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»Beamtengefühl«: Soziale Funktionen von Emotionen im österreichischen Staatsdienst der Zwischenkriegszeit

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Einleitung: Staatsbedienstete und Emotionen

Wie Max Weber in seinen Ausführungen zur bürokratischen Verwaltung verdeutlicht, haben Emotionen darin aus idealtypischer Perspektive nichts verloren:

[…] sine ira et studio, ohne Haß und Leidenschaft, daher ohne ›Liebe‹ und ›Enthusiasmus‹, unter dem Druck schlichter Pflichtbegriffe; ›ohne Ansehen der Person‹, formal gleich für ›jedermann‹ […] waltet der ideale Beamte seines Amtes.

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 129.

Freilich sieht das anders aus, wenn man sich aus der wohlgeordneten Sphäre der Idealtypen in die Empirie begibt. Martin Albrow, der sich eingehend mit der Frage beschäftigt hat, ob und inwiefern Organisationen Emotionen haben, identifiziert die für die Moderne so typische Polarität von Rationalität und Emotionalität als soziale Konstruktion und befindet »It is not a question of the one side of the coin, rational organization, having the emotional on the other side. Rather, the quality of feeling suffuses all organizational activity.«

Martin Albrow: Do Organizations Have Feelings, London 1997, S. 90.

In diesem Beitrag geht es darum, welche Rolle gerade Emotionen in der Praxis der staatlichen Verwaltung Österreichs und ihrer Protagonist_innen spielen, und das in einer Periode, die eher Sachlichkeit als Empfindsamkeit in den Vordergrund stellte: der Zeit zwischen den Weltkriegen.

Emotionen sind nicht leicht zu definieren. Im Unterschied zu Gefühlen, die als psychisch-subjektives Erleben verstanden werden (Gefühle als »das Empfinden einer Emotion«),

Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions, Göttingen 2015, S. 61.

sind Emotionen komplexere Prozesse. Bis heute besteht weder Konsens darüber, was Emotionen sind, wo und wie sie im menschlichen Körper entstehen und wie die Relation zwischen dem Erleben und dem Ausdruck von Emotionen sich gestaltet.

Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 30f.

Großen Einfluss hat seit Jahrzehnten die auf Forschungen von Paul Ekman und Kolleg_innen beruhende These, es gebe sieben

Eine aktuelle psychologische Studie, die auf Selbsteinschätzungen von Probanden beruht, unterscheidet sogar 27 Emotionen, siehe Allen S. Cowen / Dacher Keltner: »Self-report captures 27 distinct categories of emotion bridged by continuous gradients«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, September 2017, online unter: https://doi.org/10.1073/pnas.1702247114 18. 5. 2018.

universal gültige Emotionen (Erstaunen, Freude, Wut, Angst, Ekel, Trauer und Verachtung).

Paul Ekman / Wallace V. Friesen / Phoebe Ellsworth: Emotion in the Human Face. Guidelines for Research and an Integration of Findings, New York 1972.

Diese universale Gültigkeit ist allerdings inzwischen auf theoretischer und methodologischer Ebene kritisiert und vor allem von sozialkonstruktivistisch orientierter Forschung infrage gestellt worden.

Anne Schmidt: »Showing Emotions, Reading Emotions«, in: Ute Frevert et al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014, S. 62–90, hier S. 88f; Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. International Journal for the History and Theory of Emotions 1 (2010), S. 1–32, hier S. 5–10.

Paul und Anne Kleinginna haben im Jahr 1981 über hundert Definitionen von Emotionen seit Charles Darwin analysiert und daraus folgende abstrakte Arbeitsdefinition abgeleitet:

Emotion is a complex set of interactions among subjective and objective factors, mediated by neural~hormonal systems, which can (a) give rise to affective experiences such as feelings of arousal, pleasure/displeasure; (b) generate cognitive processes such as emotionally relevant perceptual effects, appraisals, labeling processes; (c) activate widespread physiological adjustments to the arousing conditions; and (d) lead to behavior that is often, but not always, expressive, goaldirected, and adaptive.

Paul R. Kleinginna / Anne M. Kleinginna: »A Categorized List of Emotion Definitions. With Suggestions for a Consensual Definition«, in: Motivation and Emotion, 5 (1981), S. 345–379, hier S. 355.

Für meine Untersuchung scheint es mir sinnvoll, Emotionen als einen Prozess zu betrachten, wie Hilary Anger Elfenbein das in einem Aufsatz zu Emotionen in Organisationen anschaulich darstellt. Am Anfang steht ein Stimulus, auf den emotionales Registrieren (»emotional registration«), emotionales Erleben (»emotional experience«) und der Ausdruck der Emotion (»emotional expression«) folgen. Für das Gegenüber ergeben sich dadurch Signale (»expressive cues«), die als Stimuli für einen neuen reaktiven Emotions-Prozess dienen können.

Hilary Anger Elfenbein: »Emotion in Organizations. A Review and Theoretical Integration«, in: The Academy of Management Annals 1/1 (2007), S. 315–386, hier S. 318.

Das Zeigen von Emotionen ist kontextspezifischen Regeln (»display rules«) unterworfen, die soziale Funktionen haben.

Anger Elfenbein: »Emotion in Organizations«, S. 332.

Im Falle dieses Beitrags wird der Fokus stärker auf »expression« und »display rules« liegen.

Während die bisher angeführten Definitionen keinen Bezug auf mögliche historische Dimensionen von Emotionen nehmen, hat die Emotionsgeschichte sich genau das zum Ziel gemacht.

Ute Frevert: »Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?«, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208.

Sie wurde dafür kritisiert, dass sie ihren Gegenstand nicht genau genug festlege und oft Etikettenschwindel betreibe: Wo behauptet wird, es gehe um die Geschichte von Emotionen oder Gefühlen, werden nur verbale Äußerungen oder andere Repräsentationen von Gefühlen erforscht.

Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 312.

Diese Repräsentationen werden dann explizit oder unter der Hand mit dem, was sie repräsentieren, gleichgesetzt.

Ebd., S. 134.

»Wer sich mit Emotionen beschäftigt, hat also mit gefühlten inneren Zuständen bzw. psychischen Erfahrungen, mit körperlichen Veränderungen, mit Verhaltensweisen und Gesten, mit Handlungen und sozialen Praktiken, mit sprachlichen und bildlichen Äußerungen sowie mit Diskursen zu tun«,

Franz X. Eder: Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Frankfurt am Main 2018, S. 20.

schreibt Franz X. Eder zu diesem Thema, und das von ihm beschriebene Spektrum deckt sehr gut ab, womit ich in meiner Untersuchung zu tun habe. Dabei geht es mir nicht darum herauszufinden »was die Leute früher […] in Wirklichkeit gefühlt haben«

Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 18.

, vielmehr interessieren mich die Möglichkeiten, welche Staatsbedienstete der Zwischenkriegszeit hatten, Emotionen zum Ausdruck zu bringen und welche sozialen Funktionen Emotionen im dienstlichen Umfeld für sie haben konnten.

Peter N. Stearns und Carol Z. Stearns haben bereits in den 1980er-Jahren als Forschungsstrategie empfohlen, zwischen Emotionen und »emotionology« zu unterscheiden. Diese »emotionology« bestimmen sie als

the attitudes or standards that a society, or a definable group within a society, maintains toward basic emotions and their appropriate expression; ways that institutions reflect and encourage these attitudes in human conduct, e. g., courtship practices as expressing the valuation of affect in marriage, or personnel workshops as reflecting the valuation of anger in job relationships.

Peter N. Stearns / Carol Z. Stearn: »Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards«, in: The American Historical Review, 90 (1985), S. 813–836, hier S. 813.

Es geht also darum, den Rahmen zu untersuchen, innerhalb dessen Emotionen, deren Empfindung, Äußerung und die adäquaten Reaktionen darauf, in einem historischen Kontext für bestimmte Gruppen möglich sind. Barbara Rosenwein hat für dieses Forschungsinteresse den Begriff der »emotional communities« entwickelt, den ich auf die von mir untersuchten Staatsbediensteten anwenden möchte:

Emotional communities are largely the same as social communities – families, neighborhoods, syndicates, academic institutions, monasteries, factories, platoons, princely courts. But the researcher looking at them seeks above all to uncover systems of feeling, to establish what these communities (and the individuals within them) define and assess as valuable or harmful to them (for it is about such things that people express emotions); the emotions that they value, devalue, or ignore; the nature of the affective bonds between people that they recognize; and the modes of emotional expression that they expect, encourage, tolerate, and deplore.

Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, S. 11.

Mir ist dabei bewusst, dass Staatsbedienstete keine homogene Gruppe sind und insofern für Eisenbahner, Sicherheitswachmänner, Postoberoffizialinnen und Sektionsräte (um nur einige Beispiele zu nennen) nicht exakt dieselben emotionalen Spielregeln zutreffen. Ihnen gemeinsam ist aber ein Dienstrecht, das ihnen vorschreibt, sich »in und außer Dienst«, wie die Dienstpragmatik von 1914 vorgibt,

Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914.

so zu verhalten, dass dem Ansehen des Amtes und mithin des Staates nicht geschadet wird. In der Praxis hieß das im Falle eines Missverhaltens, dass eine Disziplinarkommission darüber befinden musste, was vorgefallen war, wie schlimm das Vorgefallene war und ob und wie es zu ahnden sei. Dadurch entstand umfangreiches Quellenmaterial, in dem gegebenenfalls auch der korrekte Umgang mit Emotionen explizit erörtert wurde. Das Konzept der »emotional communities« soll einerseits als Forschungsfrage dienen (kann man von Staatsbediensteten als einer emotional community sprechen?), aber auch als eine Art Forschungsprogramm.

Barbara Rosenwein formuliert eine Reihe praxisnaher Ratschläge für emotionsgeschichtliche Forschung,

Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, S. 12–21.

auf die ich diese Untersuchung stützen möchte. Ihr zufolge soll zunächst eine Sammlung aussagekräftiger Quellen angelegt werden. Im Fall meiner Untersuchung sind das in erster Linie Disziplinarakten, die in sich unterschiedliche Quellentypen (Sitzungsprotokolle, Referate, Auszüge aus Personalakten, Briefe, Zeugenaussagen…) enthalten. Ergänzend dazu werden auch Benimmbücher und Belletristik hinzugezogen. Rosenwein empfiehlt auch, die Begrifflichkeiten für Emotionales zu untersuchen und zu problematisieren. So kommt in meinem Quellenmaterial der Begriff »Beamtengefühl« vor, ein Gefühl, das ein Spezifikum dieser »emotional community« sein könnte. Auch bedeutungsvolle Lücken, verwendete Metaphern und Ironie sollen dabei berücksichtigt werden. Zeitgenössische wissenschaftliche Werke aus Psychologie, Psychoanalyse und den Sozialwissenschaften sollen in Betracht gezogen werden, um zu verstehen, welche diskursiven Rahmenbedingungen das Sprechen über Emotionen ermöglichen und einschränken. Schließlich soll die soziale Rolle oder Funktion von Emotionen berücksichtigt werden – ein Aspekt, der sich vor allem anhand von Disziplinarakten sehr gut behandeln lässt.

Über die sozialen Aspekte von Emotionen schrieb bereits Georg Simmel: »Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipathisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet; daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehn und schmücken – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen [...]. Hier liegen die, nur der psychologischen Mikroskopie zugänglichen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft.«, Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 33.

Dieser letzte Punkt, die Frage nach sozialen Funktionen von Emotionen, steht im Zentrum meines Beitrages, während die Frage, ob und inwiefern Staatsbedienstete eine »emotional community« sind, in diesem Rahmen nur in Ansätzen beantwortet werden kann.

Daraus ergibt sich folgende Struktur: Zuerst gehe ich kurz auf die Forschungsliteratur zur Geschichte von Emotionen in der Zwischenkriegszeit ein. Dann werden anhand von unterschiedlichem Quellenmaterial – Manierenbücher und Belletristik, am ausführlichsten aber Disziplinarakten der 1920er- und 1930er-Jahre – die sozialen Funktionen von Emotionen von Staatsbediensteten und im Amtsvollzug untersucht.

Forschung zu Emotionen in der Zwischenkriegszeit

Fragt man nach der Geschichte von Emotionen im frühen 20. Jahrhundert, so kann man auf einen reichhaltigen Forschungsstand zugreifen.

Beispielsweise Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010; Ute Frevert et al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014, Uffa Jensen / Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008; Christian Koller: »›Es ist zum Heulen‹. Emotionshistorische Zugänge zur Kulturgeschichte des Streikens«, in: Geschichte und Gesellschaft 36/1 (2010), S. 66– 92. Für eine kritische Bestandsaufnahme der Emotionsgeschichte (nicht nur der Zwischenkriegszeit) siehe Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte?

Der Tenor dieser Untersuchungen verweist auf eine Tendenz zu mehr Sachlichkeit, zu einer »Entemotionalisierung«.

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 288.

Verbunden damit ist eine stärkere Orientierung nach außen, »eine generelle Transformation der Subjektordnung in Richtung einer nach-bürgerlichen Orientierung am Sozialen, am Kollektiven und Gruppenförmigen«.

Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2010, S. 189.

Andreas Reckwitz konstatiert in seiner Theorie der Subjektkulturen

Subjekt versteht Reckwitz als »kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann«, Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 34.

für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis zu den 1970er-Jahren eine organisierte Moderne, für die das »Angestelltensubjekt« charakteristisch ist. Diese Entwicklung ist verbunden mit neuen Arbeitspraktiken in modernen Organisationen. Gemeint sind in erster Linie private Unternehmen – die Leitfigur ist hier der »professionalisierte Manager-Ingenieur«.

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 337.

Inwiefern seine Überlegungen auch auf die zeitgenössischen staatlichen Angestellten angewendet werden können, ist eine offene Frage, die zu beantworten in den folgenden Kapiteln versucht wird. Dieses moderne Angestelltensubjekt mag Emotionen empfinden, soll sie aber möglichst für sich behalten:

Die ›social skills‹ des Angestelltensubjekts stellen sich somit gleichzeitig als Techniken der Vermeidung und Domestizierung von Emotionen und von individuellen ›Expressionen‹ dar: Die post-bürgerliche Subjektkultur betreibt eine Entemotionalisierung. Die äußere performance soll kein ›Ausdruck‹, keine Expression innerer Regung sein, die unter dem Verdacht des Sozialunverträglichen stehen, sondern ist auf der glatten Fläche der Äußerlichkeit zu reproduzieren.

Ebd., S. 416.

Bereits in zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird über solche Tendenzen berichtet. So konstatiert etwa Charlotte Bühler in einer 1934 erschienenen Untersuchung von Mädchentagebüchern aus drei Generationen, dass die jüngste Generation einen neuen Typ darstelle, der zur »neuen Sachlichkeit«

Charlotte Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, Jena 1934, S. 59.

neige. Diesen zeichne »Frische und Natürlichkeit« aus, »Sicherheit und Unbefangenheit, eine gewisse Einfachheit und ein sich selbst Nicht-zu-wichtig-Nehmen, Fähigkeit zur Selbstkritik und ein viel besseres Gleichgewicht, als es die vorige Generation besaß; dafür allerdings nicht deren Innerlichkeit, Leidenschaft und gewisse Größe, nicht ihr geistiger Elan und die Kraft ihres seelischen Einsatzes«.

Ebd., S. 70.

Diese Sachlichkeit wird auch in einer populären Schrift mit dem Titel »Jugend bekennt: so sind wir« aus dem Jahr 1930 proklamiert: »Wir sind kühl geworden fast bis ans Herz heran; ohne Phrase, ohne Pathos, ohne Sentimentalität, ohne Liebesgedichte.«

Frank Matzke: Jugend bekennt: so sind wir, Leipzig 1930, S. 173.

Liebe und Schmerz werden zu »ridikülen Relikten einer ›viktorianischen Innerlichkeitskultur‹, die das moderne, extrovertiert-sachliche Subjekt im wesentlichen hinter sich lässt«

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 417.

, schreibt Andreas Reckwitz über die Zeit, die auf die »Epochenschwelle«

Reckwitz: Unscharfe Grenzen, S. 172.

um 1920 folgt.

Eine solche Sichtweise spiegelt sich auch in einer Bemerkung in der populären Autobiografie einer 1896 geborenen Frau, die 1971 aufgezeichnet wurde. Die Frau schreibt über ihre Mutter, diese sei »selbst für die damalige, gefühlsselige ›Vergißmeinnicht- und Rosenzeit‹ [die 1880er-Jahre, TG] ein etwas sentimentales Mädchen zu nennen«, Therese Schobloch: »Hinterlegte Zeichen«, in: Andrea Schnöller / Hannes Stekl (Hg.): »Es war eine Welt der Geborgenheit…«. Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik, Wien, Köln 1987, S 171–200, hier S. 172.

Barbara Asen, die in ihrem Aufsatz über Briefkommunikation von Paaren der Zwischenkriegszeit die Forschungsliteratur zur Versachlichung und Entemotionalisierung in dieser Zeit diskutiert, unterstreicht hingegen dezidiert, dass von einer »Gefühlsarmut« keine Rede sein kann. Sie führt die verhaltene Emotionalität, die ironisch gebrochenen Liebeserklärungen, die sie in den von ihr untersuchten Paarkorrespondenzen vorfindet, auf eine »Verunsicherung hinsichtlich ihrer Positionierung im Rahmen verschiedener Liebeskonzeptionen und Geschlechtermodelle«

Barbara Asen: »›... nicht nur Gattin, sondern auch treue Kameradin.‹ Zur Konstruktion von Liebesbeziehungen in der Briefkommunikation von Paaren der Zwischenkriegszeit«, in: Ingrid Bauer / Christa Hämmerle (Hg.): Liebe Schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 139–170, hier S. 149.

zurück.

Ab dem späten 19. Jahrhundert lässt sich, so Ufa Jensen und Daniel Morat, eine »Verwissenschaftlichung des Emotionalen« beobachten. In der »langen Jahrhundertwende«, welche die Autoren zwischen 1880 und 1930 ansetzen, beginnen sich die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen für Emotionen zu interessieren.

Jensen / Morat: Rationalisierungen des Gefühls, S. 13.

Der Fokus der Naturwissenschaften verlegte sich dabei auf den Körper als Entstehungsort von Emotionen:

If experiment and perception played an increasing role, it can be presumed that the body as a producer of emotions moved into the foreground. The somatization could have replaced the preceding privilege accorded to ›spirit‹ or ›soul‹ as emotional points of navigation.

Ute Frevert: »Defining emotions. Concepts and debates over three centuries«, in: Frevert et al: Emotional Lexicons, S. 1–31, hier S. 7.

In dieser Zeit entstanden in den Sozialwissenschaften auch die einflussreichen Thesen von Max Weber und Norbert Elias zu Prozessen der Modernisierung, Rationalisierung und Zivilisation.

Siehe Arthur Bogner: Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorien Max Webers, Norbert Elias und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989.

In der neu entstandenen Psychoanalyse waren einzelne Gefühle (Angst, Trauer, Scham, Schuldgefühl) für deren theoretischen Aufbau sehr zentral, Freud selbst war aber eher nicht geneigt, Emotionen gezielt zu erforschen und meinte, es sei »nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten«.

Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« [1930], in: Gesammelte Werke 14, hg. von Anna Freud et al., London 1948, S. 419–506, hier S. 422.

Das Wissen der Psychologie seiner Zeit hielt er auf diesem Gebiet für unzureichend, ja für ›geradezu unverständlich und undiskutierbar‹. Zugleich schien er keineswegs die Intention zu haben, an diesem Zustand Grundlegendes zu ändern und sich diesem ›dunkeln Gebiet‹ zuwenden zu wollen. Lieber sprach er, wenn er die Ebene der Emotionen überhaupt behandelte, von Affekten, wobei auch ihnen in der Regel keine Eigenständigkeit als theoretische Kategorie in der Psychoanalyse zukam. Ganz seinem tiefenhermeneutischen Ansatz entsprechend, verstand Freud die Affektstruktur vielmehr als Oberflächenphänomen, hinter dem die eigentlich wirksamen und damit freizulegenden Konflikte verborgen waren.

Uffa Jensen: »Freuds unheimliche Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Freudschen Psychoanalyse«, in: Uffa Jensen / Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 135–152, hier S. 136.

Die nun folgenden Unterkapitel zeigen anhand unterschiedlicher Quellen auf, in welchem Rahmen Emotionen – von Staatsbediensteten, aber nicht nur von ihnen – in der von mir untersuchten Periode zum Ausdruck kamen und welche sozialen Funktionen damit verbunden waren.

Staatsbedienstete und Emotionen: Quellenbefunde
Manierenbücher: »… all diese Empfindungen werden mehr in ihm toben als nach außenhin hervorbrechen.«

Eine Quelle, die es erlaubt, insbesondere die Grenzen der Ausdrucksformen von Gefühlen abzustecken, sind Manierenbücher.

Zu Benimmbüchern bzw. Manierenbüchern als historische Quelle siehe Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1994, S. 22–25.

In der Zwischenkriegszeit richten sie sich zunehmend an ein breiteres Publikum – Ulrike Döcker spricht von einer veritablen »Entdeckung der kleinen Leute in den Manierenbüchern der späten 1920er und 1930er Jahre«

Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 68.

– und nehmen Bezug auf die veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse.

Döcker verweist auch auf antisemitische und rassistische Umschreibungen von Manierenbüchern im Lauf der 1930er-Jahre, Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 67–69.

Über Gefühle haben diese Schriften relativ wenig zu sagen. In erster Linie geht es um Benehmen, um das richtige Grüßen, sich Kleiden, sich in Gesellschaft Bewegen. Wenn Gefühle vorkommen, dann lautet die Botschaft: man soll sich diese besser nicht anmerken lassen, wenn der gute Ton nicht verletzt werden soll. So liest man in einem Werk aus dem Jahr 1920

Wer sich eines gesitteten Betragens befleißigt, wird auch eine gewisse Selbstbeherrschung, eine gewisse Macht über seine Empfindungen und Leidenschaften erringen. Ein feingebildeter Mann wird freilich ebensogut wie der ungebildete, in Zorn, in Ärger, in Entrüstung geraten können, aber all diese Empfindungen werden mehr in ihm toben als nach außenhin hervorbrechen. Ein Mensch von feiner Lebensart wird auch in den Augenblicken der Erregung die Gebote der Schicklichkeit nicht außer acht lassen. Ebensowenig wird er sich so leicht der Übertreibung und Überspanntheit schuldig machen, sondern stets die Mittelstraße einzuhalten wissen. Er wird nicht unmäßig loben, wo ein geringes Lob genügt; er wird nicht von Erstaunen und Bewunderung hingerissen werden, wo wenig zu bewundern ist; er wird auch in seinem Tadel Maß halten.

Oswald von Hocheneck: Der gute Ton für Herren. Anleitung sich in verschiedensten Verhältnissen des Lebens und der Gesellschaft als feiner, gebildeter Mann zu benehmen, Wien 1920, S. 44f.

Ein anderes Buch, welches »Benehmen und Lebenszuschnitt in gebildeten Kreisen« lehren will, erkennt die Unterschiede zwischen mehr oder weniger kultivierten Personen an ihren Gesichtern: »Halbgeöffneter Mund, weitaufgerissene Augen, die staunend umherschweifen, zeigen uns an, wohin wir den Besitzer einzureihen haben.«

Walter Bodanius: Benehmen und Lebenszuschnitt in gebildeten Kreisen, Konstanz 1924, S. 9.

Ganz anders die Damen und Herren aus gebildeten Kreisen:

Mit sicherem, kurzem Blick erfassen sie ihre Umgebung. Dieser Blick belästigt aber niemals die, denen sie begegnen und mit denen sie zusammen kommen. Auch sie haben Freude am Schönen, nehmen Anteil am Eigenartigen, ergötzen sich am Heiteren um sie her. Doch ihre beherrschten Gesichtszüge lassen die Vorgänge in ihrem Inneren nicht Jedem erkennbar werden.

Ebd., S. 10.

Das deckt sich mit Andreas Reckwitz’ Aussage über psychologische Beratungsdiskurse der 1920er- bis 1960er-Jahre, der zufolge die nach-bürgerliche Kultur ein Subjekt prämiert,

das in sämtlichen intersubjektiven Beziehungen Gefühlsdemonstrationen vermeidet. Gefühle werden durchgängig negativ konnotiert, als potentiell sozial peinlich und dem Subjekt ›unangenehm‹, als Zeichen emotionaler Unreife.

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 416f.

Zeitgenössische autobiografische Beamtenbelletristik: »Es ist die äußere Schicht, die grüßt und lächelt…«

Beamte treten auch als Protagonisten literarischer Werke auf. Das ist kein österreichisches Spezifikum – man denke nur an diverse Helden in den Romanen und Erzählungen von Nikolaj Gogol’ oder Anton Čechov oder an die Literatur des Osmanischen Reichs.

»Literary pictures of Ottoman society reflect this occupational pattern in the prominence of civil officials or former officials as leading characters. In a society with a largely invisible royal family, few military heroes of recent memory, no media celebrities, and perforce no captains of industry, handsome young officials figured as literary protagonists to a degree that is difficult for anyone unacquainted with the literature to imagine.«, Carter Vaughn Findley: Ottoman Civil Officialdom. A Social History, Princeton 1989, S. 12.

Und doch hat Österreich (bzw. die Habsburgermonarchie) eine Vielzahl von Beispielen vorzuweisen, so etwa in den Werken Heimito von Doderers, Fritz Herzmanovsky-Orlandos, Friedrich F. G. Kleinwächters, Robert Musils, Joseph Roths und anderer mehr. Sabine Zelger hat sich mit den Manifestationen von Beamten und Bürokratie in der österreichischen Literatur forschend auseinandergesetzt.

Zur Bürokratie in der österreichischen Literatur siehe Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich, Wien 2009.

Ihr Fazit fällt so aus:

Die klassische Beamtenfigur der österreichischen Literatur ist männlich und differenziert sich von den Nichtbeamten: durch mangelnde Sportlichkeit, funktionalisierte Bewegungen, penible Raum- und Zeitaufteilungen, Formalisierung der Alltagsbeschäftigung in Amt und Freizeit (Essen, Kontakte, Gedanken, Träume, Spaziergänge …), Vorliebe für ordnende Tätigkeiten sowie Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen und Veränderungen. Dominante Merkmale des Psychogramms der Beamtenfiguren sind zudem die verschämte Lust auf Abenteuer oder aber ein sentimentaler Hang zur Ehe. Egal in welcher Beziehung sie zu den Frauen stehen, der klassische Beamte der Literatur unterwirft sich seiner Vermieterin, Mutter, Geliebten und Gattin. Körperliche Gewaltanwendung ist den meisten Beamten in der Literatur ebenso zuwider wie das offene Austragen von Konflikten.

Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 378.

In dieser Beschreibung finden sich zumindest einige Hinweise auf emotionale Prozesse, wenn auch in verhaltener Form. Zurückhaltend werden Beamte auch bei Claudio Magris charakterisiert, der in seinen Überlegungen zum habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur die Figur des »fleißigen alten Beamten evoziert, der, in der Kanzlei wie im persönlichen Leben, die stürmischen Winde mit den Klammern amtlicher Aktenmappen aufzuhalten strebt«,

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966, S. 17.

also Gefühlsregungen lieber zügelt. »Und so hütete man sich wohl vor den Anschlägen des Gefühls, um es im Herzen um so scheuer und wahrer zu erhalten und zu verhindern, daß es die methodische Strenge der Alltagsgewohnheiten störe; man zwang es in eine Art bürokratische Ordnung.«

Magris: Der habsburgische Mythos, S. 16.

Wiederum lässt sich feststellen, dass es an Emotionen nicht mangelt, dass diese aber nach Möglichkeit unter Kontrolle gehalten werden.

Literarische Werke sind als historische Quellen mit Vorsicht zu genießen, ebenso wie ein Mythos, der obendrein erst Jahrzehnte nach der Zeit, die er betrifft, ausformuliert wurde. Ich konzentriere mich hier, mit der Absicht den Rahmen für die emotional community der Beamten zu skizzieren, auf einen in der Zwischenkriegszeit entstandenen autobiografischen Roman über einen Tag im Leben eines Beamten in den 1920er-Jahren. Es handelt sich um Gustav von Festenbergs »Ein Tag wie alle«, erschienen im Jahr 1939. Festenberg war einige Jahre in der Bezirkshauptmannschaft Eferding beschäftigt, und auf diesen Erfahrungen basiert der Roman.

Christoph Mattle: Gustav von Festenberg – zwischen Schöngeist und Beamtentum, Oberhausen 2002, S. 158.

Sabine Zelger hebt besonders die zentrale Funktion der zeitlichen Einteilung des Tages und die ritualisierten, immer gleichen Abläufe hervor, die für den Protagonisten Franz von Taxenbach lebenswichtig erscheinen.

Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 256–286.

Der auktoriale Erzähler ist dabei sehr nahe an der Hauptfigur des Romans und kennt dessen Empfindungen und Emotionen, wiewohl Taxenbach Äußerungen seiner Gefühlsregungen möglichst unter Kontrolle zu halten sucht. So bringt ihn eine Melodie, die er vor sich hin pfeift, zu folgender Assoziation:

Scriabine, denkt Franz, den habe ich auch einmal vergöttert. Und er denkt an das Thema, das ihm zu einem Begriff geworden war. Ein in innerem Schmerz schwer atmendes Thema, ein Thema, das um Befreiung ringt, das sich nicht mehr scheut, sein Leid zu zeigen, das allen, die es mitfühlen, zuruft: da schaut her, so sieht es in mir aus. ›Mit offener Brust‹ hat Franz dieses Thema genannt, und darin lag für ihn damals alles, was er anstrebte: sagen können, offen und einfach, was man denkt, was man leidet, was man ist. Wieviel seitdem anders geworden ist! Aber neulich Glaser [ein Pianist, TG], mit seinen zwanzig Jahren, wie begeistert er war. Man brauchte ihn gar nicht anzuschauen. Man hörte es aus jedem Ton. Auch er sehnt sich nach der offenen Brust. Bis er sie wieder verschließt.

Gustav von Festenberg: Ein Tag wie alle, Wien 1939, S. 22f.

Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen manifestiert sich auch in kleinen, weniger dramatischen Dingen, wie etwa seine Antwort auf den morgendlichen Gruß des Hausmeisters:

Es ist viel Freundlichkeit in seinem Dank und eine gute Dosis Leutseligkeit. Es ist die äußere Schicht, die grüßt und lächelt und nun durch den Hof und das große Tor auf die Straße tritt.

Ebd., S. 37.

Bei der Beschreibung von Kollegen im Amt finden wir einerseits sehr menschliche Regungen (Zorn), aber auch eine spezielle Spielart von (Ehr-)Gefühl, die auch in den nichtfiktionalen Disziplinarakten wieder auftauchen wird. Der »Sekretär Edlacher« wird etwa so charakterisiert:

Keine Spur von Freundlichkeit und Entgegenkommen haftet ihm an. Denn Freundlichkeit läßt sich nach seiner Meinung mit Würde nicht vereinen. Würde aber ist die Grundlage der Autorität. Die Leute, die in seine Kanzlei kommen, sind für ihn lediglich Parteien, Petenten. Machen Sie ein schriftliches Ansuchen, ist seine eine Auskunft, die andere: da müssen Sie bittlich werden. Bittlich werden, das ist eines der Überbleibsel aus seiner militärischen Laufbahn […]. Ein anderes besteht darin, daß er, in Zorn geraten, die Leute anbrüllt. Er gerät sehr leicht in Zorn. Denn sein Ehrgefühl ist bis ins Äußerste gesteigert. Überall wittert er Insubordinationen, Versuche der Gesetzessabotierung, Angriffe auf die Würde des Amtes und die Stellung der Beamtenschaft.

Ebd., S. 52f.

Das Verhältnis der Hauptfigur Franz von Taxenbach zu diesem Sekretär ist kompliziert, weil unklar ist, welchen Status die beiden in der Amtshierarchie im Verhältnis zueinander innehaben. Das wird schon beim morgendlichen Grüßen problematisch:

Daß er [Edlacher, TG.] im Amt und auf der Straße den Chef zuerst grüßen muß, dem kann auch er sich nicht verschließen. Aber bei Taxenbach, da liegt die Sache schon nicht so einfach. Taxenbach ist nur der Stellvertreter des Chefs und viel jünger als er. Zudem in keiner Weise Respekt einflößend. Also läßt man es darauf ankommen. So hat sich schweigend in unmerklichem Kampf ein bestimmtes Zeremoniell herausgebildet. Kommt Edlacher im Laufe des Vormittags in das Büro Franzens, dann grüßt er zuerst. Kommt Franz zu ihm ins Büro, dann grüßt Franz zuerst. Soweit ist die Sache in Ordnung.

Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 53f.

Noch komplizierter wird es allerdings, wenn das erste Treffen auf neutralem Boden, also außerhalb der jeweiligen Büros stattfindet:

Dann spielt Edlacher den Beschäftigten, Franz den Zerstreuten, und sie gehen grußlos auseinander. Franz grüßt niemals zuerst. Hin und wieder aber Edlacher. Dann tut Franz erstaunt und sagt: ›Ah, guten Morgen‹, als ob er jetzt erst Edlacher sähe, der zwei Schritte von ihm entfernt steht. Im Grunde genommen erscheint Franz das Ganze gleichgültig, sobald ihn Ernstliches beschäftigt. Im Amt ärgert er sich doch.

Ebd., S. 54f.

Korrektes Grüßen ist im sozialen Umgang zwischen Staatsbediensteten von enormer Bedeutung. Abweichungen davon können, wie wir weiter unten sehen werden, auch disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Aus dem letzten Satz ist ersichtlich, dass diese (Nicht-)Grüßrituale auch Emotionen hervorrufen. Darauf kommt der auktoriale Erzähler einige Seiten später noch einmal zurück:

Ja, so ist Franz. Er nennt das Freundlichkeit, Leute um Dinge zu fragen, die ihn nicht interessieren, jemandem zuzulächeln, der ihm gleichgültig ist, und höflich zu bleiben, wo er grob sein möchte, zum Beispiel Edlacher gegenüber. Er könnte ihm einfach sagen: Herr Sekretär, ich bin der Stellvertreter des Chefs, ich bin Jurist, ich werde Sie niemals zuerst grüßen. Richten Sie sich danach. – Der Knoten wäre zerhauen. Aber Franz Taxenbach ist kein Mensch der Tat. Er fühlt Widerstände, er versucht sie zu paralysieren, er wendet Energien auf, er verteidigt seine Stellung. Aber er macht keinen Vorstoß.

Ebd., S. 56.

Im Umgang mit Parteien können offen gezeigte Emotionen zu einer Überforderung des Beamten Taxenbach führen:

Franz ist immer ratlos Gefühlsausbrüchen gegenüber. Fängt eine Frau im Büro zu weinen an, wird er verlegen, als ob man ihn bei etwas Unanständigem ertappt hätte. ›Aber ich bitte Sie‹, sagt er dann immer wieder und schämt sich, das ausbrechende Gefühl mit ansehen zu müssen.

Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 198.

Diese Auszüge aus einem autobiografischen Beamtenroman, der in der Zwischenkriegszeit entstanden ist und von Ereignissen dieser Zeit kündet, zeigen uns keinesfalls das Bild eines gefühlsarmen Menschen. Ganz im Gegenteil, viele unterschiedliche Emotionen suchen ihn im Laufe des beschriebenen Tags heim. Auch romantische, leidenschaftliche Empfindungen sind dem unverheirateten Spätdreißiger nicht fremd, sei es, wenn er Erinnerungen an eine frühere Liebe nachhängt,

»Die Liebe Elizawetas zu Franz ist wie die Liebe des Bildhauers zu Stein. Er zertrümmert ihn, um ihm die rechte Form zu geben«, Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 76.

sei es in Gedanken an eine galante Urlaubsbekanntschaft oder beim Telefonat mit einer aktuellen Verehrerin. All diese Emotionen werden, wenn überhaupt, dann nur mit großer Zurückhaltung an die Außenwelt kommuniziert.

Emotionen von Staatsbediensteten im Spiegel von Disziplinarakten

Dieses Unterkapitel basiert auf einem Text, den ich in meinem Projektweblog veröffentlicht habe, siehe Therese Garstenauer: Warum Disziplinarakten eine großartige Quelle für die Erforschung von standesgemäßer Lebensführung sind, online unter: http://homepage.univie.ac.at/therese.garstenauer/2017/09/warum-disziplinarakten-eine-grossartige-quelle-fuer-die-erforschung-von-standesgemaesser-lebensfuehrung-sind/,28 9. 2017 (10. 8. 2018).

Jede soziale oder professionelle Gruppe hat mehr oder weniger klare Normen und Vorstellungen darüber, wie man in richtiger Weise Teil dieser Gruppe sein soll. Bei den Staatsbediensteten gab es (und gibt es bis heute) aber einen spezifischen Unterschied: Für sie war die Verpflichtung, sich so zu verhalten, dass das Ansehen des Staates und des Amtes nicht geschädigt wird, auch im Dienstrecht enthalten. Ein Beamter, der ein unehrenhaftes Leben führte, war nicht in einer Position, den Staat zu repräsentieren. Wenn also die Grenzen der standesgemäßen Lebensführung überschritten wurden, konnte das zu Disziplinarverfahren und Disziplinarstrafen führen. Das betraf Übertretungen im Dienst (zum Beispiel unentschuldigtes Fernbleiben, Unterschlagung, Trunkenheit, Gewalt gegenüber Parteien, Mittragen politischer Schriften…) oder im Privatleben (zum Beispiel exzessives Schuldenmachen, Teilnahme an politischen Demonstrationen, sexuelle Übergriffe …). Beamte, die strafrechtlich verurteilt wurden, erhielten zusätzlich Disziplinarstrafen. Das Spektrum der strafweisen Konsequenz reichte vom bloßen Verweis über gekürzte Bezüge oder frühzeitige Versetzung in den Ruhestand bis im extremsten Fall zur fristlosen Entlassung.

Die das Disziplinarrecht betreffenden Absätze in der Dienstpragmatik

Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914.

sind relativ vage, wenn es darum geht festzulegen, was ein Disziplinarvergehen ist. Paragraf 24 besagt, dass Staatsbedienstete das Standesansehen in und außer Dienst wahren müssen. Sie müssen sich stets im Einklang mit den Anforderungen der Disziplin verhalten und alles vermeiden, was die Achtung und das Vertrauen, die seine Stellung erfordern, schmälern könnte. Weitere Paragraphen betreffen den Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und andere Personen, die mit Beamten zu tun haben. Beamte sollen sich gegenüber Vorgesetzten respektvoll und gegenüber Kollegen und Dritten anständig verhalten. Diese Verhaltensregeln für den Umgang mit anderen erinnern etwas an Reckwitz’ »Angestelltensubjekt«. Darüber hinaus gibt es noch einige Anmerkungen zur Mitgliedschaft in politischen Organisationen, Nebenbeschäftigungen sowie An- und Abwesenheiten im Dienst. Ab 1931 kam es zu einer Konkretisierung insofern, als dass Staatsbediensteten – infolge des misslungenen, von Walter Pfrimer initiierten Putschs in der Steiermark – jedwede Äußerung einer politischen Meinung untersagt und gegebenenfalls disziplinarrechtlich verfolgt wurde.

Verordnung des Bundeskanzlers Karl Buresch vom 2. 12. 1931.

War eine mutmaßliche Disziplinarverfehlung vorgefallen, so bildeten Vorgesetzte innerhalb der Organisation, in der die beschuldigte Person arbeitete, eine Kommission. In komplizierten oder kontroversiellen Fällen wurde eine zweite Instanz angerufen. Die Zuständigkeit dafür lag zunächst bei den Ministerien, ab 1931 bei der Disziplinaroberkommission im Bundeskanzleramt.

Diese Vagheit der Dienstpragmatik ist für meine Forschungszwecke sehr günstig: Die Grenzen von Anständigkeit und Standesgemäßheit mussten in den Disziplinarkommissionen ausverhandelt werden. Die Kommissionsmitglieder erörterten, ob es sich um ein Disziplinarvergehen oder bloß eine Ordnungswidrigkeit handelte, wie schlimm das Vergehen gegebenenfalls war und ob bzw. welche Strafen daher verhängt werden sollten. In manchen Fällen wies die beschuldigte Person die Vorwürfe zurück. Manche Akten enthalten auch Eingaben von Zeugen. So ergeben sich Einblicke in Leben und Lebensführung von Beamten im Rahmen des beruflichen, aber oft auch des privaten Umfelds.

Im Österreichischen Staatsarchiv (Archiv der Republik) gibt es einen Bestand von ca. 900 zweitinstanzlichen Disziplinarakten, die von der Disziplinaroberkommission beim Bundeskanzleramt bearbeitet worden waren.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission.

Sie enthalten Fälle von 1916 bis 1938, die meisten davon aus den 1930er-Jahren.

Bisher habe ich etwa ein Drittel dieses Bestandes erfasst.

Höhere Verwaltungsbeamte kommen in diesem Bestand nur in Ausnahmefällen vor. Überwiegend handelt es sich um Staatsbedienstete, die wie Polizisten, Sicherheitswachbeamte oder Postbedienstete viel Kontakt mit der Bevölkerung haben. Auf den Punkt gebracht: Eine diskrete außereheliche Beziehung eines Ministerialrats hatte keine disziplinarrechtlichen Konsequenzen. Wenn hingegen ein Sicherheitswachmann eine Geliebte hatte, die ihm auf der Straße, also vor Publikum, eine Szene machte, wurde dadurch das Ansehen des Amtes beschädigt. Ein verhältnismäßig großer Teil der Akten der Disziplinaroberkommission betrifft politische Vergehen: Ab 1931 genügte es, ein Flugblatt in der Aktentasche mit sich zu führen oder aber einen betrunkenen Kollegen, der etwa in einem Gasthaus politische Pöbeleien äußerte, nicht daran gehindert zu haben. Darüber hinaus findet man ein breites Spektrum leichterer oder schwererer Verletzungen der Dienst- oder Standespflichten. Welche Rolle darin Emotionen spielen, lege ich im Folgenden dar. Es wird um emotionale Ausbrüche allgemeiner Natur gehen, um Verbindungen zwischen Emotionalität und politischen Haltungen sowie um die sozialen Funktionen von Emotionen anhand des gegenseitigen (Nicht-)Grüßens. Schließlich wird auch noch, eingedenk Barbara Rosenweins Empfehlung, auf spezifische Begrifflichkeiten zu achten, nach der Bedeutung des Begriffs »Beamtengefühl« gefragt.

Emotionale Ausbrüche als Ursache für Disziplinarverfahren

Josef Gargulak, Adjutant im Post- und Telegrafendienst in Wien, hatte im Oktober 1934 gemeinsam mit einem Kollegen ein Lotterielos gekauft. Über das Wechselgeld waren die beiden in Streit geraten, und was weiter geschah, stellten die Beteiligten unterschiedlich dar. Der Kollege gab an, von Gargulak an der Kehle gepackt worden zu sein und einen Stoß erhalten zu haben, infolgedessen er gestürzt sei, sich die Hose zerrissen und einen Arm gebrochen habe. Gargulak dagegen sagte aus, er habe nur eine Abwehrbewegung gemacht, weil der Kollege sich angeschickt habe, ihn anzuspucken. »In maßloser Erregung darüber stieß ich Watzel von mir. Aber die Absicht, mich tätlich an ihm zu vergreifen oder gar ein Leid anzutun lag mir vollkommen ferne.«

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Josef Gargulak.

So erklärte er laut dem Protokoll der Disziplinaroberkommission, wie es zu dem folgenschweren Sturz gekommen war. Auf die Frage der Kommission, wie ein so nichtiger Anlass eine »maßlose Erregung« rechtfertigen solle, antwortete er:

lch bin sehr nervös und reizbar. Ich war wegen meiner hochgradigen Nervosität schon in psychiatrischer Untersuchung gestanden. Die Behauptung Watzels, dass er mir den S[chilling, TG]. bereits gegeben hat, enthielt indirekt die Beschuldigung gegen mich, dass ich ihn betrügen wolle. Dass er mich dann obendrein noch anspucken wollte, steigerte meine Erregung in solchem Masse, dass ich nicht mehr wusste, was ich tat.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Josef Gargulak.

Danach gefragt, wie er sich zu der Tatsache verhalte, dass aus der unüberlegten und unbeabsichtigten Handlung so schwerer Schaden entstanden ist, meinte Gargulak: »Ich bin darüber sehr unglücklich. Aber ich kann nur wiederholen, dass ich an den Folgen des Stosses in keiner Weise schuldtragend bin.« Dass er sich »im Dienste in einen Streit eingelassen und durch die Störung eines dienstlichen Vergehens schuldig gemacht habe«, wie die Kommission das formuliert, gibt er zu, bedauert es und bittet um Entschuldigung.

Der Beschuldigte spricht in dieser Befragung über seine Emotionen, über Erregung, Traurigkeit und Reue. Ob und wie er diese wirklich empfunden hat, interessiert mich hier weniger als die Tatsache, dass diese Emotionen auch erfolgreich als erklärende und letztlich mildernde Umstände ins Treffen geführt werden. Tatsächlich wird die vergleichsweise geringe Strafe des Verweises verhängt, als mildernd wird vermerkt, dass der Beschuldigte geständig war sowie der Zustand der »Erregung«. Die Berufung des Disziplinaranwalts, der eine strengere Strafe (Minderung des Diensteinkommens um 5 % auf die Dauer von 4 Halbjahren) verlangt, wird abgelehnt.

Ein Raufhandel mit einem Amtsgehilfen des Ministeriums für Landwirtschaft, allerdings mit weniger gravierenden Verletzungsfolgen als im vorigen Fall, wurde 1935 dem Amtsgehilfen der Staatslotterien Josef Fleischer zur Last gelegt. Hier kam es aber zu keinem eigentlichen Disziplinarverfahren, denn der Beschuldigte

war bis zu den ihm jetzt zur Last gelegten Vorfall gerichtlich und dienstlich unbescholten. Er hat sich auch während seiner dem Eintritt in den Bundesdienst vorangegangenen militärischen Dienstleistung sehr gut verhalten und wurde von seinen militärischen Vorgesetzten als ein biederer, aufrichtiger Charakter bezeichnet, der seinen Dienst jederzeit mit voller Pflichterfüllung versah. Das ihm jetzt zur Last gelegte Verhalten ist offensichtlich ein Affektdelikt, das durch wiederholte Hänseleien seines Gegners veranlaßt wurde. Die Schädigung des Standesansehens war insofern eine geringe als der Raufhandel von keiner dritten Person wahrgenommen wurde.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 15, Josef Fleischer.

Auch hier wurde der Umstand, dass die Handlung im Affekt geschah als einer von mehreren mildernden Umständen gewertet.

Ein anderer Fall eines emotionalen Ausbruchs ist der des Karl Fink. Der Justizwachkontrolleur in der Gefangenenhausverwaltung des Landes Salzburg hatte im Jahr 1937 Gefangenen, die ein irrtümlich an einem Fasttag gereichtes Frühstück verzehrt hatten, grob beschimpft: »Haderlumpen, Gauner, spielen möcht’ Ihr, Ihr Bazi, Ihr Falloten [sic!], ich werd Euch schon geben, aus dem Gewand beutle ich Dich!«

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 14, Karl Fink.

Der Akt enthält die Anforderung eines Disziplinarverfahrens seitens des Staatsanwalts, geht an die Disziplinarkommission für nichtrichterliche Beamte beim Oberlandesgericht Innsbruck und wird auch der Disziplinaroberkommission beim Bundeskanzleramt vorgelegt. Diese aber lehnt ein Disziplinarverfahren ab:

Die Disziplinaroberkommission hat in Erwägung gezogen, dass bei Vorfällen der inkriminierten Art in einem Gefangenenhaus staatliche Exekutivorgane, die in einer wenig freundlichen Umwelt einen schweren und nervenzermürbenden Dienst versehen, Rechtsbrechern gegenüberstehen, die einen gröberen Umgangston nicht aus gekränktem Ehrgefühl, sondern deshalb zum Anlass einer Beschwerde nehmen, um einen Exponenten der Staatsgewalt Ungelegenheiten zu bereiten. Entgleisungen der im gegenständlichen Falle behandelten Art erscheinen daher in einem milderen Licht.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 14, Karl Fink.

Emotionale Entgleisungen waren also je nach Kontext einzuordnen und zu rechtfertigen. Unterschiedliche soziale Positionen wurden mit der Fähigkeit zu Gefühlen junktimiert: Rechtsbrecher verfügen im Gegensatz zu Staatsbediensteten über kein nennenswertes Ehrgefühl, das demzufolge auch nicht gekränkt werden kann. Die Konsequenz für den Justizwachkontrolleur war letztlich nur eine Zurechtweisung durch seinen Vorgesetzten.

Relativ milde wurde auch ein Wiener Lehrer sanktioniert, der die Beherrschung verloren und einem unbotmäßigen Schüler »während der Unterrichtsstunde von rückwärts einen Schlag auf die linke Wange versetzt« hatte. Die Disziplinaroberkommission, die auch erhoben hatte, ob der Schüler eine solche Behandlung verdient habe, beurteilte das als eine »als Ordnungswidrigkeit anzusehende Pflichtverletzung, wofür über ihn die Ordnungsstrafe einer Rüge verhängt wird«.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 3, Karl Barga.

Politik und Emotion

Da seit 1931 parteipolitische Betätigungen für Staatsbedienstete verboten waren, finden sich gerade in den 1930er-Jahren viele Verfahren, die aufgrund solcher Aktivitäten eingeleitet wurden. In diesem Kapitel diskutiere ich einige Fälle, in denen Emotionen in Verbindung mit politischen Statements bzw. Statements zu Politik auftraten.

Das konnten sehr subtile Verfehlungen sein. Der Postoberoffizial im Postamt Hallein, Eugen Zobel, hatte 1934 am Weg zur Arbeit einer Kollegin das Gerücht weitererzählt, die Vöcklabrücke bei Vöcklamarkt und das Kloster Maria Schmolln seien (von illegalen Nationalsozialisten) gesprengt worden. Er habe, so die Kollegin, dazu gesagt »Das wird noch viel ärger werden, das muss noch viel ärger werden« und dabei gelächelt oder sogar gelacht.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Eugen Zobel.

Dies wurde der besonderen Disziplinarkommission beim Bundeskanzleramt zugetragen, die in diesem Fall kein Verfahren einleitete: Das Weitererzählen einer unbestätigten Meldung, die auch in der Tagespresse verbreitet wurde, stelle keine Verletzung der Amtspflichten dar. Es sei zudem nicht gesichert, ob Zobel tatsächlich gelächelt oder gelacht habe. Offen bleibt die Frage, ob ein Verfahren eingeleitet worden wäre, wenn der Beschuldigte nachgewiesenermaßen gelächelt oder gelacht hätte.

Unangebrachte Freude über eine politische Aktion brachte auch den Kitzbüheler Justizrat im Ruhestand, Ernst Fleischhaker, in Schwierigkeiten. Er hatte 1933 in Gesellschaft einiger Personen angesichts eines am gegenüberliegenden Berghang abgebrannten Hakenkreuzes ausgerufen. »Jessas, ist das ein schönes Hakenkreuzfeuer!«

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 15, Ernst Fleischhaker.

Fleischhaker beteuerte, dieser Äußerung sei »keine demonstrative Absicht zugrunde gelegen, sie sei, vielmehr ohne jeden politischen Nebengedanken erfolgt, lediglich als unwillkürlicher Ausdruck der Bewunderung über den schönen Anblick des Feuers«. Er wurde dafür von der Bezirkshauptmannschaft mit vierzehn Tagen Arrest bestraft. Aber auch hier wurde wegen nicht eindeutigen Zeugenaussagen und angesichts der Tatsache, dass der Ausruf in Gesellschaft nur weniger Personen getan worden war, auf ein Disziplinarverfahren verzichtet.

Der Adjunkt im Post- und Telegrafendienst, Adolf Geissler, hatte im Jahr 1936 in einem Gasthaus angeblich gegen die Regierung gepöbelt und »Heil Hitler« gerufen. Er soll gesagt haben: »Pfui Teufel, das ist nicht schön, dass sie unsere Invalidenrente so gestutzt haben.« Seiner eigenen Darstellung zufolge hatte er aber gesagt: »Das ist nicht schön, dass man uns armen Teufeln unsere Invalidenrente so gestutzt hat.«

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Adolf Geissler.

Seine Äußerungen brachten ihm die Ordnungsstrafe eines Verweises ein. Als der Disziplinaranwalt dagegen berief und eine härtere Strafe forderte, lehnte die Disziplinaroberkommission dies mit folgender Begründung ab: Geissler war für seine starke Reizbarkeit aufgrund schwerer Kriegsinvalidität bekannt, gelte generell nicht als Nationalsozialist und habe zudem zehn Kinder zu versorgen.

Der Forstrat Johann Zisler war im Jahr 1936 in einer öffentlichen Veranstaltung der Vaterländischen Front, bei der über die Vorteile Österreichs durch den Anschluss an Deutschland diskutiert wurde, laut geworden. Das Referat zum Disziplinarfall berichtet, dass ein Diskutant über deutsche Mitkämpfer im 1. WK gesagt habe

Es schmerze uns sehr, daß gerade unsere Stammesbrüder uns öfter als schlappe Österreicher bezeichnet hatten. Bis hieher sei vollkommene Ruhe gewesen. Beim letzten Wort sei Forstrat Zisler aufgesprungen und habe in erregtester und schreiender Art folgendes ausgeführt: ›Es ist unerhört, so zu sprechen, dies ist eine Unwahrheit, ich lasse in Gegenwart zweier Reichsdeutschen die deutsche Ehre nicht so angreifen‹.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Johann Zisler.

Daraufhin wurde er von einem anwesenden Kollegen zurechtgewiesen: »Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, so müssen Sie wissen, was Versammlungsdisziplin ist und hätten um das Wort bitten sollen.«

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Johann Zisler.

Zisler hätte ihn unterbrochen und weitergeschrien. Er wäre beinahe von der Gendarmerie aus der Versammlung entfernt worden, verließ die Veranstaltung dann aber selbst. Der Forstrat wurde in der Folge vom Dienst suspendiert, von einem Disziplinarverfahren oder dessen Ausgang berichtet der Akt aber nichts. Es gibt Grund zu der Annahme, dass nach dem März 1938 an seiner Aussage nichts politisch Problematisches mehr gefunden worden war.

Der Polizeirayonsinspektor August Chico stellte den seltenen Fall eines Beamten dar, der 1933 wegen Sympathiebekundungen für die Sozialdemokratie (und nicht den Nationalsozialismus, wie so viele andere seiner Zeitgenossen) ein Disziplinarverfahren bekam. Ihm wurde vorgeworfen, dass er sein Fenster mit roten Lampions und Girlanden und dem Bild eines sozialdemokratischen Führers sowie der Aufschrift »Hoch das Rote Wien!« geschmückt habe. Dafür wurden seine Bezüge für sechs Monate um 10 % gekürzt, seine Berufung dagegen wurde abgelehnt. Vielleicht ist es zu weit hergeholt, ein solches Verhalten als emotional zu klassifizieren, die liebevolle Gestaltung des Fensters könnte aber durchaus positive Affekte für eine politische Partei implizieren.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 8, August Chico.

Generell lässt sich beobachten, dass diese politisch-emotionalen Fälle keine oder nur milde Disziplinarstrafen nach sich zogen. Das kann einerseits daran liegen, dass der Ausdruck der Emotion zu flüchtig ist (war es ein Lächeln oder nicht?). Andererseits war ein hochemotionaler Zustand unter Umständen ein Milderungsgrund, wenn aufgrund von Kriegsinvalidität oder Krankheit eine stärkere Neigung zur Erregung bestand.

Grüßen und Nichtgrüßen im Amt

Im weiter oben erwähnten Roman »Ein Tag wie alle« ist das Grüßen unter Kollegen ein heikles Thema, es findet sich aber auch in den nicht fiktionalen Disziplinarakten. Mathilde Franek, eine Oberoffizialin im Post- und Telegrafendienst in Wien, war um fünf Minuten verspätet im Dienst erschienen. Sie habe sich beim Aufsicht habenden Oberinspektor Dostal nicht gemeldet, nicht entschuldigt und ihn auch nicht gegrüßt. Der Oberinspektor gab zu Protokoll:

lch habe sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie rechtzeitig im Dienste zu erscheinen oder sich zumindest zu entschuldigen hat. Darauf entgegnete sie mir, dass ich ihr gar nichts zu sagen habe, sie ist kein Dienstbote, sie wird sich über mich beschweren und übrigens kann ich sie anzeigen so oft ich will.

Mathilde Franek beschrieb das Zusammentreffen mit Dostal ihrerseits so:

»›Zuerst kommen Sie zu spät und dann grüssen Sie nicht und entschuldigen sich nicht.‹ Er habe dies in schreiendem Tone gesagt, worauf sie erwidert habe, er solle nicht schreien, sie sei nicht seine Hausbesorgerin.

Sie fügte hinzu, dass sie Herren überhaupt nie zuerst grüße.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 16, Mathilde Franek.

Die Unfreundlichkeiten zwischen Franek und Dostal waren nicht der zentrale Gegenstand des Disziplinarverfahren – es ging in erster Linie um die Verspätung und die Nichtbeachtung eines Erlasses über die Grußpflicht. Darüber hinaus wurden damit aber soziale Hierarchien, Geschlechterverhältnisse und Regeln für das Zeigen von Emotionen im dienstlichen Verkehr verhandelt. Über Mathilde Franek wurde schließlich die Disziplinarstrafe des Ausschlusses von der Vorrückung in höhere Bezüge für ein halbes Jahr verhängt.

Der Rayonsinspektor Franz Gelb kam in einer Julinacht des Jahres 1929 zu einem Kaffeehaus im dritten Wiener Gemeindebezirk, aus dessen offenen Türen großer Lärm zu vernehmen war. Er forderte unverzüglich die Schließung der Türen. Auf den Hinweis, der im Kaffeehaus anwesende (höherrangige) Revierinspektor Zischka habe die Öffnung der Türen verlangt, weil die Luft im Lokal so schlecht war, reagierte er mit den Worten: »lch habe Strassendienst und nicht der Inspektor, schliessen Sie sofort die Tür!« Das Referat zum Disziplinarfall gibt die weiteren Ereignisse so wieder:

Als nun Revierinspektor Zischka, durch den Kaffeesieder von der Anordnung Gelbs verständigt, sich vor die Eingangstüre begab und Gelb über den Grund des Widerrufes der von ihm getroffenen Anordnung fragte, entgegnete Gelb ohne Zischka zu grüssen in barschem Tone ›Anordnungen gebe ich, die Türe ist zu schliessen.‹ Rayonsinspektor Gelb, von Revierinspektor Zischka wegen dieses Benehmens zur Rede gestellt, fixierte den Revierinspektor mit auf dem Rücken gekreuzten Armen und erklärte ›Sie sind herausgekommen, da haben Sie mich zuerst zu grüssen!‹ und kehrte dem RevierInspektor [sic!] den Rücken. Als Gelb, der Zischka nicht einmal mit dem Diensttitel angesprochen hatte, von der Erstattung der Anzeige verständigt wurde, rief er Zischka noch die Worte ›Aber Ja‹ nach.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Franz Gelb.

Zischka gab darüber hinaus an, dass Gelb ihm am selben Abend schon früher auf der Straße begegnet war und auch bei dieser Gelegenheit nicht gegrüßt hatte. Die Disziplinarkommission in erster Instanz befand, Franz Gelb habe »durch sein Verhalten die dienstlichen und Standesrücksichten des Wachekorps in grober Weise gefährdet, weshalb sich seine Verfehlung als Dienstvergehen darstellt«. Dieses Vergehen wurde mit einer Minderung der Dienstbezüge um drei Prozent für die Dauer von drei Monaten geahndet. Gelb berief gegen das Urteil, woraufhin es auf einen bloßen Verweis abgemildert wurde. Als Begründungen dafür wurde angegeben, dass nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, ob in einem Fall das Nichtgrüßen vorsätzlich geschehen sei, und dass der Beschuldigte in seiner bisherigen Laufbahn viele Belobigungen, aber keine Strafen bekommen hatte.

Beamtengefühl

Was kann man sich unter »Beamtengefühl« vorstellen? Der Begriff taucht in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts,

Z. B. Ludwig Kalisch: Paris und London. Bd. 2: London, Frankfurt am Main 1851, S. 107. Der Kontext ist ein Ringkampf eines Polizisten mit einer jungen Frau: »Weder sein gekränktes Beamtengefühl, noch sein Ehrgefühl als Mann, das in dem Kampfe mit einem Weibe, und mit einem solchen Weibe so sehr verletzt wurde, noch die vielen Zuschauer […] vermochten seinen Gleichmuth zu stören.«

aber fallweise auch in Zeitungen auf. So schreibt die Arbeiterzeitung vom 27. 10. 1908 über einen unsympathisch dargestellten preußischen Bahnhofsvorsteher, er sei »mehr vom Beamtengefühl als von Herzenskultur«

»Preußische Grobheit«, in: Arbeiterzeitung, 27. 10. 1908, S. 9.

geprägt. Hier ist eine negative Konnotation beabsichtigt, dieses Gefühl steht für die Haltung von »Vorschrift ist Vorschrift«, für mangelnde Flexibilität und Hilfsbereitschaft. Im weiter oben angeführten Zitat aus Festenbergs »Ein Tag wie alle« ist vom bis ins Äußerste gesteigerten »Ehrgefühl« des Kollegen Edlacher die Rede. Dieses Gefühl bezieht sich auf das Ansehen des Amtes, welches die Staatsbediensteten hüten müssen – »alles vermeiden, was die Achtung und das Vertrauen, die seine Stellung erfordern, schmälern könnte«

Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914, § 24.

, besagt die (auch in der Zwischenkriegszeit gültige) Dienstpragmatik von 1914. An dieses Ehrgefühl erinnert auch die Rede vom »Beamtengefühl« in einem Disziplinarakt aus dem Jahr 1926. Wilhelm Friedrich, ein Regierungsrat der Polizei in Salzburg, hatte, weil er in finanziellen Nöten war, gegen Geld einem Kaufmann geholfen, Orientteppiche über die Grenze nach Deutschland zu schmuggeln. Dies gestand er erst nach vielen Befragungen und nachdem zahlreiche belastende Beweise vorlagen. In der Verteidigungsrede seines Anwalts, des oberösterreichischen Landesregierungsrats Dr. Karl Foregger, taucht nun das »Beamtengefühl« auf:

Mehr kann man aber dem Beschuldigten nicht vorwerfen, als dass er in einer etwas odiosen Form an dem Schmuggel nach Deutschland teilgenommen habe und dass er durch seine Verbindung mit dem jüdischen Agenten Neumann einen Mangel an Zartgefühl bewiesen habe. Dass er so lange geleugnet habe, ist menschlich begreiflich, aber auch aus seinem Beamtengefühl zu erklären. Er wollte im öffentlichen Interesse die Sache möglichst gut bereinigt haben. Vor der Disziplinarkommission hätte er ja vielleicht gestanden, wenn sich das Geständnis auf den Disziplinarfall beschränkt hätte. Dass er dem Auslande gegenüber die Sache zu retten trachtete,

Die Beihilfe zum Schmuggel hätte unter Umständen auch eine strafrechtliche Verfolgung des Regierungsrates von deutscher Seite mit sich bringen können, was dann aber nicht der Fall war.

war gerade aus dem Beamtengefühl verständlich.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 17, Wilhelm Friedrich.

Hier stellt sich die Frage, welche Art von Emotion das Beamtengefühl ist, etwa im Vergleich zu weiter verbreiteten Emotionen wie Freude, Angst oder Wut. Es handelt sich dabei nicht um eine kurzfristig auftretende Emotion, sondern eher eine »langfristige mentale Disposition«, die dann eher der Mentalitäts- denn der Emotionsgeschichte zuzurechnen wäre, wie Rüdiger Schnell empfiehlt.

Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 895.

Die historische Wandelbarkeit des Beamtengefühls wird interessanterweise an anderer Stelle in der oben zitierten Verteidigungsrede angesprochen:

Wir sind durch die Verhältnisse doch genötigt, einen neuen Geist in alte Formen zu giessen. Gar so viel hohes Pflichtbewusstsein [sic!] ausser Dienst, Standespflichtbewusstsein, Feingefühl und Delikatesse kann man heute schwer vom Beamten verlangen. Auch abgesehen von der unzureichenden Bezahlung ist die tatsächliche Stellung eine ganz andere geworden. Wir sind die letzten Pfeiler, die den alten Staat zusammengehalten haben; der Beamtenstand hat die Monarchie verkörpert, er war Selbstzweck höchstens Standesbewusstsein konnte und musste man erwarten. Heute sind wir durch die Not des Augenblickes, aber auch durch die eingetretene ständische Verschiebung abgestumpfter; wir müssen mit einem Sinken des Niveaus rechnen, wir können nicht mehr so viel verlangen wie im Jahre 1914.

Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 17, Wilhelm Friedrich.

Diese Argumentation, die das Wortfeld noch um die Begriffe »Pflichtbewusstsein«, »Standes(pflicht) bewusstsein«, »Feingefühl« und »Delikatesse« erweitert, verweist auf einen Prozess, der aus meiner Sicht für die Staatsbediensteten dieser Zeit schmerzhaft spürbar war: eine Abwertung ihres Standes, ein Verlust nicht nur an ökonomischem, sondern auch an symbolischem Kapital.

An das »Beamtengefühl« zu appellieren, war in diesem Fall allerdings keine erfolgreiche Strategie. Der Regierungsrat, der in erster Instanz mit dem Ausschluss von der Vorrückung in höhere Bezüge für die Dauer von drei Jahren bestraft worden war, erhielt nach der Berufung des Disziplinaranwalts eine weit gravierendere Strafe: Er wurde mit um zehn Prozent gekürzten Bezügen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.

Fazit

Disziplinarakten sind nicht die erste Quellengattung, an die man denkt, wenn es darum geht, Emotionen zu erkunden. Und doch erweisen sie sich als äußerst aussagekräftig, wenn es darum geht, eine »emotionology« der Zwischenkriegszeit zu skizzieren. In den Beispielen – ausgewählt wurden fast alle der bisher erhobenen Fälle, die in irgendeiner Weise mit Emotionen zu tun haben – finden wir Emotionen an unterschiedlichen Positionen. Einmal sind emotionale Ausbrüche der Anlass für ein disziplinarrechtliches Verfahren, dann wieder sind »emotional expressions« Hinweise auf Verletzungen von Dienstrecht oder Standesansehen, wenn etwa damit Sympathien oder Antipathien für politische Parteien ausgedrückt werden. Aber auch auf die letztliche Bewertung des Disziplinarvergehens haben Emotionen Einfluss, wenn etwa Reue als mildernder Umstand genannt wird oder wenn eine Gewalttat mit »Erregung« erklärt wird. Letzteres impliziert wohl, dass die beschuldigte Person normalerweise (wenn sie gerade nicht provoziert wird) ganz anders sei. Die dargelegten Fälle betreffen größtenteils Emotionen, wie sie andere Personen außerhalb des Staatsdiensts auch haben. Darüber hinaus war auch vom sogenannten »Beamtengefühl« als Haltung, Mentalität, vielleicht gar Habitus die Rede. Dabei bleibt offen, wie sehr verinnerlicht dieses spezielle Ehrgefühl bei Staatsbediensteten ist. Das sagen uns die Quellen nicht, und wenn der Kontext, in dem das Wort auftaucht, die Verteidigungsrede eines Anwalts ist, dann besteht überhaupt der Verdacht, dass es sich um Rhetorik und Ideologie handelt. »Beamtengefühl« ist wie es scheint eher eine Sache der Standesehre und der Loyalität als eine allgemein moralische Angelegenheit. Aus diesem »Gefühl« heraus ist es sogar gerechtfertigt, die Unwahrheit zu sagen bzw. die Wahrheit zu verschweigen, wenn es denn dem Schutz des Ansehens des Amtes dient. Der Behörde – in Gestalt der Disziplinarkommission – scheint jedenfalls sehr klar zu sein, dass Staatsbedienstete auch nur Menschen sind, die Emotionen empfinden und zum Ausdruck bringen. Diese Emotionen haben ganz klar soziale Funktionen, die den Umgang miteinander im Amt nicht nur stören. Emotionen dienen etwa dazu, Statusunterschiede und Geschlechterverhältnisse zu klären sowie persönliche Grenzen abzustecken.

Die Frage danach, ob Staatsbedienstete eine »emotional community« bilden, kann und soll im Rahmen dieser Untersuchung nicht hinreichend beantwortet werden. Es gibt wohl Hinweise darauf, dass Zurückhaltung im Ausdruck von Emotionen im Dienst und darüber hinaus angesagt ist – diese Vorgabe teilen die Staatsbediensteten mit dem modernen »Angestelltensubjekt«. Auch für das ausgeprägte Hierarchiebewusstsein, das den Staatsbediensteten eigen ist und das sich etwa im Grußverhalten manifestiert, sind Emotionen wesentlich. Das Quellenmaterial Disziplinarakten hat allerdings einen gewissen bias: Von Disziplinarverfahren waren in den von mir untersuchten Fällen deutlich mehr Staatsbedienstete aus niedrigeren Hierarchieebenen betroffen. Von diesen wiederum waren es vor allem »street-level bureaucrats«,

Michael Lipsky: Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services. New York 2010.

die durch die Art ihrer Tätigkeit mehr in der Öffentlichkeit stehen und deren Fehlverhalten dadurch sichtbarer ist als das von anderen. Weiterführende Untersuchungen im Sinne einer »emotionology« von Staatsbediensteten wären wünschenswert.

Die Ausweitung der These von der Entemotionalisierung des nachbürgerlichen »Angestelltensubjekts«, die Andreas Reckwitz etwa ab 1920 beobachtet, auf die Staatsbediensteten der Zwischenkriegszeit möchte ich allerdings infrage stellen. Wiewohl die von mir betrachteten Quellen aus dieser Zeit nahelegen, dass ein offener, starker Ausdruck von Emotionen tendenziell abgelehnt und vermieden wird, bedeutet das keine »rigide Entemotionalisierung des Subjekts«.

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 437.

Bei Reckwitz geht es immerhin um mehr als nur eine strikte Trennung zwischen innerlich empfundenen Emotionen und dem, was davon nach außen gezeigt wird, die etwa in dem autobiografisch-literarischen Werk »Ein Tag wie alle« und in den Beispielen aus Manierenbüchern eindringlich beschrieben wird. Sein nach-bürgerliches Subjekt

trainiert sich […] Dispositionen und Begehrensformen an, die dem Ideal sozialer Extroversion zuwiderlaufen, in ihm statt dessen eine neue Form der Innenwelt produzieren. Diese Innenwelt ist nicht von moralischen, sondern von ästhetischen Orientierungen bevölkert […].

Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 436.

Auf eine derartige Umgestaltung des inneren Erlebens geben die hier analysierten Quellen keine Hinweise. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Emotionalität ebenso wie moralische Orientierungen bei den Staatsbediensteten durchaus vorhanden sind, auch wenn moralische Prinzipien im Namen des »Beamtengefühls« aufgeweicht werden können, wenn Standesehre mitunter mehr zählt als Ehrlichkeit. Dass die Staatsbedienstetensubjekte »die stürmischen Winde« der Emotionen, um noch einmal mit Claudio Magris zu sprechen, »mit den Klammern amtlicher Aktenmappen aufzuhalten«

Claudio Magris: Der habsburgische Mythos, S. 17.

suchen, heißt also nicht, dass es ihnen an Gefühl und Gefühlen mangeln würde.

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2519-1187
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Inglese