Wie Max Weber in seinen Ausführungen zur bürokratischen Verwaltung verdeutlicht, haben Emotionen darin aus idealtypischer Perspektive nichts verloren:
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 129.
Freilich sieht das anders aus, wenn man sich aus der wohlgeordneten Sphäre der Idealtypen in die Empirie begibt. Martin Albrow, der sich eingehend mit der Frage beschäftigt hat, ob und inwiefern Organisationen Emotionen haben, identifiziert die für die Moderne so typische Polarität von Rationalität und Emotionalität als soziale Konstruktion und befindet »It is not a question of the one side of the coin, rational organization, having the emotional on the other side. Rather, the quality of feeling suffuses all organizational activity.« Martin Albrow: Do Organizations Have Feelings, London 1997, S. 90.
Emotionen sind nicht leicht zu definieren. Im Unterschied zu Gefühlen, die als psychisch-subjektives Erleben verstanden werden (Gefühle als »das Empfinden einer Emotion«), Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of Emotions, Göttingen 2015, S. 61. Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 30f. Eine aktuelle psychologische Studie, die auf Selbsteinschätzungen von Probanden beruht, unterscheidet sogar 27 Emotionen, siehe Allen S. Cowen / Dacher Keltner: »Self-report captures 27 distinct categories of emotion bridged by continuous gradients«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, September 2017, online unter: Paul Ekman / Wallace V. Friesen / Phoebe Ellsworth: Emotion in the Human Face. Guidelines for Research and an Integration of Findings, New York 1972. Anne Schmidt: »Showing Emotions, Reading Emotions«, in: Ute Frevert et al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014, S. 62–90, hier S. 88f; Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. International Journal for the History and Theory of Emotions 1 (2010), S. 1–32, hier S. 5–10.
Paul R. Kleinginna / Anne M. Kleinginna: »A Categorized List of Emotion Definitions. With Suggestions for a Consensual Definition«, in: Motivation and Emotion, 5 (1981), S. 345–379, hier S. 355.
Für meine Untersuchung scheint es mir sinnvoll, Emotionen als einen Prozess zu betrachten, wie Hilary Anger Elfenbein das in einem Aufsatz zu Emotionen in Organisationen anschaulich darstellt. Am Anfang steht ein Stimulus, auf den emotionales Registrieren (»emotional registration«), emotionales Erleben (»emotional experience«) und der Ausdruck der Emotion (»emotional expression«) folgen. Für das Gegenüber ergeben sich dadurch Signale (»expressive cues«), die als Stimuli für einen neuen reaktiven Emotions-Prozess dienen können. Hilary Anger Elfenbein: »Emotion in Organizations. A Review and Theoretical Integration«, in: The Academy of Management Annals 1/1 (2007), S. 315–386, hier S. 318. Anger Elfenbein: »Emotion in Organizations«, S. 332.
Während die bisher angeführten Definitionen keinen Bezug auf mögliche historische Dimensionen von Emotionen nehmen, hat die Emotionsgeschichte sich genau das zum Ziel gemacht. Ute Frevert: »Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?«, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), S. 183–208. Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 312. Ebd., S. 134. Franz X. Eder: Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit, Frankfurt am Main 2018, S. 20. Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 18.
Peter N. Stearns und Carol Z. Stearns haben bereits in den 1980er-Jahren als Forschungsstrategie empfohlen, zwischen Emotionen und »emotionology« zu unterscheiden. Diese »emotionology« bestimmen sie als
Peter N. Stearns / Carol Z. Stearn: »Emotionology. Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards«, in: The American Historical Review, 90 (1985), S. 813–836, hier S. 813.
Es geht also darum, den Rahmen zu untersuchen, innerhalb dessen Emotionen, deren Empfindung, Äußerung und die adäquaten Reaktionen darauf, in einem historischen Kontext für bestimmte Gruppen möglich sind. Barbara Rosenwein hat für dieses Forschungsinteresse den Begriff der »emotional communities« entwickelt, den ich auf die von mir untersuchten Staatsbediensteten anwenden möchte:
Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, S. 11.
Mir ist dabei bewusst, dass Staatsbedienstete keine homogene Gruppe sind und insofern für Eisenbahner, Sicherheitswachmänner, Postoberoffizialinnen und Sektionsräte (um nur einige Beispiele zu nennen) nicht exakt dieselben emotionalen Spielregeln zutreffen. Ihnen gemeinsam ist aber ein Dienstrecht, das ihnen vorschreibt, sich »in und außer Dienst«, wie die Dienstpragmatik von 1914 vorgibt, Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914.
Barbara Rosenwein formuliert eine Reihe praxisnaher Ratschläge für emotionsgeschichtliche Forschung, Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, S. 12–21. Über die sozialen Aspekte von Emotionen schrieb bereits Georg Simmel: »Daß die Menschen sich gegenseitig anblicken, und daß sie aufeinander eifersüchtig sind; daß sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; daß sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipathisch berühren; daß die Dankbarkeit der altruistischen Leistung eine unzerreißbar bindende Weiterwirkung bietet; daß einer den andern nach dem Wege fragt und daß sie sich füreinander anziehn und schmücken – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen [...] knüpfen uns unaufhörlich zusammen [...]. Hier liegen die, nur der psychologischen Mikroskopie zugänglichen Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft.«, Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 33.
Daraus ergibt sich folgende Struktur: Zuerst gehe ich kurz auf die Forschungsliteratur zur Geschichte von Emotionen in der Zwischenkriegszeit ein. Dann werden anhand von unterschiedlichem Quellenmaterial – Manierenbücher und Belletristik, am ausführlichsten aber Disziplinarakten der 1920er- und 1930er-Jahre – die sozialen Funktionen von Emotionen von Staatsbediensteten und im Amtsvollzug untersucht.
Fragt man nach der Geschichte von Emotionen im frühen 20. Jahrhundert, so kann man auf einen reichhaltigen Forschungsstand zugreifen. Beispielsweise Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010; Ute Frevert et al. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014, Uffa Jensen / Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008; Christian Koller: »›Es ist zum Heulen‹. Emotionshistorische Zugänge zur Kulturgeschichte des Streikens«, in: Geschichte und Gesellschaft 36/1 (2010), S. 66– 92. Für eine kritische Bestandsaufnahme der Emotionsgeschichte (nicht nur der Zwischenkriegszeit) siehe Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte? Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 288. Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2010, S. 189. Subjekt versteht Reckwitz als »kontingentes Produkt symbolischer Ordnungen, welche auf sehr spezifische Weise modellieren, was ein Subjekt ist, als was es sich versteht, wie es zu handeln, zu reden, sich zu bewegen hat, was es wollen kann«, Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 34. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 337.
Ebd., S. 416.
Bereits in zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird über solche Tendenzen berichtet. So konstatiert etwa Charlotte Bühler in einer 1934 erschienenen Untersuchung von Mädchentagebüchern aus drei Generationen, dass die jüngste Generation einen neuen Typ darstelle, der zur »neuen Sachlichkeit« Charlotte Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, Jena 1934, S. 59. Ebd., S. 70. Frank Matzke: Jugend bekennt: so sind wir, Leipzig 1930, S. 173. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 417. Reckwitz: Unscharfe Grenzen, S. 172. Eine solche Sichtweise spiegelt sich auch in einer Bemerkung in der populären Autobiografie einer 1896 geborenen Frau, die 1971 aufgezeichnet wurde. Die Frau schreibt über ihre Mutter, diese sei »selbst für die damalige, gefühlsselige ›Vergißmeinnicht- und Rosenzeit‹ [die 1880er-Jahre, TG] ein etwas sentimentales Mädchen zu nennen«, Therese Schobloch: »Hinterlegte Zeichen«, in: Andrea Schnöller / Hannes Stekl (Hg.): »Es war eine Welt der Geborgenheit…«. Bürgerliche Kindheit in Monarchie und Republik, Wien, Köln 1987, S 171–200, hier S. 172.
Barbara Asen, die in ihrem Aufsatz über Briefkommunikation von Paaren der Zwischenkriegszeit die Forschungsliteratur zur Versachlichung und Entemotionalisierung in dieser Zeit diskutiert, unterstreicht hingegen dezidiert, dass von einer »Gefühlsarmut« keine Rede sein kann. Sie führt die verhaltene Emotionalität, die ironisch gebrochenen Liebeserklärungen, die sie in den von ihr untersuchten Paarkorrespondenzen vorfindet, auf eine »Verunsicherung hinsichtlich ihrer Positionierung im Rahmen verschiedener Liebeskonzeptionen und Geschlechtermodelle« Barbara Asen: »›... nicht nur Gattin, sondern auch treue Kameradin.‹ Zur Konstruktion von Liebesbeziehungen in der Briefkommunikation von Paaren der Zwischenkriegszeit«, in: Ingrid Bauer / Christa Hämmerle (Hg.): Liebe Schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 139–170, hier S. 149.
Ab dem späten 19. Jahrhundert lässt sich, so Ufa Jensen und Daniel Morat, eine »Verwissenschaftlichung des Emotionalen« beobachten. In der »langen Jahrhundertwende«, welche die Autoren zwischen 1880 und 1930 ansetzen, beginnen sich die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen für Emotionen zu interessieren. Jensen / Morat: Rationalisierungen des Gefühls, S. 13.
Ute Frevert: »Defining emotions. Concepts and debates over three centuries«, in: Frevert et al: Emotional Lexicons, S. 1–31, hier S. 7.
In dieser Zeit entstanden in den Sozialwissenschaften auch die einflussreichen Thesen von Max Weber und Norbert Elias zu Prozessen der Modernisierung, Rationalisierung und Zivilisation. Siehe Arthur Bogner: Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorien Max Webers, Norbert Elias und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989. Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« [1930], in: Gesammelte Werke 14, hg. von Anna Freud et al., London 1948, S. 419–506, hier S. 422.
Uffa Jensen: »Freuds unheimliche Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Freudschen Psychoanalyse«, in: Uffa Jensen / Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 135–152, hier S. 136.
Die nun folgenden Unterkapitel zeigen anhand unterschiedlicher Quellen auf, in welchem Rahmen Emotionen – von Staatsbediensteten, aber nicht nur von ihnen – in der von mir untersuchten Periode zum Ausdruck kamen und welche sozialen Funktionen damit verbunden waren.
Eine Quelle, die es erlaubt, insbesondere die Grenzen der Ausdrucksformen von Gefühlen abzustecken, sind Manierenbücher. Zu Benimmbüchern bzw. Manierenbüchern als historische Quelle siehe Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1994, S. 22–25. Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 68. Döcker verweist auch auf antisemitische und rassistische Umschreibungen von Manierenbüchern im Lauf der 1930er-Jahre, Ulrike Döcker: Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 67–69.
Oswald von Hocheneck: Der gute Ton für Herren. Anleitung sich in verschiedensten Verhältnissen des Lebens und der Gesellschaft als feiner, gebildeter Mann zu benehmen, Wien 1920, S. 44f.
Ein anderes Buch, welches »Benehmen und Lebenszuschnitt in gebildeten Kreisen« lehren will, erkennt die Unterschiede zwischen mehr oder weniger kultivierten Personen an ihren Gesichtern: »Halbgeöffneter Mund, weitaufgerissene Augen, die staunend umherschweifen, zeigen uns an, wohin wir den Besitzer einzureihen haben.« Walter Bodanius: Benehmen und Lebenszuschnitt in gebildeten Kreisen, Konstanz 1924, S. 9.
Ebd., S. 10.
Das deckt sich mit Andreas Reckwitz’ Aussage über psychologische Beratungsdiskurse der 1920er- bis 1960er-Jahre, der zufolge die nach-bürgerliche Kultur ein Subjekt prämiert,
Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 416f.
Beamte treten auch als Protagonisten literarischer Werke auf. Das ist kein österreichisches Spezifikum – man denke nur an diverse Helden in den Romanen und Erzählungen von Nikolaj Gogol’ oder Anton Čechov oder an die Literatur des Osmanischen Reichs. »Literary pictures of Ottoman society reflect this occupational pattern in the prominence of civil officials or former officials as leading characters. In a society with a largely invisible royal family, few military heroes of recent memory, no media celebrities, and perforce no captains of industry, handsome young officials figured as literary protagonists to a degree that is difficult for anyone unacquainted with the literature to imagine.«, Carter Vaughn Findley: Ottoman Civil Officialdom. A Social History, Princeton 1989, S. 12. Zur Bürokratie in der österreichischen Literatur siehe Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich, Wien 2009.
Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 378.
In dieser Beschreibung finden sich zumindest einige Hinweise auf emotionale Prozesse, wenn auch in verhaltener Form. Zurückhaltend werden Beamte auch bei Claudio Magris charakterisiert, der in seinen Überlegungen zum habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur die Figur des »fleißigen alten Beamten evoziert, der, in der Kanzlei wie im persönlichen Leben, die stürmischen Winde mit den Klammern amtlicher Aktenmappen aufzuhalten strebt«, Claudio Magris: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966, S. 17. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 16.
Literarische Werke sind als historische Quellen mit Vorsicht zu genießen, ebenso wie ein Mythos, der obendrein erst Jahrzehnte nach der Zeit, die er betrifft, ausformuliert wurde. Ich konzentriere mich hier, mit der Absicht den Rahmen für die emotional community der Beamten zu skizzieren, auf einen in der Zwischenkriegszeit entstandenen autobiografischen Roman über einen Tag im Leben eines Beamten in den 1920er-Jahren. Es handelt sich um Gustav von Festenbergs »Ein Tag wie alle«, erschienen im Jahr 1939. Festenberg war einige Jahre in der Bezirkshauptmannschaft Eferding beschäftigt, und auf diesen Erfahrungen basiert der Roman. Christoph Mattle: Gustav von Festenberg – zwischen Schöngeist und Beamtentum, Oberhausen 2002, S. 158. Zelger: Das ist alles viel komplizierter, S. 256–286.
Gustav von Festenberg: Ein Tag wie alle, Wien 1939, S. 22f.
Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen manifestiert sich auch in kleinen, weniger dramatischen Dingen, wie etwa seine Antwort auf den morgendlichen Gruß des Hausmeisters:
Ebd., S. 37.
Bei der Beschreibung von Kollegen im Amt finden wir einerseits sehr menschliche Regungen (Zorn), aber auch eine spezielle Spielart von (Ehr-)Gefühl, die auch in den nichtfiktionalen Disziplinarakten wieder auftauchen wird. Der »Sekretär Edlacher« wird etwa so charakterisiert:
Ebd., S. 52f.
Das Verhältnis der Hauptfigur Franz von Taxenbach zu diesem Sekretär ist kompliziert, weil unklar ist, welchen Status die beiden in der Amtshierarchie im Verhältnis zueinander innehaben. Das wird schon beim morgendlichen Grüßen problematisch:
Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 53f.
Noch komplizierter wird es allerdings, wenn das erste Treffen auf neutralem Boden, also außerhalb der jeweiligen Büros stattfindet:
Ebd., S. 54f.
Korrektes Grüßen ist im sozialen Umgang zwischen Staatsbediensteten von enormer Bedeutung. Abweichungen davon können, wie wir weiter unten sehen werden, auch disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Aus dem letzten Satz ist ersichtlich, dass diese (Nicht-)Grüßrituale auch Emotionen hervorrufen. Darauf kommt der auktoriale Erzähler einige Seiten später noch einmal zurück:
Ebd., S. 56.
Im Umgang mit Parteien können offen gezeigte Emotionen zu einer Überforderung des Beamten Taxenbach führen:
Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 198.
Diese Auszüge aus einem autobiografischen Beamtenroman, der in der Zwischenkriegszeit entstanden ist und von Ereignissen dieser Zeit kündet, zeigen uns keinesfalls das Bild eines gefühlsarmen Menschen. Ganz im Gegenteil, viele unterschiedliche Emotionen suchen ihn im Laufe des beschriebenen Tags heim. Auch romantische, leidenschaftliche Empfindungen sind dem unverheirateten Spätdreißiger nicht fremd, sei es, wenn er Erinnerungen an eine frühere Liebe nachhängt, »Die Liebe Elizawetas zu Franz ist wie die Liebe des Bildhauers zu Stein. Er zertrümmert ihn, um ihm die rechte Form zu geben«, Festenberg: Ein Tag wie alle, S. 76.
Dieses Unterkapitel basiert auf einem Text, den ich in meinem Projektweblog veröffentlicht habe, siehe Therese Garstenauer: Warum Disziplinarakten eine großartige Quelle für die Erforschung von standesgemäßer Lebensführung sind, online unter:
Jede soziale oder professionelle Gruppe hat mehr oder weniger klare Normen und Vorstellungen darüber, wie man in richtiger Weise Teil dieser Gruppe sein soll. Bei den Staatsbediensteten gab es (und gibt es bis heute) aber einen spezifischen Unterschied: Für sie war die Verpflichtung, sich so zu verhalten, dass das Ansehen des Staates und des Amtes nicht geschädigt wird, auch im Dienstrecht enthalten. Ein Beamter, der ein unehrenhaftes Leben führte, war nicht in einer Position, den Staat zu repräsentieren. Wenn also die Grenzen der standesgemäßen Lebensführung überschritten wurden, konnte das zu Disziplinarverfahren und Disziplinarstrafen führen. Das betraf Übertretungen im Dienst (zum Beispiel unentschuldigtes Fernbleiben, Unterschlagung, Trunkenheit, Gewalt gegenüber Parteien, Mittragen politischer Schriften…) oder im Privatleben (zum Beispiel exzessives Schuldenmachen, Teilnahme an politischen Demonstrationen, sexuelle Übergriffe …). Beamte, die strafrechtlich verurteilt wurden, erhielten zusätzlich Disziplinarstrafen. Das Spektrum der strafweisen Konsequenz reichte vom bloßen Verweis über gekürzte Bezüge oder frühzeitige Versetzung in den Ruhestand bis im extremsten Fall zur fristlosen Entlassung.
Die das Disziplinarrecht betreffenden Absätze in der Dienstpragmatik Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914. Verordnung des Bundeskanzlers Karl Buresch vom 2. 12. 1931.
War eine mutmaßliche Disziplinarverfehlung vorgefallen, so bildeten Vorgesetzte innerhalb der Organisation, in der die beschuldigte Person arbeitete, eine Kommission. In komplizierten oder kontroversiellen Fällen wurde eine zweite Instanz angerufen. Die Zuständigkeit dafür lag zunächst bei den Ministerien, ab 1931 bei der Disziplinaroberkommission im Bundeskanzleramt.
Diese Vagheit der Dienstpragmatik ist für meine Forschungszwecke sehr günstig: Die Grenzen von Anständigkeit und Standesgemäßheit mussten in den Disziplinarkommissionen ausverhandelt werden. Die Kommissionsmitglieder erörterten, ob es sich um ein Disziplinarvergehen oder bloß eine Ordnungswidrigkeit handelte, wie schlimm das Vergehen gegebenenfalls war und ob bzw. welche Strafen daher verhängt werden sollten. In manchen Fällen wies die beschuldigte Person die Vorwürfe zurück. Manche Akten enthalten auch Eingaben von Zeugen. So ergeben sich Einblicke in Leben und Lebensführung von Beamten im Rahmen des beruflichen, aber oft auch des privaten Umfelds.
Im Österreichischen Staatsarchiv (Archiv der Republik) gibt es einen Bestand von ca. 900 zweitinstanzlichen Disziplinarakten, die von der Disziplinaroberkommission beim Bundeskanzleramt bearbeitet worden waren. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission. Bisher habe ich etwa ein Drittel dieses Bestandes erfasst.
Josef Gargulak, Adjutant im Post- und Telegrafendienst in Wien, hatte im Oktober 1934 gemeinsam mit einem Kollegen ein Lotterielos gekauft. Über das Wechselgeld waren die beiden in Streit geraten, und was weiter geschah, stellten die Beteiligten unterschiedlich dar. Der Kollege gab an, von Gargulak an der Kehle gepackt worden zu sein und einen Stoß erhalten zu haben, infolgedessen er gestürzt sei, sich die Hose zerrissen und einen Arm gebrochen habe. Gargulak dagegen sagte aus, er habe nur eine Abwehrbewegung gemacht, weil der Kollege sich angeschickt habe, ihn anzuspucken. »In maßloser Erregung darüber stieß ich Watzel von mir. Aber die Absicht, mich tätlich an ihm zu vergreifen oder gar ein Leid anzutun lag mir vollkommen ferne.« Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Josef Gargulak.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Josef Gargulak.
Danach gefragt, wie er sich zu der Tatsache verhalte, dass aus der unüberlegten und unbeabsichtigten Handlung so schwerer Schaden entstanden ist, meinte Gargulak: »Ich bin darüber sehr unglücklich. Aber ich kann nur wiederholen, dass ich an den Folgen des Stosses in keiner Weise schuldtragend bin.« Dass er sich »im Dienste in einen Streit eingelassen und durch die Störung eines dienstlichen Vergehens schuldig gemacht habe«, wie die Kommission das formuliert, gibt er zu, bedauert es und bittet um Entschuldigung.
Der Beschuldigte spricht in dieser Befragung über seine Emotionen, über Erregung, Traurigkeit und Reue. Ob und wie er diese wirklich empfunden hat, interessiert mich hier weniger als die Tatsache, dass diese Emotionen auch erfolgreich als erklärende und letztlich mildernde Umstände ins Treffen geführt werden. Tatsächlich wird die vergleichsweise geringe Strafe des Verweises verhängt, als mildernd wird vermerkt, dass der Beschuldigte geständig war sowie der Zustand der »Erregung«. Die Berufung des Disziplinaranwalts, der eine strengere Strafe (Minderung des Diensteinkommens um 5 % auf die Dauer von 4 Halbjahren) verlangt, wird abgelehnt.
Ein Raufhandel mit einem Amtsgehilfen des Ministeriums für Landwirtschaft, allerdings mit weniger gravierenden Verletzungsfolgen als im vorigen Fall, wurde 1935 dem Amtsgehilfen der Staatslotterien Josef Fleischer zur Last gelegt. Hier kam es aber zu keinem eigentlichen Disziplinarverfahren, denn der Beschuldigte
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 15, Josef Fleischer.
Auch hier wurde der Umstand, dass die Handlung im Affekt geschah als einer von mehreren mildernden Umständen gewertet.
Ein anderer Fall eines emotionalen Ausbruchs ist der des Karl Fink. Der Justizwachkontrolleur in der Gefangenenhausverwaltung des Landes Salzburg hatte im Jahr 1937 Gefangenen, die ein irrtümlich an einem Fasttag gereichtes Frühstück verzehrt hatten, grob beschimpft: »Haderlumpen, Gauner, spielen möcht’ Ihr, Ihr Bazi, Ihr Falloten [sic!], ich werd Euch schon geben, aus dem Gewand beutle ich Dich!« Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 14, Karl Fink.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 14, Karl Fink.
Emotionale Entgleisungen waren also je nach Kontext einzuordnen und zu rechtfertigen. Unterschiedliche soziale Positionen wurden mit der Fähigkeit zu Gefühlen junktimiert: Rechtsbrecher verfügen im Gegensatz zu Staatsbediensteten über kein nennenswertes Ehrgefühl, das demzufolge auch nicht gekränkt werden kann. Die Konsequenz für den Justizwachkontrolleur war letztlich nur eine Zurechtweisung durch seinen Vorgesetzten.
Relativ milde wurde auch ein Wiener Lehrer sanktioniert, der die Beherrschung verloren und einem unbotmäßigen Schüler »während der Unterrichtsstunde von rückwärts einen Schlag auf die linke Wange versetzt« hatte. Die Disziplinaroberkommission, die auch erhoben hatte, ob der Schüler eine solche Behandlung verdient habe, beurteilte das als eine »als Ordnungswidrigkeit anzusehende Pflichtverletzung, wofür über ihn die Ordnungsstrafe einer Rüge verhängt wird«. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 3, Karl Barga.
Da seit 1931 parteipolitische Betätigungen für Staatsbedienstete verboten waren, finden sich gerade in den 1930er-Jahren viele Verfahren, die aufgrund solcher Aktivitäten eingeleitet wurden. In diesem Kapitel diskutiere ich einige Fälle, in denen Emotionen in Verbindung mit politischen Statements bzw. Statements zu Politik auftraten.
Das konnten sehr subtile Verfehlungen sein. Der Postoberoffizial im Postamt Hallein, Eugen Zobel, hatte 1934 am Weg zur Arbeit einer Kollegin das Gerücht weitererzählt, die Vöcklabrücke bei Vöcklamarkt und das Kloster Maria Schmolln seien (von illegalen Nationalsozialisten) gesprengt worden. Er habe, so die Kollegin, dazu gesagt »Das wird noch viel ärger werden, das muss noch viel ärger werden« und dabei gelächelt oder sogar gelacht. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Eugen Zobel.
Unangebrachte Freude über eine politische Aktion brachte auch den Kitzbüheler Justizrat im Ruhestand, Ernst Fleischhaker, in Schwierigkeiten. Er hatte 1933 in Gesellschaft einiger Personen angesichts eines am gegenüberliegenden Berghang abgebrannten Hakenkreuzes ausgerufen. »Jessas, ist das ein schönes Hakenkreuzfeuer!« Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 15, Ernst Fleischhaker.
Der Adjunkt im Post- und Telegrafendienst, Adolf Geissler, hatte im Jahr 1936 in einem Gasthaus angeblich gegen die Regierung gepöbelt und »Heil Hitler« gerufen. Er soll gesagt haben: »Pfui Teufel, das ist nicht schön, dass sie unsere Invalidenrente so gestutzt haben.« Seiner eigenen Darstellung zufolge hatte er aber gesagt: »Das ist nicht schön, dass man uns armen Teufeln unsere Invalidenrente so gestutzt hat.« Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Adolf Geissler.
Der Forstrat Johann Zisler war im Jahr 1936 in einer öffentlichen Veranstaltung der Vaterländischen Front, bei der über die Vorteile Österreichs durch den Anschluss an Deutschland diskutiert wurde, laut geworden. Das Referat zum Disziplinarfall berichtet, dass ein Diskutant über deutsche Mitkämpfer im 1. WK gesagt habe
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Johann Zisler.
Daraufhin wurde er von einem anwesenden Kollegen zurechtgewiesen: »Wenn Sie ein anständiger Mensch sind, so müssen Sie wissen, was Versammlungsdisziplin ist und hätten um das Wort bitten sollen.« Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 82, Johann Zisler.
Der Polizeirayonsinspektor August Chico stellte den seltenen Fall eines Beamten dar, der 1933 wegen Sympathiebekundungen für die Sozialdemokratie (und nicht den Nationalsozialismus, wie so viele andere seiner Zeitgenossen) ein Disziplinarverfahren bekam. Ihm wurde vorgeworfen, dass er sein Fenster mit roten Lampions und Girlanden und dem Bild eines sozialdemokratischen Führers sowie der Aufschrift »Hoch das Rote Wien!« geschmückt habe. Dafür wurden seine Bezüge für sechs Monate um 10 % gekürzt, seine Berufung dagegen wurde abgelehnt. Vielleicht ist es zu weit hergeholt, ein solches Verhalten als emotional zu klassifizieren, die liebevolle Gestaltung des Fensters könnte aber durchaus positive Affekte für eine politische Partei implizieren. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 8, August Chico.
Generell lässt sich beobachten, dass diese politisch-emotionalen Fälle keine oder nur milde Disziplinarstrafen nach sich zogen. Das kann einerseits daran liegen, dass der Ausdruck der Emotion zu flüchtig ist (war es ein Lächeln oder nicht?). Andererseits war ein hochemotionaler Zustand unter Umständen ein Milderungsgrund, wenn aufgrund von Kriegsinvalidität oder Krankheit eine stärkere Neigung zur Erregung bestand.
Im weiter oben erwähnten Roman »Ein Tag wie alle« ist das Grüßen unter Kollegen ein heikles Thema, es findet sich aber auch in den nicht fiktionalen Disziplinarakten. Mathilde Franek, eine Oberoffizialin im Post- und Telegrafendienst in Wien, war um fünf Minuten verspätet im Dienst erschienen. Sie habe sich beim Aufsicht habenden Oberinspektor Dostal nicht gemeldet, nicht entschuldigt und ihn auch nicht gegrüßt. Der Oberinspektor gab zu Protokoll:
Mathilde Franek beschrieb das Zusammentreffen mit Dostal ihrerseits so:
Sie fügte hinzu, dass sie Herren überhaupt nie zuerst grüße. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 16, Mathilde Franek.
Der Rayonsinspektor Franz Gelb kam in einer Julinacht des Jahres 1929 zu einem Kaffeehaus im dritten Wiener Gemeindebezirk, aus dessen offenen Türen großer Lärm zu vernehmen war. Er forderte unverzüglich die Schließung der Türen. Auf den Hinweis, der im Kaffeehaus anwesende (höherrangige) Revierinspektor Zischka habe die Öffnung der Türen verlangt, weil die Luft im Lokal so schlecht war, reagierte er mit den Worten: »lch habe Strassendienst und nicht der Inspektor, schliessen Sie sofort die Tür!« Das Referat zum Disziplinarfall gibt die weiteren Ereignisse so wieder:
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 18, Franz Gelb.
Zischka gab darüber hinaus an, dass Gelb ihm am selben Abend schon früher auf der Straße begegnet war und auch bei dieser Gelegenheit nicht gegrüßt hatte. Die Disziplinarkommission in erster Instanz befand, Franz Gelb habe »durch sein Verhalten die dienstlichen und Standesrücksichten des Wachekorps in grober Weise gefährdet, weshalb sich seine Verfehlung als Dienstvergehen darstellt«. Dieses Vergehen wurde mit einer Minderung der Dienstbezüge um drei Prozent für die Dauer von drei Monaten geahndet. Gelb berief gegen das Urteil, woraufhin es auf einen bloßen Verweis abgemildert wurde. Als Begründungen dafür wurde angegeben, dass nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, ob in einem Fall das Nichtgrüßen vorsätzlich geschehen sei, und dass der Beschuldigte in seiner bisherigen Laufbahn viele Belobigungen, aber keine Strafen bekommen hatte.
Was kann man sich unter »Beamtengefühl« vorstellen? Der Begriff taucht in literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, Z. B. Ludwig Kalisch: Paris und London. Bd. 2: London, Frankfurt am Main 1851, S. 107. Der Kontext ist ein Ringkampf eines Polizisten mit einer jungen Frau: »Weder sein gekränktes Beamtengefühl, noch sein Ehrgefühl als Mann, das in dem Kampfe mit einem Weibe, und mit einem solchen Weibe so sehr verletzt wurde, noch die vielen Zuschauer […] vermochten seinen Gleichmuth zu stören.« »Preußische Grobheit«, in: Arbeiterzeitung, 27. 10. 1908, S. 9. Gesetz, betreffend das Dienstverhältnis der Staatsbeamten und der Staatsdienerschaft (Dienstpragmatik), Reichsgesetzblatt für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder Nr. 15 vom 25. 1. 1914, § 24.
Die Beihilfe zum Schmuggel hätte unter Umständen auch eine strafrechtliche Verfolgung des Regierungsrates von deutscher Seite mit sich bringen können, was dann aber nicht der Fall war. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 17, Wilhelm Friedrich.
Hier stellt sich die Frage, welche Art von Emotion das Beamtengefühl ist, etwa im Vergleich zu weiter verbreiteten Emotionen wie Freude, Angst oder Wut. Es handelt sich dabei nicht um eine kurzfristig auftretende Emotion, sondern eher eine »langfristige mentale Disposition«, die dann eher der Mentalitäts- denn der Emotionsgeschichte zuzurechnen wäre, wie Rüdiger Schnell empfiehlt. Rüdiger Schnell: Haben Gefühle eine Geschichte, S. 895.
Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 17, Wilhelm Friedrich.
Diese Argumentation, die das Wortfeld noch um die Begriffe »Pflichtbewusstsein«, »Standes(pflicht) bewusstsein«, »Feingefühl« und »Delikatesse« erweitert, verweist auf einen Prozess, der aus meiner Sicht für die Staatsbediensteten dieser Zeit schmerzhaft spürbar war: eine Abwertung ihres Standes, ein Verlust nicht nur an ökonomischem, sondern auch an symbolischem Kapital.
An das »Beamtengefühl« zu appellieren, war in diesem Fall allerdings keine erfolgreiche Strategie. Der Regierungsrat, der in erster Instanz mit dem Ausschluss von der Vorrückung in höhere Bezüge für die Dauer von drei Jahren bestraft worden war, erhielt nach der Berufung des Disziplinaranwalts eine weit gravierendere Strafe: Er wurde mit um zehn Prozent gekürzten Bezügen in den vorzeitigen Ruhestand versetzt.
Disziplinarakten sind nicht die erste Quellengattung, an die man denkt, wenn es darum geht, Emotionen zu erkunden. Und doch erweisen sie sich als äußerst aussagekräftig, wenn es darum geht, eine »emotionology« der Zwischenkriegszeit zu skizzieren. In den Beispielen – ausgewählt wurden fast alle der bisher erhobenen Fälle, die in irgendeiner Weise mit Emotionen zu tun haben – finden wir Emotionen an unterschiedlichen Positionen. Einmal sind emotionale Ausbrüche der Anlass für ein disziplinarrechtliches Verfahren, dann wieder sind »emotional expressions« Hinweise auf Verletzungen von Dienstrecht oder Standesansehen, wenn etwa damit Sympathien oder Antipathien für politische Parteien ausgedrückt werden. Aber auch auf die letztliche Bewertung des Disziplinarvergehens haben Emotionen Einfluss, wenn etwa Reue als mildernder Umstand genannt wird oder wenn eine Gewalttat mit »Erregung« erklärt wird. Letzteres impliziert wohl, dass die beschuldigte Person normalerweise (wenn sie gerade nicht provoziert wird) ganz anders sei. Die dargelegten Fälle betreffen größtenteils Emotionen, wie sie andere Personen außerhalb des Staatsdiensts auch haben. Darüber hinaus war auch vom sogenannten »Beamtengefühl« als Haltung, Mentalität, vielleicht gar Habitus die Rede. Dabei bleibt offen, wie sehr verinnerlicht dieses spezielle Ehrgefühl bei Staatsbediensteten ist. Das sagen uns die Quellen nicht, und wenn der Kontext, in dem das Wort auftaucht, die Verteidigungsrede eines Anwalts ist, dann besteht überhaupt der Verdacht, dass es sich um Rhetorik und Ideologie handelt. »Beamtengefühl« ist wie es scheint eher eine Sache der Standesehre und der Loyalität als eine allgemein moralische Angelegenheit. Aus diesem »Gefühl« heraus ist es sogar gerechtfertigt, die Unwahrheit zu sagen bzw. die Wahrheit zu verschweigen, wenn es denn dem Schutz des Ansehens des Amtes dient. Der Behörde – in Gestalt der Disziplinarkommission – scheint jedenfalls sehr klar zu sein, dass Staatsbedienstete auch nur Menschen sind, die Emotionen empfinden und zum Ausdruck bringen. Diese Emotionen haben ganz klar soziale Funktionen, die den Umgang miteinander im Amt nicht nur stören. Emotionen dienen etwa dazu, Statusunterschiede und Geschlechterverhältnisse zu klären sowie persönliche Grenzen abzustecken.
Die Frage danach, ob Staatsbedienstete eine »emotional community« bilden, kann und soll im Rahmen dieser Untersuchung nicht hinreichend beantwortet werden. Es gibt wohl Hinweise darauf, dass Zurückhaltung im Ausdruck von Emotionen im Dienst und darüber hinaus angesagt ist – diese Vorgabe teilen die Staatsbediensteten mit dem modernen »Angestelltensubjekt«. Auch für das ausgeprägte Hierarchiebewusstsein, das den Staatsbediensteten eigen ist und das sich etwa im Grußverhalten manifestiert, sind Emotionen wesentlich. Das Quellenmaterial Disziplinarakten hat allerdings einen gewissen bias: Von Disziplinarverfahren waren in den von mir untersuchten Fällen deutlich mehr Staatsbedienstete aus niedrigeren Hierarchieebenen betroffen. Von diesen wiederum waren es vor allem »street-level bureaucrats«, Michael Lipsky: Street-Level Bureaucracy. Dilemmas of the Individual in Public Services. New York 2010.
Die Ausweitung der These von der Entemotionalisierung des nachbürgerlichen »Angestelltensubjekts«, die Andreas Reckwitz etwa ab 1920 beobachtet, auf die Staatsbediensteten der Zwischenkriegszeit möchte ich allerdings infrage stellen. Wiewohl die von mir betrachteten Quellen aus dieser Zeit nahelegen, dass ein offener, starker Ausdruck von Emotionen tendenziell abgelehnt und vermieden wird, bedeutet das keine »rigide Entemotionalisierung des Subjekts«. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 437.
Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 436.
Auf eine derartige Umgestaltung des inneren Erlebens geben die hier analysierten Quellen keine Hinweise. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Emotionalität ebenso wie moralische Orientierungen bei den Staatsbediensteten durchaus vorhanden sind, auch wenn moralische Prinzipien im Namen des »Beamtengefühls« aufgeweicht werden können, wenn Standesehre mitunter mehr zählt als Ehrlichkeit. Dass die Staatsbedienstetensubjekte »die stürmischen Winde« der Emotionen, um noch einmal mit Claudio Magris zu sprechen, »mit den Klammern amtlicher Aktenmappen aufzuhalten« Claudio Magris: Der habsburgische Mythos, S. 17.