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Politikfelder als multinormative Ordnungen. Multiple Multinormativitäten im preußischen Chausseewesen am Beispiel der Volmethalstraße, ca. 1816–1850er-Jahre


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Ab 1816 konstituierte sich das Chausseewesen in Preußen als eines der ersten herrschaftlichen Handlungsfelder politikfeldförmig.

Vgl. Felix Gräfenberg: Die Entstehung moderner Politikgestaltung. Das Chausseewesen in Preußen, ca. 1786–1850er Jahre, unpublizierte Dissertation, Universität Münster 2020, die im Rahmen des DFG-geförderten, Münsteraner Sonderforschungsbereich 1150 »Kulturen des Entscheidens« unter der Leitung von Ulrich Pfister entstanden ist. Der vorliegende Aufsatz ist in diesem Projektzusammenhang entstanden. Grundsätzlich zur Historizität von Politikfeldern s. auch: Ulrich Pfister: Entscheiden wird selbstreferentiell und reflexiv. Die Entstehung und Entwicklung von Politikfeldern, Workingpaper, Universität Münster 2018.

Es stellte in den folgenden gut 40 Jahren den inhaltlichen wie strukturellen Rahmen politischer Entscheidungen entlang von chausseespezifischen Sachfragen und Themenkomplexen bereit.

Das Chausseewesen selbst oblag formell bis 1875 der Kompetenz des preußischen Zentralstaats. Danach fiel es unter die Selbstverwaltung der Provinzen. Vgl. Erich Petersilie: Die Entwicklung der preussischen Chausseen unter der Herrschaft der Selbstverwaltung, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts 46 (1906), S. 105–137. Ab den 1850er-Jahren allerdings erfolgte keine genuin politische Bearbeitung der chausseepolitischen Themenfelder, so dass hier – wie auch bei Gräfenberg: Politikgestaltung – aus praxisorientierter Perspektive von der gängigen Periodisierung abgewichen wird.

Konkret waren Bau, Unterhalt und sonstige Reglementierung der Chausseen – das heißt: befestigte Straßen, auf denen eine Maut erhoben wurde – ab den Reformen Dohnas und Altensteins 1808/10 offiziell in die preußische Ministerialbürokratie eingegliedert,

Vgl. Jürgen Salzwedel: Wege, Straßen und Wasserwege, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. 2: Vom Reichdeputationshauptschuss bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 199–226, hier S. 222.

ab 1816 wurde dieses herrschaftliche Handlungsfeld auch aktiv gestaltet. In der Tat erlaubte der neue Rahmen weitestgehend spannungsfreies Entscheiden hinsichtlich des Ausbaus und Betriebs eines umfangreichen Infrastrukturnetzes,

Entscheiden wird hier als eine soziale Zumutung verstanden. Vgl. Niklas Luhmann: Die Paradoxie des Entscheidens, in: Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik 84 (1993), S. 287–310; Hermann Lübbe: Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140. Aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Frage, wie Sozialsysteme dieser Zumutung begegnen: vgl. Philip Hoffmann-Rehnitz / André Krischer / Matthias Pohlig: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 45 (2018), S. 217–281; Barbara Stollberg-Rilinger: Zur Einführung, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 630–634. Zur Rahmung entsprechender Situationen als voraussetzungsvollen Vermittlungsleitung: vgl. Rudolf Stichweh: Semantik und Sozialstruktur. Zur Logik einer systemtheoretischen Unterscheidung, in: Dirk Tänzler / Hubert Knoblauch / Hans-Georg Soeffner (Hg.): Neue Perspektiven der Wissenssoziologie, Konstanz 2006, S. 157–171; aus entscheidenstheoretischer Perspektive Alexander Durben et al.: Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500–1850), in: Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2018, S. 168–208, hier: S. 169f.

mithin die aktive und fortdauernde Gestaltung des entstehenden preußischen Flächenstaates in administrativer wie (volks)wirtschaftlicher Hinsicht.

Zur output-orientierten Betrachtung und Bewertung des preußischen Chausseewesens, insbesondere auch im Zusammenhang von ›Modernisierung‹ vgl. Uwe Müller: Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung. Der Chausseebau in der preußischen Provinz Sachsen und dem Herzogtum Braunschweig vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, Berlin 2000.

So wuchs das Chausseenetz in Preußen von gut 3.000 Meilen im Jahre 1816 stetig auf über 25.000 Meilen im Jahr 1859 an.

Müller: Infrastrukturpolitik, S. 459f.

Die Planung, Implementierung, aber auch Ablehnung entsprechender Straßenbauvorhaben fand zumeist vor dem Hintergrund weitestgehend stabiler Rahmenbedingungen statt, die den Prozess des politischen Entscheidens stabilisierten, lenkten und präjudizierten. Politikprozesse waren – und sind grundsätzlich in politischen Systemen der Moderne – bestimmt von formalen Verfahrensordnungen und Recht, aber auch der politischen Kultur und den systemischen Funktionslogiken des Politikfelds, die gemeinsam die Entscheidungsfindung (hier: für oder gegen ein Chausseebauprojekt, für oder gegen eine bestimmte Streckenführung, für oder gegen eine bestimmte technische Ausführung, für oder gegen ein bestimmtes Betriebsmodell,…) erleichterten und die Entscheidung sozial legitimierten.

Zur Legitimationskraft des Verfahrens grundsätzlich vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 1969; zur Reflexivität politischen Entscheidens vgl. einführend Werner Jann / Kai Wegrich: Phasenmodelle und Politikprozess. Der Policy Cycle, in: Klaus Schubert / Nils C. Bandelow (Hg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0, München 2009, S. 75–113; zu Funktionslogiken, respektive Wertsphären in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften vgl. einführend Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 2007.

Als (frühes) Politikfeld war das Chausseewesen geprägt von seinen spezifischen Akteurskonstellationen, Interaktionsformen, Wahrnehmungshorizonten, Ressourcenallokationen und dergleichen mehr.

Vgl. Fritz W. Scharpf: Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Wiesbaden 2006; Adrienne Windhoff-Héritier, Policy-Analyse. Eine Einführung, Frankfurt 1987; Deborah Stone: Casual Stories and the Formation of Policy Agendas, in: Political Science Quarterly 104 (1989), S. 281–300; Jörg Mathes: Framing, Baden-Baden 2014.

Es stellte so den inhaltlichen wie strukturellen Rahmen von chausseebezogener Politikgestaltung bereit.

Vgl. James E. Anderson: Public Policymaking. An Introduction, Boston 2000; Michael Howlett / M. Ramesch / Anthony Perl: Studying Public Policy. Policy Cycles & Policy Subsystems, Oxford 2009.

Der umfangreiche Bau und Unterhalt von Chausseen hatte seine politischadministrativen Ermöglichungsbedingungen gerade in diesem hochgradig ausdifferenzierten Modus der sachorientierten Politikgestaltung.

Zur Historizität von Politik als Sozialsystem, sprich: zur Verstetigung des Politischen als kommunikativen Raum, aus kulturhistorischer Perspektive vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Berlin 2005, S. 9–24; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606

Tatsächlich liegt es aus dieser systemtheoretische Makroperspektive nahe, das Politikfeld selbst als normative Ordnung im weitesten Sinne zu fassen, die maßgeblich chausseepolitisches Handeln und Entscheiden strukturell lenkte und inhaltlich präjudizierte. Nimmt man nun allerdings die konkreten Prozesse in der politisch-administrativen Praxis in den Blick,

Die hier vorgestellten Überlegungen bauen auf einem umfangreichen Studium der entsprechenden Bestände des Geheimen Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz [GStA PK] in Berlin auf. Vgl. Gräfenberg: Politikgestaltung.

scheinen Planung, Bau, Umsetzung, Instandhaltung, Betrieb und Regulierung von Chausseen viel eher multinormativ durchdrungen gewesen zu sein. An diesem Punkt setzt der vorliegende Aufsatz an. Konkret soll hier die These multipler Multinormativitäten als Kennzeichen (früher) Politikfelder aufgeworfen werden. Das meint insbesondere, dass i) Politikfelder bereits strukturell bedingt multinormative Ordnungen darstellen, dass ii) insbesondere eine hohe Komplexität der Akteurskonstellation, etwa in Form eines Mehrebenensystems,

Vgl. Arthur Benz: Politik in Mehrebenensystemen, Wiesbaden 2009.

sowie Veränderungen über die Zeit in der zunächst stabil verstandenen Rahmung des Politikfeldes Spannungen in dieser politikfeldimmanenten Multinormativität erzeugen und dass iii) Politikfelder als Rahmungen politischen Entscheidens über spezifische Mechanismen im Umgang mit multinormativen Spannungen verfügen. Gerade im Hinblick auf die dem gesamten Heft zugrunde liegende Fragestellung wird hier der Standpunkt vertreten, dass sich der Umgang mit Multinormativität, genauer: mit multinormativen Spannungen, nicht nur über die jeweils spezifischen, kulturell bedingten Settings hinweg maßgeblich unterscheidet, sondern dass innerhalb eines Sozialsystems qualitativ verschiedene Umgangsformen mit unterschiedlichen Konfiguration von Multinormativität existieren. Dies gilt es im Folgenden empirisch, aus der konkreten Praxis des Chausseewesens als frühem Politikfeld zu untersuchen.

Für die historisch-empirische Analyse des Umgangs mit Multinormativität in frühen Prozessen moderner Politikgestaltung erscheint die Fokussierung auf eine Fallstudie notwendig. Die Beschränkung auf eine einzelne Chaussee, respektive diejenigen politischadministrativen Prozesse, die sich um diese herum entwickeln, erlaubt den Vergleich struktureller und systemischer Mechanismen innerhalb des Politikprozesses. Während bei dem Vergleich über unterschiedliche Chausseeprojekte hinweg stets der Einfluss des konkreten Entscheidensgegenstandes, sprich: der inhaltlichen Dimension des Entscheidens, mit bedacht werden müsste – mithin die Gefahr einer Überdeterminierung bei der Erklärung beobachteter Phänomene besteht –, erlaubt der Vergleich von unterschiedlichen Problemkonstellationen innerhalb eines inhaltlichen Settings die Fokussierung der dahinterliegenden Mechanismen moderner Politikgestaltung,

Moderne Politikgestaltung wird hier verstanden als reflexive, entscheidensförmige Form der Politikgestaltung entlang von Sachfragen und funktional differenzierten Aufgaben-/Themenkomplexen. Vgl. hierzu Gräfenberg: Politikgestaltung.

respektive des Politikfeldes. Vor diesem Hintergrund erweist sich die archivalische Überlieferung zur Volmethalstraße

Die Bezeichnung der Straße als historischem Gegenstand folgt hier – auch orthografisch – der Quellensprache, während die geografische Ortsbezeichnung der heutigen Nomenklatur entspricht. Entsprechend heißt es hier zwar Volmetal, aber Volmethalstraße.

im südlichen Westfalen als wahrer Glücksfall:

Bereits komprimiert betrachtet bei: Wilfried Reininghaus: Vincke und der Straßenbau im südlichen Westfalen, in: Hans-Joachim Behr / Jürgen Kloosterhuis (Hg.): Ludwig Freiherr von Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994, S. 350–364, hier: S. 354–356.

Über 35 Jahre beschäftigte die infrastrukturelle Erschließung des gerade einmal 50 Kilometer langen Volmetals zwischen Hagen und Meinerzhagen die zuständigen Regierungs- und Verwaltungsbehörden. Wechselnde rechtliche und politische Rahmenbedingungen sowie die komplexe Akteurskonstellationen waren dabei prägend. Der Planungs- und Bauprozess erstreckte sich über die gesamte Dauer des Chausseewesens als genuin politischem Handlungsfeld in Preußen und deckt die zwei zentralen policy regimes staatlichen Haupt- wie nicht-staatlichen Nebenstraßenbaus ab.

Vgl. Uwe Müller: Der preußische Kreischausseebau zwischen kommunaler Selbstverwaltung und staatlicher Regulierung (1830–1880), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 40/1 (1999), S. 11–33; Clemens Wischermann: Chausseebau und Landverkehr in Westfalen während der Frühindustrialisierung, in: Winfried Reininghaus / Karl Teppe (Hg.): Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert. Westfälische Beispiele, Paderborn 1990, S. 71–94.

Zwischen 1816 und 1851 wuchs der politisch-administrative Schriftverkehr, der allein auf zentralstaatlicher Ebene in dieser Sache bearbeitet wurde, auf weit über 1.000 Blatt an.

Die Grundlage der historisch-empirischen Analyse bilden die Akten: GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727–3729.

In diesen umfangreichen Korrespondenzen finden sich Akteure aus allen Ebenen des politischen Systems Preußens wieder. Das Projekt der Volmethalstraße bildet so in seltener Vollständigkeit das (chaussee)politische Entscheidungsgefüge ab.

Während die Dauer, der politisch-administrative Aufwand und die Bandbreite der bearbeiteten Probleme für die Prozessbeteiligten oftmals ein existenzbedrohendes Ärgernis war – hierzu später mehr –, lassen sich hieraus wertvolle Erkenntnisse über die Funktionsweisen früher Politikfelder gewinnen. Die Untersuchung nimmt nun anhand des Falles der Volmethalstraße das Politikfeld als voraussetzungsvollen Rahmen politischer Sachentscheidungen in politischen Systemen der Moderne dezidiert in den Blick. Sie versucht hierbei spezifische Mechanismen innerhalb des Politikfeldes im Umgang mit Multinormativität aus praxisund prozessorientierter Perspektive herauszuarbeiten. Insbesondere zielt die Studie auf die Untersuchung der strukturellen wie systemischen Mechanismen von Politikgestaltung jenseits der konkreten Inhalte und Machtfragen ab. Anhand der Fallstudie zur besagten Volmethalstraße sollen mit Hinblick auf Multinormativität in Prozessen moderner Politikgestaltung konkret die folgenden drei Fragekomplexe in den Blick genommen werden: i) Welche (qualitativ verschiedene) Normsysteme wirken auf Prozesse moderner Politikgestaltung ein, rahmten diese und/oder konnten sozial wirksam aktiviert werden? ii) Wie wirkte sich die durchaus komplexe Akteurskonstellation des preußischen Chausseewesens, insbesondere auch hinsichtlich der Mehrebenenstruktur des politisch-administrativen Systems Preußens, auf die soziale Konstruktion normativer Ordnungen aus? Wie wurden Deutungshoheiten über die unterschiedlichen Akteursgruppen und Ebenen hinweg verhandelt? Inwiefern waren welche Normsysteme für welche Gruppen wie aktivierbar? iii) Wie reagierte das politisch-administrative Entscheidensgefüge auf Veränderungen innerhalb der normativen Ordnung? Hierfür gilt es stets auch die grundsätzlichen Entwicklungen des preußischen Chausseewesens als rahmender Umwelt des Projekts der Volmethalstraße mit in den Blick zu nehmen.

Die Ausgangslage. Strukturelle, politische und rechtliche Rahmenbedingungen der Volmethalstraße, 1815/6–1824

Als 1815/16 erstmalig die konkrete Überlegung aufkam, das Volmetal durch eine chausseemäßig ausgebaute Straße zu erschließen, standen sowohl Chausseen als bedeutendes Infrastruktursystem zum einen als auch das Chausseewesen als eigenständiges Funktionssystem des preußischen Staates zum anderen gerade in ihren Anfängen.

Vgl. etwa Felix Gräfenberg: Experten und Entscheiden. Eine Fallstudie zum preußischen Chausseewesen, in: Felix Selgert (Hg.): Externe Experten in Politik und Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2020, S. 67–96, hier: S. 72.

So war das Straßenund Wegewesen traditionell Aufgabe der Provinzen; entsprechend entstanden auch die ersten Chausseen in Preußen ab 1786 im regionalen Interesse, vereinzelt und ohne jedweden Netzwerkcharakter.

Vgl. Herbert Liman: Preußischer Chausseebau. Meilensteine in Berlin, Berlin 1993.

Mit den Verwaltungsreformen unter Dohna und Altenstein oblagen die Kompetenzen zwar ab 1808/10 bei den neu gegründeten Fachministerien auf Ebene des Zentralstaats. Erst in Folge des Wiener Kongresses wurde das Chausseewesen ab 1815/16 unter staatlicher Regie zum aktiv gestaltbaren Handlungsfeld.

Vgl. Gräfenberg: Experten, S. 72.

Auch wenn das Chausseewesen in seiner Einbettung in die preußische Ministerialverwaltung immer wieder neuzugeordnet wurde – es war zeitweise Aufgabenfeld von Finanz-, Innen- sowie Handels- und Gewerbeministerium –, waren Bau und Unterhalt von Chausseen als Kernaufgaben des Chausseewesen weitestgehend stabil in diejenigen Behörden integriert, die auf Ebene des Zentralstaats für Handel und Gewerbe zuständig waren; auch wenn ein genuines Ministerium für Handel und Gewerbe nur zeitweise existierte.

Vgl. Salzwedel: Wege, Straßen und Wasserwege, S. 222. Hier allerdings dezidiert abweichend von der verbreiteten Forschungsmeinung, die das Chausseewesen als diskontinuierlich und unstet charakterisiert. Vgl. etwa Müller: Infrastrukturpolitik, S. 328–330; Salzwedel: Wege, Straßen und Wasserwege, S. 212f., 222.

In diesem strukturellen Umfeld stand das Chausseewesen auf Initiative des verantwortliche zeichnenden Ministers Hans Graf von Bülow ab 1816 klar unter den Vorzeichen eines staatlichen Hauptstraßennetzes zur Strukturförderung in den östlichen Provinzen einerseits und einer allgemeinen Belebung des Handels andererseits.

Vgl. Müller: Infrastrukturpolitik, S. 199–238.

Versteht man das Politikfeld als Nominalkategorie von politischem Entscheiden, die sich entlang von formellen Strukturen – wie eben dem Aufbau der fachpolitischen Ministerialverwaltung – konstituiert, so entfalten diese Strukturen somit bereits selbst eine Normativität auf die entsprechende Politikgestaltung, indem sie neben der Akteurskonstellation und den Interaktionsformen politischen Entscheidens auch übergeordnete Ziele, kausale Narrative und Deutungshorizonte bereitstellen.

Vgl.: Fritz W. Scharpf: Interaktionsformen. Akteurszentrierter Institutionalismus in der Politikforschung, Wiesbaden 2006; Adrienne Windhoff-Héritier: Policy-Analyse. Eine Einführung, Frankfurt 1987, S. 21f.; Christoph Möller: Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, insbesondere S. 125–237.

Als dezidiert kommunikativ explizit adressierbare Rahmenbedingungen von Politikgestaltung stellten die Strukturen des Chausseewesens mithin Entscheidungsprämissen dar.

Zu Entscheidungsprämissen vgl. Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2011, S. 222–278. Vgl. auch Stephan Kühl: Informalität und Organisationskultur. Ein Systematisierungsversuch, Working Paper, Universität Bielefeld 2010, S. 2–11.

Diese strukturelle Einbindung des Chausseewesens in den preußischen Regierungs- und Verwaltungsapparat gab in der historischen Praxis konkret zweierlei vor: einerseits die grundsätzliche Ausrichtung des Chausseebaus nach struktur- wie handelspolitischem Kalkül sowie andererseits die strukturelle Aufteilung von Entscheidungsvorbereitung, Entscheidungsfindung und Implementierung: Diese stellte sich konkret zunächst als ein Wechselspiel von zentralstaatlichen Akteuren einerseits und den Behörden der Regierungen der Bezirke andererseits dar. Hierauf aufbauend gestaltete sich der Prozess der Politikgestaltung wie folgt: Gerade die Behörden vor Ort, sprich: die seitens der Regierungen der Bezirke bestellten Bauinspektoren, waren für die Entscheidungsvorbereitung von zentraler Bedeutung. So waren die Regierungsbezirke für die vorgelagerten technischen wie (bau)praktischen Aufgaben zuständig. Dies umfasste in der Planungsphase, respektive der Phase der Politikformulierung, Vermessungsarbeiten, das Erstellen von (Kosten-)Anschlägen und das Anfertigen von Bauzeichnungen.

Vgl. Eckhard Bolenz: Baubeamte in Preußen 1799–1930. Aufstieg und Niedergang einer technischen Elite, in: Peter Lundgreen / André Grelon (Hg.): Ingenieure in Deutschland 1770–1990, Frankfurt am Main 1994, S. 117–140, S. 118f.

Diese bildeten – nach entsprechender Prüfung der Oberbaudeputation

Zur Geschichte der Oberbaudeputation und ihren Aufgaben vgl. Reinhart Strecke: Anfänge und Innovation der preußischen Bauverwaltung, Köln 2002.

– die mediale wie inhaltliche Grundlage für den eigentlichen Antrag, der seitens des zuständigen Fachministers in Berlin vorbereitet wurde. In kollegialer Abstimmung – je nach Setting waren neben dem federführenden Ministerium regelmäßig die Ministerien der Finanzen und des Militärs als Veto-Spieler involviert; aber auch andere Ministerien konnten hier beteiligt sein – wurden hierin die grundsätzliche Genehmigung von ausgewählten Chausseebauprojekten in ihrer konkreten Ausgestaltung sowie ein entsprechendes Extraordinarium, sprich: ein extraordinärer Bauetat, beantragt. Die Entscheidung selbst, also die Genehmigung oder Ablehnung, aber auch die Genehmigung unter Vorbehalt bestimmter Änderungen, kam schließlich formal dem König als Höchst- und Letztentscheider zu. Dieses Verfahren wiederholte sich in einem jährlichen Turnus, wobei Rechenschaftslegung über die letztjährigen Aktivitäten und die Beantragung neuer Chausseestrecken inklusive der hierfür benötigten Etats gemeinsam bearbeitet wurden.

Nachzuverfolgen für die frühen Jahre in: GStA PK, I. HA Rep. 74 K XVI, Nr. 1, Bd. 1–4.

Hierdurch wurde mit der (Re-)Aktivierung des Chausseebaus in Preußen ein Entscheidensmodus etabliert, der sowohl Entscheidenssituationen wie auch die entsprechenden Semantiken und Deutungsschemata, sprich: Funktionslogiken, selbstreferentiell reproduzierte. Die daraus resultierende inhaltliche Ausrichtung des Chausseewesens in seiner politischadministrativen Praxis, die im Folgenden als policy regime oder Politikregime verstanden werden soll, wurde zwar nicht explizit ausformuliert, entfaltete nichtsdestotrotz eine normative Wirkung auf Entscheidungsvorbereitung und -findung dahingehend, dass sich Erwartungshorizonte sowie narrative Zweck-Mittel-Relationen über die Reproduktion der Antragsprosa selbst stabilisierten. So etablierte sich ab 1816 ein Regime des staatlichen Hauptstraßenbaus, bei dem der Staat sämtliche finanziellen wie administeriellen Lasten selbst trug.

Vgl. etwa GStA PK, I. HA Rep. 74 K XVI, Nr. 1, Bd. 1–4.

Gerade die königliche, spätmerkantilistisch begründete Skepsis gegenüber privaten Investoren erwies sich als prägend bei der (nicht vorangetriebenen) Akquise privaten Kapitals.

Vgl. Sonja Scheffler: Das Bild des Unternehmers im Spiegel der Gewerbepolitik im nachnapoleonischen Preußen, Frankfurt 2009. Instruktiv auch: Clemens Wischermann: Preußischer Staat und Unternehmer zwischen Spätmerkantilismus und Liberalismus, Köln 1992.

Demgegenüber stand ein starrer rechtlicher Rahmen, der sich seit 1786 langsam formiert hatte.

Hier und im Folgenden: Salzwedel: Wege, Straßen und Wasserwege. Vgl. auch: Müller: Infrastrukturpolitik, Kap. G.

Basierend auf dem Umstand, dass in Preußen das Wegeund Straßenrecht traditionell in der Hand der Provinzen lag, entstanden entsprechende Verordnungen, Reglements und Instruktionen zunächst auf Ebene der Provinzen. Tatsächlich gab es ein gesamtpreußisches allgemeines Straßen- und Wegerecht bis in die 1860er-Jahre nicht. 1794 setzte nichtsdestotrotz das Allgemeine Landrecht der Preußischen Staaten klare Leitlinien des Chausseewesens. Von wesentlicher Bedeutung war in dieser frühen Phase sicherlich auch die grundlegende Abgrenzung gegenüber dem bestehenden Straßen- und Wegewesen, die langfristig konstitutiv für das Chausseewesen als eigenes Politikfeld war. Grundsätzlich unterschieden sich Chausseen von herkömmlichen Straßen und Wegen durch den Umstand, dass auf ihnen eine Maut erhoben werden konnte. Um dies, vor dem Hintergrund eines freien Wegerechts, zu rechtfertigen, mussten Chausseen eine besondere Bedeutung für den Handelsverkehr haben, kunstmäßig ausgebaut (befestigt) sein und weiter technische Standards etwa hinsichtlich Breite und Steigung erfüllen, die den Transport mittels Fuhrwerks maßgeblich vereinfachten. Rechtlich folgte hieraus einerseits eine Festsetzung von technischen Standards und Chausseegeldtarifen; andererseits beschränkte der (werdende) Staat frühzeitig die Zugriffsrechte der öffentlichen Hand, respektive der Chausseeträger auf die Hand-, Spann- und sonstige Dienste der Anrainer, die traditionell für den Bau und Unterhalt von Straßen vollumfänglich herangezogen werden konnten. Gerade die Reformära mit der einhergehenden Zentralisierung brachte in dieser Hinsicht weitere Neuerungen hervor: Technische Standards wie Chausseetarife wurden in der Folge zentral reglementiert.

Ebenfalls in dieser Zeit etablierte sich eine neue formalrechtliche Klassifizierung der Chausseen entlang von zwei Achsen: Einerseits wurde zwischen Staatsstraßen und nicht-staatlichen Chausseen unterschieden, wobei bei Letzteren nicht zwischen öffentlichen und privaten Trägern differenziert wurde.

Vgl. Müller: Kreischausseebau, S. 17.

Es machte de jure also keinen Unterschied, ob eine Gemeinde, respektive ein Kreis, die – obgleich selbst öffentliche Körperschaft – dem Staat als Kontrahent gegenüberstanden, oder eine Privatperson bzw. eine Aktiengesellschaft für Bau und Unterhalt einer Chaussee verantwortlich zeichnete. Andererseits wurden die Chausseen nach Bedeutung und Funktion unterschieden; so gab es – im Wesentlichen – neben Hauptstraßen, die die wichtigste Kategorie darstellten, Verbindungs- und Nebenstraßen.

Vgl. Salzwedel: Wege, Straßen und Wasserwege, S. 210–213; Müller: Kreischausseebau; Rudi Gador: Die Entwicklung des Straßenbaus in Preußen 1815–1875 unter besonderer Berücksichtigung des Aktienstraßenbaus, Martinsgrund 1966.

Konkret wurde 1809 erstmals die rechtliche Möglichkeit nicht-staatlichen Chausseebaus geschaffen. Dies zielte zunächst vorrangig auf andere Körperschaften öffentlichen Rechts, insbesondere die: Kreise ab, spätestens ab der Novelle von 1816 war dann auch explizit die Grundlage für privaten Chausseebau und -betrieb gegeben.

Vgl. Müller: Kreischausseebau., S. 17.

Die Genehmigung entsprechender Chausseen oblag aber weiterhin den politischen Entscheidungsträgern des Zentralstaats, die die entsprechenden Projekte auf Basis des Einzelfalls bewerteten. Ein Automatismus, der auf die erhoffte Genehmigung des Antrags bei der Erfüllung vordefinierter Kriterien hinauslief, war nicht vorgesehen; so dass die Entscheidung zunächst per se politisch blieb.

All diese rechtlichen Bestimmungen, insbesondere die rechtliche Grundlage des nicht-staatlichen Chausseebaus spannten 1816 einen Möglichkeitsraum auf, der die chausseepolitische Engführung auf den Bau eines staatlichen Hauptstraßennetzes keinesfalls vorwegnahm. Die verbreitete Erklärung, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen schlicht keinen Anklang bei den Rezipienten fanden,

Vgl. Reininghaus: Vincke, S. 353f.

greift hier sicherlich kurz – wie das Projekt der Volmethalstraße als eine der ersten entsprechenden Initiativen eindrucksvoll zeigt.

Anfänge der Volmethalstraße, 1815/16

So gab es bereits 1815/16 in Westfalen den ersten Anlauf, die Volmethalstraße (kunstmäßig) auszubauen. Auf Grundlage des novellierten Rechts zum nicht-staatlichen Chausseebau wurde 1816 eine erste Aktiengesellschaft gegründet, die den Bau der Straße zum Ziel hatte.

Hier und im Folgenden basierend auf: Reininghaus: Vincke, S. 354–356.

Zentrale Figur war hierbei Ludwig von Vincke, seines Zeichens Oberpräsident der Provinz Westfalen. Obwohl ihm formal eigentlich keine Rolle hierbei zukam, machte er sich als Vertreter einer liberalen (Wirtschafts-)Politik während seiner Amtszeit einen Namen als prominenter Vertreter eines bottom up organisierten Chausseebaus im Interesse des regionalen Gewerbes. Bereits die Novellierung der rechtlichen Bestimmungen zum nicht-staatlichen Chausseebau 1816 auf zentralstaatlicher Ebene ging auf seine Initiative zurück.

Vgl. Wischermann: Staat und Unternehmer, S. 281.

Seine Bemühungen hinsichtlich der Einflussnahme auf die zentralstaatliche Chausseepolitik beschränkte sich nicht darauf, auf entsprechende Verordnungen im Regierungsapparat hinzuwirken. Vielmehr zielte Vinckes politisches Handeln auf die Umsetzung entsprechender Projekte in der Praxis ab: So initiierte er die Gründung entsprechender Vereine vor Ort. Tatsächlich interpretierte er seine Rolle dergestalt, dass er auf regionaler Ebene wohl grundsätzlich, quasi ex officio, entsprechenden Chausseevereinen in Westfalen beitrat.

Vgl. Fritz Sälter: Entwicklung und Bedeutung des Chaussee- und Wegebaus in der Provinz Westfalen unter ihrem ersten Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke, 1815–1844, Marburg 1912, S. 82.

So auch im Fall der Volmethalstraße. Außerdem setzte er sich in Berlin proaktiv für die bottom up organisierten Projekte aus Westfalen ein; wenngleich seine Eingaben oftmals nur bedingt Beachtung fanden.

So wurden die Eingaben Vinckes seitens der zentralstaatlichen Entscheidungsträger bei der chausseemäßigen Erschließung i) Bad Driburgs und ii) des Aftetals de facto nicht beachtet. Die Vorgänge finden sich in i): GStA PK; I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3755; ii): GStA PK; I. HA, Rep. 93 B, Nr. 3758. Vgl. zum Chausseebau in Bad Driburg aus anderer Perspektive auch: Gräfenberg: Experten, S. 87–89.

Ungeachtet der konkreten Rolle Vinckes, die im Folgenden immer wieder Thema sein wird, fanden die rechtlichen Bestimmungen zum nichtstaatlichen Chausseebau somit recht früh Anklang und entfalteten eine entsprechende Produktivität im preußischen Sozialgefüge. Als explizit adressierbare Normen ermöglichten sie somit nicht nur auf regionaler Ebene die Gründung eines Aktienvereins, der sich selbst den Bau der Volmethalstraße zum Ziel gesetzt hatte. Vielmehr erlaubte die Aktivierung der entsprechenden Verordnung auch in der konkreten, politisch-administrativen Praxis des Regierungsund Verwaltungsapparates, einen Politikprozess auf zentralstaatlicher Ebene durch regionale Akteure zu initiieren. Waren für die Initiierung des Politikprozesses nun zunächst die formalrechtlichen Normen ausschlaggebend, so war der Prozess selbst und insbesondere auch die finale Entscheidung maßgeblich bestimmt von den Strukturen des Chausseewesens sowie dessen inhaltliche Ausrichtung. Angesichts der strukturell exponierten Rolle Friedrich Wilhelms III. als königlichem Höchst- und Letztentscheider, der bestenfalls wenig Interesse an solchen bottom up organisierten, privat finanzierten Projekten hatte, sowie dem dominanten Politikregime des staatlichen Hauptstraßenbaus erscheint die ablehnende Entscheidung wenig überraschend.

Aus output-orientierter Perspektive erscheint es somit, dass kaum oder gar kein Raum für den gestalterischen Einfluss privatwirtschaftlicherer Akteure (hier: den Aktienverein), aber auch regional agierender Akteure der öffentlichen Hand (hier: Oberpräsident Vincke) gegeben war. Allerdings muss doch die grundsätzliche Möglichkeit, ein entsprechendes Projekt zu initiieren und eine politisch-herrschaftliche Entscheidung in diesem Zusammenhang (zuverlässig) erwirken oder gar erzwingen zu können, als voraussetzungsvoll betrachtet werden. Gleiches gilt dafür, dass sowohl die Initiierung des Politikprozesses als auch die Ablehnung des Projekts sozial spannungsfrei verlief. Dies steht kaum im Einklang mit bisherigen Erklärungsversuchen (chaussee)politischer Entscheidungsfindung, die das Politikfeld mononormativ entweder anhand seiner formalrechtlichen Dimension oder entlang von Machtfragen betrachtet haben. Gerade die Charakterisierung des Chausseewesens als dysfunktionalem Politikfeld dahingehend, dass rechtliche Normen keine Anwendung fanden, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht aufrechterhalten.

Hier insbesondere in Abgrenzung zu Müller: Infrastrukturpolitik, S. 243.

Versteht man demgegenüber – wie hier vorgeschlagen wird – das Politikfeld als multinormativ durchdrungen, erscheint das Chausseewesen durchaus funktional dahingehend, dass es zuverlässig wie weitestgehend spannungsfrei chausseespezifische Entscheidungen produzierte. Konkret war der Prozess somit durch drei politikfeldimmanente Normsysteme präjudiziert; nämlich: i) seine Strukturen, ii) sein dominantes Politikregime sowie iii) sein formales Recht. Hierbei erwiesen sich zunächst alle drei Normsysteme im gesamten Entscheidensgefüge sozial wirkmächtig; wie die Akzeptanz sowohl des Antrags einerseits und dessen Ablehnung andererseits belegen.

Da nun insbesondere seitens des Aktienvereins sicherlich andere Erwartungen hinsichtlich des Ausgangs des Genehmigungsverfahren als dem tatsächlichen, negativen Bescheid gehegt wurden, lohnt es sich, auch das Verhältnis der Normsysteme untereinander, insbesondere auch im Hinblick auf die Prozesshaftigkeit von Politikgestaltung zu betrachteten. Aus dieser Perspektive fällt auf, dass die rechtlichen Verordnungen zu Anfang des Prozesses von zentraler Bedeutung waren – nicht nur hinsichtlich der Gründung des Aktienvereins, sondern auch mit Blick auf die zentralstaatliche Auseinandersetzung mit dem Antrag –, während bei der konkreten Entscheidungsfindung die strukturellen und politischen Normsysteme an Bedeutung gewannen.

Chausseepolitische Entwicklungen um 1824

Obgleich das Chausseewesen der Anfangsjahre hinsichtlich der spannungsfreien Produktion chausseespezifischer Entscheidungen – und auch mit Blick auf den Ausbau des Hauptstraßennetzes – durchaus funktional und erfolgreich war, so erwies sich das politische Instrumentarium als äußerst beschränkt. Im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise um 1820 fiel die Fundamentalopposition gegen die Integration privater Investoren und damit einhergehend auch die hermetische Beschränkung auf einen Staatsstraßenbau,

Zur krisenhaften Zuspitzung der Staatsfinanzen ab 1818: vgl. Hanna Schissler: Einleitung. Preußische Finanzpolitik 1806–1820, in: Eckart Kehr / Hanna Schissler (Hg.): Preußische Finanzpolitik 1806–1810. Quellen zur Verwaltung der Ministerien Stein und Altenstein, Göttingen 1984, S. 13–64; Dies.: Preußische Finanzpolitik nach 1807. Die Bedeutung der Staatsverschuldung als Faktor der Modernisierung des preußischen Finanzsystems, in: Geschichte und Gesellschaft 8 (1982), S. 367–385; Ernst Klein: Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500–1870), Wiesbaden 1974, S. 103–125.

bei dem sämtliche finanziellen, administrativen und operativen Aufgaben allein beim Staat als formellem Träger lagen. So erhielten in der Folge des drohenden Staatsbankrotts unterschiedliche Finanzierungs- und Trägerschaftsmodelle auf Entreprise Einzug in die politische Praxis. Der Bau und oftmals auch der Unterhalt der Staatschausseen wurde hierbei – ähnlich heutiger public private partnership-Modelle – privaten Investoren auf Kredit, gegen Zahlung von Prämien oder gegen Überlassung der Chausseegelder übertragen. Sie lösten mit der Zeit den ›klassischen‹ Staatsstraßenbau auf Rechnung (durch den Staat) weitestgehend ab.

Vgl. Felix Gräfenberg: Privatwirtschaftliche Partizipation im Preußischen Chausseewesen, 1816 bis späte 1830er Jahre. Überlegungen zum politischen Wandel aus prozess- und praxisorientierter Perspektive, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte [im Erscheinen]; Ders.: Chausseebau und frühindustrielles Gewerbe in Preußen, in: Michael Schäfer (Swen Steinberg / Veronique Töpel (Hg.): Sachsen und das Rheinland. Zwei Industrieregionen im Vergleich, Leipzig 2021 [im Erscheinen].

Das heißt: Staatlicher Chausseebau erfolgte zwar noch im Auftrag und Namen des Staates, die finanziellen, administrativen und/oder operativen Aufgaben oblagen aber privatwirtschaftlich agierenden Entrepreneurs.

Entrepreneur ist der übliche Quellenbegriff und ist hier und im Folgenden nicht im Schumpeter’schen Sinne zu verstehen.

In diesem Zuge gewannen im preußischen Chausseewesen en passant auch Modelle des nichtstaatlichen Chausseebaus an Bedeutung.

Zur Übertragung von Staatsfunktionen an Aktienvereine siehe auch: Bernhard Sicken: Privates Kapital für öffentliche Aufgaben. Aktiengesellschaften in Preußen zum Ausbau der militärischen Infrastruktur zwischen Vormärz und Reichsgründung, in: Historische Zeitschrift 302 (2016), S. 644–676. Zum Verhältnis von privaten Investitionen und staatlicher Regulierung bei der Infrastrukturpolitik in Preußen und Europa im 18. Jahrhundert siehe auch: Klaus Bracht: Der Bau der ersten Eisenbahnen in Preußen. Eine Untersuchung der rechtlichen Grundlagen und der bei der Gründung und dem Grunderwerb aufgetretenen Rechtsprobleme, Berlin 1998; Helmut Großkreutz: Privatkapital und Kanalbau in Frankreich 1814–1848. Eine Fallstudie zur Rolle der Banken in der französischen Industrialisierung, Berlin 1977; Albert William: The Turnpike Road System in England, 1663–1840, Cambridge 1972.

Die zentralstaatlichen Entscheidungsträger erkannten zusehends einen übergeordneten Nutzen darin, den Straßenbau den regionalen Nutznießern zu überlassen, da so das Chausseenetz auch ohne größere Belastung für die Staatskasse zuverlässig wuchs. Tatsächlich wurden ab 1822 Anreizstrukturen geschaffen, entsprechende Projekte bottom up zu initiieren. So wurden den prospektiven Trägern Prämien für den Bau entsprechender Chausseen in Aussicht gestellt. Besonders eifrige Offizianten vor Ort, die den Bau entsprechender Bauten erfolgreich vorantrieben, erhielten königliche Auszeichnungen und wurden so als role models stilisiert.

Vgl. Gräfenberg: Politikgestaltung, Kap. 6.4.2.

Der jährliche Antragsmodus unterstützte nicht mehr nur die selbstreferentielle Reproduktion des policy regimes, sondern auch dessen reflexive Weiterentwicklung. Nach wiederholt positiver Evaluation entsprechender ›Testballons‹, bei denen der Staatsstraßenbau auf Entreprise erprobt wurde, etablierte sich das Instrument als Mittel der Wahl. So wurden schließlich 1824 sämtliche noch ausstehenden Chausseen des prospektiven Hauptstraßennetzes gemeinsam in Entreprise gegeben. Als Entreprisenehmer trat hierbei Christian Rother und die von ihm geführte Preußische Seehandlung in Erscheinung. Diese war – im Gegensatz zu den bisherigen Vertragspartnern – kein privates Unternehmen, sondern ein Staatsunternehmen sui generis, das unter anderem auch staatsbankähnliche Aufgaben übernahm.

Zur Seehandlung grundsätzlich: Wolfgang Radtke: Die Preußische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung, Berlin 1981.

Gerade Rother kam im politischadministrativen Gefüge durch diese Sonderrolle der Seehandlung eine exponierte Stellung zu. Als Oberfinanzrath und Mitglied des Staatsrats war er zum einen in den ordentlichen Verwaltungsgängen bei der königlichen Entscheidungsfindung involviert; zum anderen oblag ihm als Vorsitzendem des im Rahmen des Vertrags von 1824 gegründeten Chaussee-Bau-Komtoirs der Seehandlungs-Societät die finanzielle wie operative Verantwortung für umfangreiche Chausseebauten.

Vgl. Gräfenberg: Politikgestaltung, Kap. 6.4.5.

In dieser Doppelfunktion machte sich Rother auch dahingehend einen Namen, zuverlässig Geld für den Staatsstraßenbau akquirieren zu können, das er in unterschiedliche Chausseebauprojekten einbrachte. So auch bei der projektierten Volmethalstraße.

Vgl. Reininghaus: Vincke, S. 355.

Wiederaufnahme des Volmethalstraßenprojekts, 1824–1830er-Jahre

Durch den jüngst unterzeichneten Vertrag der Seehandlung zum Ausbau des Hauptstraßennetzes wurden die regionalen Akteure um Vincke auf Rother und die Seehandlung aufmerksam. In den veränderten politischen und strukturellen Umweltbedingungen sahen die regionalen Akteure eine reelle Chance, das Projekt der Volmethalstraße (erfolgreich) wiederzubeleben. So taten sich die Anrainergemeinden des Volmetals, regionale Gewerbetreibende und Oberpräsident Vincke erneut zusammen, um das Volmetal an das Hauptstraßennetz, mithin an überregionale Märkte anzuschließen, insbesondere die Stadt Lüdenscheid infrastrukturell zu erschließen und gleichzeitig den dortigen »großen Bedarf an Steinkohlen und Brodfrüchten[,][…] Bauholz [sowie für den Bedarf der örtlichen] Eisen- und Stahlhämmer« durch erleichterten Import aus der Grafschaft Mark und dem Kreis Siegen zu befriedigen.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, fol. 9–13, hier: fol. 9f., Landrath Gerstein an das Chaussee-Bau-Comtoir der Seehandlungs Societät 3. 8. 1825

Ermutigt von den Entwicklungen der frühen 1820er-Jahre im Allgemeinen und der neuen Rolle der Seehandlung im preußischen Chausseewesen im Besonderen erschien nun nicht nur eine grundsätzliche Umsetzung des Projektes realistisch, sondern man erhoffte sich vielmehr auch konkrete Unterstützung durch Rother und die Seehandlung. So wandte man sich seitens der prospektiven Betreibergesellschaft – der entsprechende Aktienverein wurde erst 1827 wiedergegründet – mit einer entsprechenden Bitte an das Chaussee-Bau-Comtoir der Seehandlungs Societät, also an die Organisationseinheit, die in der Hauptsache mit der Umsetzung des Vertrags von 1824 befasst war.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, fol. 9–13, hier: fol. 9f., Landrath Gerstein an das Chaussee-Bau-Comtoir der Seehandlungs Societät, 3. 8. 1825.

Rother machte die »Beihülfe der Seehandlung[,] eine Actien-Gesellschaft zur Ausführung des in Rede stehenden Straßenbaues zu bilden[,]« vorrangig von der »Frequenz der Straße und […][den] danach zu erwartende[n] Einnahmen des Chaussée-Geldes« abhängig.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, fol. 25f., hier: fol. 25, Rother an Schuckmann, 6. 4. 1826.

Er perspektivierte das Projekt also zusätzlich zu den bisherigen Erwartungen entlang Rentabilitätskriterien, die eine Beteiligung an Gewinnerwartungen koppelte; während infrastruktur- und gewerbepolitische Fragen seitens der Seehandlung nicht in den Blick genommen wurden. Das Projekt wurde mithin bereits im (prospektiven) Chausseeverein aus (mindestens) drei Richtungen perspektiviert, nämlich hinsichtlich seiner i) ökonomischen, ii) politischen sowie iii) finanziellen Bedeutung. Trotz der divergierenden Interessenlage innerhalb des prospektiven Vereins, einte die beteiligten Akteure das grundsätzliche Interesse an einer raschen Umsetzung des Projekts.

I

Während alle im Verein involvierten Akteure auf raschen Fortschritt aus waren – sei es aus politischem, wirtschaftlichem oder finanziellem Kalkül –, besaß das Projekt auf zentralstaatlicher Ebene allenfalls eine nachrangige Priorität. Dies betraf in diesem Zusammenhang nicht nur die begrenzten finanziellen Mittel, sondern vor allem auch den Mangel an Personal, das für Anfertigung und Kontrolle von Kostenvoranschlägen – oder quellensprachlich einfach: Anschlägen – und Plänen zuständig war. Dies waren im preußischen Verwaltungsapparat konkret die Bauinspektoren, die den Regierungen der Bezirke unterstanden und denen die entsprechenden baupraktischen Aufgaben oblagen. So legte das verantwortlich zeichnende Innenministerium bei der Allokation der Personalressourcen, hier also der Bereitstellung von besagten Bauinspektoren keine Eile an den Tag, die Volmethalstraße voranzubringen. Dies sorgte schließlich 1826 zu deutlichen Verstimmungen innerhalb des prospektiven Vereins, denen Rother als exekutive Spitze gegenüber dem zuständigen Innenminister Ausdruck verlieh. Konkret beschwerte er sich,

daß wenn auf den Bau der Kunststraße […] ernstlich und bald eingegangen werden soll, nichts übrig zu bleiben scheint, als sämtliche […] schon seit langer Zeit aufgetragenen Vorarbeiten [der Regierung zu Arnsberg][…] wieder abzunehmen, demnächst die umsichtigen und möglichst sparsame Veranschlagung einem von der königlichen Seehandlung zu wählenden Baubeamten aufzutragen[;]

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, fol. 25f., hier: fol. 25, Rother an Schuckmann, 6. 4. 1826.

und auch der Landrath Gerstein gab zu bedenken, dass »eine zu lange Verzögerung in mehr als einer Hinsicht die Ausführung nur erschweren würde.«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Landrath Gerstein an Rother, 26. 4. 1826.

1827 stand dann allerdings nicht mehr fehlende technisch-baupraktische Unterstützung seitens des technischen Corps der Bezirksregierung einer Umsetzung des Projekts im Wege, sondern die Qualität der vorgebrachten Anträge selbst. So verwehrte der zuständige Baurat, als prüfende und kontrollierende Instanz im Planungsverfahren auf Ebene der Bezirksregierung, seine Empfehlung für die zentralstaatliche Genehmigung, da die Bauzeichnungen und Pläne den technischen Standards nicht genügten. Tatsächlich bestritt auch die Betreibergesellschaft nicht, dass der eigene Antrag die technischen Normen des Staatsstraßenbaus nicht erfüllte. Stattdessen wurden die formalrechtlich kodifizierten technischen Normen selbst hinterfragt. Von dem grundsätzlichen Wandel im Politikregime (policy change) bestärkt, wurde auf eine grundsätzliche Neuausrichtung der normativen Ordnung des Chausseewesens auch in formalrechtlicher Hinsicht spekuliert. So stellte sich die Frage, »ob für eine bloß fahrbar gemachte, jedoch zum Gebrauch jeder Gattung Fuhrwerk geeignete Straße /: ohne kunstmäßigen Ausbau :/ auch die Concession zu Wegegeld-Erhebung ertheilt werden kann[.]«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Regierung zu Arnsberg an das Ministerium des Inneren, 10. 7. 1827.

Tatsächlich zeigten sich die regionalen Verantwortlichen andernfalls äußerst pessimistisch, dass die »Straße, welche für die Industrie des Volmethals und den unverkennbaren […] seit einem Viertel Jahrhundert anerkannten Nutzen« auch bei der Bildung einer »Actien-Gesellschaft […], welcher dann die Seehandlung mit einer nahmhaften Zahl Actien beitreten will[,]« voranschreiten werde; und äußerten grundsätzliche Bedenken, »daß Unternehmungen der fraglichen Art nicht gedeihen können und auch der beharrlichste Beförderer entmuthigt werden muß,« wenn hierbei zu große Hürden in den Weg gestellt würden.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Landrath Gerstein an die Regierung zu Arnsberg, 4. 7. 1827.

Weder ein mögliches Scheitern noch die Adressierung gewerbepolitischer, im neuen Politikregime verankerte Semantiken erwirkten allerdings eine außerordentliche Genehmigung der Forderungen;

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 30. 7. 1827.

obgleich dies durchaus möglich gewesen wäre.

Entsprechend frustriert zeigte sich Vincke dann auch 1829, als infolge der nun endlich vollzogenen Gründung der Aktiengesellschaft, »eine Menge formalle[r] Nacharbeiten, deren Erledigung sehr viel Zeit und Geld kosten,« seitens der prüfenden Behörden gefordert wurden.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Vincke an das Ministerium des Innern, 8. 1. 1829.

Tatsächlich schienen ihm wie seinen Mitstreitern die Forderungen fehl am Platz. Sie pochten vielmehr auf eine Anpassung des formalrechtlichen Rahmens, insbesondere in technischer und chausseegeldpolitischer Hinsicht. Konkret verstanden sie den nun in der Praxis angekommenen nichtstaatlichen Chausseebau als einen Straßentyp sui generis, der einer eigenen formalrechtlichen Regelung bedurfte. Die Reform der rechtlichen Dimension des Chausseewesens erschien (mindestens) Oberpräsident Vincke und Landrath Gerstein als folgerichtige Maßnahme in Konsequenz des vorangegangenen policy changes und der strukturellen Erweiterung des chausseepolitischen Akteurskreises.

Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte Vincke gar an, »die von mir erfolgte Zeichnung von 50 Akzien (sic!) zurück zunehmen[,]«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Vincke an das Minsiterium des Innern, 8. 1. 1829.

sollten seine Bedingungen für eine zeitnahe Ausführung nicht erfüllt, respektive die Ansprüche der Staatsregierung aufrecht erhalten bleiben. Inwiefern dies ein Druckmittel gegenüber dem Staat, der sich vom möglichen Scheitern des Projektes bislang unbeeindruckt zeigte, sein sollte, erschloss sich wohl nur Vincke selbst. Tatsächlich schien Vincke hier – wie des Öfteren – seine chausseepolitische Bedeutung zu überschätzen.

Umso überraschender erscheint der Bericht der Regierung zu Arnsberg an das zuständige Ministerium des Innern vom 21. Februar 1829, der die Spannung zwischen den Beteiligten explizit und so sozial sichtbar gemacht hat. Dort heißt es, dass

ein völliger Ausbau der Volmethalstraße [durch den Actien-Verein] nicht beabsichtigt wird, und auch wohl nicht gleich zur Ausführung gebracht werden kann, weil das dazu erforderliche Anlage-Kapital nicht zu beschaffen ist. […] Sollte der in […][der] Verfügung [vom 30ten Juli 1827] aufgestellte Grundsatz[, dass für eine blos fahrbar gemachte nicht kunstmäßig ausgebaute Straße die Konzession zur Erhebung eines Wegegeldes nicht ertheilt werden kann,] aufrecht erhalten werden, dann würde höchst wahrscheinlich das ganze Projekt scheitern[.][…] Wir können uns […] nur für den Bau einer Straße im Volmethal […] als nützlich und nothwendig erklären und stellen Euer Excellenz höheren Beurtheilung und Entscheidung aller gehorsamst anheim, ob und unter welchen näheren Bedingungen solches geschehen soll.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag.

Obgleich die Regierungen der Bezirke nämlich als ›Agent des Staates‹ vor Ort verstanden wurde, der gleichermaßen zentralstaatliche Interessen wahrte und rechtliche Vorgaben umsetzte,

Vgl. Constanze Sieger / Felix Gräfenberg: Information als Ressource des Entscheidens in der Moderne (1780–1930). Entwicklungen und Konstellationen in preußischen Zentralbehörden und westfälischer Lokalverwaltung, in: Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 333–355, hier S. 340–344.

machte sich hier die Regierung zu Arnsberg die Argumentation Vinckes und seiner Mitstreiter zu eigen. Im Gegensatz zum Aktienverein betonte die Regierung allerdings weniger die Diskrepanz zwischen der normativen Ausstrahlung des (neuen) Politikregimes und den (veralteten) Rechtsnormen – obgleich es diese auch explizit adressierte. Vielmehr verwies die Regierung auch auf die dahinterliegenden politischen Spannungen. Tatsächlich wurden wohl die seitens des Zentralstaats aufgestellten Grundsätze von 1827 als genuin politische Entscheidung verstanden, die de facto eine Implementierung des neuen Regimes im Volmetal vereitelte. Die Bedingungen stellten vor diesem Hintergrund, mindestens aus regionaler Perspektive, eine Manifestation des alten, ›unternehmerfeindlichen‹ Regimes dar. Der Bericht der Regierung kann entsprechend als Hinweis an die zentralstaatlichen Entscheidungsträger verstanden werden, dass hier unterschiedliche, nicht vereinbare Politikregimes als normative Ordnung adressiert wurden; mithin multinormative Spannungen erkannt wurden.

II

In der Folge kam das Innenministerium dem Gesuch der Bezirksregierung dahingehend entgegen, dass es konkrete Bedingungen für die Genehmigung der projektierten Volmethalstraße formulierte und kommunizierte.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 29. 3. 1829.

Da diese allerdings nicht den Wünschen der Aktiengesellschaft entsprachen – sie waren semantisch aus dem ›alten‹ Recht hervorgegangen –, erhöhte sich in der Folge auch der Druck seitens der Anrainergemeinden auf die Entscheidungsträger in Berlin in Form von Anträgen und Gesuchen.

So geschehen beispielsweise durch die Eingesessenen der Kirchspiele bei Hagen durch direktes Ersuchen bei Friedrich Wilhelm III. am 2. 9 1829. Siehe hierzu: GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag.

Darauf erwidernd, erkannten die politisch Verantwortlichen in Berlin zwar die Eile an und bemühten sich nach eigenem Dafürhalten, »[die] nach den Umständen zulässigen Einleitungen zur Ausführung nicht zu verzögern[.]«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Eingesessenen der fraglichen Gemeinden, 4. 10. 1829.

Sie machten aber auch klar, dass die Bedingungen für sie nicht verhandelbar waren; sollten die Bedingungen nicht erfüllt werden (können),

so [sei] es vorzuziehen noch einige Jahre, bis der Staat mit eigenen Mitteln die Ausführung übernehmen kann, die Vorzüge einer guten Straße zu entbehren, als die Nachtheile einer schlechten und hochbesteuerten durch die Abtretung an Private zu verewigen[.]

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 29. 3. 1829.

Das Innenministerium stellte somit in Aussicht, der Spannung die Grundlage zu entziehen, indem sie die Situation selbst dem Zugriff durch diejenigen Normen entzog, die sich um den nicht-staatlichen Chausseebau herum aufspannten. Konkret würde – so die dahinter liegende Überlegung – durch die Übernahme der Volmethalstraße in das Staatsstraßennetz einer Perspektivierung des Projekts entlang der Verordnungen von 1809/16 zum einen sowie entlang des im 1820/24 einsetzenden Politikregimes zum andern entgegengewirkt werden, mithin das Projekt in die spannungsfreie normative Ordnung des ›alten‹ Staatstraßenbaus mit seinen aufeinander abgestimmten politischen und rechtlichen Normen überführt werden.

Im ebenfalls mitverhandelten Konflikt über den erhöhten Chausseegeldtarif zeigt sich, dass die Verantwortlichen in Berlin sich ihrer politischen Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsmacht innerhalb der verfahrenen Situation durchaus bewusst waren. Sie reflektierten zwar eine Anpassung des Chausseetarifs, wiesen allerdings die von Aktienverein und Bezirksregierung aufgestellte »Behauptung, daß mit […][dem üblichen Chausseetarif] die Actien-Unternehmung unausführbar sey, […][als] unerwiesen [zurück], denn sie beruht […] auf einer irrigen Voraussetzung[.]«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Eingesessenen von Hagen, 5. 11. 1829.

Die politischen Entscheidungsträger unterwarfen den Prozess der Politikgestaltung somit – zumindest vordergründig wie semantisch – Rationalitäts- und Überprüfbarkeitskriterien, die hier allem Anschein nach nicht erfüllt waren. Herrschaft, respektive Herrschaftshandeln wurde mithin nicht (mehr) als (reine) akteurszentrierte Machtakkumulation verstanden, sondern war auch für die Herrschaftsträger inhaltlich rechtfertigungsbedürftig, wobei sie sich einer Sprache des Rationalismus bedienten. Der Staat handelte eben nicht nach dem Credo Rothers, der während seiner kurzen Zuständigkeit zwischen 1834 und 1836 postulierte, dass es dem »Staate gesetzlich freisteht, die Straßen zu verlegen und zu verändern, wie es derselbe zum allgemeinen Besten für dienlich findet.«

GStA PK, IA Rep. 93 B, Nr. 3728, unpag., Seehandlungsverwaltung an den ansässigen Gastwirt H. Blume, 9. 4. 1836.

Im Verfahren der Volmethalstraße wurde staatlicherseits – um zu den normativ wirkenden Entscheidungsprämissen zurückzukommen – einer Sondergenehmigung eben keine prinzipielle Absage erteilt. Tatsächlich waren diese fallabhängig durchaus möglich;

Vgl. Reininghaus: Vincke, S. 354; Gräfenberg: Experten, S. 88f.

was mindestens Vincke und Rother bekannt gewesen sein dürfte.

Die Begründung der Ablehnung, die auf ziemlich fundamentale Entscheidungsprämissen des politischen Entscheidens verweist, ist umso bemerkenswerter, weil der Antrag konträr zu den ideellen Grundlagen des Chausseewesens stand. Konkret akzeptierte die Berliner Behörde das von der Regierung in Arnsberg vorgebrachte Argument für die Bewilligung des Tarifs nicht, wonach

die Actionäirs [selbst], welche größtentheils die Fabrikbesitzer an der Volme sind, die höhern Wegegelder-Sätze vorzüglich bezahlen müssen und andere Passanten, die an der Volme keinen Verkehr haben, die vorhandene [benachbarte Staats-]Straße […] benutzen können[,]

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Regierung zu Arnsberg an das Ministerium des Innern, 16. 8 1829, zitiert nach: Ministeriums des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 29. 3. 1829.

da – so das Argument des Ministeriums – die »Straße durch das Volmehtal nicht als bloße Fabriken-Straße betrachte[t]« werden könne.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 5. 11 1829, zitiert nach: Ministerium des Innern an die Regierung zu Arnsberg, 29. 3. 1829.

Hierdurch spielten die Zentralbehörden darauf an, dass Chausseen der für das Chausseewesen konstitutiven Auffassung einem allgemeinen Interesse nutzen mussten; anderenfalls grundsätzlich keine Erhebung von Chausseegeldern zu rechtfertigen war. Der Gestaltungsspielraum beschränkte sich somit in der Selbstbeschreibung der Staatsregierung, respektive des Innenministeriums auf die Genehmigung zwingender Sondergenehmigungen in Einzelfallentscheidungen. Solange die Staatsregierung folglich keinen übergeordneten Nutzen erkennen konnte, sondern nur Partikularinteressen befriedigt sah, sah diese sich nicht befähigt und/oder gewillt, den Konflikt produktiv aufzulösen. Hierbei spielte es schließlich auch keine Rolle, dass a) neben den Profiteuren und politischen Advocaten sich auch die Bezirksregierung und ihre Beamten,

Vgl. Paul A. Sabatier: Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen. Eine Alternative zur Phasenheuristik, in: Adrienne Héretier (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, Opladen 1993, S. 116–148.

die üblicherweise als Interessenwahrer des Staates vor Ort verstanden wurden, sich für das Vorhaben einsetzten und b) der Staat selbst Struktur- und Gewerbeförderung als Ziel der Chausseepolitik formulierte.

Das politische Ziel eines von unten organisierten nicht-staatlichen Chausseebaus, das letztendlich wohl alle Verfahrensbeteiligten infolge des policy changes internalisiert hatten, erzeugte somit im preußischen Mehrebenengefüge divergierende Erwartungen, die schließlich zu diversen Spannungen bei der Vorbereitung der Volmethalstraße führten. Während die regionalen Akteure, die neben den Anrainern und Vincke als prospektiven Betreibern auch die Beamten der Bezirksregierung umfassten, das regionale Interesse als leitend verstanden, dominierte auf zentralstaatlicher Eben nach wie vor eine gemeinwohlorientierte Lesart des Chausseewesens. Auffallend ist hier, dass Rother als am Aktienverein involvierter Akteur nicht in Erscheinung trat. Gerade für die regionalen Akteure, deren wirtschaftliche Existenzgrundlage zum einen an der Straße hing, deren Handlungsmacht im Politikprozess zum andern auf ein Antragsrecht beschränkt war, stellte das Fehlen verbindlicher Rechtsgrundlagen für den Bau nichtstaatlicher Chausseen allerdings ein maßgebliches Problem dar; gerade auch vor dem Hintergrund, dass fallspezifische Bedingungen seitens des Zentralstaats allenfalls ex post formuliert wurden und (Sonder-) Genehmigungen nicht (rechtssicher) antizipierbar waren. Nicht zuletzt deshalb scheiterte das Vorhaben, die Volmethalstraße durch den Aktienverein zu bauen und zu unterhalten.

III

Das Projekt versandete aber nicht vollends, sondern wurde prospektiv in das Staatsstraßennetz aufgenommen. Bereits 1830 trieb das Ministerium des Innern mit Hilfe der Beamten der Regierung zu Arnsberg die Planung der Bauarbeiten unter neuen Vorzeichen weiter voran. Hierfür wurde die Expertise des aus Koblenz angereisten Oberbauraths Elsner herangezogen,

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Bericht, 15. 9. 1830.

aber auch »die Benutzung der bereits vorhandenen […] Zeichnungen und sonstigen Vorarbeiten« wurde als »sehr wünschenswert und zweckfördernd« erachtet.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Regierung zu Arnsberg an das Ministerium des Innern, 29. 4. 1831.

Letzteres veranlasste die Seehandlung sich wieder in den Prozess ›einzubringen‹ und finanzielle Ansprüche zu stellen. Konkret forderte das zuständige Chaussee-Bau-Komtoir der Seehandlungs-Societät am 21. September 1831 vom Innenminister »die Erstattung des von uns hierzu vorgeschossenen [Betrags von über 1.966 Reichsthalern] […] mit 5% Zinsen vom 30ten November 1828 ab[,]« da

es [auch seitens Vincke] keinem Zweifel unterliege, daß die Erstattung […] bei Ewr. Excellenz zu liquidiren sein werde, weil Vorarbeiten der Sache wesentlich zu gute kommen und durch solche der Ausführung des Baues wesentlich vorgearbeitet wurde.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag.

Rother – und wohl auch Vincke – versuchten somit die bereits getätigten Vorarbeiten als genuinen Bestandteil des Politikprozesses, der auf den Staatsstraßenbau abzielte, ex post umzudeuten; wonach ihnen das Recht zugekommen wäre, geleistete Vorarbeiten dem Staat in Rechnung zu stellen. Gerade im Hauptentreprisecontract von 1824 gab es hierfür ja auch ein allseits bekanntes Beispiel.

In der Antwort wurde dann aber explizit darauf verwiesen, dass

[d]ie Vorarbeiten […] nicht im Auftrag des Ministerium des Innern übernommen, sondern […] in der Absicht, den Bau nach der Bekanntmachung vom 3ten Mai 1816 auszuführen. In welcher bedingt ist, daß sämtliche Pläne p.p. von den Unternehmern gefertigt werden.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Inneren an die Seehandlung, 28. 9. 1831.

Das Ministerium lehnte somit die Anerkennung einer Verpflichtung kategorisch ab und wies explizit auf den rechtlichen Entstehungskontext der Vorarbeiten hin. Daneben verbat sich das Ministerium, die aktuelle Situation gemeinsam mit der Abwicklung des Vertrags zur Fertigstellung des Hauptstraßennetzes zu betrachten, »da jener Straßenbau mit dem Kontrakt vom 17ten Januar 1824 in keiner Verbindung steht, […] mithin [die] Zahlungen [nicht] vermischt werden dürften.«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Inneren an die Seehandlung, 13. 11. 1831.

Allerdings stellte es die Bereitschaft in Aussicht, den tatsächlichen Nutzwert, respektive die durch die Vorarbeiten dem Staat zugutekommenden Einsparungen der Seehandlung nach entsprechender Prüfung der Regierung zu Arnsberg zu erstatten.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Inneren an die Seehandlung, 28. 9. 1831.

Die Prüfung der Beamten der Regierung bezifferte schließlich den Nutzen der geleisteten Vorarbeiten auf 100 Thaler, woraufhin das Ministerium der Seehandlung 300 Thaler bei Überlassung sämtlicher Karten, Unterlagen und sonstigen Arbeitsmaterialien anbot, womit sich die Seehandlung schließlich zufrieden gab und abfinden ließ.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3727, unpag., Ministerium des Inneren an die Seehandlung, 21. 11. 1831.

Dass das Ministerium das Dreifache des Nominalwerts anbot – somit von einem rein rationalistischen Kalkül abwich – und dass die Seehandlung von ihrer (Maximal-) Forderung abließ, zeugt von einer grundsätzlichen Unsicherheit im Sozialgefüge hinsichtlich der normativen Bestimmtheit der Situation. Zwar scheint das Prinzip, dass bestimmte Handlungen jeweils in ihrem (zeitlichen wie rechtlichen) Entstehungskontext Betrachtung finden sollten, allgemeine Anerkennung gefunden zu haben; auf seine radikale Durchsetzung wurde allerdings verzichtet. Gerade vor dem Hintergrund, dass es zu diesem Zeitpunkt in Preußen keine Verwaltungsgerichtbarkeit gab,

Vgl. zur Geschichte der Verwaltungsgerichtbarkeit in Preußen: Ulrich Stump: Preußische Verwaltungsgerichtbarkeit 1875–1914, Frankfurt 1980.

erschien der Kompromiss wohl als probates Mittel den Konflikt aufzulösen.

Entwicklungen nach 1834

1834 bedeutete eine weitere Zäsur für das preußische Chausseewesen. Mit dem Voranschreiten des nichtstaatlichen Chausseebaus in der Fläche und dem Rückzug des Staates aus dem operativen Geschäft gewann die Regulierung des Chausseebaus und -unterhalts auf politischer Ebene massiv an Bedeutung, während operative Aufgaben weitestgehend externalisiert wurden.

Zur Bedeutung von Regulierung bei der Liberalisierung von Wirtschaftsund Infrastrukturpolitik aus rechts- und wirtschaftshistorischer Perspektive vgl.: Günther Schulz / Mathias Schmoeckel / William J. Hausmann (Hg.): Regulation between Legal Norms and Economic Reality. Intentions, Effects, and Adaption: The German and American Experiences, Tübingen 2014; am Fall der Eisenbahn: Frank Miram / Mathias Schmoeckel (Hg.): Eisenbahn zwischen Markt und Staat in Vergangenheit und Gegenwart, Tübingen 2015; Roman Michalczyk: Europäische Ursprünge der Regulierung von Wettbewerb. Eine rechtshistorische interdisziplinäre Suche nach einer europäischen Regulierungstradition am Beispiel der Entwicklung der Eisenbahn in England, Preußen und den USA, Tübingen 2010.

Kurzfristig waren, von 1834 bis 1836, tatsächlich alle Zuständigkeiten hinsichtlich des Chausseewesens aus der preußischen Ministerialverwaltung ausgegliedert und wiederum der Seehandlung unter Leitung Rothers aufgetragen. Bedeutendste Entwicklung dieser Jahre war die Setzung der sogenannten Rother’schen Bedingungen, die festlegten, unter welchen Voraussetzungen nichtstaatlicher Chausseebau konkret möglich sein sollte und inwiefern prospektive Betreiber staatliche Prämien als Unterstützung ihrer Projekte erwarten konnten. Sie betonten gleichermaßen regionales Interesse wie Verantwortung. Sie anerkannten, dass Anrainer die hauptsächlichen Nutznießer von Neben- und Verbindungsstraßen waren – während Transitverkehr andere Straßen passierte –, und forderten darauf aufbauend ein, dass Anrainer sich auch durch unentgeltliche Arbeits-, Hand- und Spanndienste wie die entschädigungsfreie Überlassung von Grundeigentum in das Projekt einbringen sollten.

Siehe zu den Rother’schen Bedingungen: Müller: Kreischausseebau, S. 12.

Dies stellte de facto eine Abkehr von dem Prinzip dar, wonach Chausseen eben keine übermäßige Belastung für Dritte, insbesondere auch nicht für die Anrainer, darstellen durften; ohne dass dies groß problematisiert geworden wäre.

Die neue Einbindung der lokalen Akteure im Allgemeinen schlug sich auch auf der projektierten Volmethalstraße nieder. Obwohl das Projekt bis 1838 unter staatlicher Trägerschaft vorangetrieben wurde, begannen noch 1834 die verantwortlichen Behörden, die Bereitschaft der Anrainer und sonstigen Nutznießer der Chaussee auszuloten, sich durch unentgeltliche Leistungen am Straßenbauprojekt zu beteiligen. Die neuen Rechtsnormen wirkten sozial somit dezidiert über ihren genuinen Gegenstand hinaus. Die – als überfällig wahrgenommene – Reaktion auf Ebene des Rechts auf den längst vollzogenen politischen Wandel schuf somit nicht nur Rechtssicherheit im Zusammenhang für die Initiatoren nicht-staatlicher Chausseebauprojekte, sondern beeinflusste darüber hinaus qualitativ auch die verbleibenden Aktivitäten des Staatschausseebaus.

I

Im Falle der Volmethalstraße wurden die zugesagten Unterstützungsleitungen nicht sofort abgerufen; die Vorbereitungen zogen sich noch weitere fünf Jahre hin, bis überhaupt mit den ersten wirklichen Baumaßnahmen begonnen wurde. Seit 1842 machten dann die lokalen Hochöfenbesitzer mit Verweis auf die englische Konkurrenz Druck auf die zuständigen politischen Entscheider. Zunächst als Eröffnungsstraße, wohl wieder in staatlichem Betrieb, gingen ab 1843 dann die Arbeiten auch nur schleppend voran: Der Staat, der für die Finanzierung als maßgeblich verantwortlich angesehen wurde, stellte selbst aber nur sehr begrenzte Fonds zur Verfügung. Er richtete seine Ressourcenallokation nicht an den lokalen Bedürfnissen, sondern – nach wie vor – an etatistischen Kriterien aus. Dies führte schnell zu Problemen:

In Folge einer erneuten Ortsbegehung durch den Oberbaurath Elsner 1846 fielen gewisse Unstimmigkeiten bei den bisher aufgebrachten Kosten auf; insbesondere überschritten diese die bisher bewilligten Etats.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Oberbaurath Elsner an Finanzminister Duesberg, 8. 11. 1846.

(Das Ministerium zögerte daraufhin nicht, festzustellen, dass »[e]in Mehreres […] unter keinen Umständen erstattet werden« könne.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Finanzministerium an die Regierung zu Arnsberg, 23. 11. 1846.

) Infolgedessen wurden die provinzialen Behörden, respektive der Oberpräsident Flottwell, durch das Finanzministerium beauftragt, die bisherigen Implementationsarbeiten auf Ebene des Bezirkes zu überprüfen.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Finanzministerium an Oberpräsidenten Flottwell, 5. 10. 1847.

Tatsächlich stellte Flottwell in seinem Bericht fest, dass bei der Implementation durch die Beamten der Regierung die Verbreiterung der Straße auf einem Abschnitt eigenständig vorgenommen wurde und dass das technische Corps vor Ort 1) »ohne die höhere Autorisation abzuwarten« handelte, 2) der »Verpflichtung zu einer genaueren Controle (sic!)« nicht nachkam sowie 3) »im Allgemeinen [entgegen] den Vorschriften […] [des] Amtes […] und auch gegen die […] speziellen Anweisungen […] gehandelt« hat.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Flottwell an Duesberg, 30. 10. 1848.

Schließlich kam Flottwell zum Schluss, dass einerseits »[i]n formeller Hinsicht […] keine Gründe aufzufinden [seien], welche eine Abweichung von dem […] vorgeschriebenen Verfahren gegen die Regierung und die Bau-Beamten motiviren könnten[;]« dass allerdings andererseits »die materiellen Gründe, welche die Regierung […] für die Abweichungen […] und für die Bewilligung der dadurch entstehenden Mehr-Ausgaben gelten gemacht hat, ebenfalls anzuerkennen« wären.

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Flottwell an Duesberg, 30. 10. 1848.

Flottwell, dem als Oberpräsidenten plötzlich auch eine formelle Rolle im Politikprozess zukam, stellte die administrative Praxis vor Ort in den Kontext zweier unabhängiger Normsysteme; konkret stellte er die formellen Verfahrensordnungen und die baupraktischen wie inhaltlich-politischen Leitlinien der exekutiven Tätigkeiten einander gegenüber. Flottwell vermittelte hierdurch nicht nur zwischen den unterschiedlichen Ebenen im Verwaltungsgefüge, sondern auch entlang ihrer unterschiedlichen Funktionen innerhalb des Politikprozesses und den damit einhergehenden Normsystemen, die die jeweiligen Akteure als handlungsleitend verstanden. Hierbei spielte mit Sicherheit auch herein – auch wenn es nicht explizit gemacht wurde –, dass zentralstaatliche Politik und die Bautätigkeit in den Bezirken unterschiedlichen Zeitregimes folgten. Während sich die Bereitstellung von Etats an Haushaltsjahren orientierte, vollzog sich Straßenbau saisonabhängig. Die Baubeamten sahen sich in ihrer Problemwahrnehmung einer gänzlich andern Entscheidenserwartung, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Dringlichkeit, ausgesetzt als die Verantwortlichen in Berlin. Konkret erzwangen gerade ausbleibende Sachentscheidungen aus Berlin unautorisierte Entscheidungen vor Ort.

Obwohl sowohl seitens der Provinz als auch des Staates die missliche Situation der Baubeamten auf Bezirksebene erkannt wurde, forcierte das Finanzministerium auf ausdrückliche Empfehlung Flottwells entsprechende Verfahren gegen die Baubeamten. Dies zielte wohl maßgeblich darauf ab, i) die Handlungsmacht der implementierenden Behörden klar zu begrenzen, ii) eine allzu freie Auslegung und Interpretation von formalen Normen seitens der Verwaltung vor Ort einzudämmen und iii) die Deutungshoheit der politischen Entscheidungsträger über das Projekt auch noch nach Abschluss der Politikformulierung über den gesamten Politikprozess, mithin überzeitlich, zu sichern. Während Multinormativität entlang der Mehrebenenstruktur und Prozessstufen nicht ›mal eben‹ zum Verschwinden gebracht werden konnte, erwies sich dieses Vorgehen des Staates als effektives Mittel überzeitliche Multinormativitäten bereits ›im Keim zu ersticken‹.

II

Unabhängig von dieser Misslichkeit schritt das Projekt auch in den folgenden Jahren langsam, aber stetig voran (Ab 1848 stand sogar die Verbreiterung der Straße ganz offiziell auf der Agenda.

Die entsprechende Korrespondenz zur Verbreiterung der Straße nach 1848 findet sich wieder in: GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag.

) Obwohl bereits 1848 Verzögerungen bei den zugesagten Zahlungen der ansässigen Unternehmer, Gemeinden und sonstigen Anrainern festgestellt wurden, begann der preußische Staat erst 1851, die offenen Beträge und sonstigen Leistungen zu konsolidieren und konsequent Maßnahmen zur Eintreibung zu bewirken. Als problematisch erwies sich insbesondere die wirtschaftlich oftmals prekäre Situation der privaten Finanziers, die zynischer Weise nicht zuletzt auf das Fehlen der Straße zurückging: So stand etwa die »gänzlichen Zahlungsunfähigkeit […][eines Bruderpaars aus Heide bei Lüdenscheid] nach ausgebrochenem Concurs außer Zweifel«, wobei selbst seitens der prüfenden Regierungsbeamten hervorgehoben wurde, dass »ihnen der Volmestraßenbau unter veränderten Verhältnissen den vorausgesetzten Vortheil, überhaupt einen Nutzen, nicht mehr gewähren können[.]«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Regierung zu Arnsberg an das Ministerium des Handels, Gewerbe und öffentlichen Arbeiten, 28. 2 1850.

Es wurde somit vorgeschlagen, vor dem Hintergrund veränderter Umweltbedingungen den Vertrag und seine normative Bedeutung neu zu bewerten. Hinzu kam hier noch, dass »keine Aussicht dazu vorhanden ist[, dass sich die Vermögensverhältnisse wieder bessern,] so daß […] der bezeichnete Betrag der fortwährend noch als Rückstand in den Rechnungen geführt wird, niederzuschlagen sein dürfte.«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Regierung zu Arnsberg an das Ministerium des Handels, Gewerbe und öffentlichen Arbeiten, 17. 11. 1853.

(Obwohl in ähnlichen Fällen die Adressierung existenzieller Krisen oftmals als legitimationsstiftendes Argument herangezogen wurde, spielte dies in den konkreten Fällen keine Rolle.)

Zu Beginn des Projekts erfolgte der Vertragsabschluss vor der Prämisse des Politikregimes, dass Straßen zwar durch Anrainer (mit)finanziert werden, diese aber auch davon profitieren sollten. Gleichzeitig wurde aus einer administrativ-buchhalterischen Perspektive auf den Bau und Unterhalt eine reibungslose Finanzierung eingeforderte, was sich im Laufe der Zeit nicht mehr vereinbaren ließ. Der formal wohl weiterhin bindende, mit den Entscheidungsprämissen in Widerspruch stehende Vertrag konstituierte entsprechend in diesem Normengefüge zwar zunächst eine multinormative Spannung, die es sozial zu beseitigen galt. Wohl nicht zuletzt aufgrund fehlender Erfolgsaussichten, das Geld fristgerecht einzutreiben, zeigte sich der Staat in diesen Fällen weitestgehend kulant. Vor dem Hintergrund der impliziten Entscheidungsprämissen wurde von einem Rekurs auf die explizite, formalrechtliche Norm (in Form des Vertrags) Abstand genommen und die multinormative Spannung gleichermaßen politisch wie pragmatisch aufgelöst.

Gänzlich anders verhielt es sich im ähnlich gelagerten Fall mit der Stadt Lüdenscheid, die nach Ansicht der Preußischen Behörde der größte Schuldner bei dem Bauvorhaben war. Diese konnte sich schlecht hinter einer vollständigen Zahlungsunfähigkeit (oder einer Veränderung des eigenen Nutzenkalküls) ›verstecken‹. Stattdessen begründete diese ihre Weigerung zu zahlen damit, dass ihre Zusage 1841 »unter der Voraussetzung [gemacht wurde], daß der Bau so bald beginnen, daß sie nicht mehr nöthig habe, Kosten auf die Unterhaltung des bisherigen Volmeweges zu verwenden.«

GStA PK, I. HA Rep. 93 B, Nr. 3729, unpag., Rechtsgutachten, 12. 12. 1851.

Bemerkenswert, aber hier nur angerissen, ist, dass Zeitlichkeit hier selbst als wesentlicher Bestandteil der Gültigkeit von Normen – zumindest seitens Lüdenscheids – angenommen und als Argument für die beschränkte Normativität von zugesagten Verpflichtungen angeführt wurde. Der Staat anerkannte diese zeitliche Bedingtheit allerdings nicht an und prozessierte schließlich, trotz geringer Erfolgsaussichten – staatlicherseits in Auftrag gegebenen Gutachten prognostizierten bereits ein Scheitern und rieten wegen der Prozesskosten von dem weiteren Vorgehen gegen Lüdenscheid auf dem Rechtsweg ab –, mehrfach gegen die Stadt Lüdenscheid; schließlich erfolglos.

Umgang mit multiplen Multinormativitäten im Politikfeld. Zusammenfassende Ergebnisse

Auf Grundlage der vorangegangenen Analyse der politisch-administrativen Prozesse, die sich um die Volmethalstraße aufspannten, lassen sich einige grundsätzliche Beobachtungen hinsichtlich der Funktionsweise von Politikfeldern und der Politikgestaltung im Hinblick auf Multinormativität festhalten, die die Ausgangsthese der multiplen Multinormativitäten im Politikfeld unterstützen. Hierbei ist auffällig, dass das Politikfeld als Sozialsystem über ein breites Repertoire an Handlungsweisen im Umgang mit Multinormativität und etwaigen multinormativen Spannungen verfügt und dass es tendenziell stärker darauf ausgerichtet ist, soziale Spannungen zu vermeiden als formale Prinzipien durchzusetzen. Darüber hinaus lassen sich, mehr en detail, fünf Beobachtungen festhalten:

Politikfelder als multinormative Ordnungen

Konkret legen die Beobachtung aus dem preußischen Chausseewesen nahe, dass in einer von funktionaler Differenzierung, Formalisierung wie Verrechtlichung geprägten Moderne Politikfelder als Nominalkategorie von Politik grundsätzlich multinormative Ordnungen für Politikprozesse bereitstellen: Sicherlich gilt, dass die Verwaltungsstrukturen als konstitutives Element des Politikfeld bereits durch die grundsätzliche Bereitstellung von Akteurskonstellationen und Interaktionsformen politische Entscheidensprozesse präjudizieren. Auch wenn bereits das Wer und das Wie des Entscheidens maßgeblichen Einfluss auf Verlauf und Ausgang des Prozesses ausüben – zu nennen sind hier insbesondere Verfahrensordnungen und Veto-Spieler –, so wirken sie doch nicht im eigentlichen Sinne normativ auf die Inhalte von Politik, sprich: auf policy ein. Die beteiligten Akteure nehmen sie, zumindest in der Regel, als quasi ›natürlich‹ hin und sozial nicht als handlungsleitend wahr. Gerade diese selbstverständliche Anerkennung der strukturellen Rahmenbedingungen wirkt grundsätzlich sozial stabilisierend.

Politikgestaltung, oder eben policy making, findet – der Analyse des preußischen Chausseewesens nach zu schließen – darüber hinaus allerdings vor dem Hintergrund mindestens zweier distinkter wie sozial klar adressierbarer Normsysteme statt, die gemeinsam den politikfeldimmanenten Deutungshorizont und Möglichkeitsraum aufspannen: erstens, ein formalrechtliches Normsystem, das Ausdruck in expliziten, formalisierten Verordnungen, (Spezial-) Reglements, Gesetzen und dergleichen mehr findet; zweitens erweisen sich Politikregimes oder policy regimes als normativ handlungsleitend im Politikprozess, indem sie kausale Narrative und Zweck-Mittel-Relationen bereitstellen, mithin sinnstiftend bei der Erzeugung und Auswahl von Alternativen wirken. Mit Blick auf (Multi-) Normativität war und ist somit die zentrale kulturelle Leistung des Politikfeldes, dass es formelles Recht und informelle Politikregimes derart verbindet, dass es eine stabile Rahmung für politisches Entscheiden bereitstellt. Im vermeintlichen ›Normalfall‹ ermöglicht dieses Ineinandergreifen von Strukturen, rechtlichen Institutionen und politischen Deutungsrahmen politische Entscheidensprozesse krisenfrei zu initiieren, voranzutreiben und Entscheidungen zu fällen.

Zeitlichkeit als Faktor von multinormativer Spannung im Politikprozess

In der politisch-administrativen Praxis lassen sich nichtsdestotrotz soziale Spannungen innerhalb dieser multinormativen Ordnung des Politikfeldes beobachten. Gerade der hier gewählte Blick über eine längere Dauer erlaubt es, die Ermöglichungsbedingungen dieser multinormativen Spannungen zu verstehen – die ja eben der stabilen wie spannungsfreien Rahmung des Politikfeldes als Rahmen politischen Entscheidens entgegenstehen. So fällt gerade bei der Betrachtung des Chausseewesens auf, dass das Politikfeld nicht nur grundsätzlichen Wandlungsprozessen unterliegt, sondern dass sich politischer und rechtlicher Wandel zwar in wechselseitiger Abhängigkeit, aber eben nicht simultan vollzogen hat. Während sich das (jeweilige) Politikregime, nicht zuletzt durch die Reflexivität moderner Politikgestaltung begünstigt, über die einzelnen Antragszyklen hinweg selbstreferentiell reproduziert und/oder den veränderten rechtlichen wie strukturellen Umweltbedingungen anpasst, vollzieht sich Wandel auf Ebene des Rechts in diskreten Zäsuren. Im Falle der Volmethalstraße begünstigte diese Diskrepanz in den jeweiligen Entwicklungsgeschwindigkeiten die Entstehung von Spannung zwischen dem, was politisch gewollt und opportun erschien, und dem, was als rechtlich möglich und vertretbar erachtet wurde. Vor diesem Hintergrund scheint innerhalb des Politikfelds als Rahmen politischer Sachentscheidungen das Recht der Praxis zu folgen. Die formelle Anpassung des Rechts an das politische, hochgradig informelle Normsystem, respektive die Reaktion der Gesetzgebung auf regulativer Ebene auf grundsätzliche politische Entwicklungen stellt darüber hinaus einen effektiven Modus dar, die multinormativen Spannungen in eine wohlgeordnete Konfiguration der Normsysteme zu überführen. Die Setzung der Rother’schen Bedingungen ist hierfür ein prägnantes Beispiel.

Multinormativität durch Multiperspektivität in Mehrebenensystemen

Darüber hinaus begünstigte das äußerst komplexe Sozialgefüge, das sich mit der Volmethalstraße befasste und das maßgeblich von der Mehrebenstruktur des preußischen Regierungs- und Verwaltungsapparats geprägt war, Situationen ›multinormativer Unklarheiten‹, deren soziale Handhabung sicherlich aufwendig und für die beteiligten Akteure äußerst unbefriedigend war, aber wohl nicht genügte, eine soziale Krise zu konstituieren. Entsprechende Situationen zeichneten sich dadurch aus, dass unterschiedliche Akteure aufgrund ihrer spezifischen Perspektive und dem hochgradig informellen Charakter von Politikregimes mit massiv divergierenden Erwartungen in den jeweiligen Politikprozess eintraten. Tatsächlich lassen sich in der Fallstudie unterschiedliche Konstellationen von derartiger Multinormativität beobachten.

Hierbei zeigt sich, dass allein die kommunikative Adressierung bestimmter Rechtsnormen selbst noch nicht gereicht, ein Politikregime zu konstituieren – gerade die Multiperspektivität von mehrebrigen politischen Systemen erfordert vielmehr eine konkrete Aushandlung, wie Rechtsnormen zu verstehen sind und/oder, ob sie tatsächlich Anwendung finden sollen. Demgegenüber stehen Situationen, in denen durch den informellen Charakter von Politikregimes, durch die spezifischen Perspektiven der Akteure über die Ebenen hinweg und schließlich durch die inhaltliche Bandbreite und Komplexität der Problem- und Aufgabenbereiche im Politikfeld in demselben Entscheidensprozess unterschiedliche Politikregimes adressiert werden, respektive sehr unterschiedliche ›Lesarten‹ eines Politikregimes aufeinandertreffen können. Schließlich gilt es sowohl bei Politikgestaltung als auch bei ihrer Implementierung, das Verhältnis von formalrechtlichen Handlungsrundlagen, politisch Opportunitäten und fachlichen Sachzwängen auszuloten. Gerade die Diversität der Perspektiven unterschiedlicher Akteure, die nicht zuletzt wieder in der Eigenzeit unterschiedlicher Verfahrensschritte begründet liegen kann (etwa die Saisonalität von Bauverfahren gegenüber Haushaltsjahren/Etatentscheidungen), forcieren Situationen, in denen die sozial wirksamen Normen auf den unterschiedlichen Ebenen jeweils unterschiedlich abgewogen werden, folglich die politikfeldimmanente Multinormativität unterschiedliche Handlungsschritte vorgibt.

Zentrales Spannungsfeld ist in allen Fällen mithin (auch) die Frage nach der Deutungshoheit. Auffällig ist hier, dass entsprechende Konstellationen nicht (nur) entlang der Machtverteilung aufgelöst werden – was gerade im strikt hierarchischen System Preußens nominell einfach gewesen wäre. Bezeichnend ist, dass im beobachteten Zeitraum vielmehr situationsbedingt auf grundsätzliche Verfahrensordnungen rekurriert wurde und/oder (vermeintliche) Rationalitätskriterien zur Auflösung der Situation bemüht wurden; dass mithin eine Entscheidung qua Autorität im funktional differenzierten Politikfeld wohl (bereits in der historischen Frühphase von Politikfeldern) als unzureichend legitimitätsstiftend wahrgenommen wird.

Rekurs auf Recht als Ausweg

Obwohl für strukturell verschiedene Situationen multinormativer Spannungen unterschiedliche Umgangsformen konstatiert werden konnten, gewann mit voranschreitender Dauer der Rekurs auf das Recht an Bedeutung. Nachdem anfangs noch die politische Deutungshoheit der zentralstaatlichen Akteure entscheidend für den Ausgang von Politikprozessen war, wurden mit der Zeit zusehends Rechtszwänge durch die Entscheidungsträger konstruiert und semantisch aktiviert – ungeachtet der Frage, inwiefern diese vermeintlich allgemeingültigen Zwänge und Beschränkungen über den konkreten Fall hinaus Bestand hatten. Nichtsdestotrotz wirkte der Verweis auf entsprechende ›rechtliche Unmöglichkeiten‹ legitimitätsstiftend und sozial stabilisierend. Die Deutungshoheit über Rechtsfragen als finale Ressource des Entscheidens trat also mit der Zeit zunehmend an die Stelle des politischen Arguments (oder den plumpen Verweis auf Machtstrukturen); unabhängig davon, dass im Untersuchungszeitraum die Handlungsmacht in beiden Wertsphären den gleichen Akteuren oblag. Rechtliche Semantiken gewannen mithin in multinormativ aufgeladenen Situationen im Politischen, sprich: als dezidiert politisches Argument, gegenüber genuin politischen und/oder implementationspraktischen Legitimationsversuchen massiv an Bedeutung – wenn auch oftmals nur vordergründig; während der Rekurs auf das Recht in der Regel de facto die strukturelle Machtverteilung nur reproduzierte. Die Adressierung von Rechtsnormen hat in dieser politischen Verwendung weniger einen normativ-handlungsleitenden als einen politischlegitimierenden Charakter. Die Produktivität, die Recht auch im Politischen entfaltete, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass im hochgradig top down organisierten Chausseewesen Preußens um 1816 mit Verweis auf entsprechendes Recht Politikprozesse bottom up initiiert werden konnten.

Die zunehmende Autorität des Rechts als sozial schlichtendem Bezugssystem im Politischen erreichte schließlich mit der Externalisierung entsprechender Situationen aus dem politischen Entscheidensgefüge an die ordentliche Gerichtsbarkeit seinen Höhepunkt. Insbesondere gaben hierdurch die politischen Letztentscheider dezidiert ihre Deutungshoheit und Handlungsmacht ab. Diese legitimitätsstiftende und sozial beschwichtigende Kraft des Rechts bei Konflikten in der politisch-administrativen Praxis ist gerade vor dem Hintergrund, dass Preußen keine genuine Verwaltungsgerichtbarkeit kannte, umso bemerkenswerter.

Kompromiss statt Prinzipienreiterei in komplexen Situationen multinormativer Spannung

Nichtsdestotrotz blieben in einer Phase zunehmender Verrechtlichung der Konfliktlösung weniger konfrontative Strategien bestehen: Gerade dadurch, dass das Projekt der Volmethalstraße mannigfaltige Politikprozesse durchlief – was sicherlich in dieser Form nicht die Regel ist –, fand Politikgestaltung nicht nur vor dem Hintergrund diffuser politischer, sondern auch veränderlicher rechtlicher Normen und/oder sonstiger Umweltbedingungen statt. Dies allein stellte bereits eine komplexe Angelegenheit für das Entscheidensgefüge dar; verschärft wurde dies mitunter zusätzlich dadurch, dass die beteiligten Akteure auch jenseits des konkreten Projekts in unterschiedlichen Beziehungen zueinander standen. Obgleich das Sozialgefüge eigentlich klare Prinzipien semantisch aktivieren konnte, die klärten, unter welchem Recht Zusagen und Aktivitäten zu bewerten sein, zeigten sich die Beteiligten bemüht, entsprechende Situationen möglichst konfliktfrei durch Kompromiss aufzulösen statt das vermeintliche Prinzip durchzusetzen. Bespielhaft seien die Übernahme der Vorarbeiten der Seehandlung wie der Verzicht auf zugesagte Zahlung seitens der verarmten Anrainer genannt. Auch die Überführung des Projekts in das Staatsstraßennetz kann als entsprechender, nicht notwendiger Schlichtungsversuch verstanden werden.

eISSN:
2519-1187
Language:
English