Open Access

»Wandel durch Annäherung«: Multinormativität und informelle Politik in der europäischen Integration zwischen den 1960er und 1990er-Jahren

   | May 24, 2021

Cite

Einführung

Dieser Aufsatz untersucht administrative Multinormativität und Normenkonflikte in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am Beispiel eines Gentlemen’s Agreements aus dem Jahre 1966.

Dieser Aufsatz geht auf den von Peter Becker (Wien) und Peter Collin (Frankfurt) am 27. und 28.09.2019 am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte (MPIeR) organisierten Autorenworkshop »Administrative Multinormativity. Normenkonflikte in verwaltungshistorischer Perspektive« zurück. Ich danke den Herren Becker und Collin, allen weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops sowie den anonymen Gutachtern für ihre Anregungen und Ideen zur Überarbeitung dieses Manuskriptes. Die Analyse dieses Aufsatzes basiert u. a. auf Quellen folgender Archive: Historical Archives of the European Union Florenz (HAEU), National Archives Kew (vormals Public Record Office: PRO), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PAAA), Ministère des Affaires Étrangères Paris (MAE), Ministère des Affaires Étrangères Belges Bruxelles (MAEB).

Im sogenannten Luxemburger Kompromiss duldeten die EWG-Mitgliedstaaten eine Protokollerklärung des französischen Repräsentanten, der zufolge es keine Mehrheitsabstimmungen mehr geben sollte, wenn eine Regierung ein »vitales nationales Interesse« reklamierte. Obwohl der EWG-Vertrag für zahlreiche Sachgebiete Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit vorsah, wurden fortan Mehrheitsabstimmungen de facto ausgesetzt. Die Befürworter starker europäischer Institutionen klagten in den 1970er-Jahren zunehmend über die Schwerfälligkeit der institutionellen Abläufe und die Verlangsamung der Integration. Als entscheidende Ursache dieser »Eurosklerose« erkannten sie den Zwang zur Einstimmigkeit. Allerdings wurde das Luxemburger Arrangement niemals kodifiziert. Während Großbritannien, Dänemark und später Griechenland das ursprünglich gaullistisch legitimierte informelle Vetorecht begrüßten und sich darauf beriefen, besannen sich die anderen Mitgliedstaaten – darunter auch Frankreich – auf das Vertragsprinzip der Mehrheitsabstimmung und setzten dessen Anwendung in den 1980er-Jahren gegen zähen Widerstand durch.

Sowohl in der Gemeinschaftsverwaltung der europäischen Institutionen als auch in den nationalen, meist außen- und wirtschaftspolitischen Verwaltungen kam es zu intensiven Debatten über das Gentlemen’s Agreement, in denen unterschiedlichste Normen sichtbar wurden und miteinander kollidierten. Die aufeinanderprallenden politischen, kulturellen und juristischen Normvorstellungen verwiesen auf langjährige und tiefgründige Konflikte über die demokratische Legitimation und die »finalité politique« der Europäischen Gemeinschaften (EG), aber auch über institutionelle Weichenstellungen und das Schicksal des Nationalstaates in einer supranationalen Konstruktion. Zudem warf die Normengeschichte des informellen Agreements ein Licht auf die Grauzonen zwischen Völker-, Europa- und nationalem Recht, in denen das »Soft Law« des Arrangements angesiedelt war. In der Praxis der informellen Entscheidungsfindung mobilisierten die Akteure ein breites Spektrum an juristischen, politischen und kulturellen Normen, die erst in der sozialen Interaktion zur vollen Geltung kamen. Im Rahmen dieses Aufsatzes wird Normativität daher als ausgesprochen prozesshaft verstanden. Das dynamische Konzept der Multinormativität ist daher besonders geeignet, das Phänomen der informellen Entscheidungspraxis zu beleuchten und analytisch zu hinterfragen.

Vergleiche die Einführung dieses Administory-Bandes.

Der Fallstudie des Luxemburger Kompromisses sollen im ersten Teil des Aufsatzes einige allgemeinere Überlegungen zur administrativen und normativen Ausdifferenzierung der EG vorangestellt werden. Im zweiten Teil werden die Herkunft, Entwicklung und Marginalisierung des Luxemburger Arrangements diskutiert. Schließlich werden im dritten Teil des Aufsatzes ausgewählte Normenkonflikte aus der Geschichte der EG-Verwaltungspraxis beschrieben.

Die administrative und normative Ausdifferenzierung der Europäischen Gemeinschaften

Der Ursprung der heutigen Europäischen Union (EU) liegt in den Vertragswerken der 1950er-Jahre, aus denen ab 1952 die Kohle- und Stahlgemeinschaft (Montan-Union) sowie ab 1958 die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hervorgegangen sind. Die EWG erstreckte sich in ihren frühen Jahren im Wesentlichen auf das Feld der Agrarpolitik. Es handelte sich beim EWG-Vertrag um einen Rahmenvertrag, der die Ziele formulierte, es jedoch den Regierungen und supranationalen Institutionen überließ, eine Roadmap zu erstellen und die erforderlichen Einzelmaßnahmen durchzuführen.

Zur Rechtsgeschichte der Römischen Verträge fand am 22. und 23.06.2017 am MPIeR eine interdisziplinäre Konferenz unter dem Titel »Treaties as travaux préparatoires« statt. Eine Sammlung der Beiträge soll in einem Konferenzband veröffentlich werden.

Die institutionelle Struktur erwies sich als Kompromiss zwischen den Polen einer stark supranationalen und einer mehr zwischenstaatlich orientierten Gemeinschaftsarchitektur. Während die Kommission das Vorschlagsmonopol für legislative Prozesse erhielt, blieb das »letzte Wort« über eine Gesetzesvorlage doch beim EWG-Rat der Außenund Fachminister. In späteren Jahren erst sollte die Parlamentarische Versammlung ein Mitspracherecht im Haushaltsverfahren und im Gesetzgebungsverfahren erhalten. Der EWG-Vertrag setzte fest, ob eine Sachfrage im EWG-Ministerrat mit Einstimmigkeit oder mit einfacher bzw. qualifizierter Mehrheit zu entscheiden war. Während in den frühen Jahren der EWG fast alle Sachfragen laut Vertrag einstimmig entschieden werden mussten, wurden in späteren Jahren die Anteile der mit Mehrheit zu entscheidenden Fragen schrittweise erhöht, erstmals 1966 und ganz spektakulär dann im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986.

Aus wirtschaftlicher und finanzieller Perspektive erwies sich das Projekt der EG überwiegend als »Erfolgsgeschichte«. Doch gerieten die EG in den 1960er-Jahren in eine Phase politischer Turbulenzen mit erheblichen Konflikten über Ziel und Ausgestaltung der europäischen Einigung. Nach dem Rücktritt Charles de Gaulles und auf Initiative des neuen französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou berieten die Staatsund Regierungschefs auf dem Gipfeltreffen in Den Haag im Jahre 1969 über die Erweiterung, Vertiefung und Beschleunigung der europäischen Einigung. Tatsächlich konnten in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre der Gemeinsame Markt vollendet und die Gemeinschaften nach Norden erweitert werden. Gleichzeitig eröffneten sich im Feld der Außenpolitik und der Währungsunion neue Perspektiven für die Integration. Es folgte ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre eine Phase der Konsolidierung, die an der Schwelle zu den 1980er-Jahren in die erste Direktwahl des Europaparlaments und die erste Süderweiterung der EG mündete. In den Folgejahren nahm eine Reihe politischer Initiativen – etwa der Genscher-Colombo-Plan 1981, die Feierliche Erklärung von Stuttgart 1983 oder der Gipfel von Fontainebleau 1984 – das Projekt einer Europäischen Union in den Fokus. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurde ab 1986 dann die erste größere Revision der Gründungsverträge realisiert. Schließlich nahmen die Gemeinschaften mit dem Binnenmarktprojekt des Kommissionspräsidenten Jacques Delors Kurs auf »Maastricht«. Auch wenn sich Delors mit seinen Plänen für einen entscheidenden Schritt in Richtung auf ein föderales Europa nicht durchsetzen konnte, erreichte die Integration mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 eine Tiefe und Reichweite, die über weitere Reform- und Erweiterungsverträge schließlich zur heutigen EU führte.

Zur Einführung in die Geschichte und Institutionen der europäischen Einigung: Hans von der Groeben: Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaften. Das Ringen um den Gemeinsamen Markt und die Politische Union (1958–1966), Baden-Baden 1982; Pierre Gerbet: La Construction de l’Europe, Paris 31999; Alan S. Milward: The European Rescue of the Nation-State, London 22000; John Gillingham: European integration 1950–2003. Superstate or new market economy?, Cambridge 2003; Andrew Moravcsik: The Choice for Europe. Social Purpose & State Power from Messina to Maastricht, Ithaca 1998; Desmond Dinan: Ever Closer Union. An Introduction to European Integration, Basingstoke 42010; Wilfried Loth: Building Europe. A History of European Unification, Berlin 2015; Kiran Klaus Patel: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955–1973, München 2009; Kiran Klaus Patel: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.

Die europäische Einigung hat eine reiche Normengeschichte, sowohl hinsichtlich der gesetzlichen Programmierung als auch hinsichtlich der politischen Vorgaben. Geht es um die juristischen Normen der Verträge und um die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), so ist vor allem der Übergang von einer völkerrechtlichen zu einer teleologischen und föderalistischen Auslegung der europäischen Verträge bedeutsam. Diese Normenverschiebung war nicht nur für die politische und Verwaltungsgeschichte der Gemeinschaften wichtig, sondern hat auch eine jahrzehntelange akademische Debatte über die »Konstitutionalisierung« der Verträge nach sich gezogen. »Integration durch Recht« hat die Geschichte der europäischen Einigung bis auf den heutigen Tag geprägt. Die europäischen Vertragswerke der 1950er-Jahre waren ursprünglich als völkerrechtliche Verträge entworfen worden, auf die die Bürger der Mitgliedstaaten keinen Zugriff hatten und die von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Rahmen der nationalen Verfassungen angewandt wurden. Doch der Juristische Dienst der Europäischen Kommission und eine einflussreiche Interessengemeinschaft von Europarechtlern propagierten eine teleologische und konstitutionelle Auslegung der europäischen Verträge, als zielten diese auf einen vollentwickelten europäischen Bundesstaat und auf ein europäisches Rechtssystem. Seit den späten 1950er-Jahren machte sich der EuGH diese Interpretation zu eigen und verfolgte eine »konstitutionelle Praxis« im europäischen Recht. Wegweisende Richtersprüche, wie zum Beispiel Van Gend en Loos (1963) und Costa vs. E.N.E.L. (1964) etablierten neue Rechtsdoktrinen wie den »Anwendungsvorrang« des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalstaatlichen Recht. Bürgern der Mitgliedstaaten wurde es so ermöglicht, nationales Recht vor nationalen Gerichten systematisch anzufechten, wenn es mit europäischem Recht als unvereinbar erschien. Auf diese Weise trug der EuGH dazu bei, mittelfristig ein vor-föderales Rechtssystem zu erschaffen. Obwohl viele Mitgliedstaaten die Folgen der »konstitutionellen Praxis« innerhalb ihrer nationalen Rechtsordnungen aktiv eindämmten und das europäische Recht nicht vollständig und systematisch anwandten, hat kein Mitgliedstaat je versucht, den Status quo des europäischen Rechts oder des EuGH grundsätzlich infrage zu stellen.

Zur konstitutionellen Praxis im europäischen Recht und den Widerständen hiergegen: Morten Rasmussen: How to enforce European law? A new history of the battle over the direct effect of Directives, 1958–1987, in: European Law Journal 23 (2017), S. 290–308; Morten Rasmussen: Revolutionizing European law. A history of the Van Gend en Loos judgement, in: International Journal of Constitutional Law 12/1 (2014), S. 136–163; Morten Rasmussen: Establishing a Constitutional Practice of European Law. The History of the Legal Service of the European Executive, 1952–65, in: Contemporary European History 21/3 (2012), S. 375–397; Dorte Sindbjerg Martinsen / Morten Rasmussen: EU constitutionalisation revisited. Redressing a central assumption in European studies, in: European Law Journal (2019), S. 1–22; Bill Davies / Morten Rasmussen: Towards a New History of European Law, in: Contemporary European History 21/3 (2012), S. 305–318; Bill Davies / Morten Rasmussen: From International Law to a European Rechtsgemeinschaft. Towards a New History of European Law, 1950–1979, in: Johnny Laursen (Hg.): The Institutions and Dynamics of the European Community, 1973–83, Baden-Baden 2014, S. 97–130; Bill Davies: Resisting the European Court of Justice. West Germany’s confrontation with European Law, 1949–1979, New York 2013; Bill Davies: Pushing Back. What Happens When Member States Resist the European Court of Justice? A Multi-Modal Approach to the History of European Law, in: Contemporary European History 21/3 (2012), S. 417–435.

Ganz im Gegensatz zu dieser bemerkenswerten rechtlichen Integration stand die Entwicklung der politischen Normen und Leitlinien des europäischen Einigungsprojekts. Obwohl der EWG-Vertrag eine »Ever Closer Union« skizzierte und die supranationalen Institutionen wie auch teilweise einige Regierungen einem föderalistischen Leitbild folgten, blieben bundesstaatlich inspirierte Vorstöße ein Fehlschlag.

Wilfried Loth: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 31996.

Seit den 1960er-Jahren bis zum Vertrag von Maastricht haben die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre politische Kontrolle über den Integrationsprozess verstärkt und ihre nationalen Interessen verschärft zur Geltung gebracht. Der Trend zur politischen Desintegration und zur Intergouverne-Mentalität wurde vor allem in Charles de Gaulles Europapolitik der 1960er-Jahre sichtbar, aber auch in der Einrichtung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs ab der Mitte der 1970er-Jahre, dem harten Verhandlungsstil der britischen »eisernen Lady« Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren oder auch in der Säulenstruktur des Vertrages von Maastricht, der bedeutende Politikfelder wie die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« oder die »Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen« in die Hände der Regierungen legte, statt sie den überstaatlichen europäischen Institutionen zu unterstellen. Auffallend war daher die eklatante Gegenläufigkeit der juristischen und politischen Normen zumindest während der ersten drei Jahrzehnte des Gemeinschaftsunternehmens.

Zum intergouvernementalen Trend: Philip Bajon: Intergovernmentalism on the rise. The Council pillar in the battle over the constitutional practice of European law, in: Morten Rasmussen / Bill Davies (Hg.): The History of European Law 1950 to 1993: The Battles over the Constitutional Practice, im Erscheinen 2021; Wilfried Loth: Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, Brüssel 2001; Joseph H. H. Weiler: The Community System. The Dual Character of Supranationalism, in: Yearbook of European Law 1 (1982), S. 267–306; Joseph H. H. Weiler: The Transformation of Europe, in: The Yale Law Journal 100/8 (1991), S. 2403–2483.

Mit der administrativen Weiterentwicklung der EG ging auch eine Ausdifferenzierung der politischen und juristischen Normen innerhalb der EWG-Bürokratie einher. Dabei waren die normative Ausdifferenzierung und das Verwaltungshandeln stark abhängig vom institutionellen Auftrag. Besonders die Verwaltungen der Kommission, des Europäischen Parlaments, der Juristischen Dienste sowie des EuGH waren von einer supranationalen und föderalistischen Logik inspiriert und von der unausweichlichen Konstitutionalisierung der europäischen Verträge überzeugt.

Katja Seidel: The process of politics in Europe the rise of European elites and supranational institutions, London 2010; Antoine Vauchez: Brokering Europe. Euro-Lawyers and the Making of a Transnational Polity, Cambridge 2015; Michael Gehler / Wolfram Kaiser / Brigitte Leucht: Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart. Networks in European Multi-Level Governance. From 1945 to the Present, Vienna 2009; Philip Bajon: The European Commissioners and the Empty Chair Crisis of 1965–66, in: Journal of European Integration History 15/2 (2009), S. 105–124; N. Piers Ludlow: A Supranational Icarus? Hallstein, the early Commission and the search for an independent role, in: Antonio Varsori (Hg.): Inside the European Community. Actors and Policies in the European Integration 1957–1972, Baden-Baden 2006, S. 37–53; Manfred Zuleeg: Der unvollendete Bundesstaat: Vision oder Realität?, in: Manfred Zuleeg (Hg.): Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas. Referate zu Ehren von Walter Hallstein, Baden-Baden 2003, S. 97–103; François Duchêne: Jean Monnet. The first statesman of interdependence, New York 1994.

Die technokratische Methode des »Spillover« avancierte zu einem Glaubenssatz der Gemeinschaftsverwaltung.

Jonathan P. J. White: Theory guiding practice. The neofunctionalists and the Hallstein EEC Commission, in: Journal of European Integration History 9/2 (2003), S. 111–131.

Sie firmierte wahlweise als Monnet-Methode, wurde im wissenschaftlichen Diskurs als Neo-Funktionalismus bezeichnet, oder von Praktikern wie Walter Hallstein als »Wer A sagt, muss auch B sagen« umschrieben.

Walter Hallstein: Die echten Probleme der Europäischen Integration, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, 19.02.1965, in: Walter Hallstein / Thomas Oppermann (Hg.): Europäische Reden, Stuttgart 1979, S. 523–544, hier S. 537; Walter Hallstein: Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf 1969, S. 20–25; Matthias Schönwald: Walter Hallstein and the »Empty Chair« Crisis 1965/1966, in: Wilfried Loth (Hg.): Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, Baden-Baden 2001, S. 157–171, hier S. 164–165.

Auch wenn die Tragfähigkeit des Konzepts immer wieder angezweifelt und seine Teleologie kritisiert wurde, waren die meisten europäischen Verwaltungsbeamten und Experten in den supranationalen Institutionen davon überzeugt, das europäische Projekt werde von selbstverstärkenden Integrationszwängen vorangetrieben, denen sich kaum eine Regierung dauerhaft entziehen könne. Der EuGH hat – nach dem Amtsantritt progressiver, jüngerer Richter in den ausgehenden 1950er-Jahren und inspiriert von niederländischen Verfassungsreformen – diese teleologischen Annahmen über die Errichtung eines föderalen europäischen Rechtssystems in rechtliche Programmierung übersetzt, indem er in Meilenstein-Urteilen wie Van Gend und Costa neue Rechtsdoktrinen entwickelte und eine »konstitutionelle Praxis« im europäischen Recht begründete.

Antoine Vauchez: The Transnational Politics of Judicialization: Van Gend en Loos and the Making of EU polity, in: European Law Journal 16/1 (2010), S. 1–28; Rasmussen: How to enforce European Law?.

Demgegenüber stand die unübersichtliche Bürokratie der sogenannten Ratspyramide, bestehend aus dem EWG-Ministerrat, dem Rat der EWG-Botschafter (COREPER), den zahllosen Unter- und Fachausschüssen – auch als »Komitologie« bezeichnet – sowie ab der Mitte der 1970er-Jahre dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs. Hier hatten nationale Experten und Diplomaten ein großes Gewicht, und hier herrschte Skepsis, wenn nicht sogar Ablehnung gegenüber den supranationalen und föderalistischen Leitgedanken, welche in Kommission, Parlament und EuGH gepflegt wurden.

Zur Ratspyramide: Fiona Hayes-Renshaw / Helen Wallace: The Council of Ministers, Basingstoke 22006; Wolfgang Wessels: The European Council, Basingstoke 2016; Emmanuel Mourlon-Druol / Federico Romero: International Summitry and Global Governance. The rise of the G7 and the European Council, 1974–1991, London 2014; Ann-Christina L. Knudsen / Morten Rasmussen: A European Political System in the Making 1958–1970: The Relevance of Emerging Committee Structures, in: Journal of European Integration History 14/1 (2008), S. 51–68.

Der Luxemburger Kompromiss als Kristallisationspunkt eines politisch-juristischen Normengeflechts

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulles versprach sich von der EWG-Mitgliedschaft Frankreichs Modernisierungsimpulse für sein Land und ließ Frankreichs Teilnahme am Gemeinsamen Markt daher zu. Doch lehnte er bundesstaatliche Zielsetzungen und supranationale Methoden ab und favorisierte stattdessen eine westeuropäische Staatenund Regierungszusammenarbeit beim Aufbau eines »Europa der Vaterländer«. De Gaulle hoffte, dass die marxistisch-leninistische Ideologie des Ostblocks und der Sowjetunion an Strahlkraft verlieren und das mit französischen Atomwaffen gestärkte Westeuropa unter französischer Führung mit einem dialogfähigen Sowjetrussland an den Verhandlungstisch treten werde, um ein »Europa vom Atlantik bis zum Ural« zu errichten. In mehreren Anläufen versuchte er, sein Europakonzept zu lancieren, zunächst mit den Fouchet-Plänen von 1962/63, dann mit der Idee einer deutsch-französischen Achse, wie sie der Elysée-Vertrag von 1963 vorsah, und schließlich mit der Einladung an die Bundesregierung, sich an einer französischen atomaren Verteidigung zu beteiligen. Alle Versuche des französischen Präsidenten scheiterten, weil die EWG-Partner aus verschiedenen Gründen nicht bereit waren, der französischen Initiative zu folgen. Frustriert zog sich de Gaulle zurück, vertiefte die französischen Kontakte mit dem Ostblock und begann, der supranationalen Fortentwicklung der EWG enge Grenzen zu setzen, wenn sie nicht unmittelbar französischen Interessen diente. Spätestens ab 1963 geriet die EWG somit in eine Phase der politischen Turbulenzen sowie der »Krisen und Kompromisse« zwischen de Gaulle, seinen Partnern und der europäischen Kommission.

Zur gaullistischen Politik: Wilfried Loth: De Gaulle und die europäische Einigung, in: Wilfried Loth, Robert Picht (Hg.): De Gaulle, Deutschland und Europa, Opladen 1991, S. 45–60; Wilfried Loth: De Gaulle und Europa. Eine Revision, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), S. 629–660; N. Piers Ludlow: The European Community and the Crises of the 1960s. Negotiating the Gaullist challenge, London 2006; Hans-Dieter Lucas: Europa vom Atlantik bis zum Ural? Europapolitik und Europadenken im Frankreich der Ära de Gaulle (1958–1969), Bonn 1992; Loth: Crises and Compromises; Maurice Vaisse: La grandeur. Politique étrangère du général de Gaulle 1958–1969, Paris 1998; Jean Lacouture: Le souverain 1959–1970, Paris 1986; Alain Peyrefitte: C’était de Gaulle, Paris 2002.

Die Krise des »leeren Stuhls« 1965/66

Vor diesem Hintergrund kam es im Jahre 1965 zu einem Schlagabtausch de Gaulles mit der Europäischen Kommission und Frankreichs Partnern in der EWG. Anlass war ein ambitionierter Vorschlag der Kommission über die Finanzierungsdetails der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Die Kommission hatte es verstanden, rein technische Aspekte geschickt mit einer Vertiefung der Supranationalität zu verbinden, indem sie auch die Schaffung eines Gemeinschaftsbudgets und eine Verstärkung der Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments im Haushaltsverfahren vorschlug. Mit dieser Vermengung von Verwaltungsfragen und politischem Anspruch provozierte die Kommission de Gaulle. Doch Frankreichs Partner unterstützten die Kommission, einerseits, weil sie wie die Niederlande die supranationale Entwicklung befürworteten, andererseits, weil sie sich seit Jahren von der französischen Regierung übervorteilt sahen, da Frankreich übermäßig von der Agrarintegration profitiert und die Interessen anderer Länder mutwillig blockiert hatte. Da keine Einigung erzielt wurde, zog de Gaulle im Sommer 1965 wutentbrannt seinen Fachminister im EWG-Ministerrat sowie den französischen EWG-Botschafter ab und blockierte damit die Institutionen und den legislativen Prozess der EWG. Man sprach von der »Politik des leeren Stuhls«. Obwohl Frankreichs Partner in vielen Fragen sehr unterschiedlicher Auffassung waren, rauften sich die Fünf schließlich zusammen und forderten Frankreich zur Rückkehr in die Gemeinschaften auf. Nachdem de Gaulle in der Präsidentschaftswahl Ende 1965 eine empfindliche Niederlage erlitten hatte, trat die französische Regierung im Januar 1966 in Luxemburg in Verhandlungen mit den fünf Partnern, wobei die Kommission von der Krisenkonferenz ausgeschlossen blieb. Frankreichs Rückkehr wurde durch mehrere Erklärungen im Anhang des Ratsprotokolls ermöglicht, deren wichtigste als Luxemburger Kompromiss bekannt wurde. In dieser Erklärung sprach sich die französische Regierung unilateral dafür aus, dass im EWG-Ministerrat immer dann Einstimmigkeit herrschen müsse, wenn ein Mitgliedstaat »wichtige nationale Interessen« tangiert sah, auch wenn der EWG-Vertrag für die betreffende Entscheidung eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit vorsah. Somit beanspruchte die französische Regierung ein Vetorecht. Frankreichs Partner konterten mit der Feststellung, dass Konsens zwar wünschenswert sei, der EWG-Ministerrat jedoch nach einer angemessenen Beratungszeit zur Abstimmung schreiten werde, wie es der EWG-Vertrag vorsehe.

Zur »Krise des leeren Stuhls« und zum Luxemburger Kompromiss: Philip Bajon: ›The Human Factor‹. French-West German Bilateralism and the ›Logic of Appropriateness‹ in the European Crisis of the Mid-1960s, in: Diplomacy & Statecraft 29/3 (2018), S. 455–476; Philip Bajon: Europapolitik ›am Abgrund‹. Die Krise des ›leeren Stuhls‹ 1965–66, Stuttgart 2012; Philip Bajon: De Gaulle finds his ›Master‹. Gerhard Schröder’s ›Fairly Audacious Politics‹ in the European Crisis of 1965–66, in: Journal of European Integration History 17/2 (2011), S. 253–269; Bajon: The European Commissioners; N. Piers Ludlow: Challenging French Leadership in Europe. Germany, Italy, the Netherlands and the Outbreak of the Empty Chair Crisis of 1965–66, in: Contemporary European History 8/2 (1999), S. 231–248; John Newhouse: Collision in Brussels. The Common Market Crisis of 30 June 1965, New York 1967; Miriam Camps: European Unification in the Sixties. From the Veto to the Crisis, New York 1966; Jean-Marie Palayret / Helen Wallace / Pascaline Winand: Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crisis and the Luxembourg Compromise Forty Years On, Brussels 2006; John Lambert: The Constitutional Crisis 1965–66, in: Journal of Common Market Studies 5 (1966), S. 195–228.

Das »Agreement to disagree« ermöglichte es Frankreich und seinen Partnern, gesichtswahrend die Gemeinschaftsroutine wiederherzustellen. Doch gerade der informelle und nebulöse Charakter des Arrangements machten den Luxemburger Kompromiss zu einer machtvollen Waffe in den Entscheidungsschlachten im EWG-Ministerrat. Am Ende ließ die Erklärung mehr Fragen offen als sie beantwortete: Weder war die Anrufung des Kompromisses und der »nationalen Interessen« geregelt noch wurde geklärt, welche Folgen die Überstimmung eines Staates hätte, der sich zuvor auf den Kompromiss berufen hatte, oder ob ein boykottierender Mitgliedstaat mit Sanktionen zu rechnen habe. Auch formal gab der Kompromiss als Protokollanhang nicht viel her, zumal eine Kontroverse darüber entbrannte, ob als Urheber der Erklärung überhaupt der EWG-Ministerrat zu gelten habe oder es sich nicht vielmehr um die »Regierungen der Mitgliedstaaten im EWG-Ministerrat« handelte (denn die Kommission war ja ausgeschlossen worden, und der gedruckte Kompromiss trug weder Briefkopf noch Unterschrift). Somit blieb von Anfang an ungeklärt, ob es sich um ein exklusiv politisches Arrangement oder möglicherweise um Gemeinschafts- oder Völkerrecht handelte.

Bajon: Europapolitik ›am Abgrund‹, S. 323–331; Rudolf Streinz: Die Luxemburger Vereinbarung. Rechtliche und politische Aspekte der Abstimmungspraxis im Rat der Europäischen Gemeinschaften seit der Luxemburger Vereinbarung vom 29. Januar 1966, München 1984; Francois Bellanger: Contribution à l’étude de la nature juridique des »Accords de Luxembourg« du 29 janvier 1966, in: Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht 15/2 (1968), S. 179–196; S.A. Dickschat: Die rechtliche Wertung der Erklärungen des Ministerrats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 29.01.1966, in: Archiv des Völkerrechts (1966), S. 412–428; Rainer Hellmann: Schlußakt einer Krise? Die europäischen Institutionen nach Luxemburg, in: Europa-Archiv 21/7 (1966), S. 259–298; Joseph H. Kaiser: Das Europarecht in der Krise der Gemeinschaften, in: Europarecht 1/1 (1966), S. 4–24; Ernst Kobbert: Eine stille »Revision« der EWG. Hat der Luxemburger Kompromiß die Gemeinschaft verwandelt?, in: Europa-Archiv 21 (1966), S. 119–122; Carl Friedrich Ophüls: Die Mehrheitsbeschlüsse der Räte in den Europäischen Gemeinschaften, in: Europarecht 1/3 (1966), S. 193–229.

Der Wandel einer »Verfahrensnorm«

Während der ausgehenden 1960er-Jahre war die Schockwirkung der Krise des leeren Stuhls und des Luxemburger Kompromisses so groß, dass es praktisch zu keinen Abstimmungen mehr kam.

HAEU, Nachlass Émile Noel [EN], 807, Aufzeichnung »Nombre de décisions […]«, 09.03.1967; HAEU, Nachlass Klaus Meyer (KM), 220, Denkschrift Generalsekretariat EU-Kommission UE(82)19 rév. »Vote à la majorité qualifiée dans le Conseil. Note du Secrétariat général«, 22.03.1982, S. 2; Hayes-Renshaw / Wallace: The Council of Ministers, S. 268; Jean De Ruyt: L’ acte unique européen, Brüssel 21987, S. 116; Jean-Marc Boegner: Le Marché commun de Six à Neuf, Paris 1974, S. 166.

Zunehmend beriefen sich nicht nur Frankreich, sondern auch andere Mitgliedstaaten auf »vitale nationale Interessen«, um Abstimmungen im Ministerrat zu blockieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel der supranationalitätsfreundlichen niederländischen Regierung, schien sich ein intergouvernementaler Konsens darüber verfestigt zu haben, dass die Gemeinschaften noch nicht den erforderlichen Reifegrad erreicht hatten, der ein blindes Vertrauen in supranationale Abstimmungspraktiken zuließe, auch wenn die Verträge diese bereits vorsahen.

Zur historischen Genese des informellen Vetorechts: Palayret / Wallace / Winand: Visions, Votes and Vetoes; Hayes-Renshaw / Wallace: The Council of Ministers; Anthony Teasdale: The Life and Death of the Luxembourg Compromise, in: Journal of Common Market Studies 31/4 (1993), S. 567–579; William Nicoll: The Luxembourg Compromise, in: Journal of Common Market Studies 23/1 (1984), S. 35–43.

Der informelle und bisweilen diffuse Charakter des Arrangements verstärkte sich im Laufe der Zeit und entfaltete eine spezifische Dynamik. Die Diplomaten der Mitgliedstaaten entwickelten immer weitere Variationen der Formel von 1966. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren etwa genügte ein mündlicher Hinweis im Kreis der Ministerkollegen, dass eine Frage »noch nicht entscheidungsreif« sei oder dass »die Debatte fortgesetzt« werden sollte, um die Vetomacht des Luxemburger Kompromisses heraufzubeschwören und ein Abstimmungsverfahren zu kippen.

Hierüber beschwerte sich der dänische Außenwirtschaftsminister Ivor Noergaard vor dem dänischen Parlament am 6. Februar 1976 mit den Worten: »In the years of Danish membership there has been a tendency, that especially for major countries, could stop [sic] the Council’s deliberations on a matter merely by saying that they do not consider the matter to be ripe for decision«, in: PRO, FCO 30 3189, Foreign Office Kopie der Rede Noergaards vor dem Folketing vom 06.02.1976, undatiert, S. 8.

Das Spiel mit der Sprache des Luxemburger Kompromisses provozierte bisweilen fatale Missverständnisse, etwa wenn Minister aufgrund einer bestimmten Wortwahl oder Betonung durch einen Kollegen eine Anrufung der Luxemburger Formel vermuteten, obwohl die betreffende Regierung dies gar nicht beabsichtigt hatte.

Ein solches Missverständnis trat im Sommer 1980 auf, als bundesrepublikanische Politiker und Beamte bei einer Entscheidung über Stahlquoten mit deutschen Interessen argumentierten, später jedoch vehement leugneten, hiermit den Luxemburger Kompromiss angerufen zu haben.

Die EWG-Institutionen reagierten auf die Veto-Kultur der Mitgliedstaaten und passten sich an die neue Situation an. Zum Beispiel nahm die EWG-Kommission von ambitionierten Vorlagen Abstand, bei denen Widerspruch oder verletzte Nationalinteressen zu befürchten gewesen wären. Aber die Kommission fürchtete nicht nur das Veto der Regierungen, sondern brachte selber eine Variante vorauseilender Veto-Politik in den Entscheidungsprozess ein, indem sie zum Beispiel Abstimmungen verhinderte, wenn sie die Interessen kleinerer Mitgliedstaaten in Gefahr sah, auch wenn die betreffenden Regierungen sich gar nicht auf den Luxemburger Kompromiss bezogen hatten. Dem Föderalismus und der supranationalen Methode zuneigende Beobachter hatten den Eindruck, dass die Kommission unter ihren Möglichkeiten bliebe und ihre Rolle als Initiatorin des legislativen Prozesses nur unzureichend ausfülle. Vor diesem Hintergrund erschien die Einführung des informellen Vetorechts im Jahr 1966 als eine integrationspolitische Zeitenwende, die den föderalistischen Ambitionen der Kommission für viele Jahre einen Riegel vorschob und erst mit der EEA und dem Vertrag von Maastricht einem Gefühl von Reform und Aufbruch wich.

Herbert Müller-Roschach: Die deutsche Europapolitik 1949–1977. Eine politische Chronik, Bonn 1980, S. 176; Franz Knipping: Rom 25.03.1957. Die Einigung Europas, München 2004, S. 141.

Nicht weniger als die Kommission fürchtete übrigens das Sekretariat des Rates die Drohung mit dem Veto und verschob mit allerlei Verwaltungstricks anstehende Entscheidungsverfahren, wenn die Missbilligung durch einen Staat absehbar war.

HAEU, KM, 220, Denkschrift Generalsekretariat EU-Kommission UE(82)19 rév. Vote à la majorité qualifiée dans le Conseil. Note du Secrétariat général, 22.03.1982, S. 1–4.

Die von integrationsfreundlichen Zeitgenossen diagnostizierte Deformation des Entscheidungsverfahrens und die »Sklerose« der gemeinschaftlichen Verwaltungskultur waren jedoch in hohem Maße »gefühlte Wahrheiten«. Die quellenbasierte Geschichtsforschung hat die Komplexität der Gemeinschaftspolitik in den 1970erund frühen 1980er-Jahren mittlerweile eingehend untersucht und das Phänomen der »Eurosklerose« stark relativiert. Die Enttäuschungen der 1970er-Jahre offenbarten vor allem die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der europäischen Einigung. Nach der Gipfelkonferenz von Den Haag im Jahre 1969 waren die Anhänger der supranationalen Integration zunächst voller Hoffnung gewesen, dass es zeitnah zu einer umfassenden Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen kommen werde. Als diese Erwartungen um die Mitte der 1970er-Jahre enttäuscht wurden, griff das Gefühl von Lähmung und Stagnation um sich, auch wenn die Gemeinschaften gleichzeitig auf vielen Feldern durchaus beachtliche Fortschritte vorzuweisen hatten.

Wilfried Loth: Europas Einigung: eine unvollendete Geschichte, Frankfurt 2014, S. 212.

Auch der seinerzeit kaum hinterfragte Zusammenhang von Einstimmigkeitskultur und politisch-institutioneller Stagnation wird von der Wissenschaft mittlerweile weitaus skeptischer beurteilt. Neuere Untersuchungen der Verwaltungs- und Gesetzgebungstätigkeit der Gemeinschaften lassen begründete Zweifel daran aufkommen, dass die Veto-Kultur einen Einbruch des legislativen Outputs der Gemeinschaften verursachte.

Jonathan Golub: Did the Luxembourg Compromise Have Any Consequences?, in: Jean-Marie Palayret / Helen Wallace / Pascaline Winand (Hg.): Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crisis and the Luxembourg Compromise Forty Years On, Brüssel 2006, S. 279–299.

Der vorliegende Aufsatz stützt diese Befunde, indem er die Veto-Kultur als komplexes, ambivalentes und bisweilen widersprüchliches Phänomen der Integrationsgeschichte schildert. Die folgenden Ausführungen verdeutlichen, dass eine engführende Interpretation des Luxemburger Kompromisses als Instrument der Blockade und Obstruktion bei Weitem zu kurz greift und der Materie nicht gerecht wird.

Sicherlich wurden in der unübersichtlichen, informellen Einstimmigkeitskultur normative Vorstellungen vom Wesen und Ziel der europäischen Integration mobilisiert und verhandelt. Und immer wieder verbanden einzelne Akteure den Luxemburger Kompromiss mit geradezu existentiellen Fragen, wie zum Beispiel dem Beitritt oder gar Austritt aus den Gemeinschaften. Doch nicht immer standen die ganz großen Integrationskonzepte oder die absolut essenziellen Interessen einer Regierung auf dem Spiel, wenn sich EG-Beamte, Diplomaten und Politiker gemeinsam darum bemühten, eine Überstimmung um jeden Preis abzuwenden und den Grundsatz der Einstimmigkeit nicht zu verletzen. Auch war der Trend zum Konsens nicht automatisch mit einem Gebrauch oder Missbrauch der Luxemburger Formel verbunden. Oft ging es bei der Suche nach Einstimmigkeit und Gleichklang um unausgesprochene, aber verinnerlichte Vorstellungen von der erstrebenswerten Arbeitsweise in den Gemeinschaften, in denen die Mitgliedstaaten aus freien Stücken (und nur dann) an gemeinschaftliche Beschlüsse gebunden sein sollten. Nur auf diese Weise sei das Fundament der Gemeinschaftsarchitektur aus einem Stück zu gießen und dem Geist der Verträge gerecht zu werden, wie viele nationale Akteure sie in völkerrechtlicher Perspektive verstanden. Der Aspekt der Vertrauensarbeit wird weiter unten noch detaillierter ausgeführt.

Dorothee Heisenberg: Informal Decision-Making in the Council: The Secret of the EU’s Success?, in: Sophie Meunier / Kathleen R. McNamara (Hg.): Making History. European Integration and Institutional Change at Fifty, Oxford 2007, S. 67–87.

Der einige Jahrzehnte vorherrschende Modus der Einstimmigkeit und der zögerliche Übergang der Gemeinschaft von der Einstimmigkeit zur Abstimmung mit Mehrheit können also nicht allein mit dem simplen Beharren der Mitgliedstaaten auf ihrer Souveränität und ihren nationalen Partikularinteressen erklärt werden. Vielmehr war der konsensuale Modus die natürliche Norm in der praktischen Arbeitsweise der europäischen Institutionen, wie Luuk van Middelaar betont.

Luuk van Middelaar: The Passage to Europe: How a Continent Became a Union, übers. v. Liz Waters, New Haven 2014, S. 36–126.

Entgegen dem vielfach angeprangerten Blockadepotenzial entfaltete die »Verfahrensnorm« der Einstimmigkeit auch eine konstruktive und die Gemeinschaftsarchitektur konsolidierende Wirkung. Und sie eröffnete politische Handlungsmöglichkeiten, die in einer von rücksichtsloser Überstimmung geprägten Gemeinschaft nicht möglich gewesen wären. Besonders deutlich wurde dies bei zwei auf Konsens beruhenden Integrationsanstrengungen, die zunächst außerhalb der Gründungsverträge lagen und erst in späteren Jahren kodifiziert wurden: der Koordinierung und Zusammenarbeit im Feld der Außenpolitik (Europäische Politische Zusammenarbeit) seit dem Beginn der 1970er-Jahre und, damit eng zusammenhängend, der Errichtung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs als zunächst provisorischer europäischer Regierung ab 1975. Viele Politiker und Diplomaten, besonders solche aus Frankreich und Großbritannien, vertraten offensiv die Ansicht, dass einstimmige Entscheidungen die Integrationsfortschritte keinesfalls behinderten, sondern sogar begünstigten und konsolidierten. Im Jahre 1970 etwa verteidigte der französische Außenminister Maurice Schumann den Luxemburger Kompromiss als vertrauensbildenden Schritt, der den Aufstieg der Gemeinschaften erst ermöglicht hatte, mit dem Worten:

Ces accords, loin d’avoir arrêté l’essor de la Communauté, l’on, dans une large mesure, favorisé.

Rede des französischen Außenministers Maurice Schumann vor dem EWG-Ministerrat am 29. Juni 1970 (PAAA, B20 1639, Bericht über die Sitzung des EWG-Ministerrats vom 29.06.1970, datiert 08.07.1970, S. 5.). Auch in Georges Pompidous Projekt einer »europäischen Konföderation« verband sich der staatenbündische Gedanke mit der Vorstellung einer weitgehend einstimmigen Beschlussfassung (siehe Pompidous Pressekonferenz vom 21.01.1971).

Auch bundesdeutsche Experten, wie die Europastaatssekretäre,

Zum sogenannten StSAE, siehe: Henning Türk / Carine Germond: Der Staatssekretärausschuss für Europafragen und die Gestaltung der deutschen Europapolitik zwischen 1963 und 1969, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 2/1 (2004), S. 56–81.

hielten diese Einschätzung für faktisch zutreffend, wenngleich sie eine Abstimmungskultur perspektivisch für erstrebenswerter hielten. Eine herausragende Rolle spielte der Trend zum Konsens auch beim Phänomen der Package Deals, also den »Entscheidungsschlachten« im EWG-Ministerrat, die oft mit großen Beschlusspaketen endeten und wesentlich zur Vertiefung der Integration beitrugen, obwohl die in ihnen enthaltenen Beschlüsse nicht notwendigerweise in einem sachlichen Zusammenhang standen. Der Kultur der Package Deals lagen die Prinzipien von Interessenausgleich, Synchronisation und Einstimmigkeit zugrunde. Im Rahmen der intensiven Marathonverhandlungen war jedoch auch die Versuchung besonders groß, aus taktischen Gründen ein informelles Vetorecht anzurufen. Konstruktive und destruktive Tendenzen lagen hier besonders eng beieinander, etwa wenn es um französische Agrarinteressen oder britische Fischerei ging.

Die Erweiterungen der Gemeinschaften blieben vor dem Hintergrund des Luxemburger Arrangements ein zweischneidiges Schwert. Sicherlich konsolidierte der Beitritt Großbritanniens und Dänemarks die Veto-Kultur. Die Regierungen beider Länder hielten den Kompromiss für einen festen Bestandteil des »acquis communautaire« und gaben vor, nur unter der Bedingung des Luxemburger Kompromisses den Beitritt erwogen und vollzogen zu haben.

Siehe hierfür zum Beispiel die Rede des dänischen Außenwirtschaftsministers, Ivor Noergaard, vor dem Folketing am 06.02.1976, in: PRO, FCO 30 3189, Bericht der britischen Botschaft Kopenhagen über die Noergaard-Rede vom 06.02.1976, datiert 10.02.1976.

Dabei spielte die skeptische öffentliche Meinung zur Frage des Beitritts in beiden Ländern eine große Rolle. Zahllose Politiker beschworen in Parlament und Öffentlichkeit die Geltung des Luxemburger Kompromisses, um Gegner des Beitritts zu besänftigen und widerstreitende Parlamentarier zu überzeugen.

Siehe exemplarisch die online frei zugänglichen Debatten zur Europapolitik und zur britischen EWG-Mitgliedschaft im britischen Unter- und Oberhaus im Zeitraum 1970–1975, v. a. während der Beitrittsverhandlungen sowie während des ersten Referendums über die britische EWG-Mitgliedschaft (www.hansard.parliament.uk); auf die Besänftigung der Skeptiker zielte v.a. das Weißbuch der britischen Regierung zum EWG-Beitritt vom 07.07.1971.

Dieses Spiel wurde von den aufnehmenden EWG-Staaten, zum Beispiel Frankreich und Westdeutschland, durchaus mitgespielt. Um den britischen Beitritt zu erleichtern und politische Kontroversen »einzufrieren«, haben deren Regierungen die Verbindlichkeit des Arrangements oft übertrieben dargestellt.

Eine verbindliche Zusage zur Gültigkeit des Luxemburger Kompromisses machte Georges Pompidou dem britischen Premierminister Edward Heath am 20. und 21.05.1971, siehe auch das TV Interview Edward Heaths am 27.05.1971, in: PAAA, B20 200 1897, Telegramm Hase (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in London) an das Auswärtige Amt, 28.05.1971, S. 2.

Auf der anderen Seite stand eine verstärkt kritische Auseinandersetzung mit dem Luxemburger Kompromiss, ausgelöst durch die Erweiterungsperspektiven der 1970er-Jahre und die gleichzeitige Unfähigkeit der Gemeinschaften, auf die Herausforderungen der Zeit adäquat zu reagieren. Die Nahostkrise und die Wirtschaftskrise in der Folge des Ölpreisschocks ließen die institutionellen und demokratischen Defizite der Gemeinschaft offen zutage treten. Kaum ein Reformbericht wurde vorgelegt, der nicht ein Ende des Luxemburger Kompromisses forderte und eine Rückkehr der Gemeinschaften zur vertraglich vorgesehenen Abstimmungspraxis.

Werner Weidenfeld (Hg.): Nur verpaßte Chancen? Die Reformberichte der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1983.

Selbst viele Anhänger des Kompromisses überkamen Skrupel angesichts der routinierten Instrumentalisierung der Luxemburger Formel in der täglichen Gemeinschaftsarbeit. Immer öfter wurden »vitale Interessen« angerufen, wo es eigentlich nur um simplen nationalen Vorteil ging.

Diese Frage brach insbesondere in der Diskussion über den Tindemans-Bericht auf. Die dänische Regierung argumentierte, bei grundsätzlichem Einverständnis mit dem Luxemburger Kompromiss, dass dem Missbrauch der Formel ein Riegel vorgeschoben werden müsse. Siehe hierzu den Artikel »Tindemans Lösung für die Wirtschaftskrise in Europa« des dänischen Außenwirtschaftsministers Ivor Noergaard in der Zeitung »Politiken« vom 17.01.1976, in: PRO, FCO 30 3188.

Und all zu oft ging es noch nicht einmal darum, sondern lediglich um den Aufbau von Verhandlungsmasse durch willkürliche Blockade einer Frage, die in keinem erkennbaren Sachzusammenhang zum eigentlichen Verhandlungsobjekt stand. So grenzten manche Gemeinschaftsverhandlungen an politische Erpressung, zum Beispiel die zähen Entscheidungsrunden über Fischereipolitik in den ausgehenden 1970er-Jahren.

Streinz: Die Luxemburger Vereinbarung, S. 64–65, 67–68.

Das »Soft Law« und der Übergang zu Mehrheitsentscheiden

Schließlich erodierte die ursprünglich gaullistisch legitimierte Veto-Politik. Im Kampf um Fischerei, den Gemeinschaftshaushalt und den Briten-Rabatt ging die britische Regierung im Umgang mit dem Luxemburger Kompromiss so weit, dass sie im Mai 1982 spektakulär überstimmt wurde und diesen Akt nur hinnehmen konnte. Die »eiserne Lady« Margaret Thatcher hatte zuvor versucht, eine Agrarpreisfestsetzung mithilfe des Luxemburger Kompromisses zu blockieren, um Verhandlungsmasse für die Reduzierung des britischen Haushaltsbeitrags zur EG zu gewinnen. Aus machtpolitischen, aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen waren die anderen Regierungschefs mehrheitlich nicht bereit, Thatchers Argumentation mit »vitalen britischen Interessen« anzuerkennen.

Jörg Thalmann: Ist der »Luxemburger Kompromiß« nun tot?, in: EG-Magazin (1982), S. 3–4; Hans Wimmer: Gleich drei Siege, in: EGMagazin (1982), S. 4–5.

Mit dem Genscher-Colombo-Plan und der Stuttgarter Erklärung brach eine Reformphase an, die unter der Kommissionspräsidentschaft Jacques Delors zur Blüte kam.

Pauline Neville-Jones: The Genscher/Colombo Proposals on European Union, in: Common Market Law Review 20 (1983), S. 657–699; Bernard Le Lorrain: L’Initiative Genscher-Colombo. Un Projet d’Organisation de l’Europe de la Seconde Génération?, in: Revue du Marché Commun (1982), S. 64–67; N. Piers Ludlow: Jacques Delors (1985–1995). Navigating the European stream at full flood, in: Jan van der Harst (Hg.): An Impossible Job? The Presidents of the European Commission 1958–2014, London 2015, S. 173–196.

Die Wiederbelebung der Gemeinschaften führte auch im Ministerrat zu einem neuen Konsens darüber, welches Abstimmungsverhalten opportun war. Mussten sich bisher Ratsmitglieder, die eine Abstimmung verlangten, hierfür rechtfertigen, so drehte sich nun der Wind in die Gegenrichtung, sodass sich Anhänger der Einstimmigkeit zu Rechtfertigungen genötigt sahen. Eine Reihe von Initiativen hatte zum Ziel, die Arbeitskultur im EWG-Ministerrat schrittweise zu verändern und den Druck auf die Befürworter der Einstimmigkeit zu erhöhen. Zum Beispiel begann der irische Außenminister FitzGerald als EWG-Ratsvorsitzender im Jahre 1975, die mit Mehrheit entscheidbaren Fragen vor Beginn der Ratsverhandlungen herauszustellen, um die eingefahrene Konsenskultur »aufzuweichen«. Auch wurde im EWG-Ministerrat bei verschiedenen Gelegenheiten erwogen, die »vitalen nationalen Interessen« genauer zu definieren, um die »missbräuchlichen« Anrufungen des Luxemburger Kompromisses zu erschweren oder zu verhindern. Auch wenn eine solche Kodifizierung niemals stattfand, erodierte doch die ursprüngliche Legitimität der Einstimmigkeit. Nachdem unter anderem der Tindemans-Bericht von 1975, der Bericht der drei Weisen von 1979 und die sogenannte Genscher-Colombo-Initiative von 1981 die Problematik des Luxemburger Kompromisses in reformerischer Absicht aufgegriffen hatten, war der unbedingte Konsens in den 1980er-Jahren keine Selbstverständlichkeit mehr. Hatte die Gemeinschaftsverwaltung bisher mit administrativen Winkelzügen die Abstimmungen zu umgehen versucht, so bewies sie nun nicht weniger Eigensinn, indem sie Abstimmungen forcierte und durch die Hintertür wieder einzuführen versuchte.

HAEU, KM, 220, Denkschrift Generalsekretariat EU-Kommission UE(82)19 rév. »Vote à la majorité qualifiée dans le Conseil. Note du Secrétariat général«, 22.03.1982, S. 1–4.

Die Verhandlungen über die EEA werden vielfach als das Ende des Luxemburger Kompromisses beschrieben.

Zur EEA: Andrew Moravcsik: Negotiating the Single European Act. National interests and conventional statecraft in the European Community, in: International Organization 45/1 (1991), S. 19–56; A. Campbell: The Single European Act and the Implications, in: International and Comparative Law Quarterly 35/4 (1986), S. 932–939; De Ruyt: L’ acte unique européen.

In der EEA wurde die qualifizierte Mehrheit zum Standard für die Errichtung und das weitere Funktionieren des Binnenmarktes. Der entsprechende Artikel 100 EEA war insofern ein klares Statement gegen den Luxemburger Kompromiss, wobei in der Forschungsliteratur diskutiert wird, ob die führenden politischen Akteure sich der Tragweite der institutionellen Konsequenzen überhaupt bewusst waren und den Prozess politisch gezielt steuerten.

Kiran Klaus Patel / Hans Christian Röhl: Transformation durch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europäischer Integration 1985–1992, Tübingen 2020, S. 50; Laurent Warlouzet: Governing Europe in a Globalizing World. Neoliberalism and its Alternatives Following the 1973 Oil Crisis, Abingdon 2018, S. 206f.

Allerdings eröffnete Artikel 100 EEA den Mitgliedstaaten unter bestimmten Bedingungen auch die Möglichkeit, sich der mit Mehrheit beschlossenen Harmonisierung zu entziehen und an einzelstaatlichen Maßnahmen festzuhalten. Während einige Beobachter das darin liegende Blockade- und Erpressungspotenzial vehement anprangerten, argumentierten andere, die einschlägigen Ausnahme- und Ausweichklauseln der EEA seien der »politische Preis« für die Ausweitung des Mehrheitsprinzips und könnten sogar dabei helfen, die Veto-Kultur in kontrollierbare Bahnen zu lenken.

Die Debatte um Artikel 100a EEA zusammenfasst bei: Wolfgang Wessels: Europapolitik in der wissenschaftlichen Debatte, in: Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 1986–1987, Bonn 1988, S. 32–50.

Wieder andere sahen den Luxemburger Kompromiss durch die EEA völlig unberührt, und tatsächlich hielt sich die Rhetorik des Kompromisses über den Vertrag von Maastricht hinaus bis weit in die 1990er-Jahre.

Teasdale: The Life and Death, S. 575–577; Neill Nugent: The Government and Politics of the European Union, London 52003, S. 171; Julio Baquero Cruz: The Luxembourg Compromise from a Legal Perspective. Constitutional Convention, Legal History or Political Myth?, in: Jean-Marie Palayret / Helen Wallace / Pascaline Winand (Hg.): Visions, Votes and Vetoes. The Empty Chair Crisis and the Luxembourg Compromise Forty Years On, Brüssel 2006, S. 251–277, hier S. 262; Hayes-Renshaw / Wallace: The Council of Ministers, S. 270.

Auch bei heutigen Ratsverhandlungen fällt bisweilen die Formel von den vitalen Interessen.

Die Rechtsnatur und die rechtliche Verbindlichkeit des Luxemburger Kompromisses wurden von Zeitzeugen und Wissenschaftlern mit guten Gründen angezweifelt, denn ein kohärenter Bindungswille der Regierungen an das informelle Arrangement war schwerlich erkennbar. Auch die exakte Urheberschaft der Protokollerklärung konnte nie zweifelsfrei geklärt werden. Dennoch hat die Luxemburger Formel das praktische Funktionieren der Gemeinschaften über einen langen Zeitraum erheblich beeinflusst. Das lag an der politischen, sozialen und moralischen Verbindlichkeit der Abmachung sowie an den entsprechenden Erwartungen an das Handeln der Akteure. Bei einer Missachtung dieser Erwartungen drohten massive Sanktionen und hohe politische und soziale Kosten. Daher sprachen Europarechtler im Falle des Luxemburger Kompromisses vorzugsweise von einem »Weichen Recht« im Graubereich zwischen Völker-, Europa- und nationalem Recht, kurz: »Soft Law«.

Michael Bothe: »Soft Law« in den Europäischen Gemeinschaften?, in: Ingo von Münch (Hg.): Staatsrecht - Völkerrecht - Europarecht. Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer zum 75. Geburtstag am 28.03.1981, Berlin 1981, S. 761–775; Michael Bothe: Legal and Non-Legal Norms. A Meaningful Distinction in International Relations?, in: Netherlands Yearbook of International Law 16 (1980), S. 65–95; Elihu Lauterpacht: Gentleman’s Agreements, in: Werner Flume u. a. (Hg.): Internationales Recht und Wirtschaftsordnung. Festschr. für F. A. Mann zum 70. Geburtstag am 11.08.1977 / International law and economic order, München 1977; Gerrit v. Haeften: Gentlemen’s agreement, in: Hans-Jürgen Schlochauer (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, Berlin 1960, S. 659–660; Pierre Michel Eisemann: Le Gentlemen’s agreement comme source du droit international, in: Journal du Droit International (1979), S. 326–348.

Im Streit über den Luxemburger Kompromiss kollidierten innerhalb der Regierungen und Verwaltungen dann auch die Anhänger des »harten« Rechts der Verträge mit den Befürwortern des »weichen« Rechts der informellen Deals. Die Kritiker des Arrangements forderten naturgemäß die Rückkehr zum reinen Vertragstext und zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit in allen vom Vertrag vorgesehenen Fällen. Für sie stand der Luxemburger Kompromiss paradigmatisch für alle ketzerischen Abweichungen vom Text und vom Geist der europäischen Verträge. Besonders verbreitet war diese Haltung auf allen Ebenen der Kommissionsund Europaparlamentsverwaltung sowie bei vielen niederländischen, belgischen und italienischen, aber auch bei deutschen Verwaltungsexperten.

Siehe etwa der Brandbrief des deutschen Botschafters in Rom (während der »Krise des leeren Stuhls« 1965–66: Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der EWG), Rolf Lahr, in dem dieser herausstellte, dass die Luxemburger Formel entgegen landläufiger Meinung auf einem Dissens beruhe und der Vertragstext über Mehrheitsabstimmung davon unbeeinflusst sei, in: PAAA, B20 1894, Lahr (bundesdeutsche Botschaft Rom) an Auswärtiges Amt, 08.07.1970, S. 3.

Demgegenüber zeigten sich viele höherrangige Beamte und Diplomaten angetan vom informellen Rückgriff auf die Luxemburger Formel im Sinne eines weichen Gentlemen‘s Agreements. Für sie zählte der Kompromiss als »Soft Law« zum gemeinschaftlichen Besitzstand, dem »acquis communautaire«. Daher fanden sie sich damit ab, wenn der Kompromiss für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert wurde oder im Rahmen von Package Deals dazu diente, den Verhandlungsdruck zu erhöhen.

Siehe exemplarisch die Ausführungen des vormaligen Spitzenbeamten des britischen Außenministeriums, Roy Hattersley, vor dem britischen Oberhaus am 18.05.1976, in: PRO, FCO 30 3196, in dem dieser die offiziöse Haltung zum Luxemburger Kompromiss dahingehend beschreibt, dass jede Mitgliedsregierung in voller Souveränität über das Vorliegen »vitaler nationaler Interessen« entscheide.

Das Luxemburger Arrangement provozierte nicht nur auf der Ebene der Minister und der Staats- und Regierungschefs, sondern insbesondere auch in der Gemeinschaftsverwaltung und den ministeriellen Bürokratien der Mitgliedstaaten Konflikte zwischen politischen, juristischen und kulturellen normativen Ansprüchen. Der Normenbegriff dieser Untersuchung erstreckt sich daher, über juristische Normen und Paradigmen hinausgehend, auf das weite Feld der politischen Werte, Interessen, Gewohnheiten und Leitmaximen. Sogar Loyalität, Courtoisie und Ehrbegriffe sollen einbezogen werden, soweit diese normatives Potenzial mit Blick auf das Luxemburger Arrangement entfalteten.

Abbildung 1

Europäischer Rat von Stuttgart, 17.–19. Juni 1983; Gruppenbild am 17. Juni 1983; von links nach rechts, erste Reihe: Poul Schlüter, Wilfried Martens, Pierre Werner, Garret FitzGerald, Margaret Thatcher, Helmut Kohl, François Mitterrand, Gaston Thorn; zweite Reihe: Uffe Ellemann-Jensen, Claude Cheysson, Sir Geoffrey Howe, Hans van den Broek, Colette Flesch, Ruud Lubbers, Hans-Dietrich Genscher, Emilio Colombo and François-Xavier Ortoli. Photograph: Fernand Wauthy. Copyright: European Communities, 1983. Quelle: EC-Audiovisual Service (ID: P-001990/00-03).

Normenkonflikte im Spiegel des Gentlemen‘s Agreements

In der Veto-Kultur wirkten gemeinschaftliche und nationale Verwaltungen mit- oder gegeneinander. Involviert waren an vorderster Front die Verwaltungen von Rat und Kommission, aber insbesondere auch die nationalen außenpolitischen Verwaltungen bis in die höchsten Spitzen der Außenämter und Regierungen. Die Grenzen zwischen nationaler Verwaltung und Gemeinschaftsbürokratie verschwammen, seitdem der Entscheidungsprozess durch das Phänomen der »Komitologie« zunehmend informeller und unschärfer geworden war. Regierungen, nationale Bürokratien und Lobbys waren auf diversen Ebenen in die Formulierung von Vorlagen und von Gemeinschaftspolitik involviert, teilweise lange bevor die Kommission überhaupt eine erste Entwurfsfassung vorlegte. Während das Europaparlament wortgewaltig, aber wenig durchsetzungsstark eher am Rande operierte, konnten gutorganisierte Wirtschaftseliten auf dem Wege über die Komitologie schon eher ihr Gewicht in die Waagschale werfen und den Regierungen ins Gewissen reden.

N. Piers Ludlow: The European Commission and the rise of Coreper. A controlled experiment, in: Wolfram Kaiser / Brigitte Leucht / Morten Rasmussen (Hg.): The History of the European Union. Origins of a trans- and supranational polity 1950–72, New York 2009, S. 189–205; L. Knudsen / Rasmussen: A European Political System.

Das Gentlemen’s Agreement von Luxemburg polarisierte insbesondere die nationalen Bürokratien, in denen sich Verwaltungsexperten und »politische Verwaltungsbeamte« unterschiedlich positionierten. Klassisch war diese Divergenz in den Außenämtern, wo sich die Staatssekretäre mit ihren unmittelbaren Mitarbeitern deutlich von den niederen Rängen des eigenen Hauses abhoben, zum Beispiel von den Juniorkollegen, den peripheren Diensten (wie den juristischen Beratern) oder den lokalen Experten, welche zumeist aus den Botschaften in die Zentrale des Außenamts berichteten. Hier ließen sich zwei deutlich unterschiedliche normative Leitbilder ausmachen. Wenig überraschend berücksichtigte das Kalkül der politischen Beamten vornehmlich die größeren Linien der Außenpolitik und die essenziellen Interessen des jeweiligen Staates. Die Rückbindung dieser Beamter an das parlamentarische System und seine Zyklen war viel stärker als bei den niederrangigen Experten, sodass der politische Rechtfertigungsdruck als stärker empfunden wurde und das Verwaltungshandeln unmittelbar beeinflusste. In einem solchen Kalkül spielten integrationspolitische und europarechtliche Detailfragen oft eine nachrangige Rolle. Es dominierten stattdessen kurzfristige innen- und wirtschaftspolitische Interessen. Ebenso wenig dürfte überraschen, dass die niederrangigen Experten und lokalen Berichterstatter, die naturgemäß am tiefsten in die Sachproblematik eingearbeitet waren und über erhebliche fachliche Expertise verfügten, sich von den Zwängen der Regierungsverantwortung am ehesten lösen und Gemeinschaftsfragen unabhängig von nationalen Partikularinteressen behandeln konnten.

In der Debatte über den Luxemburger Kompromiss reagierten die hohen Verwaltungsebenen der nationalen Außenämter und Ministerien sehr sensibel auf kurzfristige politische Vorgaben oder Erfordernisse. Etwa betonten oder überbetonten sie die Verfügbarkeit und Rechtskraft der Luxemburger Formel, wenn es darum ging, EWG-skeptische Parlamentarier, Oppositionspolitiker oder bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie Fischer und Landwirte) zu besänftigen. Zahllose Zeugnisse hierfür finden sich zum Beispiel in den »Redeschlachten« des britischen Unterhauses über das Für und Wider eines britischen EWG-Beitritts oder über den Schutz britischer Landwirtschaft und Fischerei.

Siehe die Redebeiträge des Chancellor of the Duchy of Lancaster und britischen Schatten-Europaministers Geoffrey Rippon vor dem Unterhaus (www.hansard.parliament.uk).

Auch zeigten die Spitzen der Ministerien immer dann ein auffallendes Interesse an der Luxemburger Formel, wenn im Brüsseler Ministerrat Materien verhandelt wurden, die in den eigenen, engeren Zuständigkeitsbereich fielen. Hier war das Motiv der kurzfristigen Interessenmaximierung unübersehbar. Beispielhaft sei das bundesdeutsche Wirtschaftsministerium genannt, welches sich in der »Stahlkrise« von 1980 rundheraus für ein informelles deutsches Vetorecht starkmachte und erst vom Auswärtigen Amt darauf hingewiesen werden musste, dass die Luxemburger Formel in der Montan-Union gar nicht gelte. Wenn jedoch eigene materielle Interessen nicht unmittelbar tangiert wurden, stieg die Bereitschaft der Minister und höheren Beamten, die Vetoneigung »der Anderen« zu kritisieren und die angebliche Verlangsamung der Ratsarbeit zu beklagen. Als eines von vielen Beispielen seien die französischen Reaktionen auf den supranational inspirierten Tindemans-Reformbericht im Frühjahr 1976 genannt: Während das federführende Außenministerium die Vorschläge für eine Rückkehr zu mehr Abstimmungen kritisierte, beklagte das eher peripher involvierte Ministerium für Industrie und Forschung die Kultur der Einstimmigkeit als Ursache für die institutionelle Lähmung der Gemeinschaften.

MAE, DE-CE, 1136 und 1138.

Den höheren Verwaltungsebenen gegenüber standen die Experten, welche in ihren Analysen den politischen Charakter des Arrangements und seine juristisch-formale Unzulänglichkeit sezierten und regelmäßig die »politischen Beamten« davor warnten, die Geltung und den Fortbestand des Luxemburger Kompromisses zu überschätzen und in der Außendarstellung zu übertreiben. Dabei zeigte sich oft die mangelnde Sachkenntnis der höchsten Verwaltungsbeamten und Regierungsmitglieder mit Bezug zum Luxemburger Arrangement. Oft mussten sich die Minister von Experten der Ständigen Vertretungen über die Entscheidungspraxis der Gemeinschaften aufklären lassen oder die Expertise der ministeriellen Juristischen Dienste einholen, um die Komplexität des Entscheidungsverfahrens und die Grenzen der Veto-Politik zu verstehen.

Exemplarisch die Korrespondenz zwischen dem britischen Außenministerium und der britischen Ständigen Vertretung bei den Europäischen Gemeinschaft im Frühjahr und Sommer 1973 (PRO, FCO 30 1640): Die in Brüssel arbeitenden Experten mussten die ahnungslosen Spitzenbeamten der Londoner Zentrale über Ursprung, Geltung, Rechtscharakter und bisherige Praxis des Luxemburger Kompromisses aufklären.

Die politischen Kulturen des Unilateralismus und des Multilateralismus

In den Debatten und Konflikten über den Luxemburger Kompromiss kollidierte augenfällig die Logik des Unilateralismus mit der Logik des Multilateralismus, mit allen Konsequenzen für die normativen, oft ungeschriebenen Ansprüche an die Rolle der Staaten und der Gemeinschaft. Der Appell an den Luxemburger Kompromiss verband sich tendenziell mit der Vorstellung einer uneingeschränkten mitgliedstaatlichen Souveränität und Kontrolle über den Integrationsprozess. Diese Haltung war charakteristisch für die geografisch und wirtschaftlich großen Mitgliedsstaaten wie die Bundesrepublik, aber gerade auch für jene mit einer bedeutenden Geschichte der Staatlichkeit wie Frankreich und Großbritannien. In den außenpolitischen Bürokratien und Regierungszirkeln an der Themse und der Seine schwangen dabei auch immer Vorstellungen von der Ehre der Nation mit. Gerade die gaullistische Legitimation des Luxemburger Arrangements betonte die Wiederherstellung der Würde der französischen Republik gegenüber den Anmaßungen einer vorgeblich vaterlandslosen supranationalen Bürokratie. Britische Regierungschefs und hohe Verwaltungsbeamte zeigten sich besonders aufgeschlossen für diese gaullistische Argumentation.

Siehe die oben genannte Stellungnahme Roy Hattersleys (Anm. 43).

So ließ der britische Außenminister James Callaghan seinen französischen Kollegen Jean de Sauvagnargues bei einer bilateralen Abstimmung am 18. März 1976 zur Geltung des Luxemburger Arrangements Folgendes wissen: »Great countries like France and Britain could not have their policies decided by majority vote

PRO, FCO 98 167, Gespräch zwischen dem britischen und dem französischen Außenminister am 18.03.1976 in London, undatiert, S. 4.

Im Falle Großbritanniens verband sich der Luxemburger Kompromiss untrennbar mit der Frage der Parlamentssouveränität. Über die sogenannte »Scrutiny Procedure« sollte jederzeit gewährleistet bleiben, dass das britische Parlament über legislative Initiativen in den Gemeinschaften informiert war, sich eine Meinung bilden und die Initiativen ggf. ablehnen konnte. Der Luxemburger Kompromiss war das entscheidende Element innerhalb dieser britischen Einspruchskette, weil er als letzte Absicherung dafür galt, dass Gemeinschaftsinitiativen aufgehalten werden konnten und Regierung wie Parlament Zeit gewannen. Vor einem akademischen Publikum führte etwa der Staatssekretär im Außenministerium, Roy Hattersley, zu Beginn des Jahres 1975 aus:

[…] the British Minister [im EWG-Ministerrat, P. B.], whenever possible, will hold his hand [d. h., der britische Minister wird notfalls im EWG-Ministerrat den Luxemburger Kompromiss anrufen, P. B.] until Parliament’s judgement has been made. In fact, we have provided for Parliamentary control over EEC affairs that certainly does not exist in many other areas.

PAAA, Zwischenarchiv [Zw] 105613, Rede Roy Hattersley vor der »Association of Contemporary European Studies« in Bristol am 06.01.1975, S. 7.

Als Garantie zur Durchsetzung britischer Parlamentssouveränität wurde der Kompromiss in britischen Debatten regelmäßig in Reichweite und Geltung überschätzt und übertrieben dargestellt. Dabei beriefen sich die Befürworter des Vetos regelmäßig auf die Absprachen zwischen den Premierministern Heath und Pompidou im Jahre 1971 sowie auf das Weißbuch zum britischen Beitritt aus dem gleichen Jahr.

So etwa das Fernsehinterview mit dem britischen Premierminister Heath vom 27. Mai 1971, in dem dieser nach seinem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Pompidou zur Frage des Luxemburger Kompromisses ausführte: »Er sei sich mit dem französischen Präsidenten völlig darüber einig, dass kein EWG-Mitglied, das ein vitales nationales Interesse geltend mache, in dieser Frage überstimmt werden dürfe. Der Fall werde überdies nicht praktisch werden, da jeder Versuch der Majorisierung eines Mitgliedes das Zerbrechen der EWG zur Folge haben könnte, alle Mitglieder aber am Fortbestand der EWG interessiert seien.«, in: PAAA, B20 200 1897, Telegramm Hase (bundesdeutsche Botschaft London) an Auswärtiges Amt mit Zusammenfassung des Fernsehinterviews, 28.05.1971, S. 2; ebenso das Weißbuch der britischen Regierung zur EWG-Mitgliedschaft »The United Kingdom and the European Communities« vom 07.07.1971, in dem es hieß: »All the countries concerned recognize that an attempt to impose a majority view in a case where one or more members considered their vital interests to be at stake would imperil the very fabric of the Community. The Six have not lost any of their national identities or their national institutions and points of view, nor shall we lose our national identity.«, online: https://www.cvce.eu/en/obj/white_paper_presented_by_the_uk_government_to_the_uk_parliament_july_1971-en-8cf072cb-5a31-46f6-b04f-cb866be92f72.html (09.09.2020).

Die Gegner oder Kritiker des Luxemburger Kompromisses allerdings pflegten eine Normen-, Gedanken- und Wertewelt, die untrennbar mit dem Multilateralismus und dem Aufstieg internationaler Organisationen im 20. Jahrhundert verknüpft war. Sie konnten die uneingeschränkte Geltung des Vetorechts nicht mittragen, weil in ihrem Konzept vom Miteinander der Nationalstaaten eine teilweise Abtretung der Souveränität und Delegation von Kompetenzen unausweichlich war.

Siehe etwa den von der Kommission in Auftrag gegebenen Vedel-Bericht zur Stärkung des Europaparlaments vom 25.03.1972, in dem der Luxemburger Kompromiss für die institutionellen Verzerrungen innerhalb der EWG und für die Dominanz der intergouvernementalen Diplomatie verantwortlich gemacht wurde, online: https://www.cvce.eu/en/obj/vedel_report_25_march_1972-en-a4f5b134-99b9-41b3-9715-41769dfea12a.html (09.09.2020).

So vertraten v. a. Mitglieder der Gemeinschaftsbürokratie, aber auch Experten aus den nationalen Bürokratien die Auffassung, dass der Luxemburger Kompromiss nicht nur unzulässig, sondern auch überflüssig sei, weil das institutionelle Gefüge des westeuropäischen Multilateralismus die nationalen Partikularinteressen auf vielfältige Art schütze. So seien etwa im nationalstaatlich ratifizierten EWG-Vertrag die »vitalen nationalen Interessen« der Mitgliedstaaten per se kodifiziert und geschützt, nämlich dort, wo der Vertrag die Einstimmigkeit vorschrieb. Aber auch die legislative Initiative der Kommission sichere den Schutz der nationalen Interessen, da die unabhängige überstaatliche Institution nur solche Vorlagen unterbreite, die keinen Mitgliedstaat in der Substanz schädigten.

So etwa die Überlegungen im Auswärtigen Amt zur Zeit der Beitrittsverhandlungen mit den nordeuropäischen Kandidaten, siehe: PAAA, B20 200 1968, Memorandum der AA-Abteilung IA2, 22.03.1971, S. 3: »Bei einer Erhöhung der Zahl der Mitglieder der EG nimmt die Bedeutung der Mehrheitsentscheidungen erheblich zu. Andererseits sollte diese Frage nüchtern betrachtet werden. Die geltenden Verträge verlangen bei Beschlüssen grundsätzlicher oder politischer Bedeutung zumeist Einstimmigkeit der Mitgliedsländer.«

Die Kritiker des Luxemburger Kompromisses befürworteten in der Praxis oft gar nicht die formelle Abschaffung des Arrangements (ein aussichtloses Unterfangen aufgrund des informellen Charakters), sondern sie setzten sich dafür ein, dass die Logik des Multilateralismus auch im Falle der vitalen Interessen greife. Vitale Interessen sollten im multilateralen Rahmen festgestellt und Ausnahmeregelungen legitimiert werden. Unter solchen Bedingungen waren selbst die Anhänger der supranationalen Integration willens, eine Ausnahmeklausel wie den Luxemburger Kompromiss zu akzeptieren, wenn zumindest keine weitere Kodifizierung des Arrangements erfolge.

Loyalität und Solidarität unter den großen und kleinen EWG-Mitgliedstaaten

Ideen und Initiativen für eine stärkere Zusammenarbeit der EWG-Regierungen außerhalb oder am Rande der supranationalen EWG-Struktur beruhten in der Regel auf der Vorstellung, dass die Regierungen ausschließlich im Konsens agierten. Dabei schienen das Einstimmigkeitsprinzip und das informelle Vetorecht die großen Mitgliedstaaten zu begünstigen. Von französischer Seite etwa wurden Ideen für ein mehr zwischenstaatlich ausgerichtetes EWG-Europa ventiliert, die bei den kleineren Mitgliedstaaten Sorgen auslösten, die französische Regierung arbeite auf ein Direktorium hin, in dem die großen Mitgliedstaaten ihre Dominanz über die Gemeinschaft festigten, auch indem sie sich bewusst keinem supranationalen Entscheidungsmechanismus unterwarfen, sondern ihre Interessen mit einem Vetorecht absicherten.

Das 1970/71 vom französischen Staatspräsidenten Georges Pompidou vorgestellte und vieldiskutierte Projekt einer auf der EWG aufbauenden »europäischen Konföderation« sollte klar auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhen, was von britischer Seite unterstützt wurde. Kritisch wurde diese Tendenz in der deutschen Regierung gesehen, siehe PAAA, B20 1822, Memorandum des Auswärtigen Amtes Abteilung IA2, 18.11.1971, S. 3: »Es besteht aber die Gefahr, daß vor jeder multilateralen Entscheidung ein kompliziertes Spiel bilateraler Beziehungen einsetzt, das Mißtrauen schaffen und hemmend wirken muß. Die französische Politik die immer noch sehr viel mehr von dem System der Nationalstaaten ausgeht als unsere Politik, ist für diese Versuchung besonders anfällig«; hierzu auch: Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou: deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München 2012, S. 180–182.

Ging es um die Abstimmung der großen Staaten untereinander, spielten gerade in der oberen Ratshierarchie der Minister und EWG-Botschafter der Loyalitätsbegriff und die Regeln diplomatischer Courtoisie eine Rolle.

Besonders bei der Norderweiterung von 1973 ist zu beobachten, dass die Regierungen und Bürokratien Frankreichs, Westdeutschlands und Großbritanniens sich den Ball des Luxemburger Kompromisses gegenseitig zuspielten. Beamte aus Paris und Bonn wurden nicht müde, den britischen Gesprächspartnern zu versichern, dass es am Ende immer noch den Luxemburger Kompromiss gebe und sich die Briten daher keine Sorgen um ihre Souveränität zu machen brauchten. Die Vertreter kleiner Mitgliedstaaten beschwerten sich, dass Beamte aus Paris, Bonn und London mit diesen Verweisen auf den Luxemburger Kompromiss die mit der Erweiterung verbundenen politischen Streitthemen systematisch »zudeckten«, um die Verhandlungen mit Großbritannien voranzubringen und abzuschließen.

Ein belgischer Diplomat beklagte diese Tendenz in den Beitrittsverhandlungen, siehe MAEB, 18779-8, Memorandum des belgischen Außenministeriums, Frühjahr 1972: »Ayant accepté le principe de l’acquis communautaire, les Britanniques se sont efforcés de retarder autant que possible l‘application intégrale de certains règlements communautaires, voir d’en différer la mise en vigueur à une date indéterminée. D’ù la recherche d’»arrangements continues« de nature à rassurer les intérêts britanniques concernés sans toutefois mettre en cause les principes de base de la C.E.E. A l’occasion cette tactique a eu pour effet de »geler« certains problèmes par le recours à des formulations ingénieuses plutôt que par la mise au point de solutions définitives. A l’égard de ces dernières, on a peut-être trop souvent évoqué, du côté anglais, la règle de l’unanimité, parfois qualifiée de »droit de veto«. Il est permis d’espérer que ces références appartiendront bientôt au passé.«

So trug der Luxemburger Kompromiss im Falle des britischen Beitritts nicht unmaßgeblich zur Verfestigung von Missverständnissen bei, die jahrzehntelang die EWG-Mitgliedschaft Großbritanniens belasteten und sich am Ende im Brexit-Referendum von 2016 entluden. Auch im bilateralen Rahmen kamen Loyalität und Courtoisie zum Tragen, und zwar besonders im deutsch-französischen Verhältnis, das nach dem Elysée-Vertrag von 1963 durch die Leitbilder von Versöhnung und Freundschaft eine besondere Qualität entwickelt hatte.

Die Gruppenbildung unter den großen Mitgliedstaaten wurde von den kleineren Beneluxstaaten, oft im Verbund mit Irland, geschickt konterkariert. Viele Initiativen und Vorstöße aus dem Kreis dieser Ländergruppe, so zum Beispiel die irische Initiative vom Jahresbeginn 1975 zur Ausrufung von mehrheitsentscheidungsfähigen Fragen oder der Tindemans-Bericht von Ende 1975, zielten darauf, die Gleichgewichte in der Gemeinschaft zugunsten der kleineren Mitgliedstaaten neu zu tarieren. Ein probates Mittel dabei war die Forcierung von Abstimmungen, der Kampf gegen den Missbrauch des Luxemburger Kompromisses und weitere Maßnahmen, welche den kleineren Mitgliedstaaten Mitsprache auf Augenhöhe sicherten. Gerade von den kleineren Mitgliedstaaten wurde der Luxemburger Kompromiss zunehmend nicht als Schutzmechanismus wahrgenommen, sondern als Instrument der großen Mitgliedstaaten, um ihre Dominanz über die Gemeinschaft abzusichern. Zum Beispiel scheiterten der Tindemans-Bericht von 1975/76 und seine Vorschläge für eine »Rückkehr zu Mehrheitsentscheiden« letztlich am Widerstand Frankreichs, Großbritanniens und der Bundesrepublik. Die Benelux-Regierungen waren hierüber höchst erzürnt.

Die Zielvorstellung der Institutionellen Effizienz

Der in der Praxis des Gemeinschaftshandelns prägnanteste Normenkonflikt ist das Gegeneinanderwirken der Prinzipien von Effizienz und Vertrauensbildung. Für die Kritiker der Veto-Kultur spielte der Imperativ des effizienten Verwaltungshandelns eine überragende Rolle. Nachdem sich die Veto-Kultur in den ausgehenden 1960er-Jahren und im Zuge des britischen Beitritts zunächst verfestigt hatte, lösten die »Eurosklerose« und die Herausforderungen durch die sozio-ökonomische Krise der 1970er-Jahre besonders unter den in die Sachthematik eingearbeiteten Verwaltungsfachleuten eine Rückbesinnung auf die Vertragsgrundlage und eine nachhaltige Verstärkung des Reformwillens aus. In diesem Reformkalkül war die Stärkung der Ratspyramide durch den Abbau von Entscheidungshemmnissen zentral. Propagiert wurde in der Regel die Rückkehr zu den vertraglich festgelegten Abstimmungsregeln und damit praktisch das Ende des Luxemburger Kompromisses. Diese Debatte begann bereits in den ausgehenden 1960er-Jahren und steigerte sich über die »Eurosklerose« bis in die beginnende »relance européenne« der frühen 1980er-Jahre. Der Effizienz-Imperativ war wichtiger Bestandteil von Initiativen der Kommission und des Europäischen Parlaments sowie von Reformplänen wie dem Tindemans-Bericht von 1975, dem Bericht der drei Weisen von 1978 und dem Genscher-Colombo-Plan von 1981. Der gegen den Kompromiss gerichtete Effizienz-Gedanke wurde (nach erfolgter Norderweiterung) durch die Erweiterungsperspektiven nach Süden zusätzlich verschärft, denn das Wachstum der Gemeinschaften rief allseits das Blockadepotenzial eines informellen Vetorechts in Erinnerung und beschwor Ängste vor einer totalen Lähmung der Gemeinschaften, wenn jeder Mitgliedstaat weiterhin alle bedeutsamen legislativen Schritte blockieren konnte.

In der praktischen Gemeinschaftsarbeit wurde dem Effizienz-Gedanken meist das Argument der Vertrauensarbeit entgegengehalten. Während die Anhänger der Effizienz in der Regel Verwaltungsfachleute waren, hatte der Faktor »Vertrauen« eher für die politischen Beamten und hohen Diplomaten Priorität. Sie verstanden sich in der Regel als Realisten und verwiesen – bei aller eventuellen Sympathie für eine effiziente, supranationale Bürokratie – stets darauf, dass die europäische Integration und die Verwaltungskultur der Gemeinschaften das Stadium der Union nicht annähernd erreicht hatten. Es fehlten ein wahrhaft europäisches Bewusstsein und eine europäische Öffentlichkeit. Die Skeptiker empfahlen den Luxemburger Kompromiss insofern als einen pragmatischen Weg, das noch vorhandene natürliche Misstrauen unter den Regierungen auszugleichen. Durch das informelle, pragmatische Aussetzen der Verwaltungsnorm »Abstimmung« sollte der Bestand der Vergemeinschaftung weiter konsolidiert werden, bis der Grad an Europäisierung die volle Anwendung supranationaler Verfahren rechtfertigte. Auch in der Historiografie ist das Vertrauensmotiv im Zusammenhang mit dem Luxemburger Kompromiss unter Rückgriff auf Niklas Luhmann analysiert und der Luxemburger Kompromiss als ein Instrument der Vertrauensregulation beschrieben worden.

Patel: Europäisierung wider Willen.

Schlussfolgerungen

Die Verwaltungs- und Rechtsgeschichte der Europäischen Gemeinschaften offenbart ein breites Spektrum und eine dynamische Entwicklung politischer, juristischer und kultureller Normen. Beispielhaft wurden in diesem Aufsatz die bemerkenswerte Gegenläufigkeit von intergouvernementalen Normen in der politischen Sphäre sowie von föderalistischen Normen im Bereich des europäischen Rechts besprochen. Außerdem wurde die normative Ausdifferenzierung im Verlauf der Integrationsentwicklung thematisiert. Im Graubereich von nationalem, europäischem und Völkerrecht schrieb das Luxemburger Gentlemen‘s Agreement von 1966 ein besonders wichtiges Kapitel in der Normengeschichte der europäischen Einigung. So wie es die öffentliche politische Arena, die Parlamente und Medien polarisierte, so unterschiedlich und gegensätzlich reagierten auch nationale und gemeinschaftliche Verwaltungen auf die Option eines informellen Vetorechts. Die Spitzen der Außenämter in den großen Mitgliedstaaten schätzten die politischen Handlungsräume, die ihnen das Luxemburger Arrangement bei der Absicherung ihrer nationalen Partikularinteressen verschaffte, aber auch die konsolidierende und das Vertrauen fördernde Wirkung der »Ausnahmeklausel« von Luxemburg. So traf der Gentlemen’s Deal den Nerv der Zeit und spiegelte das allgemeine Empfinden in politischen und Verwaltungskreisen, dass die im Aufbau befindliche Gemeinschaft einen Schutzmechanismus für den einzelnen Mitgliedstaat brauche, solange eine Interessenkonvergenz und eine europäische Öffentlichkeit noch in weiter Ferne lagen. Mit dem Luxemburger Kompromiss verfestigte sich diese seit Gründung der Gemeinschaften latent vorhandene Überzeugung zur dominierenden und natürlichen Verfahrensnorm bei der Entscheidungsfindung im EWG-Ministerrat. Der natürliche Modus der Einstimmigkeit wiederum eröffnete neue politische Handlungsoptionen, die über eine Phase der Konsolidierung in den 1970er-Jahren hinaus einen Ausbau der Integration und des institutionellen Bestands in den 1980er- und 1990er-Jahren ermöglichten. Die Vertiefung der Integration und die Verflechtung und Annäherung der Mitgliedstaaten wiederum führten ab den späten 1970er-Jahren unübersehbar zu einem schleichenden Wandel der Einstimmigkeitskultur und der mit ihr verbundenen Normen und Werte.

Historisch bedeutsam wurde die Abmachung von Luxemburg vor allem durch ihre politische, soziale und moralische Verbindlichkeit, und weniger durch ihren zweifelhaften Rechtscharakter. Angesiedelt im Spannungsfeld von politischen und sozialen Interessen, Erwartungen, Gewohnheiten und Leitgedanken, wurde das Gentlemen’s Agreement oft als »Soft Law« der Europäischen Gemeinschaften eingestuft. Doch im weiteren historischen Verlauf polarisierte das informelle Arrangement zunehmend. Unter den kleineren Mitgliedstaaten fühlten sich einige Regierungen, wie die dänische oder später die griechische, durch den Luxemburger Kompromiss zwar gut geschützt. Doch andere – darunter die Beneluxländer – versprachen sich vom Abbau des informellen Vetos Gleichberechtigung und gleiche Teilhabe an der Integration und Kooperation. Vornehmlich aus dieser Ländergruppe kamen auch die ersten Initiativen zur institutionellen und demokratischen Reform der Gemeinschaften. Kernbestand des Reformdiskurses war der Imperativ des effizienten Verwaltungshandelns, wobei sich die Reformer von der Überwindung des Luxemburger Arrangements eine entscheidende Optimierung der Verwaltungsvorgänge versprachen. So verwob sich die Debatte über »Luxemburg« im Laufe der Jahre mit weiteren Anliegen, etwa der Demokratisierung und der Parlamentarisierung der Gemeinschaften. Die vom Luxemburger Arrangement kristallisierten Konflikte über Unilateralismus, Solidarität, Vertrauen und Effizienz sind besonders geeignet, den prozesshaften Charakter von Normativität zu veranschaulichen, denn erst in der politischen und sozialen Interaktion brachten die beteiligten Akteure ihre normativen Vorstellungen zur Geltung.

eISSN:
2519-1187
Language:
English