourdieu wäre diese These so allerdings überhaupt nicht formulierbar, und das kann man nicht ignorieren, wenn man anstelle der systemtheoretischen Perspektive eine habitustheoretische einnehmen möchte.

In Bourdieus Gesamtwerk ist nämlich bei dessen Bewegung weg von sozialen Klassen (vertikale Differenzierung) hin zu sozialen Feldern (horizontale Differenzierung) eine Begriffsverwirrung entstanden, die das Rezeptionsfeld weitgehend übersehen hat.

Ausführlich dazu Heike Guthoff: Kritik des Habitus. Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie, Bielefeld 2013, S. 9–61.

Bezeichnete der Habitusbegriff ursprünglich die kollektiven Dispositionen von Klassen, so reserviert ihn der späte Bourdieu bei seinen Analysen Sozialer Felder für die Seite des Individuums – obwohl der Habitusbegriff gerade verhindern sollte, »dass man Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht«:

Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittler zwischen Struktur und Praxis, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 1974, S. 125–158, hier S. 132.

»Der Habitus – verstanden als Individuum oder als sozialisierter biologischer Körper oder als Verkörperlichung von biologisch individuiertem Sozialen – ist kollektiv oder transindividuell«,

Bourdieu: Meditationen, S. 201.

doch kommt ihm das Kollektive oder Transindividuelle abhanden, wenn Bourdieu in seinem Spätwerk nur das Zusammentreffen eines qua Klasse sozialisierten Körpers mit einer Feldstruktur untersucht, ausdifferenzierten Feldern aber, etwa der Kunst oder der Wissenschaft, keinen Habitus zugesteht. Der Habitus wird damit – entgegen der eigenen Intention – sukzessive als Habitus-von-jemandem verstanden, der sich vor allem körperlich artikuliert, während Felder nur noch strukturalistisch über Kapitalverteilungsstrukturen beschreibbar erscheinen. Eine kollektivistische, feldspezifische Verwendungsweise des Habitusbegriffs hat Bourdieu also nie entwickelt. Trotzdem arbeiten weite Teile der Bourdieu rezipierenden Forschung mit dieser Begriffsvariante,

Ausführlich dazu Guthoff: Kritik des Habitus, S. 50–61.

etwa zu wissenschaftlichem

Z. B. Sandra Beaufaÿs: Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld 2003; Frank Schröder: Die Exzellenzfalle. Zur Übernahme ökonomischer Logiken im wissenschaftlichen Feld, Köln 2019.

oder zu »Lehrerhabitus«,

Rolf-Thorsten Kramer / Hilke Pallesen (Hg.): Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, Bad Heilbrunn 2019.

auch international.

Schon mit theoretischem Anspruch formuliert Diane Vaughan: »The concept of habitus may apply to either individuals or organizations« in: Bourdieu and organizations. The empirical challenge, in: Theory and Society 37 (2008), S. 65–81, hier S. 68.

In einem einschlägigen Sammelband taucht der Begriff eines feldspezifischen Habitus mehrfach explizit auf,

Acht Nennungen in: Alexander Lenger / Christian Schneickert / Florian Schumacher (Hg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013, S. 217, 227 (Anm. 16), 311, 362, 366, 368, 390.

und sogar der Bourdieu-Kenner Franz Schultheis spricht in seiner »feldtheoretische[n] Annäherung« an den Öffentlichen Dienst von einem »feldspezifischen Habitus«,

Franz Schultheis: Im Dienste öffentlicher Güter. Eine feldtheoretische Annäherung, in: Mittelweg 36 21/5 (2012), S. 9–21, hier S. 19.

obwohl es diesen Begriff bei Bourdieu gar nicht gibt. Die damit verbundene Intuition, sinnvollerweise nach dem Habitus eines Feldes fragen zu können, halte ich für vollkommen richtig. Sogar Bourdieu selbst hat diese Intuition ab und zu, etwa, wenn er den »Beruf des Historikers« als dessen »Habitus« paraphrasiert.

Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Berlin 2014, S. 46.

In direktem Anschluss an Bourdieu müsste man bei einer Feldanalyse eine Differenz zwischen einem, allgemein gesagt, harten und einem weichen Pol voraussetzen, also zum Beispiel zwischen der Finanzund der Sozialverwaltung unterscheiden. Dann wäre zu rekonstruieren, wie ein Individualhabitus ›seine‹ Dispositionen an diesem oder jenem Pol des Feldes reproduziert. Man müsste also ausgehend von einer strukturalistischen Prämisse »berufsbiographische Flugbahnen«

Franz Schultheis / Berthold Vogel / Kristina Mau (Hg.): Im öffentlichen Dienst. Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel, Bielefeld 2014, z. B. S. 10.

nachzeichnen. Unterschiede zwischen Feldern markiert Bourdieu einerseits über die jeweilige Art des von ihm so genannten spezifisch symbolischen Kapitals, also über dasjenige, was innerhalb eines Feldes auf spezifische Weise zu Anerkennung und Prestige führen kann, z. B. das souveräne Beherrschen feldspezifischer Praktiken (Schreiben, Tanzen, Sprechen, Rechnen, Beobachten …), Kenntnis der Geschichte des Feldes oder feldspezifisch relevante Titel oder Netzwerke. Differenzen zwischen Feldern lassen sich dann jedoch nur noch mit dem Kapital-, nicht aber mit dem Habitusbegriff fassen. Vielleicht ließe sich das Kennen von Rechtsgrundlagen als spezifisch symbolisches Kapital des Verwaltungsfeldes fassen; mir geht es erst einmal um eine phänomenologische Variante eines feldspezifischen Kollektivhabitus, von der erst post hoc klärbar ist, inwieweit und inwiefern sie mit einer tendenziell strukturalistischen Analyse von Kapitalverteilungsstrukturen vereinbar ist. Ähnlich wie bei Luhmann, der Differenzen zwischen Systemen mit systemspezifischen ›Codes‹ fasst, lösen sich Feldspezifika so jedenfalls in (funktions-) strukturalistische Kategorien auf. Luhmann ordnet die Verwaltung überdies dem politischen System zu, so dass sie sogar nur noch über den politikspezifischen Code ›Macht/keine-Macht‹ beschreibbar ist.

Vgl. Edwin Czerwick: Systemtheorie der Demokratie. Begriffe und Strukturen im Werk Luhmanns, Wiesbaden 2008, insb. Kap. 5.2.3.

Bourdieu hat zwar andererseits immerhin noch den gegenüber dem Luhmannschen Codebegriff eher phänomenologischen, feldspezifischen Begriff der ›illusio‹ eingeführt. Diese expliziert er als »Zustimmung zum Spiel«,

Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 123.

zur Logik eines Feldes, also als etwas, das »Akte und Akteure ad absurdum [führt] wie die Tanzenden in einem Roman von Virginia Woolf, die man hinter einer Glastür gestikulieren sieht, ohne die zugehörige Musik zu vernehmen«:

Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 123.

Was eine Philosophin heiß macht, lockt noch lange keinen Juristen hinter dem Ofen hervor. Dieser »Sinn für das Spiel«

Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 122.

setzt jedoch ein individualistisches Verständnis von Habitus als Habitus-von-jemandem voraus, insofern er bei Bourdieu ein »wundersame[s] Zusammentreffen von Habitus und Feld«

Bourdieu: Sozialer Sinn, S. 122.

bezeichnet; ich kann das hier nur andeuten. Mit und gegen Bourdieu spreche ich somit jedenfalls von einem feldspezifischen Habitus der Verwaltung, so wie man auch von einem Betriebsklima sprechen kann.

Vgl. Guthoff: Kritik des Habitus, S. 10.

Anders als Renate Mayntz, die zur Hochzeit der Verwaltungssoziologie in den 1960er- und 1970er-Jahren den Diskurs maßgeblich geprägt hat, gehe ich also auch davon aus, dass man im Fall der Verwaltung trotz Heterogenität sehr wohl von einem »spezifisch tätigkeitsbezogenen […] Selbstverständis[ses]«

Renate Mayntz: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg 1978, S. 173, Hervorhebung im Original.

im Sinne kollektiver Dispositionen sprechen kann, die weder mit einem binären Code-Schema (Luhmann) noch mit einem erweiterten Kapitalbegriff (Bourdieu) angemessen analytisch fassbar sind.

Mayntz meinte, dass innerhalb eines – von ihr ohnehin infrage gestellten – kollektiven verwalterischen Selbstverständnisses ausschließlich »als […] Kern […] die Norm unbedingter Loyalität [fungiert]«.

Mayntz: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, S. 173.

Dagegen dürfte schon allein die Remonstrationspflicht sprechen,

Darauf machte mich Egger de Campo aufmerksam, vgl. z. B. Hellmuth Günther: Remonstration als Pflicht, Obliegenheit, Recht des Beamten, in: DÖD – Der öffentliche Dienst. Personalmanagement und Recht, 66/12 (2013), S. 309–315.

durch die das die Loyalität unterwandernde Widersprechen sogar auf paradoxale Weise institutionalisiert ist, nämlich als Weisung, Weisungen unter Umständen nicht auszuführen. Über dieses spezifische Dilemma gehe ich mit meiner These von einer auch von »Tocqueville beobachtete[n] […] doppelgesichtige[n] […] Verwaltung«

Waltraud Heindl: Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848, Wien 1991, S. 308.

jedoch noch hinaus. Denn bei meinen Vorarbeiten bin ich in der Empirie und in der Literatur disziplinübergreifend auf ganz unterschiedliche Varianten von ›Zwei-in-eins-Figuren‹ gestoßen. Methodologisch gesprochen meine ich also, dass »widersprüchliche Normorientierung« (Luhmann) zwar habituskonstitutiv ist, jedoch mit vagen »hybride[n] Rollenmustern«

Seibel: Verwaltung verstehen, S. 17.

nicht angemessen beschrieben werden kann, wie etwa in Anthony Downs’ »Inside Bureaucracy«

Anthony Downs: Inside Bureaucracy, Boston 1967.

oder auch in aktuellen soziologischen Arbeiten zu Verwaltungsreformen, die im Ergebnis vage von einem pluralen »Mix an Werthaltungen«

Gottschall et al.: »Effizienz [...]«, S. 103.

oder von »einem ›modernisierten‹ Amtsethos mit zwei Ausprägungen« sprechen.

Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹, S. 196.

Konsequenzen hat das vor allem deshalb, weil, und hier folge ich Luhmann und Kühl, Normenvielfalt es Personen und Institutionen erlaubt, sich »jeweils auf die […] genehmen Regeln beziehen«

Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, S. 98.

zu können. Multinormativität und Willkür liegen nicht allzu weit auseinander, aber ich will erst einmal auf der deskriptiven Ebene bleiben. Statt Rollenvielfalt nehme ich dabei die Einheit des Habitus an, den jemand oder eine Institution oder ein Feld nicht einfach ablegen kann wie einen Mantel und der stets nie ausschließlich das Ausdrückliche, nie ausschließlich »kodifizierte Normen«

Schmidtke: Staatlichkeit, S. 12.

umfasst. Der fundamental modifizierte Anschluss an Bourdieu erlaubt es somit insgesamt auch, nicht eine soziologisch kaum fassbare Meta-Instanz wie etwa ›den Menschen‹ oder ›die Person‹ jenseits von Rollen theoretisch verorten zu müssen, vielleicht das ›Gewissen des Verwaltungsmenschen‹, sondern lediglich die Einheit des Habitus – und mag diese auch in Gespaltenheit bestehen, also in einem »Mix« im Singular, der weder ausschließlich »Werthaltungen« umfasst und also bloß zu ›Ethiktraining‹ führen könnte, noch erst durch Reformen zu Stande gekommen ist. Dadurch werden Handlungsspielräume als etwas fassbar, das der Habitus des Feldes selbst, also nicht etwas Verwaltungsexternes erzeugt: Man kann, wie Janus, immer auch ein anderes Gesicht machen, ohne dadurch sein Gesicht (oder die Stelle) zu verlieren, wenn auch in Grenzen. Genau so verstehe ich auch den Titel Administrative Multinormativität. Wie also bin ich zu der These gelangt?

Die These und ihre Indizien: Behördenkommunikation, Verwaltungsmodernisierung, Eichmann, Historiografie, Ethnografie
Verwaltungsmodernisierung, Soziologie und Amtssprache

Trotz überbordender Forschung zu einem sich durch Verwaltungsreformen im Zuge des Neuen Steuerungsmodells (NSM)

Internationale Forschungsstände z. B. in: Karin Gottschall et al. (Hg.): Public Sector Employment Regimes. Transformations of the State as an Employer, Houndmills 2015.

möglicherweise wandelnden verwalterischen Habitus

Schultheis et al. ((Hg.): Im öffentlichen Dienst) arbeiten nicht nur der Sache nach, sondern auch analytisch mit dem Habitusbegriff, allerdings in direktem Anschluss an Bourdieu. Ich halte das nicht für falsch, aber für verengt. Um beide Begriffsvarianten des Habitus aufrecht erhalten zu können, halte ich erst einmal an meiner noch unausgereiften Unterscheidung zwischen Habitus und Habitusäußerung fest, vgl. Guthoff: Kritik des Habitus, S. 61–65.

liegt bislang kein Ansatz vor, der Seibels »nüchternem Blick für Dilemmata« gerecht werden könnte. Oft werden in diesen Kontexten ein altes und ein neues Bürokratiemodell methodologisch vorausgesetzt und gegeneinander ausgespielt, namentlich die – vielfach normativ verstandene – Bürokratietheorie Webers und das Neue Steuerungsmodell.

Explizit z. B. in Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹ und in Gottschall et al.: »Effizienz […]«.

Dadurch wird der »nüchterne Blick für Dilemmata« (Seibel) jedoch von vornherein verunmöglicht. Was fehlt, ist ein Ansatz, mit dem sich das Gespaltene zu einer sozialtheoretischen Kategorie verdichten lässt. Wichtige Impulse liefern dabei insbesondere Arbeiten zum Phänomen Amtssprache.

Forschungsstand in: Heike Guthoff: »Das Amt. Das ist immer erstmal so uwäh.« Behörden, Kundenorientierung und Several Shades of Grey, in: Joachim Beck / Jürgen Stember (Hg.): Perspektiven der angewandten Verwaltungsforschung in Deutschland, Baden-Baden 2018, S. 129–157.

Denn dabei werden in der Regel nicht zwei Bürokratiemodelle vorausgesetzt. Vielmehr werden dabei so etwas wie Normenvielfalt und damit verbundene Orientierungsprobleme deutlich. Aktuell liegt jedoch kein sozialwissenschaftlicher Ansatz zur Logik von Verwaltung vor, der Forschung und Projekte zum »Behördisch«

Michaela Blaha: Nur für Eingeweihte? Das Amt und seine Sprache, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67 (14–15) 2017, S. 29–35, hier S. 33.

explizit berücksichtigt; Arbeiten zur Amtssprache werden innerhalb der Soziologie nicht rezipiert. Umgekehrt kann innerhalb dieser Kontexte selbst aber auch keine sozialtheoretische Reflektion geleistet werden, da es sich in der Regel um rechtsund sprachwissenschaftliche sowie um psychologische Ansätze handelt, oder aber um reine Praxisvorhaben außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses.

Einheitliche, verbindliche und kodifizierte Normen einer »übergeordnete[n] Instanz«

Fisch: Die weitreichende Wirkung der Verwaltungssprache, S. 576.

zur Gestaltung der Amt-Bürger-Kommunikation liegen jedenfalls schlicht nicht vor. Eigentlich reicht das schon, um auch die alltagsweltlich etablierten ›Marionettenvorstellungen‹ ins Wanken zu bringen, auch wenn damit noch keine Lösung für das Reifikationsproblem formuliert ist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich sogar zum Beispiel, dass »eine Untersuchung von 32 Textbausteinen aus sieben Kommunalverwaltungen ergeben hat, dass manchmal selbst in ein und derselben Abteilung unterschiedliche Textbausteine für die Rechtsbehelfsbelehrung verwendet werden.«

Blaha: Nur für Eingeweihte?, S. 32.

Die auch in der Soziologie exponierte Vorstellung, dass ein »Künstler […] das stärkste Gegenmodell« (Schmidtke) zur Bürokratie bildet, wird schon allein vor diesem Hintergrund brüchig. Doch auch innerhalb von Arbeiten zur Amtssprache selbst kursieren unterschiedliche normative Angebote, nicht selten sogar in einem einzigen Text. So rekurriert etwa Michaela Blaha, Germanistin und Geschäftsführerin der Idema GmbH,

IDEMA Gesellschaft für verständliche Sprache mbH, Bochum.

in einem einzigen Aufsatz einmal auf das Verwaltungsverfahrensgesetz, wonach ein Verwaltungsakt hinreichend bestimmt sein müsse, dann wieder auf die nach Blaha per se gegebene Notwendigkeit einer hohen Textqualität, außerdem auf Effizienz und schließlich auch noch auf Kundenorientierung.

Blaha: Nur für Eingeweihte?

Mit diesem Knäuel möchte Blaha normativ begründen, warum es mit dem »Behördisch«

Blaha: Nur für Eingeweihte?, S. 33.

nicht so weitergehen kann. Studiert man andere Arbeiten zur Amtssprache, sieht man jedoch schnell, dass das nicht Blahas Privatproblem ist.

Ausführlich dazu: Guthoff: Von Leichen, S. 50–56.

Ich meine inzwischen, dass dieses Normenwirrwarr, das nicht ohne Konfliktpotenzial ist – können z. B. Kundenorientierung und Effizienz gleichzeitig gefordert werden? –, gerade auch den im »Call for Papers« für dieses Heft als zentral ausgewiesenen Umstand reflektiert, dass »Verwaltung […] sich […] in einem Geflecht unterschiedlicher Normativitäten [bewegt]«, sowie, dass wir es dabei nicht bloß mit etwas für die Verwaltung Relevantem, sondern mit etwas für die Verwaltung Konstitutivem zu tun haben, mit etwas also, das dieses Feld ausmacht (möglicherweise wegen des für die Verwaltung zentralen Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, darüber kann ich zurzeit allenfalls mutmaßen): Multinormativität mag in vielen Feldern eine Rolle spielen, aber der mögliche Einwand, Multinormativität sei auch in allen möglichen Feldern mit einer habituskonstitutiven Disposition verbunden, der wäre erst einmal wissenschaftlich zu belegen; ich halte es jedenfalls für unwahrscheinlich, dass das Erscheinen dieses Hefts Zufall ist. Der Rechts- und Verwaltungswissenschaftler Arno Scherzberg formuliert sogar selbst eine Janusköpfigkeitsthese, indem er – unmittelbar einleuchtend, aber soziologieabstinent, wenngleich nicht »soziologiefrei« (Kühl) – beschreibt, dass »amtliche Schreiben de facto zweifach adressiert [sind]«,

Arno Scherzberg: Die Sprache der Verwaltung – zwischen Verständlichkeit und juristischer Präzision, in: Kurt Herzberg (Hg.): Gute Verwaltung durch besseres Verstehen. Chancen und Grenzen einer bürgerfreundlichen Behördensprache, Tagungsband, Wiesbaden 2015, S. 31–55, hier S. 47, meine Hervorhebungen.

nämlich an die Empfängerin und an »Kontrollinstanzen«

Scherzberg: Sprache der Verwaltung, S. 47.

zugleich, dass man also in der Verwaltung von einer »quasi-Zweisprachigkeit«

Rudolf Fisch / Burkhard Margies: Was tun? Wege zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Arbeit an einer guten Verwaltungssprache, in: Dies. (Hg): Bessere Verwaltungssprache. Grundlagen, Empirie, Handlungsmöglichkeiten, Berlin 2014, S. 213–242, hier S. 227.

sprechen kann. Verwaltungssoziologisch reflektiert wurden diese Befunde bislang nicht – obwohl sie meines Erachtens einen entscheidenden Impuls liefern, da sie nicht zwei Bürokratiemodelle voraussetzen, um dann nur noch nach dem Vorkommen von Normen aus diesem oder jenem Modell zu fragen. Gerade die Debatten um die Amtssprache bemerken also das Multinormativitätsphänomen, sie thematisieren es aber nicht explizit.

Innerhalb der soziologischen Forschung zu Verwaltungsreformen im Zuge des Neuen Steuerungsmodells dominieren international (New Public Management), aber auch im deutschsprachigen Raum grundsätzlich quantitative Arbeiten. Im angelsächsischen Raum wird oft an das individualpsychologische Konzept der ›Public Service Motivation‹ angeschlossen,

James L. Perry / Lois R. Wise: The Motivational Bases of Public Service, in: Public Administration Review, 50/1990, S. 367–373.

während deutschsprachige Arbeiten eher dazu tendieren, das Neue Steuerungsmodell mit dem Bürokratiemodell Webers zu kontrastieren. Die bisher eher raren qualitativen Studien fragen ohne Bezug auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten nach sozialem Wandel innerhalb des »Rollen- und Selbstverständnis[ses] der Beschäftigten im öffentlichen Dienst unter Reformbedingungen«

Gottschall et al.: »Effizienz […]«, S. 82.

oder nach »normativen Vorgaben für ›gutes‹ Verwaltungshandeln […] [g]emäß der Modernisierungssemantik«.

Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹, S. 175.

Dabei stellen Sondermann et al. sogar zutreffend, wenngleich ohne expliziten Bezug zur NS-Geschichte, fest, dass das mit der ›Public Service Motivation‹ unterstellte Individualethos »gerade in Deutschland […] auch immer ambivalent«

Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹, S. 176.

gewesen sei. Dennoch gehen die Autorinnen und Autoren diesem selbst gesetzten Impuls nicht nach – vermutlich, weil er normativ verfasst ist –, und sie setzen, wie Gottschall et al., eine »analyseleitende […] idealtypische Unterscheidung zwischen traditionellen ›Staatsdiener‹-Werten […] und ›Dienstleister-Werten‹«

Gottschall et al.: »Effizienz […]«, S. 83.

voraus. Normenvielfalt gerät dadurch allenfalls als etwas in den Blick, das jemand oder der Habitus-von-jemandem artikulieren kann. Dass Normenvielfalt konstitutiv für kollektive Dispositionen sein könnte, das kann man durch diese exklusive ›Brille‹ jedoch nicht sehen. Auch hier entsteht also ein Reifikationsproblem.

Denn wenn man nicht kollektive Dispositionen, sondern bloß die »beruflichen Selbstverständnisse«

Kathrin Englert / Ariadne Sondermann: »Ich versuch hier auch immer so dieses Amtliche irgendwie noch ’n bisschen zu überspielen.« Emotions- und Gefühlsarbeit in der öffentlichen Verwaltung als Ausdruck von Staatlichkeit im Wandel, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 38 /2 (2013), S. 131–147, hier S. 145.

Einzelner im Plural rekonstruiert, um dann anhand einer vorausgesetzten Leitunterscheidung nur noch Zuordnungen zur einen oder zur anderen Seite vorzunehmen (Weber/Neues Steuerungsmodell), dann schränkt man den Blick auf die eigentlich doch offene Frage danach, »welche normativen Erwartungen und Werteorientierungen heutzutage für das berufliche Selbstverständnis der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Deutschland bedeutsam sind«,

Gottschall et al.: »Effizienz […]«, S. 83, meine Hervorhebung.

von vornherein massiv ein. Wenn im Ergebnis dann jedoch weder eine eindeutige Orientierung am einen noch am anderen Modell auszumachen ist, so dass man in Verlegenheit gerät und bloß noch vage von einem »Mix an Werthaltungen«

Gottschall et al.: »Effizienz […]«, S. 103.

oder, ganz ähnlich, von »einem ›modernisierten‹ Amtsethos mit zwei Ausprägungen«

Sondermann et al.: Der ›arbeitende Staat‹, S. 196.

sprechen könne, dann kann die Frage nach der Gestalt oder dem Ganzen dieses ›Mixes‹ immer nur entlang der vorausgesetzten und damit reifizierten dichotomen Unterscheidung behandelt werden (ein Ethos mit zwei Ausprägungen). Mit meiner These lässt sich diesem ›Mix-Befund‹ jedoch ein anderer analytischer Ort zuweisen. Er lässt sich nämlich durchaus auch im Sinne der Janusköpfigkeitsthese interpretieren, die ebenso ohne das Voraussetzen zweier Pole oder Modelle auskommt wie ohne die Annahme »unbedingter Loyalität« (Mayntz) und ohne das Voraussetzen individualpsychologischer Kategorien (Public Service Motivation). So gewendet könnte der hier als Folge von Reformen beschriebene »Mix« an pluralen »Werthaltungen« als Haltung der Verwaltung im Singular ausgewiesen werden. Im Prinzip habe ich mit dieser Re-Interpretation des Mix-Befundes einmal konkret eingelöst, was Seibel mit seiner Forderung nach einem »nüchterne[n] Blick für Dilemmata« meint.

Weitere Hinweise auf Janusköpfigkeit und auf voraussetzungsreiches Sprechen über Verwaltung habe ich in Bildern vom Bürokratischen in Debatten rund um den wohl am besten erforschten ›NS-Schreibtischtäter‹ Adolf Eichmann ausgemacht, die mir von außen einigermaßen leicht zugänglich sind. Die dabei oft zentrale Frage, ob Eichmann nun ein Bürokrat war oder nicht, will ich vorbehaltlich weiterer Re-Lektüren, an deren Anfang ich gerade erst stehe, erst einmal nur so beantworten: Wenn er ein Bürokrat war, dann muss er zu Janusköpfigkeit in der Lage gewesen sein. Anders gewendet: Die Frage nach der Person Eichmanns ist für mich gar nicht zentral. Zentral für mich sind Bilder vom Bürokratischen, die in der Forschung explizit, vor allem aber auch implizit gezeichnet werden. Denn die Frage danach, wie Eichmann oder, größer gedacht, wie die Verwaltung unter dem NS-Regime wirklich war, kann ja nicht getrennt werden von den (begrifflichen) Instrumentarien, mit denen diese Frage gestellt und beantwortet wird: Geht man die Frage von vornherein mit einem bestimmten Bild vom Bürokratischen an, sind die Antwortmöglichkeiten engmaschig vorgezeichnet.

Eichmann, das Bürokratische und geschichtswissenschaftliche Bewegungen

Der Historiker Raphael Gross schreibt explizit, dass sich das Bild von Eichmann »ähnlich einer Kippfigur ständig hin und her zu bewegen [scheint]«:

Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010, S. 171.

»Einmal sehen wir einen subalternen Beamten«, dann wieder einen »überzeugten Antisemiten«, der eine »Mission« verfolgt (ebd.), pointiert formuliert also einmal den Verwalter und einmal den Gestalter. Das eine erscheint dabei als etwas ganz anderes als das andere, ansonsten wäre die Formulierung Kippfigur hier sinnlos. Das Bild vom »subalternen Beamten« bringt Gross hier treffend mit Hannah Arendts Prozessbeschreibung Eichmann in Jerusalem in Verbindung. Darin bezeichnet Arendt Eichmann bekanntlich als »Hanswurst«,

Z. B. in Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Taschenbuchausgabe, München 32012 [1963], S. 132.

und sie stellt eine Verbindung her zwischen Hanswurstigkeit, Eichmann und der Amtssprache, also einer herausragenden Artikulationsform des verwalterischen Habitus, die Eichmann vor Gericht für sich proklamierte: »Amtssprache ist meine einzige Sprache«

Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 124.

– ein »subalterner Beamter« eben. Arendts Kommentar: »[D]ie Amtssprache war […] seine Sprache […], weil er […] unfähig war, einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war. […] [D]iese Unfähigkeit, sich auszudrücken, [war] aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft«.

Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 125f.

Dass Arendt hier selbst in Klischees denkt, nämlich dem verwalterischen Habitus eine »gewisse Unbeweglichkeit des Geistes« (Köpping) unterstellt, ist offenkundig; offenkundig ist mithin auch, dass ihre Aussagen ebenso wenig »soziologiefrei« (Kühl) sind wie Gross’ Attribut ›subaltern‹. Beide setzen ein bestimmtes Bild vom Bürokratischen voraus, wenngleich auf völlig andere Weise als es innerhalb der soziologischen Studien zu Verwaltungsreformen geschieht.

Auffälligerweise ist dieses Bild vom Verwalterischen genau dasselbe wie dasjenige, das die Historikerin und Philosophin Bettina Stangneth in Eichmann vor Jerusalem zeichnet,

Stangneth: Eichmann vor Jerusalem.

obwohl sie in Sachen Eichmann die exakte Gegenthese zu Arendt vertritt: »[E]r war […] Ideengeber, Praxisfinder, Innovator […] ein schöpferischer Antibürokrat, der neue Ideen entwickelt, der vor Kreativität geradezu sprüht«,

Stangneth: Eichmann zog in Jerusalem eine perfide Show ab.

so bringt es Stangneth in einem Interview noch schärfer auf den Punkt als in ihrem Eichmann-Buch selbst, und Arendt sei auf seine »perfide Show«

Stangneth: Eichmann zog in Jerusalem eine perfide Show ab.

hereingefallen. Aber Eichmann war kein Schauspieler, der sich über unzählige Prozessstunden hinweg konsequent als jemand hätte darstellen können, der er nicht war (»Show«); Eichmann war Referatsleiter in einem Amt. Wenn man diese Aussage akzeptiert, kann man keine kategorische Differenz zwischen dem Reichssicherheitshauptamt und ›dem Amt an sich‹ annehmen; vielmehr müsste man dann zeigen, dass das RSHA überhaupt kein Amt war, sodass Eichmann Referatsleiter in einem Nicht-Amt gewesen sein müsste. Der Historiker Michael Wildt scheint in seiner umfangreichen Studie zum RSHA genau das nahezulegen, wenn er zum Beispiel schreibt: »Diese Männer waren keine Schreibtischtäter oder Bürokraten. Sie […] vollzogen die terroristische Besatzungsherrschaft nicht nur per Erlass und Verfügung jenseits des Geschehens, sondern praktizierten den Terror«

Michael Wildt: Generation des Unbedingten: Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, e-book-Ausgabe, Hamburg 2013, S. 861.

– aber »nicht nur« heißt eben auch: auch, also nicht: überhaupt nicht, sodass es schwer werden dürfte, das RSHA kategorisch so vom Amtlichen zu unterscheiden, dass es im Ergebnis als Nicht-Amt erscheint. Als Nicht-Historikerin will ich hier aber gar nicht zu einer eindeutigen Antwort auf die Frage kommen, ob es überhaupt legitim ist, Eichmann als Bürokraten zu bezeichnen bzw. ob man das RSHA als Amt betrachten kann. Worum es mir erst einmal nur geht, ist das systematische Betrachten von Bildern, die innerhalb historiografischer Forschung vom Bürokratischen gezeichnet werden. Zu Eichmann liegt viel Forschung vor, die ein Studium solcher Bilder erlaubt, und NS-Verwaltungsgeschichte hat Konjunktur. Deshalb ist es gerechtfertigt, sozialtheoretische Re-Lektüren mit diesem Gegenstand zu beginnen; mein Blick ist ein Blick von außen.

Den exakten Forschungsstand zur Verwaltung unter dem NS-Regime kann ich zum jetzigen Zeitpunkt also weder präzise noch umfassend referieren, für eine erste Präsentation meiner These ist das für mich als Nicht-Historikerin aber auch nicht erforderlich. Vielmehr sehe ich präzise Re-Lektüren als genau die Aufgabe an, die künftige historisch-soziologische Zusammenarbeit zu leisten hätte; dafür entwickele ich hier ein methodologisches Angebot.

Stangneth jedenfalls reproduziert mit ihrer Eichmann-Beschreibung implizit ein Bild des verwalterischen Habitus, das sich, wie bei Arendt, vermutlich auch bei Wildt und möglicherweise in vielen anderen Studien ex negativo aus dem tendenziell Passiven, nämlich dem Unschöpferischen, dem Unkreativen, dem Nicht-Gestalterischen ableiten lässt (»schöpferischer Antibürokrat«, »Unfähigkeit«), sodass auch hier »[e]in Künstler […] das stärkste Gegenmodell«

Schmidtke: Staatlichkeit, S. 12.

abzugeben scheint. Damit übernimmt sie implizit den bei Arendt angelegten Entwurf von Bürokratie, ohne dies jedoch zu benennen; da ihr Gegenstand Eichmann und nicht Bürokratie ist, ist ihr deshalb ebenso wenig ein Vorwurf zu machen wie Wildt und anderen Historikerinnen und Historikern.

Andere kontemporäre Autoren sehen in Eichmann sehr wohl einen Bürokraten, argumentieren aber auch gegen Arendt. Auch das habe ich bislang nur wahrgenommen, aber noch nicht präzise durchgearbeitet. Sicher einschlägig: David Cesarani: Eichmann. His Life and Crimes, London 2004; Yaacov Lozowick: Hitler’s bureaucrats. The Nazi security police and the banality of evil, London 2002.

Gerade die Dichotomie zwischen Verwalten und Gestalten, zwischen aktiv und passiv, scheint in der historiografischen Forschung zu Verwaltung unter dem NS-Regime lange Zeit etabliert gewesen zu sein, seit etwa 15 Jahren jedoch brüchig zu werden – zumindest taucht sie inzwischen mit umgekehrten Vorzeichen auf.

Denn die Geschichtswissenschaften zeigen, so mein erster Eindruck, in quellenreichen – und damit für die Soziologie hochinteressanten – Studien zu Verwaltung unter dem NS-Regime sukzessive und unaufhaltsam,

Z. B.: Bonnesoeur: Im guten Einvernehmen; Pyta et. al.: Geschichte der Landesministerien; Rüdiger Fleiter: Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers, Hannover 2006; Sabine Mecking / Andreas Wirsching (Hg.): Stadtverwaltung im Nationalsozialismus – Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005.

dass »›Staatsdiener‹ […] mehr sind als bürokratische Abziehbilder und austauschbare Produzenten von Aktenvermerken«.

Pyta: Einleitung, S. 9 f., meine Hervorhebung. »Bürokratisch« ist hier freilich voreingenommen formuliert und wohl als identisch mit „austauschbare Produzenten“ zu verstehen; genau darum geht es mir ja.

Konkret hat zum Beispiel Rüdiger Fleiter in einer einschlägigen Studie gezeigt, dass auch »die kommunalen Beamten und Angestellten […] immer wieder über Direktiven ›von oben‹ hinausgingen oder sogar Verfolgungsmaßnahmen aus eigenem Antrieb ersannen«.

Rüdiger Fleiter: Kommunen und NS-Verfolgungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 57/14–15 (2007), S. 35–40, hier S. 35.

Die noch bis in die 1990er-Jahre breit akzeptierte Annahme, die Verwaltungskräfte der NSZeit seien vor allem wie »bei Mommsen als passives Element«

Fleiter: Kommunen, S. 36, meine Hervorhebung.

zu beschreiben,

Vgl. Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966.

dürfte, mindestens im Anschluss an Fleiter, also nicht mehr haltbar sein. Fleiters Ergebnisse resümierend konstatiert der Historiker Andreas Wirsching sogar, dass »basierend auf jüngsten Forschungen […] von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden« könne.

Andreas Wirsching: Rezension zu Fleiter: Stadtverwaltung, in: H-Soz-Kult, online unter: www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8578 (21. 1. 2021).

Konkret meint er zwar einen Paradigmenwechsel in der Forschung zu Verwaltung im Nationalsozialismus, eine analoge Bewegung zeichnet sich, soweit ich zurzeit sehe, aber auch in Forschung zu Verwaltungspraktiken in anderen Epochen ab:

Z. B. Constanze Sieger / Felix Gräfenberg: Information als Ressource des Entscheidens in der Moderne (1780–1930). Entwicklungen und Konstellationen in preußischen Zentralbehörden und westfälischen Lokalverwaltungen, in: Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 333–355; Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow/Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Historische Forschungen Bd. 101, Berlin 2014.

Aktuelle historiografische Forschung löst sich, soweit ich das von außen erkennen kann, zurzeit grundsätzlich »von der älteren verwaltungsgeschichtlichen Perspektive, welche auf die 1:1-Umsetzung staatlicher Vorgaben rekurriert hat«,

Werner Freitag / Constanze Sieger: Preußische Amtmannbürokratie und lokale Selbstverwaltung: Dörfliches Entscheiden in der preußischen Provinz Westfalen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Projektbeschreibung Teilprojekt C05 im SFB 1150 ›Kulturen des Entscheidens‹ vom 21. 1. 2019, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, online unter: https://www.uni-muenster.de/SFB1150/projektbereiche/projektbereichc/teilbereichc05.html (21. 1. 2021)

allerdings hat eben vor allem die »Erforschung des administrativen Handelns im NS-Regime […] derzeit Hochkonjunktur«.

Pyta: Einleitung, S. 7.

Wie genau die vielen aktuellen Arbeiten und der »Paradigmenwechsel« in den Geschichtswissenschaften abschließend sozialtheoretisch zu beurteilen sind, das kann ich zurzeit noch nicht einschätzen; mir geht es erst einmal darum, separierte Forschungsgebiete, die sich um dieselbe Sache drehen, aber kaum etwas voneinander wissen, miteinander in Verbindung zu bringen. Prinzipiell besteht natürlich die Möglichkeit, die historisch gewachsene Aktiv-Passiv-Dichotomie einfach umzudrehen, so wie es schon früh der Politikwissenschaftler Raul Hilberg im Sinn hatte, auch in Abgrenzung von Arendt.

Die Historikerin Anna Corsten (Uni Leipzig) war verblüfft über meine Fragen, da die Bürokratieverständnisse bei Arendt und Hilberg bislang nicht systematisch verglichen worden seien. Vgl. Anna Corsten: »Immer wieder, wie ein Gespenst kommt sie zurück.« Überlegungen zur Konfliktgeschichte von Hannah Arendt und Raul Hilberg, in: René Schlott (Hg.): Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, Göttingen 2019, S. 115–129.

Hilberg

Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 131990 [1961].

hatte dem NS-Regime eine Art »Phantasie der Bürokratie«,

Nicolas Berg: »Phantasie der Bürokratie«. Raul Hilbergs Pionierstudie zur Vernichtung der europäischen Juden, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 71–75.

attestiert, wonach der Bürokrat gerade nicht das »Rädchen im Getriebe« sei, sondern umgekehrt derjenige, der »das ganze Getriebe in Gang hält«.

Raul Hilberg: Die Bedeutung des Holocaust, in: Ders. / Walter H. Pehle / René Schlott (Hg.): Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen, Frankfurt am Main: 2016, S. 98–109, hier S. 108.

Ganz anders hat dagegen Fleiter 2006 (Kap. 6.3) den paradox anmutenden Begriff der ›loyalen Distanz‹ – sozusagen Gehorsame Rebellenlight

Heindl: Gehorsame Rebellen.

– eingeführt, um das Verhältnis einiger Kommunalverwaltungskräfte zur NSDAP zu beschreiben. Strukturell ähnlich klingt für mich die Formulierung: »Die meisten NS-Täter stellen eine Mischung aus Schreibtisch- und Direkttätern, aus Vordenkern und Vollstreckern dar«,

Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung, in: Dies. (Hg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2004, S. 1–32, hier S. 18, meine Hervorhebung.

wenngleich sie nicht exklusiv auf die Verwaltung bezogen ist. Insgesamt sehe ich hier jedenfalls ein enormes sozialtheoretisches Potenzial der historiografischen Forschung, nicht in »absolute[n] Zustände[n] des Entweder-Oder«

Michael Wildt: Die Transformation des Ausnahmezustands. Ernst Fraenkels Analyse der NS-Herrschaft und ihre politische Aktualität, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 19–23, hier S. 20.

zu denken. Durch meine bisherigen, erst am Anfang stehenden Re-Lektüren habe ich jedenfalls, wie in den vorangegangenen Absätzen skizziert, direkte Hinweise auf ›Zwei-in-eins-Figuren‹ innerhalb der historiografischen Forschung gefunden (z. B. ›loyale Distanz‹, »Kippfigur«, »Mischung«), die verwaltungsspezifisch verfasst sind oder sich so lesen lassen, sowie grundsätzlich Hinweise darauf, dass das schroffe Exkludieren des aktiven Gestaltens vom passiven Verwalten nicht ausreicht, wenn man Verwaltung in NS-Zeit und Gegenwart soziologisch angemessen beschreiben möchte.

In meinen bisherigen Re-Lektüren bin ich auch auf Widersprüche in Konstruktionen des Verwalterischen gestoßen, die schroffe Abgrenzungsbewegungen zwischen aktiv und passiv vollziehen. Weil das für die These nicht bedeutungslos ist, möchte ich diesen Punkt hier zumindest holzschnittartig andeuten. Wenn etwa Arendt, sehr nah an Webers bekannter ex-negativo-Definition von Bürokratie als »Herrschaft der formalistischen Unpersönlichkeit«, Bürokratie als »Herrschaft des Niemand« bezeichnet,

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 142011 [1951], S. 405.

also »Menschen ohne Eigenschaften«

Ingo Elbe: »das Böse, das von Niemanden begangen wurde.« Hannah Arendts Konzept der »Herrschaft des Niemand«, in: Ders.: Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt, Würzburg 2015, S. 446–494, hier S. 472.

sieht, die als »restlos aller Spontaneität beraubte Marionetten«

Arendt: Elemente, S. 937.

bloß noch ex negativo über einen »Mangel an Einfällen«

Arendt: Elemente, S. 724.

charakterisierbar erscheinen, anderswo aber meint, Heinrich Himmler sei von »teuflische[r] Genialität«

Hannah Arendt: Organisierte Schuld [1944], in: Dies.: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt am Main 1976, S. 32–45, hier S. 41.

gewesen, und wenn Weber Bürokratie mit »sine ira et studio […], daher ohne ›Liebe‹ und ohne ›Enthusiasmus‹«

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972 [1921], hier: Bd. 1, Kap. III, § 5, S. 129.

expliziert, paradoxerweise aber anderswo meint, dass dabei »stets als Norm des Verhaltens die […] rationale Abwägung ›sachlicher‹ Zwecke und die Hingabe an sie besteht«,

Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, hier: Bd. 2, Kap. IX, S. 565, meine Hervorhebungen.

dann liegen offenkundig werkimmanente Widersprüche vor.

Auf den Widerspruch bei Arendt weist der Philosoph Ingo Elbe in »das Böse […]« hin, verwaltungssoziologisch expliziert er seinen Befund natürlich nicht. Bürokratietheoretische Konsequenzen bei Arendt »for […] the modern bureaucrat« (Peter Burdon et al.: Reflecting on Hannah Arendt and »Eichmann in Jerusalem: A Report of the Banality of Evil«, in: Adelaide Law Review 35 (2014), S. 427–447, hier S. 427) erfahren zurzeit vor allem in US-amerikanischen rechtswissenschaftlichen Debatten eine Renaissance, sind bislang jedoch, trotz Arendts offenkundiger Nähe zu Weber, in der deutschsprachigen Verwaltungsforschung nicht relevant gemacht worden.

Solche deuten meines Erachtens darauf hin, dass das Abgrenzen vom Kreativen oder Passiven bei der Beschreibung des Bürokratischen zwar naheliegend ist bzw. war, und dass es immer wieder reproduziert wird bzw. wurde (ebenso im Alltag und in Diskussionen um Eichmann), dass es sich aber nicht konsequent durchhalten lässt. Wäre es anders, würden nicht gestandenen Theoretikerinnen und Theoretikern derart deutliche Widersprüche unterlaufen. Ich verstehe solche daher als Hinweis auf die Stichhaltigkeit der Hypothese einer basalen Disposition zu Gespaltenheit.

Auch in Bourdieus »Über den Staat« finden sich ähnliche Widersprüche. Darin heißt es z. B., wenngleich symbolisch im Rahmen einer Bildinterpretation, es sei »eine sehr häufige Situation in der Bürokratie«, dass der Bürokrat »die Rechtschreibung gelernt [hat], ich würde sagen, sonst kann er nichts« (S. 218, meine Hervorhebungen), aber auch, dass »keine Unvereinbarkeit zwischen kultureller Originalität und Bürokratisierung [besteht]« (S. 278), oder, dass »[d]ie Bürokratie […] Legitimationsdiskurse [erfindet]« (S. 358, meine Hervorhebungen). Wer aber außer »Rechtschreibung […] nichts [kann]«, wird wohl kaum Diskurse erfinden oder originell erscheinen bzw. ›jonglieren‹ (Stangneth) können; die Analogien zu den Widersprüchen bei Arendt (Niemande vs. Genialität) und Weber (ohne Enthusiasmus vs. Hingabe) könnten deutlicher kaum sein.

Eigene ethnografische Forschung zu kontemporärer Behördenkommunikation

Auch in unserer an der Hochschule für Wirtschaft und Recht durchgeführten ethnografischen Studie zu Behördenkommunikation

Projekt »DISK: Design institutionalisiert Service- und Kundenorientierung«, online unter: https://www.ifaf-berlin.de/projekte/disk (21. 1. 2021).

sind unterschiedliche, scheinbar separierte ›Zwei-in-eins-Figuren‹ aufgetaucht, die sich nicht auf die Aktiv-Passiv-Dichotomie zurückführen lassen. Besonders auffällig ist zunächst die Tatsache (a), dass eine Berliner Behörde ihren Mitarbeitern zwei unterschiedliche Logos für die Briefköpfe zur Verfügung stellte: eines für Kommunikation mit »belastendem Charakter« und eines für den davon abgegrenzten »standardmäßigen Fall«.

Zitiert aus einer internen Anleitung eines Berliner Bezirksamts, vgl. Guthoff: Von Leichen, S. 58ff.

Damit verbunden ist (b) die in Verwaltungskontexten unverzichtbare Unterscheidung zwischen belastenden und begünstigenden Verwaltungsakten. Das (c) Changieren zwischen Kunden- und Bürgerorientierung im Zuge von Verwaltungsreformen, das in der Forschung ethikorientiert als pluraler »Mix an Werthaltungen« gefasst wird (Gottschall et. al.), lässt sich ebenfalls als ›Zwei-in-eins-Figur‹ deuten. Eine ehemalige Studentin berichtete mir sogar, dass sie bei ihrer Ausbildung in der Berliner Verwaltung in einer Institution angewiesen worden sei, im belastenden Fall von Bürgerinnen und im begünstigenden Fall von Kunden zu sprechen. Innerhalb von (d) Kommunikation zu ordnungsbehördlichen Bestattungen hat (mindestens) ein Berliner Gesundheitsamt mit der Problematik zu tun, in ein und demselben Schreiben zuerst zu kondolieren und abschließend zu drohen. Ähnlich unterbreitet ein Berliner Zahnärztlicher Dienst gleichzeitig Angebote und Drohungen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des untersuchten Amts benannten in Interviews (e) mehrfach eine zu leistende »Grätsche« oder »Schere«, auch unter Rekurs auf die Differenz zwischen »Nett-« und »Behörde-Sein« (vier Interviewzitate). Explizit fiel dabei die Wendung „nette Kontrolleure“, die fast identisch ist mit der Formulierung „sanfte Kontrolleure“ aus einer 2017 replizierten Studie von 1975 zu Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in Jugendämtern.

Sylvia Kühne / Christina Schlepper/Jan Wehrheim: »Die sanften Kontrolleure« (Helge Peters und Helga Cremer-Schäfer 1975) revisited, in: Soziale Passagen 9 (2017), S. 329–344. Mit Dank an Marianne Egger de Campo für den Hinweis auf diesen Artikel.

Vor dem Hintergrund dieser ›Multinormativitätsgemengelage‹ erscheint mir (f) auch die bekannte Formel »Fordern und Fördern« der Bundesagentur für Arbeit inzwischen klar als Artikulation von Janusköpfigkeit. Diese Einschätzung steht in enger Verbindung zu (b) (Belasten/Begünstigen), ist aber auch mit (c) verbunden, weil die Arbeitsagentur die einzige Behörde ist, die den Kundenbegriff konsequent einsetzt: Wie aber kann eine ›Einladung‹ ohne Weiteres in der dazugehörigen Rechtsfolgenbelehrung als ›Aufforderung‹ bezeichnet werden? Auf den ersten Blick völlig separiert, aber dafür umso verblüffender erscheint der von zwei Studentinnen im Rahmen einer Lehrveranstaltung ethnografisch generierte Befund eines (g) permanenten Nebeneinanders von modernen und verstaubten Elementen in Amts-Räumen, zum Beispiel einerseits Flachbildschirme für ›Warte-TV‹ und andererseits vergilbte, mit Klebeband montierte handschriftliche Hinweise.

Kongenial erfasst und beschrieben von Darleen Huwe und Anna-Sophie Preß.

Auch dieser Befund lässt sich bezeichnenderweise ebenso gut mit der Formulierung (h) »zwiespältige Selbstbilder, institutionelle Persönlichkeitsspaltungen« auf den Punkt bringen wie das, was der Kulturanthropologe Werner Schiffauer eigentlich damit meinte, nämlich das Selbstverständnis einer kontemporären Ministerialverwaltung.

Die Ergebnisse der Studie zur Frage, wie eine Bürokratie »tickt«, konkret, »wie das [Bundes]innenministerium denkt« (Hervorhebungen im Original), hat Schiffauer noch nicht publiziert, aber in einem online verfügbaren Interview zusammengefasst: https://verfassungsblog.de/corona-constitutional-40-die-inneresicherheit/ (21. 1. 2021).

Schließlich ist mir noch (i) die auch alltagsweltlich bekannte paradoxale Körperhaltung »des Beamtentypus, den man […] den Radfahrer nannte«,

Hans Leisegang: Die Ethik des Beamtentums und ihre Bedeutung für den Volksstaat, in: Ders. / Fritz Hartung (Hg.): Berufsbeamtentum, Volksstaat und Ethik. Zwei Vorträge, Leipzig 1931, S. 20–32, hier S. 24.

aufgefallen.

Diese Macht-Ohnmacht-Haltung wird sehr eindrucksvoll dargestellt in dem berühmten Stummfilm »Das Kabinett des Dr. Caligari«: Der Stadtsekretär thront hoch oben am Schreibpult, jedoch mit einem überdeutlich gekrümmten Rücken. – Vgl. Bourdieu: Über den Staat, S. 459: »Ich könnte ein Beispiel aus dem alten Ägypten […] heranziehen, [wo] der Beamte, der wadu genannt wurde, zugleich Sklave und Beamter war – das Wort meint beides«. Mehr Janus geht nun wirklich nicht; mit Luhmanns Code- oder Bourdieus-Kapitalbegriff lässt sich das aber nicht fassen.

Denn darauf rekurriert im Prinzip auch der Strafrechtler Claus Roxin in seiner Analyse des Eichmann-Prozesses (vgl. dazu den nächsten Abschnitt); bei Eichmann sei nämlich einerseits im »Unterschied zum Individualverbrechen […] der Staat selbst der Täter. […] Andererseits war ja Eichmann nicht Ausführender, sondern […] gleichzeitig Anordnender«.

Claus Roxin: Straftaten im Rahmen organisatorischer Machtapparate, in: Goltdammer‘s Archiv für Strafrecht 110 (1963), S. 193–207, hier S. 201f.

Die, wie ich meine, in der Gesamtschau sehr tiefe, da mit zentraler Normenvielfalt verbundene Bedeutung dieser nur scheinbar disparaten Befunde hat sich mir also erst durch das Verbinden von Soziologie, Historiografie und Rechtswissenschaft erschlossen. Erst diese Gesamtschau hat mich zu der These gebracht, dass so etwas wie Janusköpfigkeit für die Verwaltung nicht bloß relevant, sondern konstitutiv ist.

Die These und ihre Bedeutung: Theoriebildung und darüber hinaus

Um zu einer klaren These gelangen und diese perspektivisch weiter schärfen und modifizieren zu können, habe ich mich erst einmal auf deutsche Kontexte bezogen. Mir geht es zunächst einmal darum, ein disziplinübergreifend anschlussfähiges analytisches Instrumentarium zu schaffen, das eine Lösung für das Reifikationsproblem bereitstellt (Aktiv-Passiv-Dichotomie). Der Vorstoß soll als Alternative zu systemtheoretischen Ansätzen die Grundlegung eines praxeologischen Ansatzes ermöglichen. Unzweifelhaft sind perspektivisch auch DDR-spezifische Kontexte zu berücksichtigen. Aufgrund des theoretischen Anspruchs und der eher dünnen aktuellen soziologischen Forschung zu Verwaltung unter dem NS-Regime habe ich solche jedoch zunächst ausgeklammert

Ähnlich: Suderland / Christ: National Socialism as Research Topic, Anm. 3.

– ich kann auch nicht alles auf einmal machen. Erst wenn die deutschen Spezifika – NS und DDR – zumindest einigermaßen mit einem »nüchternen Blick für Dilemmata« (Seibel) betrachtet worden sind, scheint mir auch ein internationaler Vergleich oder eine transnationale Perspektive angemessen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass man – auch habitustheoretisch – von einem »Sonderweg […] der deutschen Verwaltung«

Seibel: Verwaltung verstehen, S. 173.

sprechen kann: »[D]ie deutsche Verwaltung ist […] ein Sonderfall. […] Die Dualität von struktureller Fragmentierung im Organisatorischen und Vereinheitlichung über Rechtsetzung […] ist ihr wesentliches Kennzeichen«,

Seibel: Verwaltung verstehen, S. 173.

womit eine weitere konkrete Artikulation von Gespaltenheit benannt ist.

Lässt sich die ›Gespaltenheits-Hypothese‹ zunächst einmal für NS-Zeit und Gegenwart validieren, dann ließen sich erstmals, so die Idee, auch mildes und brutales Verwaltungshandeln als in ein und derselben Disposition wurzelnd beschreiben und reflektieren, wobei sich diese Disposition erstmals mit genuin soziologischen Mitteln konstruieren ließe. Die Perspektive ist dann weder eine rein historiografische noch eine rein ethische oder politische, sondern eine historisch-soziologische. Wenn etwa »Behörden es [aus humanitären Gründen] mit den Buchstaben des Dienstrechts und mit […] Verfahrensgrundsätzen […] nicht so genau nehmen«,

Seibel: Verwaltung verstehen, S. 10, meine Hervorhebungen.

dann wäre das zwar ethisch (und politisch) etwas ganz anderes als eine »Übererfüllung auf dem Gebiet der Eugenik«

Fleiter: Kommunen, S. 38, meine Hervorhebung.

durch Personal in einem Hannoveraner Gesundheitsamt, das 1935 jedoch »mit wenigen Ausnahmen der NSDAP mit formaler Distanz gegenüber[stand]«.

Fleiter: Kommunen, S. 38. (›Loyale Distanz‹.)

Soziologisch gewendet hat man es aber in beiden Fällen mit »widersprüchliche[r] Normorientierung« (Luhmann) sowie mit einem nicht fest umrissenen Abweichen von Normen zu tun (»nicht so genau«, »Übererfüllung«), das als solches jedoch notwendig nicht von einem austauschbaren oder »passive[n] Element« (Fleiter mit Mommsen) geleistet werden könnte. Durch – und nur durch – die Annahme einer kollektiven Disposition zum Ambivalenten ließe sich ethisch kategorisch differentes Handeln der Verwaltung erstmals analytisch auch als etwas fassen, das der Habitus des Feldes selbst ermöglicht, das also nicht erst noch von einer externen Instanz hervorgebracht werden müsste (Mensch, Person, Gewissen; »latente Rollen«, Luhmann).

Der eigentliche Witz und die analytische Fundierung der These bestehen also darin, dass sich damit wie eben skizziert auch ethisch kategorisch differentes Verwaltungshandeln insgesamt auf dieselbe dispositionelle Wurzel zurückführen ließe wie Verwaltungshandeln überhaupt (›Zwei-in-eins-Figuren‹), wie also zum Beispiel das Umgehen-Können mit zwei Logos für die Briefköpfe. Die Annahme einer basalen Janusköpfigkeitsdisposition erlaubt es also, Fragen der Normorientierung als soziologische Fragen nach der Eigenlogik des Feldes und somit nicht bloß als ethische Fragen zu behandeln, so wie es zurzeit geschieht, wenn NS-Geschichte an den für die Verwaltungsausbildung verantwortlichen Institutionen überhaupt institutionalisiert wird; die beiden bedeutendsten Vorhaben in Hamburg und Nordrhein-Westfalen sind jedenfalls explizit und ausschließlich ethisch orientiert: 2017 wurde an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW ((neuer Name)) das nach eigener, zutreffender Aussage erste Institut für Geschichte und Ethik der Öffentlichen Verwaltung (IGE) gegründet: »Ein grundsätzliches Anliegen seiner Arbeit liegt in der Verklammerung von Geschichte und Ethik […] [d]urch […] historisch- und wertorientierte[n] Arbeiten«.

Institut für Geschichte und Ethik der Polizei und öffentlichen Verwaltung (IGE), Konzeptpapier, online unter: https://www.hspv.nrw.de/dateien_forschung/forschungszentren/ige/Konzeptpapier_IGE.pdf (21. 1. 2021), S. 2.

Auch ein Projektvorhaben (2013) im Rahmen einer Kooperation zwischen der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme war zwar mit verwaltungsspezifischen Bildungsangeboten der Gedenkstätte verbunden,

Vgl. z. B. Ulrike Pastoor / Oliver von Wrochem: NS-Geschichte, Institutionen, Menschenrechte. Bildungsmaterialien zu Verwaltung, Polizei und Justiz, Berlin 2013. Online: https://www.ns-geschichteinstitutionen-menschenrechte.de (21. 1. 2021). Angaben zum Projekt bei der HAW online nicht mehr verfügbar.

im Fokus dabei stand jedoch das Verbinden von historisch-politischer Bildung mit Menschenrechtsfragen. Die Perspektive ist also wie im Falle des IGE ((ausgeschrieben in Zeile 28f.)) primär eine ethische. Aktivitäten, die mit einem sozialtheoretischen Blick die Eigenlogik von Verwaltung thematisieren, existieren, soweit ich sehe, bislang nicht. Lässt sich meine These zumindest im Prinzip validieren, dann lässt sich auch das Reflektieren der Variationsbreite des feldspezifischen Habitus als Reflektieren von Handlungsspielräumen in die Verwaltungsausbildung implementieren.

Auch straf- und verwaltungsrechtliche Konsequenzen könnten sich auf lange Sicht einstellen, wenn man Verwaltung auf die hier vorgeschlagene Weise neu denkt. Das kann ich hier nur andeuten. Ausgehend vom Eichmann-Prozess hatte der Strafrechtler Claus Roxin die Rechtsfigur der »mittelbaren Täterschaft kraft organisatorischem Machtapparat« entworfen.

Roxin: Straftaten.

Bei NS-Prozessen wurde die Figur zwar nicht angewandt, wohl aber in den sogenannten Mauerschützenprozessen sowie international zum Beispiel bei der Verurteilung des peruanischen Ex-Präsidenten Fujimori.

Einen prägnanten Überblick gibt Thomas Rotsch: Von Eichmann bis Fujimori – Zur Rezeption der Organisationsherrschaft nach dem Urteil des Obersten Strafgerichtshofs Perus, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 4/11 (2009), S. 549–551.

Durch die deutsche Rechtsprechung erfuhr die Figur aber auch eine dogmatische Weiterentwicklung in Richtung Wirtschaftsstrafrecht,

Dargestellt und umfassend kritisiert von Erik Kraatz: Zum Irrweg der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft in Wirtschaftsunternehmen, in: Thomas Bode et al. (Hg.): Festschrift für Gerhard Wolf, Berlin 2018, S. 301–324.

und genau diese Erweiterung macht zumindest im Prinzip eine Übertragung auf Verwaltungskontexte möglich. Denn das von Roxin ursprünglich angesetzte Kriterium der Fungibilität (Austauschbarkeit) in organisatorischen Machtapparaten, in denen nach Roxin immer alle austauschbar seien, wurde dadurch ausgeweitet in Richtung ›hierarchische Struktur‹ überhaupt. Zur Diskussion um das von Roxin außerdem angesetzte Kriterium der Rechtsgelöstheit kann meine These höchstens mittelbar etwas beitragen, die Diskussion um das Kriterium der Fungibilität kann sie aber befruchten. Denn wenn man Gespaltenheit als angemessene Beschreibung des verwalterischen Habitus akzeptiert, dann kann man nicht mehr denken, dass bloß die »farblosen Beamten […] ohne eigenen Charakter […] den jeweiligen Vorgesetzten spiegel[n]«.

Werfel: Die vierzig Tage, S. 72.

Der (Kollektiv-) Habitus des Feldes hat dann nämlich eine solch enorme Variationsbreite, die universelle Fungibilität kategorisch ausschließt. Zwar geht es im Strafrecht von vornherein immer um die Frage: aktiv oder passiv, Täter oder Anstifterin?, aber im Rahmen einer sozialtheoretischen Konzeption kann man sich von dieser Frage erst einmal frei machen. Konsequenzen hätte das langfristig dennoch, schließlich ist umgekehrt Roxins Fungibilitätskriterium auch ebenso wenig »soziologiefrei« (Kühl) wie Pytas »Abziehbilder«.

Meine hier abschließende aber noch lange nicht abgeschlossene Antwort auf die Frage, ob man Verwaltung insbesondere vor dem Hintergrund aktueller geschichtswissenschaftlicher Forschung einfach zu einer schöpferischen sozialen Entität erklären kann, und ob man, falls nicht, automatisch wieder auf das Unschöpferische zurückfallen muss, fällt im Moment so aus: Man kann das machen, es ist reizvoll da kontraintuitiv, aber es führt nicht weiter. Denn einerseits wird man so das Reifikationsproblem nicht los, und andererseits wird dann alles zu etwas Schöpferischem oder gar zur Kunst, sei es das Forschen, sei es das Handeln mit Aktien, sei es das Einräumen von Supermarktregalen. Wenn man so davon ausgehen muss, dass in jedem sozialen Feld eine bestimmte »Kunstfertigkeit« (Nettelbeck) vorhanden ist, was sicher der Fall ist, dies dann jedoch im Falle eines bestimmten Feldes, das nicht das der künstlerischen Produktion ist, zur kennzeichnenden Charakteristik erklären möchte, dann kommt es nicht nur zu einer Trivialisierung des Kunstbegriffs, sondern auch zu einer im Vergleich zu Luhmann und Bourdieu unterdifferenzierten Nivellierung von Differenzen zwischen sozialen Bereichen. So wichtig und richtig und sinnvoll es mir auch scheint, insbesondere die Befunde aus den Geschichtswissenschaften anzuerkennen und sozialtheoretisch zu deuten, so kurzschlüssig erscheint es mir doch, stets die Aktiv-Passiv-Dichotomie vorauszusetzen, auch wenn man sie mit umgekehrten Vorzeichen versieht. Wenn man an diese Theoriestelle jedoch das Auftauchen von ›Zwei-in-eins-Figuren‹, Janusköpfigkeit oder eben das Umgehen-Können mit Multinormativität setzt, muss man nicht automatisch wieder auf das Unschöpferische zurückfallen, indem man die Hinwendung zum Aktiven oder Schöpferischen akzeptiert. Was man dann tut, ist vielmehr: die Aktiv-Passiv-Dichotomie als Leitunterscheidung fallen lassen und zugleich mitdenken, dass es auf die Aktiv-oder-Passiv-Frage in der Verwaltung überhaupt nicht ankommt, jedenfalls nicht primär, sondern auf Multinormativitätsätspraktiken, auf »widerstreitende Handlungsimperative«,

Olaf Winkel: Entwicklungslinien, Handlungsfelder und widerstreitende Handlungsimperative der Digitalisierung in Politik und Verwaltung, in: Verwaltung und Management, 24/3 (2018), S. 113–158.

nicht nur bei Digitalisierungsfragen.

Kurz: Vorbehaltlich weiterer Modifikationen der These plädiere ich dafür, pointiert formuliert nicht bei ›Verwalten ist gestalten‹ stehen zu bleiben. Vor dem Hintergrund früherer geschichtswissenschaftlicher Perspektiven, aber auch vor dem Hintergrund von Alltagsverstand, Literatur und Kabarett ist es nahezu verführerisch, die schöpferische Seite der Verwaltung zu betonen – und damit die Aktiv-Passiv-Dichotomie wieder und wieder zu reifizieren; zu Beginn meiner Verwaltungsforschung bin ich selbst in diese ›Falle‹ getappt.

Z. B. in: Guthoff: »Das Amt […]«, S. 133.

So schwer das Umdenken auch mir selbst fällt: Ich hoffe, mit meiner These zur einer disziplinübergreifenden Diskussion beitragen zu können.

eISSN:
2519-1187
Language:
English