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The meaning of interprofessional education and collaborative practice for the academisation of health professions / Die Relevanz Interprofessioneller Lern- und Arbeitsprozesse im Kontext der Akademisierung der Gesundheitsberufe


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Einleitung

Die Diskussion um die Notwendigkeit interprofessioneller Lern- und Arbeitsprozesse für eine verbesserte Versorgungsqualität im Gesundheitswesen ist zwischen den Gesundheitsberufen (u.a. Medizin, Pflege, Therapie, Diagnostik, Hebammenwesen) in den letzten Jahren erkennbar gestiegen und trägt zur Entwicklung vielfältiger Projekte in Theorie und Praxis bei. Dabei wird die Thematik zumeist aus einer Bildungs- oder Versorgungsperspektive diskutiert. Erst jüngere Publikationen machen die Verzahnung und Kooperationsnotwendigkeit zwischen den beiden Bereichen deutlich (u.a. BAG, 2013, Sottas et al., 2013). Interprofessionalität bzw. Interdisziplinarität

In diesem Beitrag ist mit dem Begriff der Interprofessionalität die Zusammenarbeit verschiedener Berufe (respektive Professionen) gemeint, während der Begriff der Interdisziplinarität das Zusammenwirken verschiedener Fachwissenschaften / Disziplinen meint. Der Begriff der Multiprofessionalität / -disziplinarität ist die schwächste inhaltliche Verknüpfung, da hier lediglich verschiedene Akteure / Disziplinen gemeinsam in der Praxis agieren, sich gegenseitig informieren, aber weitestgehend separat voneinander arbeiten. Die Transdisziplinarität (Mittelstraß, 1987) stellt ein wissenschaftliches Arbeits- und Organisationsprinzip dar, das problemorientiert über Fächer und Disziplinen hinausgreift und diese selbst verändert.

stellt aber nicht nur eine zentrale Voraussetzung für Lern- und Arbeitsprozesse im Gesundheitswesen dar, sondern bildet – diese These wird im folgenden Beitrag vertreten und begründet - auch eine relevante Grundlage für den Prozess der Akademisierung der Gesundheitsberufe (vgl. Walkenhorst, 2015a). Zur Begründung ist es erforderlich, Interprofessionalität im Weiteren als eigenständigen Forschungsgegenstand zu betrachten und die Chancen interprofessioneller Prozesse für die impliziten Entwicklungsaufgaben im Kontext der Akademisierung zu diskutieren. Während die expliziten Entwicklungsaufgaben im Rahmen der Konstruktion der Studiengänge offensichtlich sind (u.a. Curriculumentwicklung, Gestaltung der theoretischen und praktischen Lehre, Umgang mit den Vorgaben der Berufsgesetze), setzen die eher impliziten Anforderungen, die u.a. den Aufbau der wissenschaftlichen Disziplinen, die Definition des eigenen Forschungsverständnisses sowie die Entwicklung didaktischer Konzepte für eine akademische Lehre in den Gesundheitsberufen umfassen, eine erweiterte wissenschaftstheoretische Perspektive voraus. Hierfür ist die Hinzuziehung von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus anderen - insbesondere geistes- und sozialwissenschaftlichen - Disziplinen von Bedeutung.

Für die Bewältigung all dieser Aufgaben und Prozesse ist die Anforderung an interprofessionelles Lernen und Arbeiten im Praxisfeld, aber auch im wissenschaftlichen Lehrbetrieb eine notwendige Voraussetzung und Chance. Um sich dieser These zu nähern, bedarf es einer eigenständigen Betrachtung des Phänomens Interprofessionalität als sozialem Konstrukt. Hierzu sollen die folgenden Ausführungen beitragen und damit wiederum einen Beitrag zur Akademisierung und Professionalisierung der Gesundheitsberufe leisten.

Interprofessionalität Zwischen Einer Versorgungs- und Bildungsperspektive

Die Themen Kooperation und Interprofessionalität im Gesundheitswesen stellen auch in Deutschland ein seit mehreren Jahren beforschtes Feld mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten und Ergebnissen dar (Walkenhorst, 2015b). Eine Analyse vorhandener Studien macht deutlich, dass über eine zunächst ausschließlich arbeitsfeldbezogene Betrachtung der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Berufsgruppen (insbesondere Medizin und Pflege) das Interesse sich zunehmend den der Berufstätigkeit vorausgehenden Bildungsprozessen zugewendet hat. So wurden immer stärker Bildungsgänge und Studienangebote hinsichtlich interprofessioneller Elemente und Konzepte betrachtet und erste Erkenntnisse gewonnen

u.a. MESOP - Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Gesundheitswesen (Medizin, Soziale Arbeit, Pflege) / InterKIK - Interprofessionelle Kooperation im Krankenhaus / IPM - Interaktion von Pflege und Medizin im Krankenhaus: Konstruktionsprozesse von Hierarchie und Geschlecht und berufliche Sozialisation / Interprofessionelle Qualitätszirkel in der Pränataldiagnostik / interproQ - Initiative für interprofessionelle Qualität im Gesundheits- und Krankenwesen / AQiG - Ausbildungsqualität in Gesundheitsberufen

. Heute stellen Forschungsund Entwicklungsfragen aus der Bildungsperspektive ein ähnlich gewichtiges Feld dar wie Projekte aus einer Versorgungsperspektive (Bals et al., 2009; Walkenhorst & Schäfer, 2012). Neben dieser Forschungsgrundlage haben in den vergangenen Jahren insbesondere gesundheitsund wissenschaftspolitische Gutachten und Berichte den größeren Bedarf an interprofessionellen Lern- und Arbeitsprozessen bestätigt. Experten/-innen fordern dabei neben einer Überwindung der Hindernisse in der Praxis insbesondere eine stärkere Verankerung dieses Ansatzes in den Ausbildungsstrukturen der verschiedenen Berufe im Gesundheitswesen (u.a. WR, 2012; Robert-Bosch-Stiftung, 2010; Ewers et al., 2012). Dabei wird ausdrücklich die gemeinsame Ausbildung zwischen dem Bereich der Medizin und den übrigen Gesundheitsberufen in Pflege, Therapie und Hebammenwesen hervorgehoben und empfohlen. International lassen sich bereits eine Reihe von Studien und Konzepten identifizieren, die sich mit Konzepten zu Interprofessional Education bzw. Interprofessional Collaboration auseinandersetzen und wichtige Hinweise zur Effektivität dieser Strukturen für die Patienten- und Berufsangehörigenzufriedenheit generieren (Barr et al. 2010; Curley et al., 1998; Freeth et al., 2005; Thistlethwait et al., 2010; Reeves et al., 2013). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl national als auch international wenig Zweifel an der Notwendigkeit für und dem Bedarf nach interprofessionellem Lernen und Arbeiten bestehen, aber die konkrete Umsetzung in Bildungs- und Arbeitsprozessen weiterhin eine Herausforderung darstellt. Dabei sind aus einer Bildungsperspektive zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: zum einen, dass die Anforderung an interprofessionelles Lernen die Gesundheitsberufe in einer Phase der Akademisierung trifft, in der die ersten Hochschulen in Deutschland Erfahrungen mit grundständigen (fachspezifischen) Studiengängen machen und zum anderen, dass es eine wenig differenzierte wissenschaftstheoretische Diskussion innerhalb der Gesundheitsberufe zu dem Konstrukt der Interprofessionalität gibt. Die Anforderung an die Gestaltung interprofessioneller Lernprozesse stellt vor diesem Hintergrund einen Anachronismus dar, für den es jedoch hilfreich sein kann, ein Verständnis für das Phänomen Interprofessionalität zu entwickeln und die Chancen darin zu erkennen. Dieses Verständnis setzt eine Betrachtung des Phänomens Interprofessionalität als sozialem Konstrukt voraus.

Interprofessionalität Als Soziales Konstrukt

In der Annäherung an den Begriff der Interprofessionalität lassen sich aus verschiedenen bezugswissenschaftlichen Disziplinen relevante Fragestellungen formulieren, die deutlich machen, dass das Phänomen Interprofessionalität wiederum interdisziplinär betrachtet werden muss. Fragestellungen, die sich hier ergeben sind u.a.

Wie entwickelt sich professionelle und interprofessionelle berufliche Identität (berufssoziologische Perspektive)?

Wodurch ist professionelles und interprofessionelles Handeln gekennzeichnet (professionssoziologische Perspektive)?

Wie lässt sich interprofessionelle Lehre gestalten? Wie kann interprofessionelle Kompetenz gemessen werden (bildungswissenschaftliche Perspektive)?

Wie sind interprofessionelle Prozesse kognitiv beeinflusst und steuerbar (kognitionspsychologische Perspektive)?

Wie kann der Aufbau fachwissenschaftlicher Disziplinen mit interprofessionellen und fachkulturellen Prozessen kooperieren (wissenschaftstheoretische Perspektive)?

Vor dem Hintergrund der dargestellten Fragestellungen, die die Vielfalt und Mehrperspektivität verdeutlichen, soll das Phänomen Interprofessionalität in diesem Beitrag als soziales Konstrukt begriffen werden (Berger & Luckmann, 1980). Damit ist aus einer soziologischen Perspektive gemeint, dass zur Beschreibung eines sozialen Prozesses, einer sozialen Wirklichkeit – hier des interprofessionellen Handelns – ein Begriff konstruiert wird, mit dem versucht wird,, das von Menschen gesellschaftlich erzeugte Phänomen zu beschreiben. Ein soziales Konstrukt kann sich wiederum durch das Handeln und die Interpretation der damit agierenden Personen verändern und ist somit prozesshaft. Konstruktion und Re-Konstruktion des Phänomens gehen kontinuierlich damit einher und ermöglichen eine beschreibbare Dynamik. Diese Merkmale lassen sich auch auf den Gegenstand der Interprofessionalität anwenden und werden im Folgenden anhand der Themen der beruflichen Identitätsentwicklung, der wissenschaftlichen Disziplinbildung und der didaktischen Konzepte dargelegt.

Berufliche Identitätsentwicklung durch interprofessionelle Lernprozesse

Zentrales Ziel eines Bildungsprozess stellt in dem Feld der Gesundheitsberufe u.a. die Entwicklung einer beruflichen Identität der Lernenden in dem angestrebten Beruf dar (Gerlach, 2013; Beck et al., 1980). Mit wissenschaftlichen Fragestellungen zu den Grundlagen der beruflichen Identität beschäftigt sich zentral die Berufssoziologie (u.a. Hutter, 1992; Fischer, 2013). Im Rahmen des Akademisierungsprozesses der Gesundheitsberufe ist die Frage nach dem Ergebnis des Bildungsprozesses zumeist an das ‚Mehr‘ oder ‚Weniger‘ oder ‚Anders‘ des Kompetenzprofils im Vergleich mit den bisherigen fachschulisch Ausgebildeten gebunden (Borgetto, 2015; Walkenhorst, 2013). Der Blick richtet sich damit auf die Verwertbarkeit und das Outcome der neuen Studiengänge und wird aus einer Versorgungsperspektive formuliert. Aus der Perspektive der Studierenden stellt sich die Frage nach der Verwertbarkeit ihrer Leistungen erst in einem zweiten Schritt, während sie primär die hochschulische Sozialisation und damit verbunden die berufliche Identitätsentwicklung in einen akademischen Beruf anstreben. Aus einer berufssoziologischen Perspektive besteht daher die Fragestellung, wie sich eine neue akademische berufliche Identität in den Gesundheitsberufen entwickeln kann und wie in diesem Kontext eine interprofessionelle berufliche Identität entstehen kann. Dabei stellen sich grundlegende Fragen nach dem ‚richtigen‘ Zeitpunkt und Verlauf einer professionellen und interprofessionellen Identitätsentwicklung sowie zu den Merkmalen an denen diese überprüft werden kann. Zum jetzigen Zeitpunkt, in dem die ersten Absolvierenden in den Arbeitsmarkt eintreten, können die Fragen noch nicht umfassend in ihrem Outcome ausgewertet werden und bilden damit wichtige Themen für zukünftige Forschungsarbeiten bzw. Absolventenstudien.

Die Merkmale einer beruflichen Identität sind vielfältig und sollen im Folgenden in einigen zentralen Aspekten kurz skizziert werden (vgl. Gerlach, 2013; Hutter, 1992; Fischer, 2013). Zu einer beruflichen Identität gehören zunächst eine klare Aufgabendefinition, eine konkrete Gegenstandsbenennung sowie eine möglichst eindeutige Rollenklarheit im Tätigkeitsfeld. Je fassbarer eine Tätigkeit beschrieben ist und je eindeutiger sie zuordnungsbar ist in Gegenstand und Rolle, desto klarer ist das dafür zuständige Berufsbild erkennbar und ermöglicht es den Angehörigen der Berufsgruppen ihre Identität zu bilden bzw. zu zeigen. Diese Merkmale sind insbesondere für Berufsanfänger/-innen von Bedeutung, da sie ihnen verdeutlichen, wofür sie verantwortlich sind und wofür nicht.

Im Rahmen professionssoziologischer Diskussionen wird auf die Gefahr einer ‚Deprofessionalisierung‘ hingewiesen, wenn ein neues akademisches Profil nicht in seinen Potenzialen abgerufen wird und dadurch nicht zur gewünschten Effektivität im vorgesehenen Handlungsfeld beitragen kann (vgl. Kälble, 2005; Weidner, 1995; Bollinger & Gerlach, 2015; Unschuld, 2015). Weiterhin ist für eine berufliche Identität die Überzeugung bedeutsam, eine relevante Tätigkeitim jeweiligen System (hier dem Gesundheitssystem) auszuüben. Neben der eigentlichen Leistung sind dabei auch entsprechende Repräsentationsmöglichkeitendes Berufsbildes nach innen und außen (z.B. Sprache, äußere Merkmale) wesentlich, die einem Beruf aus einer gesellschaftlichen Perspektive Symbolik und Status vermitteln. Dies setzt für die Berufsgruppenangehörigen in der Regel die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufsgeschichte voraus.

Zentral für eine fundierte berufliche Identität ist zudem eine materiell und immateriell angemessene Würdigung und Wertschätzung der eigenen Leistungen. Hierfür verfügen beruflich qualifizierte Personen über genügend Wissen bzw. ausreichende Kompetenzen und Qualifikationen für die Ausübung des Berufes. Das Kompetenzprofil, das eine Bewertung des Berufes ermöglicht, setzt einen entsprechenden Sozialisationsprozess innerhalb der Ausbildung voraus, der sich dann in dem jeweiligen Berufsfeld weiterentwickelt. Die materielle und immaterielle Bewertung einer beruflichen Tätigkeit ist insbesondere in den Gesundheitsberufen von Bedeutung, da in der bisherigen Entwicklung häufig eine fehlende adäquate Wertschätzung in der Vergütung etc. vorlag (Sewtz, 2008).

Alle genannten Merkmale beruflicher Identität werden sukzessive durch spezifische Lernprozesse, die in der Regel fachspezifisch ausgerichtet sind, entwickelt. Hierfür bedarf es grundsätzlich geeigneter Modelle und Lehrender, um berufsinhärente Konzepte etc. kennenzulernen. Diese reichen jedoch im hochschulischen Bereich, im dem die Entwicklung einer kritisch-reflektierenden Kompetenz im Umgang mit bestehenden Ansätzen und Methoden zentral ist, nicht aus (vgl. Schaper, 2012). In Abgrenzung zur beruflichen Ausbildung steht hier insbesondere die konstruktive Auseinandersetzung mit angrenzenden beruflichen Konzepten und Gegenständen im Mittelpunkt. Die Tatsache, dass Menschen als soziale Wesen ein Gegenüber für die Definition der eigenen Identität benötigen (vgl. Buber, 2006), kann ergänzend hinzugezogen werden und lässt sich gleichermaßen auf den beruflichen Bereich übertragen. Hier können gemeinsame Lernprozesse eine fachspezifische Identitätsbildung durch die Reflexion eigenen und fremden Handelns verstärken.

Im Rahmen der Diskussion von interprofessionellen Bildungsprozessen in den Gesundheitsberufen werden immer wieder Bedenken formuliert, die eigene berufliche Identität nicht oder nicht umfassend genug ausbilden zu können, wenn interprofessionelle Angebote früh und umfassend platziert werden. Vor dem Hintergrund berufssoziologischer Erkenntnisse und den Zielen hochschulischer Kompetenzentwicklung lässt sich diese Befürchtung aus einer theoretischen Perspektive nicht bestätigen. Kontinuierliche kognitive, emotionale und handlungsorientierte Auseinandersetzungen mit eigenen und berufsfremden Aufgaben, Gegenständen und Rollenverständnissen können in interprofessionellen Bildungsprozessen zu einer Schärfung und Konturierung des berufsspezifischen Profils beitragen. Voraussetzung hierfür ist die systematische und kontinuierliche Reflexion der Thematik der beruflichen Identität durch dafür qualifizierte Personen aus Theorie und Praxis.

Aufbau wissenschaftlicher Disziplinen durch interdisziplinäre Diskurse

Der Prozess der Akademisierung der Gesundheitsberufe geht mit dem Aufbau der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einher. Sie bilden das konsequente Ziel und Ergebnis der hochschulischen Verortung und dokumentieren die Verwissenschaftlichung der Berufe. Wissenschaftliche Disziplinen entwickeln sich erfahrungsgemäß über viele Jahrzehnte. In den Gesundheitsberufen sieht die Medizin auf die längste Tradition in der wissenschaftlichen Entwicklung zurück. Die Pflegewissenschaft, die Berufe, die sich in einer ersten Definition als ‚Therapiewissenschaft(en)‘ verstehen sowie die Hebammenwissenschaft stehen noch am Beginn ihrer Entwicklungen (Behrens et al., 2013). Der Aufbau wissenschaftlicher Disziplinen ist wiederum ein interdisziplinärer Prozess, da die Entwicklung einer Disziplin nicht von der Entwicklung anderer Disziplinen zu trennen ist. Wissenschaftliche Disziplinen stehen in Wechselwirkung zueinander und beziehen sich aufeinander. Sie lassen sich aus sich alleine heraus nicht begreifen (Ortland & Fehr, 2008)

„Ob eine Disziplin entsteht oder wie sie sich entwickelt, ist … nicht von dem zu trennen, was sich in anderen Disziplinen abspielt. Oder anders: Was sich in einer Disziplin tut oder nicht tut, lässt sich nicht allein aus dieser heraus begreifen….Disziplinen stehen – ob sie es wollen oder nicht, ob es im disziplinären Selbstbild wahrgenommen wird oder nicht – in Wechselwirkung mit anderen Disziplinen.“ (Ortland / Fehr, 2008)

. Interdisziplinäre wissenschaftliche Diskurse sind Teil hochschulischer Kultur, seit langem etabliert und bieten die Option zu neuen transdisziplinären Ergebnissen (vgl. Joas & Kippenberg, 2005; DFG, 2008).

Im Kontext der Akademisierung der Gesundheitsberufe besteht die Besonderheit, dass sich zum gleichen Zeitpunkt und vielfach am gleichen Ort mehrere Berufe verwissenschaftlichen wollen und sich mit dem Aufbau von Forschung, Forschungsgegenständen, Forschungsmethodiken und Theorieentwicklungen auseinandersetzen. Hinzu kommt, dass der Aufbau eines grundständigen Wissenskorpus voraussetzt, sich in den Wettbewerb der Forschung zu begeben, um Projekte erfolgreich zu beantragen. Die Parallelität der Wissenschaftsentwicklungen führt deshalb aktuell häufig zu einem ‚Silodenken‘ (Sottas et al., 2013a), das fachkulturell geprägt ist und Erkenntnisse und Ergebnisse anderer Disziplinen ausblendet. Dennoch soll auch hier anhand der Merkmale wissenschaftlicher Disziplinen deutlich gemacht werden, dass - analog zu den Merkmalen beruflicher Identität - der interdisziplinäre Diskurs eine Voraussetzung für den Aufbau wissenschaftlicher Disziplinen in den Gesundheitsberufen ist.

Zu den in den kommenden Jahren zu bewältigenden Aufgaben im Rahmen des Aufbaus der verschiedenen Disziplinen gehört grundständig die Definition des wissenschaftlichen Gegenstandes der jeweiligen Disziplin. Dieser verdeutlicht, mit welchen Phänomenen sich eine Disziplin beschäftigt (und womit nicht). Aus diesem Gegenstandsfokus ergeben sich die zu bearbeitenden disziplinspezifischen Probleme und Fragestellungen, die den Fokus der Forschung darstellen. Als Ergebnis generiert sich ein grundständiger Wissenskorpus, der auf gegenstandsspezifischen Forschungsergebnissen basiert und sowohl in der eigenen als auch der übergreifenden Scientific Community wahrgenommen, respektiert und diskutiert wird. Forschung und insbesondere empirische Forschung setzt das Nachdenken über eine mögliche gegenstandsspezifische Methodik, die einerseits der grundsätzlichen Wissenschaftsmethodik verpflichtet ist und andererseits die gegenstandsspezifische Betrachtung berücksichtigt, voraus. Diese erfordert eine Beachtung von und Auseinandersetzung mit bestehenden Methoden anderer Disziplinen. Nicht zuletzt geht es auch darum, explizite und implizite Annahmen zu eigenständigen und disziplinspezifischen Theorien zusammenzufassen und damit wiederum den Wissenskorpus zu erweitern. Jede Disziplin benötigt darüber hinaus eine Definition der Bezugsdisziplinen, die einen direkten oder indirekten Einfluss auf die Ergebnisse der Forschung und Entwicklung der jeweiligen Disziplin haben (vgl. Hug, 2001).

Für den Aufbau der neuen wissenschaftlichen Disziplinen im Gesundheitsbereich ist in Kenntnis der vorgenannten Merkmale ein kontinuierlicher interdisziplinärer Dialog zwischen den verschiedenen Fachgebieten zwingend erforderlich. Erst dieser ermöglicht es in der Identifizierung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, die eigene Fachdisziplin zu begründen und sich in der etablierten Wissenschaftsstruktur zu positionieren. Dazu bedarf es zum jetzigen Zeitpunkt der Akademisierung der Akzeptanz verschiedener Entwicklungsgeschwindigkeiten sowie unterschiedlicher Herangehensweisen an den Prozess des Aufbaus der Disziplinen. Die heterogenen Traditionen bedürfen dazu einer entsprechenden Berücksichtigung im wissenschaftlichen Alltag und in der Entwicklung gemeinsamer Zukunftsvorstellungen.

Interprofessionelle Lehre als didaktisches Phänomen

Interprofessionelle Lehre findet zumeist auf der Grundlage vorhandener allgemeiner didaktischer Erkenntnisse statt und wird bislang nicht als ein eigenständiges didaktisches Phänomen betrachtet und entwickelt. Dies bedeutet, dass aktuelle handlungs- und kompetenzorientierte Konzepte in den Studiengängen zur Anwendung kommen, die in den letzten Jahren didaktisch Einzug in die Lehrkonzepte der Hochschulen gefunden haben. Hierzu gehören u.a. fall- und problemorientierte Ansätze, aber auch die Arbeit mit der Skillslab-Methode (Fichtner, 2013; Remmen et al., 2001). Ziel ist es, die Lernenden in einen konkreten handlungsfeldbezogenen Kontext einzuführen und mit ihnen die Beiträge der verschiedenen Gesundheitsberufe zur Diskussion oder Lösung eines Problems / einer Situation zu erfassen und zu bearbeiten. In der Regel sind mindestens zwei, in Ausnahmefällen bis zu zehn verschiedene Berufe beteiligt (Mahler et al., 2012). Die Allgemeine Didaktik und Methodik hält somit zunächst die grundlegenden Ansätze für eine interprofessionelle Lehre vor. Für komplexe und differenzierte interprofessionelle Lernprozesse bedarf es jedoch weiterer Erkenntnisse über die Gemeinsamkeiten des Berufsfeldes Gesundheit und deren Vermittelbarkeit. Die Notwendigkeit, eine über die bisherigen allgemeinen bzw. fachdidaktischen Ansätze hinausgehende Didaktik zu denken, ergibt sich aus der systematischen Analyse und wissenschaftlichen Betrachtung aktueller und zukünftiger Entwicklungen des Berufsfeldes Gesundheit.

Diese können in einer Didaktik der Gesundheits- / Humandienstleistungsberufe

Das Berufsfeld der Humandienstleistungen wird hier ergänzt, da davon auszugehen ist, dass sich die Akademisierung nicht auf die originären Gesundheitsberufe begrenzt, sondern um weitere Berufe, die direkte personenbezogene Dienstleistungen erbringen, erweitern wird (Friese, 2015).

definiert und ausgestaltet werden. Damit würde die Betrachtung des Gegenstandes Gesundheit zum Ausgangspunkt der Lehre genommen und es würden nicht lediglich die Inhalte des Berufsfeldes mit den Grundlagen der Allgemeinen Didaktik verknüpft (Becker, 2007; Berner, 2011). Aus einer neu gestalteten Didaktik der Gesundheitsberufe sind dann Konsequenzen für die zu erreichenden Kompetenzen der Lernenden und der dafür erforderlichen Lehrendenqualifikation abzuleiten. Für die Entwicklung einer eigenständigen Didaktik der Gesundheits- / Humandienstleistungsberufe bedarf es verschiedener Grundlagen. Diese resultieren zunächst aus einer Definition des Gegenstandes ‚Gesundheits- / Humandiensteistung‘, der Identifizierung der An- und Abgrenzung zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern, einer differenzierten Analyse der Tätigkeiten sowie einer Analyse der Zielgruppen. Die Grundlagen setzen sich dann aus den Erkenntnissen verschiedener Wissensbereiche zusammen (s. Abb.).

Abbildung 1

Grundlagen einer Didaktik der Gesundheits- und Humandienstleistungen

Eine Analyse des Berufs- / Handlungsfeldes‚ Gesundheit‘ - als einem Element einer neu zu entwickelnden Didaktik der Gesundheits- und Humandienstleistungsberufe - gibt relevante Hinweise für berufsgruppenübergreifende Kognitions- und Performanzbereiche, die relevant sind für die Ausübung einer Tätigkeit in diesem Feld.

Vor dem Hintergrund neuerer berufssoziologischer Erkenntnisse in Pflege und Therapie soll dabei von folgenden konkreten Aufgabenbereichen und dafür erforderlicher Kompetenzen in den Gesundheitsberufen ausgegangen werden (vgl. Heyden, von der, 2014; Gerlach, 2013; Bollinger & Gerlach, 2008):

Umgang mit Einzelnen und Gruppen (Hermeneutisches Fallverstehen)

Umgang mit Komplexität (Systemisches Denken und Handeln)

Umgang mit der eigenen Person (Selbstreflexivität)

Umgang mit beruflicher Vielfalt (Interprofessionelles Denken und Handeln)

Umgang mit Körperlichkeit (Ethisches Denken und Handeln)

Umgang mit Veränderungen (Analytisches und synthetisierendes Denken)

Umgang mit Interaktion und Kommunikation (Phänomenologisches Denken und Handeln)

In diesem Entwurf gesundheitsbezogener Kompetenzanforderungen stellt die Ausformulierung der verschiedenen Kognitions- und Performanzbereiche im Ergebnis einen differenzierten didaktischen Blick auf das Berufsfeld der Gesundheits- und Humandienstleistungen dar, in dem die interprofessionelle Kompetenz eine Komponente darstellt. Die Summe der verschiedenen Kompetenzbereiche stellt jedoch vor dem Hintergrund bisheriger Erkenntnisse zum Phänomen der Interprofessionalität gleichzeitig eine Voraussetzung für interprofessionelles Arbeiten dar (vgl. Walkenhorst, 2015b). So lassen sich international insbesondere der Erwerb von Kompetenzen in den Bereichen der Rollenklarheit, Kommunikation, Werte und Teamarbeit

Diese gehen konform mit einigen grundsätzlichen Merkmalen beruflicher Identität (s.o.)

als Voraussetzung für Interprofessionalität identifizieren (vgl. National Interprofessional Competency Framework .(2010) / Core Competencies for Interprofessional collaborative practice (2011)).

Interprofessionelle Kompetenz als Ergebnis interprofessioneller Lernprozesse soll in diesem Beitrag verstanden werden als die Summe von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die systematisch und in gemeinsamen Lehr- / Lernarrangements im Rahmen berufsspezifischer Bildungsprozesse erworben werden, in einer konkreten komplexen beruflichen Situation zur Anwendung kommen und die beste gemeinsame Lösung für die Bewältigung einer Situation / eines Falls ermöglichen (vgl. Olbrecht, 2013).

Die gemeinsame Entwicklung einer Didaktik der Gesundheits- / Humandienstleistungsberufe bzw. curricularer interprofessioneller Elemente aus der Perspektive des Berufsfeldes bietet die Chance, über bestehende fachdidaktische und allgemein didaktische Überlegungen hinauszugehen. Interprofessionelle Lehre kann dann systematisch hinsichtlich der bisherigen Vorgehensweise reflektiert und die bestehenden Konzepte können erweitert werden. Für die Akademisierung der Gesundheitsberufe bedeutet die Qualität der interprofessionellen Auseinandersetzung eine relevante Grundlage für zukunftsorientierte Lehr- / Lernkonzepte.

Interprofessionalität als Forschungsgegenstand

Interprofessionalität als soziales Konstrukt stellt nicht zuletzt einen eigenen Forschungsgegenstand dar, der unabhängig von den Feldern ist, in denen dieser zur Anwendung kommt. Diese bislang in der interprofessionellen Diskussion der Gesundheitsberufe eher vernachlässigte Perspektive kann die Möglichkeit bieten, die wissenschaftstheoretische Diskussion des Begriffes zu erweitern und das Forschungsfeld konkreter zu formulieren. Grundsätzlich kann das Forschungsfeld aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive in verschiedene Forschungsbereiche differenziert werden (Sukopp, 2013):

Theoretische Interdisziplinarität: Gegenstand dieses Feldes ist die Analyse der Kooperation verschiedener Disziplinen (Professionen) aufgrund ähnlicher theoretischer Themen bzw. einer Strukturgleichheit in den Disziplinen, die sich u.a. in dem übergeordneten Gegenstandsbereich zeigen kann. (Hier können die Überlegungen zu einer eigenständigen Didaktik der Gesundheits- / Humandienstleistungsberufe integriert werden.)

Methodische Interdisziplinarität: Es besteht eine disziplinübergreifende methodische Kontinuität oder Übereinstimmung zwischen Disziplinen (Professionen), sodass aufgrund gemeinsam genutzter Instrumente etc. die Planung, Durchführung und Auswertung von Vorgehensweisen bzw. Ergebnissen möglich ist. Zum Umgang mit diesem Forschungsfeld bedarf es einer Analyse bestehender bzw. noch zu entwickelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse zu theoretischen Grundlagen der Handlungskonzepte im Gesundheitswesen (u.a. Evidenzbasierung, ICF).

Praktische Interdisziplinarität: Das dritte Forschungsfeld richtet sein Augenmerk direkt auf konkrete Handlungsfelder und die ihnen inhärenten Fragen / Situationen. Es wird davon ausgegangen, dass die Bewältigung dieser praktischen Anforderungen eine gemeinsame Vorgehensweise erfordert, die sinnvollerweise nicht nur einer bestimmten Disziplin oder einem Fach zugeordnet ist. Dies setzt die Reflexion fachspezifischer und fachübergreifender praktischer Handlungskonzepte voraus.

Die Thematik der Interprofessionalität weist damit umfassende Forschungsfragen und Forschungsfelder auf, die sich aus einer Bildungs- und Versorgungsperspektive insbesondere auf die Kompetenzentwicklung, -ausprägung und -messung beziehen. Sie stellen einerseits die Grundlage des Handelns dar und bilden anderseits den theoretischen Zugang zu dem Phänomen Interprofessionalität. Eine differenzierte Forschung zur Interdisziplinarität bietet damit potenziell vielfältige neue Erkenntnisse, die zur Gestaltung der Bildungsprozesse (aber auch der Versorgungsprozesse) und damit zur weiteren Akademisierung der Gesundheitsberufe genutzt werden können.

Ausblick

Die Diskussion um interprofessionelle Lern- und Arbeitsprozesse – so wurde in diesem Beitrag dargestellt – stellt kein ‚Add-on‘ von Inhalten und Konzepten im hochschulischen Bildungsbereich bzw. im Gesundheitswesen dar, sondern bietet die Möglichkeit, den Prozess der Akademisierung in den Gesundheitsberufen positiv zu unterstützen. An dieser Stelle soll sogar die These gewagt werden, dass die konstruktive Auseinandersetzung mit der Thematik der Interprofessionalität in den Gesundheitsberufen eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Akademisierung bildet. Es besteht damit die Chance, über interprofessionelle Konzepte die Entwicklung fachspezifischer beruflicher Identitäten und fachwissenschaftlicher Erkenntnisse voranzubringen, ohne die Entwicklung des fachspezifischen Profils zu vernachlässigen. Dafür bedarf es entsprechender Haltungen, Strukturen und Kulturen in den Bildungs- und Versorgungseinrichtungen (Walkenhorst et al., 2015). Interprofessionalität als gemeinsames Bildungsprinzip in den Hochschulen zu etablieren, erfordert insbesondere auf der strukturellen Ebene entsprechende Voraussetzungen. Exemplarisch seien die Entwicklung eines theoretischen und praktischen Gesamtkonzeptes, in dem die Curricula ein Element bilden, die Benennung von Beauftragten für die Koordinierung der interprofessionellen Bildungsprozesse sowie den Aufbau von Anreizsystemen für die Auseinandersetzung mit interprofessionellen Lehr- und Forschungskonzepten, genannt.

Auf einer übergeordneten Ebene sind dafür der Aufbau von Lehrstühlen für interprofessionelle Versorgungspraxis sowie interprofessionelle Bildung notwendig. Nicht zuletzt sollte im Rahmen der Akkreditierung von Studienprogrammen der Aspekt der Interprofessionalität, da wo er benannt wird, eine Bedeutung und kritische Betrachtung erfahren. Durch diese Interventionen lässt sich das Forschungsfeld Interprofessionalität / Interdisziplinarität mit dem Blick auf das Berufsfeld Gesundheit im Wissenschaftsbereich sukzessive aufbauen und stellt in Aussicht, mit seinen Ergebnissen auch einen Beitrag zu der internationalen Diskussion zu leisten.

eISSN:
2296-990X
Languages:
English, German
Publication timeframe:
Volume Open
Journal Subjects:
Medicine, Clinical Medicine, other