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Zihals Zahlen. Geschäftszahlen als Orientierungspunkte in einer bürokratischen Welt

  
09 juil. 2025
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Waldfee – ein Begriff voller Romantik, mit Anklängen an »fromme Verehrung und gewissermaßen ritterliche Haltung« - jedenfalls für den Amtsrat Zihal aus Heimito von Doderers Roman »Die erleuchteten Fenster«.(1) Waldfee, das war das Sujet eines Bildes, das über dem Bett des Antsrates hing. Es war gleichzeitig der Begriff, mit dem Zihal am Beginn seiner Menschwerdung ein Objekt seines ganz persönlichen terrestrischen Sternenhimmels bezeichnete,(2) um es einer ersten Bearbeitung zuzuführen, deren amtsmäßige Firnis nur sehr oberflächlich seine langsam erwachende Sinnlichkeit überdeckte.

Die Bearbeitung bestand in einem Blick in erleuchtete Fenster, um Frauen mit einem Fernglas bei der Abendtoilette zu beobachten.(3) Doderer legte dem Amtsrat eine euphemistische Sprache in den Mund, in denen die Fenster als »Sterne«(4) und seine voyeuristische Praxis als »terrestrische Astronomie«(5) firmierte. Mit einer derart verharmlosenden Begrifflichkeit verlagerte der Autor die visuell-sinnlichen Begierden in einen entsexualisierten Bezugsrahmen. Die Überformung von Zihals lebenslang ver-rücktem und sich nun langsam artikulierendem sexuellen Begehren präsentierte Doderer nicht nur anhand einer euphemistischen Sprache. Noch anschaulicher modellierte er diesen sinnlich-bürokratischen Komplex durch die Präsentation der Verfahren, mit denen der Amtsrat seine voyeuristischen Aktivitäten organisierte. Doderer nutzt in seiner poetologischen Strategie die Kleinen Formen bürokratischer Praxis, um die Metamorphose von Zihal vorzuführen, bei der langsam seine Verpuppung in einer Amtsperson abgestreift wird und ein »rezipierendes und erzählendes Subjekt« hervorbricht,(6) das sich seiner Gefühle und seines sexuellen Begehrens bewusst ist und eine reflexive Distanz zur eigenen Person einnehmen kann.(7)

Den Kleinen Formen kommt dabei eine doppelte Funktion zu. Sie markieren Zihal bis zu seiner ›Menschwerdung‹ als Amtsperson und vermitteln gleichzeitig einen Einblick in seine Defizite als Subjekt. Zihals Beschränkungen werden indirekt, vermittelt über sein Tun präsentiert. Konkret handelt es sich um die Nutzung von adaptierten bürokratischen Verfahren zur Organisation voyeuristischer Akte. Zihals zunehmende Obsession mit seiner abendlichen »terrestrischen Astronomie« wird geschickt inszeniert und Doderer übersetzt dabei seine eigenen Erfahrungen in den Plot des Romans.(8) Die Aufmerksamkeit des Lesers wird jedoch ebenso auf die Strukturierung dieses Begehrens durch die Nutzung der Kleinen Formen eines bürokratischen Verfahrens gelenkt.(9)

Waldfee – diese romantische Bezeichnung für ein Objekt von Zihals sexuellem Begehren lässt Doderer nicht in Zihals Tagebuch und schon gar nicht in einem Entwurf für eine sehnsuchtsvolle Ode an die Verkörperung erotischer Fantasien auftauchen. Derartige Formen von künstlerischem Ausdruck waren von Doderer für seinen Amtsrat nicht vorgesehen. Dieser lehnte die so genannte schöne Literatur konsequent ab!(10) Der romantische Begriff erscheint vielmehr als eine Art Geschäftszahl oder Aktenzeichen, mit der Zihal den Aufbau eines vollständigen Verzeichnisses seiner Vorgänge vorantrieb. Zihal brachte Ordnung in die Objekte seiner Begierden, indem er jeden seiner terrestrischen Sterne in einen Vorgang umwandelte, der von ihm – gewissermaßen ex officio – bearbeitet wurde.(11)

Der pensionierte Amtsrat Zihal hatte Erfahrung mit Aktenbezeichnungen aus seinen vielen Arbeitsjahren in der österreichischen Bürokratie. Dort wurde seit Jahrhunderten mit der Aufgabe gerungen, einzelne Vorgänge im rasch expandierenden Datenraum möglichst eindeutig zu verorten.(12) Doch selbst am Beginn der Aktenkennzeichnung waren romantische Begriffe wie etwa Zihals Waldfee gänzlich unbekannt. Dennoch stellt die plakative Übertreibung in Doderers Mitschrift(13) eine Frage in den Raum, die für Zihal wie für den langsam sich etablierenden modernen Staat von entscheidender Bedeutung war: wie lassen sich die rasch zunehmenden Verfahren so adressieren, dass sie während der Bearbeitung und auch noch für spätere Rückgriffe greifbar waren. Die Bedeutung der individuellen Gedächtnisleistung darf im Datenraum der Verwaltung des 19. Jahrhunderts nicht unterschätzt werden. Die Waldfee als Adresse verwandelte einen Vorgang in ein emotional aufgeladenes Bild. Das reduzierte das Gedächtnis, wie Hegel kritisch angemerkt hatte, auf die Einbildungskraft, die in diesem Fall noch dazu sinnlich mitbestimmt war.(14)

Für Zihal war die Waldfee eine hybride Referenz – ein Medium in mehrfacher Hinsicht, weil sie durch ihren evozierenden Charakter ein sinnliches Erleben versprach und gleichzeitig einem bürokratischen Verfahren als Ankerpunkt diente, das den pensionierten Amtsrat zu einer festgelegten Zeit zu klar definierten Handlungen bestimmte. Finden sich derartige Überlagerungen von Objekt- und Verfahrensmerkmalen auch im medial verfassten Gedächtnisraum der öffentlichen Verwaltung? Ab wann und unter welchen Umständen erfolgte der Schritt hin zu einem neuen, rein auf formalen Kriterien beruhenden System? Zihal vollzog diesen Schritt unter dem Druck einer rasch expandierenden Geschäftstätigkeit, wenn man die nächtlichen Explorationen seines ganz persönlichen Sternenhimmels mit diesem euphemistischen Begriff bezeichnen darf. Bietet Zihal hier erneut Anhaltspunkte für die Beurteilung einer ganz auf terrestrische Phänomene fokussierten öffentlichen Verwaltung?

Das bürokratische Selbst…

Die Beziehungen, die ich zwischen dem pensionierten Bürokraten in Doderers Mitschrift und der österreichischen Bürokratie entwickeln werde, beziehen sich somit nicht auf eine phänomenologische Ebene. Mich interessieren vielmehr die Merkmale bürokratischer Struktur und Praxis, die sich im Dialog mit Doderers Roman erschließen lassen. Bereits auf der ersten analytischen Ebene lässt sich eine Figuration erkennen, die durch die eigenwillige Beziehung zwischen einem abstrakten, quasi reinen Raum bürokratischer Rationalität und dem sinnlichen Begehren des Protagonisten bestimmt ist. Zihal entpuppt sich hier nicht als Vertreter des »fachgeschulten, struktur-kongruenten Fachmenschen, der die Standards rationaler Zweck-Mittel-Kalkulation, wie sie für das Leben in der Organisation charakteristisch sind, auch privat verfolgt.«(15) Doderer lässt seinen pedantischen Amtsrat nur einen so genannten Schnellsiederkurs absolvieren, der ihn gegenüber akademisch gebildeten Männer benachteiligt.(16) Seine fachliche Kompetenz beschränkt sich ausschließlich auf die Handhabung der Normen, Vorschriften und Arbeitsinstrumente seines Amtes.(17) Doderer profiliert seinen Amtsrat nur als (ehemaliges) Mitglied eines Amtes. Selbst sein soziales Leben bewegte sich im Rahmen des Stammtisches, der ebenfalls von Angehörigen des öffentlichen Dienstes frequentiert wurde. Zihal hat daher in der Darstellung von Doderer keine vielschichtige Persönlichkeit, die für viele Beamtenbiographien kennzeichnend und daher zum Verständnis von deren Persona entscheidend ist.(18)

Zihal kannte keine Rollenkonflikte, wie sie im modernen Staat und der modernen Gesellschaft so häufig vorkamen. Doderer lässt seinen Amtsrat voller Stolz und mit einer gewissen Wehmut auf die von seinen Vorgesetzten bestätigte Erfüllung der Rollenerwartungen blicken: »Er war nicht, niemals, beanständet worden.«(19) Zihal benötigte keine Distanz zu den Rollenerwartungen an seine (ehemalige) bürokratische Existenz. Ihm fehlte selbstverständlich auch die Distanz zur eigenen Person,(20) auf deren Grundlage er kritisch über die Nutzung der Dienstpragmatik von 1914 als einzige, ins Transzendente verlagerte Orientierungshilfe zur Bewältigung aller Lebenslagen nachdenken hätte können.(21) Aus der Perspektive von Renate Mayntz hat Doderer seinen Amtsrat somit als Prototypen für role amorality gezeichnet. Damit ist nun keinesfalls die Nutzung von Dienstpragmatik und kleinen Formen für die Organisation von Zihals voyeuristischen Tätigkeiten gemeint. Mayntz erklärt mit der absoluten Dominanz von Rollenerwartungen einer auf formale Legitimität beruhenden Organisation vielmehr das Phänomen Eichmann.(22) Aus dieser Perspektive lassen sich klare Bezüge zu Doderers Amtsrat herstellen, für den die Legitimität einer Handlung ebenfalls auf rein formalen Kriterien beruhte,(23) wobei die Romanfigur in ironischer Brechung(24) diese Legitimation nicht auf höchst destruktive Handlungen im Auftrag der Behörde, sondern auf seine privaten voyeuristischen Aktivitäten bezieht.

Selbst Zihals Nemesis in Form der moralischen Verurteilung seines Handelns kam nicht von außen. Sie trat langsam aus der Lektüre der Dienstpragmatik hervor. Noch bevor er durch den Einsatz eines leistungsstarken Teleskops die Kontrolle über seinen terrestrischen Himmelsraum festigen konnte, stieß er auf die Bestimmungen zur Verhängung von Ordnungs- und Disziplinarstrafen gegen Beamte, die ihre Standespflichten verletzten.(25) Die formale Legitimation des Handelns war hier plötzlich nicht mehr ausreichend. Das so genannte »persönliche Moment« erhielt in Form der Amtsehre eine Bedeutung, die Zihal während seiner Amtstätigkeit nie zum Problem geworden war und die sich hier plötzlich als Bedrohung aus den Untiefen der Dienstpragmatik erhob, wobei sie bereits durch die Entdeckung seines Treibens erstmals an Gestalt gewonnen hatte.(26) Sein jüngstes Gericht fand in einem Fiebertraum statt, der dem Ende seines voyeuristischen Tuns folgte und seine Menschwerdung endgültig besiegelte. Die richtende Instanz war der Doppeladler als symbolische Repräsentation der bürokratischen Autorität: »riesenhaft hockend, mit den zusammengelegten Schwingen bergspitzengleich bis zur Decke reichend, in einem Golde, das wäßrig-hell vom Zorn war.« Das Urteil des Richters erfolgte in der Diktion der Dienstpragmatik und seine Verurteilung war begründet mit dem »persönlichen Moment«, das »in erschwerender Weise hinzutritt.«(27)

Doderer poetologische Strategie beruht auf einer konsequenten Trennung zwischen dem Amt einerseits und dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben andererseits. Die engelsgleiche Existenz der Beamten immunisierte sie gegen mögliche Rollenkonflikte. Damit hat der Autor einen bitteren, wenn auch ironischen Kommentar zur Stellung der Beamten geschrieben, die sich auf die formale Legitimität ihres Handelns berufen können, um die Verantwortung für ihr Tun abzulehnen. Die Figur des Engels ist gleichzeitig ein stilistisches Hilfsmittel, mit dem Doderer die verwaltungskulturelle Geschlossenheit der österreichischen Bürokratie persifliert(28) und die spezifische Position seines Helden inszeniert: ein ›gefallener Engel‹, der durch die Pensionierung zur Menschwerdung bestimmt war(29) und plötzlich die »alles bewältigende, die zurückweisende, gutheißende oder beanständende Wucht des Amtes« zurück lassen musste.(30) Mit der Figur des Engels greift Doderer außerdem eine Denkfigur auf, die in der Zeit der Aufklärung weit verbreitet war und einen interessanten Kommentar zu epistemologischen Ansprüchen der Bürokratie leistet. Die Beschränktheit des menschlichen Wirklichkeitsbezugs ergab sich für die Naturforscher des 18. Jahrhunderts aus der Körperlichkeit des Menschen. Erst die transzendente Figur des Engels konnte diese Grenzen überwinden und ein essentielles Verständnis der Welt erreichen.(31)

Für Doderer ist das bürokratische Selbst mit fehlenden Rollenkonflikten und epistemologischen Ansprüchen nur zum Teil beschrieben. Für ihn sind die Rollenanforderungen der metaphysische Überbau, den er in der Lektüre der Dienstpragmatik durch Zihal geschickt als solchen inszeniert. Durch die Transposition der Dienstpragmatik aus dem Management von Behörden in die Organisation des Alltags werden Zihals Defizite als Subjekt anschaulich gemacht.(32) Denn die Dienstpragmatik ist als Regelwerk »dünn« angelegt im Sinne von Lorraine Daston, d. h. sie bezieht sich auf einen klar festgelegten Wirkungsbereich, ihre Heranziehung als Instrument zur Lebensbewältigung und zur Organisation voyeuristischer Tätigkeit war nicht vorgesehen.(33)

Die eigentliche Strukturierung der amtsrätlichen Subjektivität erfolgt durch die zur zweiten Natur gewordene Nutzung der kleinen Formen. Diese Figuration bringt Doderer auf witzige Art zum Ausdruck. Nachdem sein Amtsrat bei der Lektüre der Bestimmungen über Disziplinarstrafen ins Wanken geriet, lässt er ihm sofort ihm Anschluss daran durch das Lesen der Verfahrensvorschriften für die Durchführung der Disziplinarsachen – vor allem die Vergabe von Grundzahlen für jeden Vorgang – erneut den »Boden unter den Füßen« finden.(34)

Mit dieser witzig-ironischen Profilierung des ehemaligen Amtsrats Zihal kommentiert Doderer, wie ich argumentieren werde, die Stellung von Subjekten in modernen, hoch entwickelten Organisationen wie der öffentlichen Verwaltung zur Zeit der Habsburgermonarchie. Welche Prägungen hinterließ die jahrzehntelange bürokratische Praxis und die Handhabung eines bestimmten Sets kleiner Formen der Aktenarbeit? Wenn man Doderers Mitschrift Vertrauen schenkt, dann hatte diese Praxis weitergehende Auswirkungen auf Zihal als nur dessen Unterwerfung unter das Regelwerk der Organisation.(35) Wie stark sie den Wirklichkeitsbezug auch außerhalb des bürokratischen Handlungssystems formen konnten, lässt sich im Rückgriff auf Pierre Bourdieu nachvollziehen. In seiner Auseinandersetzung mit dem homo academicus hat er den Weltbezug der Professoren mit deren disziplinärer Verortung erklärt. Letztlich kontingente Entwicklungen des Wissenschaftssystems bestimmten somit nachhaltig das Denken und Handeln der Akteure.(36) Aus dieser Perspektive kann die Formung von Persönlichkeit durch Organisationen nachvollzogen werden – als Aneignung der Verhaltenserwartungen und der Wirklichkeitsbezüge einer Organisation und deren Anwendung in anderen funktionalen Systemzusammenhängen.(37)

…und die kleinen Formen

Doderers Darstellung von Zihals letztlich erfolglosem Versuch, sein aufkeimendes sexuelles Begehren mit Hilfe der Kleinen Formen und der Dienstpragmatik zu organisieren, bietet eine zur Kenntlichkeit entstellte Charakterisierung der bürokratischen Persona.(38) Kann man die Schilderung von Zihals terrestrischer Astronomie auch für einen kritischen Blick auf die Kleinen Formen der bürokratischen Praxis nutzen? Oder anders gefragt: Welche Rolle kommt der Waldfee für meine Auseinandersetzung mit dem bürokratischen Ordnungsraum zu? Eine Antwort findet sich in Doderers Darstellung des Amtsrates. Dessen Menschwerdung erscheint gekennzeichnet durch ein vergebliches Aufbäumen der ursprünglichen bürokratischen Entrücktheit, in der ein »Akt … eine … eigenständige und von aller Welt abgelöste und unabhängige Existenz …« hat.(39) So verstanden, ist der Akt das materielle Korrelat eines rein formalistischen Verständnisses von bürokratischem Handeln.

Doderer setzt ein letztes Aufbäumen der Aktwerdung an den Beginn des Romans. Zihal scheitert kläglich an der aktenmäßigen Strukturierung des anstehenden Umzuges. Er musste resignieren vor der »Last des Irdischen« und dem »Inhalt mit seiner traurigen Formlosigkeit und formlosen Traurigkeit.«(40) Ohne die schützenden Mauern des Taxamtes brach die Welt ungefiltert über den Amtsrat herein. Die zarten Pflänzchen seiner sexuellen Begierden, die sich im Blick in die erleuchteten Fenster in ver-rückter Form entfalteten, führten ebenso wenig zur Produktion von Akten. Das Zihalsche Archiv sinnlicher Erfahrungen konnte nicht verschriftlicht werden, weil es sonst die Brüchigkeit der Subjektivität des Amtsrates und die Unhaltbarkeit seiner euphemistischen Selbstdarstellung offenbar gemacht hätte.(41) Für die Aktwerdung seines sexuellen Begehrens fehlte dem Amtsrat die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion,(42) was Doderer sicherlich bewusst war, er aber aus Rücksicht auf seinen Protagonisten offenbar nicht in den Vordergrund stellen wollte. Deshalb wurde Zihal zum Menschen, bevor er sich der reflexiven Bearbeitung seiner sexuellen Regungen stellen musste.(43)

Zihals Registratur mit ihren Geschäftszahlen unterschied sich daher in einem wichtigen Punkt von derjenigen einer Behörde: sie verwies auf keine Akten. Das Ziel seiner terrestrischen Astronomie war nicht das Sammeln von Observationen, wie Klaus Nüchtern argumentiert,(44) sondern das Verzeichnen von Observationspunkten. Zihal endete sein Schreiben mit der Pensionierung und beschränkte sich auf den Akt des Verzeichnens.(45) Die Beobachtungen selbst zeichnete Zihal nicht auf, sie blieben als sinnliche Erfahrungen nicht akt- und diskursfähig im amtsrätlichen Innern.(46) Er war somit sein eigenes Archiv – in dem unterschiedliche Logiken den Niederschlag seiner Amtshandlungen strukturierten.(47) Auf unbewusster Ebene folgten seine voyeuristischen Erhebungen einem verdrängten sexuellen Begehren, auf der bewussten Ebene nutzte er ein Repertorium zu Organisation seiner Beobachtungen, das ähnlich wie frühe Ordnungslogiken von Registraturen(48) topographisch organisiert war. Im Fall von Zihal orientierte es sich an der Himmelskarte seiner terrestrischen Sterne.(49)

Doderer verzichtet in der Auseinandersetzung mit den kleinen Formen der Zihalschen Amtspraxis auf Akten, Registratur und Archiv. Er belässt es bei dem Blick auf die Aktenzahlen, die als Signifikanten für sich alleine standen und keinen Bezugspunkt im Außen hatten.(50) Darin ähnelten sie den Akten des Taxamtes, in dem Zihal lange Jahre seinen Dienst versehen hatte. Mit dieser Spiegelung von letztlich ins Leere laufenden Signifikanten – der Grundzahl bei Zihal und der Akten im Taxamt(51) – brachte Doderer erneut die Abgeschlossenheit der österreichischen Bürokratie gegenüber ihrer Systemumwelt zum Ausdruck.(52)

Doderer hat mit dieser witzigen Geschichte eines pensionierten Amtsrates auf Abwegen im Subtext auch eine Mitschrift der Beziehung von Verwaltung zu ihrer Umwelt erstellt. Sie nutzt die Menschwerdung des Amtsrates für Hinweise auf die Leitdifferenz zwischen Geschlossenheit der Verwaltung und Offenheit gegenüber ihrer Umwelt.(53) Diese Differenz wird greifbar, wenn man sich den Ausgangspunkt von Zihals Fall vergegenwärtigt, nämlich das glückliche Eingebundensein in ein System, das Doderer nicht nur als selbstreferenziell, sondern mehr noch als selbstgenügsam charakterisiert. Erst mit der pensionsbedingten Verstoßung von Zihal aus diesem Paradies beginnt die Zeit der langsamen Öffnung gegenüber der Welt, die von innen libidinös getrieben und von außen verwaltungstechnisch eingehegt wird.(54) Die libidinösen Reaktionen auf die Konfrontation mit einer äußeren, sinnlich aufgeladenen Wirklichkeit konnten mit den zur Verfügung stehenden kleinen Formen und auch mit den Instrumenten seines bürokratischen Selbst nicht kontrolliert werden;(55) sie hatten erhebliche Somatisierungserscheinungen zur Folge:

Die Herrschaft über seine Glieder ging ihm nun endgültig verloren, sie bewegten sich unaufhörlich, in Schauern flatternd … nur von dem einen Drang getrieben, hinter seinem eigenen quellenden Augapfel in das Okular des Rohres gänzlich einzukriechen.(56)

Als Absolvent des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung war Doderer mit dem Archivwesen und der Funktionsweise der österreichischen Bürokratie sehr gut vertraut.(57) Dass er einen, aus der Sicht der Kleinen Formen, fast ausschließlichen Fokus auf die Geschäftszahlen legt, ist aus der Logik des Romans eine gezielt eingesetzte Verrückung, um die Leitdifferenz zwischen Offenheit und Geschlossenheit zu stärken. Das Eintauchen von Zihal in die Welt der formalen Gestaltung von Verwaltungsabläufen anhand der Dienstpragmatik und der Nutzung von kleinen Formen legt den Verdacht nahe, dass Zihal vor seiner Pensionierung im Hilfsamt, in der Registratur, tätig war, wo der Einlauf bearbeitet und Aktenkennzahlen vergeben wurde. Die Arbeit der dort tätigen Beamten, wurde, wie Angelika Menne-Haritz betont, in der Verwaltung des 19. Jahrhunderts »sehr anerkannt und geschätzt«, wie das ja auch auf Doderers Amtsrat zutrifft. Ohne eine formale Ausbildung erwarben sie ihre Kompetenzen durch „jahrelange Erfahrungen und Kenntnisse, die in der Praxis von Generation zu Generation weiter gereicht wurden.“(58)

Und doch ist diese Vermutung unbegründet. Zihal, der sich in ganz ähnlicher Form die Karriere- und Kompetenzleiter hochgedient hatte, war für Einsprüche und Rekurse der Verwaltungsunterworfenen zuständig.(59) Er hatte sich durch eine ›Intelligenzprüfung‹ bis zum so genannten Konzept hochgearbeitet und war deshalb über die Aktenmanipulation hinausgewachsen und konnte selbständig Erledigungen von verwaltungsmäßigen Vorgängen machen.(60) Weshalb ließ ihn Doderer dann nach dem ersten Schock der Pensionierung(61) nicht einfach seine Aktenarbeit fortsetzen - selbst wenn der erste Versuch der Aktwerdung seines Umzugsprojektes ja kläglich gescheitert war? Weshalb bestimmte ihn der Autor zur Beschränkung auf die Registratur und auf die Nutzung der Kleinen Formen? Die Erklärung liegt erneut in der Ausgestaltung der Leitdifferenz zwischen Offenheit und Geschlossenheit. Erst mit der Verrückung von Zihals bürokratischer Energie auf das Feld der Zahlen, im Sinne der Geschäftszahlen, konnte Doderer ihn in jenem Feld verorten, das auch in Zeiten seines Falls noch den reinen, geschlossenen Geist der Bürokratie atmete.(62) Mit dieser Strategie treten die Geschäfts- und Aktenkennzahlen in den Vordergrund der Erzählung und sie bietet einen hervorragenden Anhaltspunkt für die Auseinandersetzung mit dieser wichtigen Kulturtechnik der Verwaltung.(63)

Zur Logik von Geschäftszahlen

Öffnung der Post, Präsentierung, Zuschreiben und Eintragung in das Journal mit Vergabe des Aktenkennzeichens waren die einzelnen Schritte, die aus einem an die Behörde herangetragenen Problem einen Eingang machten.(64)

Auf diese Unterstützung konnte Zihal während seiner aktiven Dienstzeit zurückgreifen. Nach seiner Pensionierung fiel er nicht nur »aus der abstrakten Höhe einer überpersönlichen Instanz«,(65) sondern musste zu seiner eigenen Steuerungszentrale werden.(66) Das war nicht allzu schwierig, weil der Arbeitsbereich des Amtsrates einige Besonderheiten aufwies – und das nicht nur in inhaltlicher Hinsicht. Sein Tätigkeitsbereich war nur durch eine Aufgabe bestimmt – der abendliche Voyeurismus – und dieser kam er alleine nach.(67) Alle Anforderungen an die Nachverfolgung der Bewegung von Akten entfiel und damit auch eine zentrale Aufgabe der Registratur. Es gab keine über- oder untergeordneten Stellen, keine Mitzeichnungen und nicht einmal ein Expedit!

Zihal musste nicht darauf warten, bis die terrestrischen Sterne in Form von Anträgen und Mitteilungen zu seiner Kenntnis gelangten. Er konnte von sich aus aktiv werden – gewissermaßen ex officio – und seinen Orbit vermessen. Die Geschäftszahlen waren für Zihal gleichbedeutend wie der in der Kanzleiordnung von 1923 eingeführte Aktenvermerk »als Grundlage für Erledigungen ohne Einlaufstück.«(68) Er identifizierte die Objekte seiner voyeuristischen Begierde eindeutig, wobei sich die Art der Identifikation im Laufe seiner Amtstätigkeit deutlich änderte. Die anfangs verwendeten Bezeichnungen wie Waldfee waren zugegebenermaßen von ihm erfunden, sie hatten aber eher den Charakter von Namen, die man nach klar definierten Kriterien wie dem Alphabet oder, im Fall von Zihal, dem Beobachtungszeitpunkt ablegen konnte. Modernen Ablagesystem wie die Leitz-Ordner(69) hätten Doderers Amtsrat gute Dienste geleistet, wenn er diese Adressierung beibehalten hätte und zur Aktwerdung seiner sinnlichen Erfahrung geschritten wäre.

Der Blick auf Zihals Zahlen, oder vielmehr auf Zihals Adressierungssystem, eröffnet uns einen zusätzlichen Zugang zu Doderers Darstellung von Bürokratie und Bürokraten. Doderer waren die neuen Geschäftszahlen der staatlichen Verwaltung mit ihren Grundzahlen und ihrer einfachen Notation bestens vertraut. Er baute sie in seinen Plot ein, wo sie eine wichtige Rolle übernehmen. Damit will ich nicht unterstellen, dass Doderer diese Rationalisierungsprozesse einfach abgebildet hätte. Das hätte einen realistischen und wohl etwas langweiligen Roman ergeben! Doderer produzierte vielmehr eine literarische Mitschrift dieser Prozesse, wobei er deren Grundthemen geschickt variierte. Die Geschäftszahlen, die keine Akten referenzierten, habe ich als einen ironischen Hinweis auf die verwaltungskulturelle Geschlossenheit von Verwaltung gelesen. Die Ausgestaltung dieser Zahlen durch Doderer kann zusätzlichen Aufschluss darüber bieten, wie er die Leitdifferenz zwischen Geschlossenheit und Offenheit dazu einsetzte, um die Menschwerdung seines Amtsrates in Szene zu setzen. Zuvor nahm er eine grundlegende Umstrukturierung seiner Geschäftszahlen vor.

Doderer präsentiert sehr geschickt einen bürokratisch-sinnlichen Raum, der aus der Sicht eines Weberianischen Bürokrativerständnisses einen Widerspruch in sich selbst darstellte. Dieser Raum war definiert durch die Spannung zwischen einem langsam sich formierenden sexuellen Begehren(70) – bezogen auf ein Außen – und einem neurotischen Festhalten an bürokratischen Ordnungs- und Gestaltungsformen, die das geschlossene bürokratische System und damit eine Form der Geborgenheit für Doderers Amtsrat vertraten. Mit dem Festhalten sollte wohl Zihals Weg durch dieses »Zwischenreich … durch das eine mystische oder zumindest mysteriöse Behörde vom Leben und den gewöhnlichen Menschen getrennt wird …«(71) leichter bewältigt werden. Dieses Miteinander von Offenheit und Geschlossenheit führte zu einer zunehmenden Spannung, die sich letztlich in einer kathartischen Befreiung aus dem bürokratisch-sinnlichen Komplex entladen wird.(72)

Woran konnte ein aufmerksamer Beobachter dieses so selbstverständliche Festhalten an den kleinen Formen im Prozess der Menschwerdung des Amtsrates erkennen? Darüber kann am besten der mit seiner Figur vertraute Autor(73) selbst Auskunft geben:

»Aber mit der primitiven, für eine wenig entwickelte Sternwelt noch zulangenden Art und Weise der Standorts-Bezeichnungen war’s nun ein für alle Male vorbei: Draufsicht, unten, rechts, oder gegenüber; und auch mit kindisch-märchenhaften Namen: die Waldfee – sie hieß jetzt etwa: II 136°/22°, 10 Uhr. Und was die Beleuchtungs-Qualifikation anlangte, sowie endlich die Beachtlichkeit des Objektes im Hinblick auf die Rangs-Reihung: so konnte für die letztere eine Stufenleiter in arabischen Ziffern angenommen werden, zugleich als Grundzahl unter welcher das Object überhaupt in der Liste exhibiert zu erscheinen hatte; die Beleuchtungs-Qualification blieb dann rückwärts anzufügen mit einem Buchstaben des kleinen Alphabets. Demnach also etwa:

126) II 98 15 10, f.« (74)

Dieses Geschäftszahl ähnelt frappierend den Geschäftszahlen österreichischer Behörden nach der Kanzleireform. Mit der Abkehr von der romantischen Bezeichnung seiner einzelnen Sterne hat Zihal endgültig die bildersprachliche Aufladung seiner Adressierung verlassen und den Weg zu einer abstrakten Ordnung seiner Dinge gefunden.(75) Diesen Prozess der zunehmenden Rationalisierung der Verweissysteme kann als eine literarische Mitschrift der Verwaltungsrationalisierung der 1920er- und 1930er-Jahre gelesen werden. Dabei thematisiert Doderer nicht die großen Themen wie Föderalismus, Geschäftsordnung und Zuständigkeiten, sondern die kleinen Formen bürokratischer Tätigkeit, wie die Nutzung von Aktenzahlen zur Verortung bürokratischer Vorgänge als kleine bewegliche Sterne im Verwaltungshimmel. Trotz dieser Ähnlichkeiten sind die Geschäftszahlen von Zihal grundverschieden von der Adressierung in modernen Verwaltungssystemen.

Ein wesentlicher Unterschied findet sich im Verständnis von der so genannten Grundzahl. Die Kanzleiordnung aus dem Jahr 1923 legte fest, Geschäftszahlen als laufende Nummern zu vergeben, wobei die Zählung mit jedem Kalenderjahr neu beginnen sollte. Die Grundzahl fasste alle Geschäftsstücke zusammen, »die eine und dieselbe Angelegenheit betreffen« und wurde gebildet aus der Geschäftszahl des ersten Geschäftsstückes zu der fraglichen Angelegenheit.(76) Bei Zihal waren die Geschäfts- und die Grundzahlen identisch, was aus der Perspektive eines Verwaltungsverfahrens ungewöhnlich war. Denn nur bei wiederholter aktenmäßiger Behandlung derselben Angelegenheit wurde die erste der Aktenzahlen zur Grundzahl. Zihal hatte jede seiner terrestrischen Sterne als ein wiederholt zu bearbeitendes Objekt angelegt. Es fehlten jedoch die Akten über die einzelnen Bearbeitungsschritte, weil diese Geschäftsstücke nur in ihm selbst vorhanden waren. Nur aus diesem Grund lässt sich ein Zusammenfallen dieser beiden Zahlen erklären.

Zihal nahm sich allerdings noch weiter gehende Freiheiten im Umgang mit bürokratischen Adressierungen. Anstelle der Verwendung einer neutralen fortlaufenden Nummerierung führte er ein persönliches Element in seine Liste ein, indem er sie nach seinen libidinösen Präferenzen sortierte: »die Beachtlichkeit des Objectes im Hinblick auf die Rangs-Reihung.«(77) Auch diese Abweichung von einer bürokratischen Norm ist zu rügen, sie ist allerdings aufgrund der besonderen Verhältnisse entschuldbar. Zihal musste ja keinen Einlauf bearbeiten, seine terrestrischen Sterne wandten sich ja nicht mit Anliegen an ihn. Er wurde von sich aus tätig. Unter diesen besonderen Umständen kann man durchaus verstehen, dass Doderers Amtsrat, ganz ähnlich wie in der zeitlichen Konkurrenz von mehreren Erhebungsverfahren, eine Priorisierung vornahm. Wenn sich Zihal für eine Laufbahn in der Registratur entschieden hätte, wäre der Missbrauch einer Grundzahl für diesen Zweck sicherlich unterblieben. Denn es handelte sich dabei aus kanzleitechnischer Sicht um die Sollbruchstelle der Zihal‘schen Registratur. Unter dem Einfluss seiner libidinösen Spannung erstellte er eine Reihung, ohne dass bereits alle zu bearbeitenden Vorgänge bekannt waren.

Zihal wird von Doderer als ein korrekter, aber nicht unbedingt ehrgeiziger Beamter geschildert. Er hatte die so genannte Intelligenzprüfung erfolgreich bestanden, war zum Konzeptbeamten aufgestiegen. Doch dort scheint er sich nicht besonders als Triebkraft für kanzleitechnische Änderungen hervorgetan zu haben. Wenn Zihal tatsächlich ein Verfechter der Reformen von Erich Graf von Kielmansegg, dem Statthalter von Niederösterreich, gewesen wäre oder gar wie Eduard Freiherr von Hohenbruck eine Studienreise in die deutschen Staaten unternommen hätte, um die dortige Verwaltungspraxis zu studieren, hätte uns das Doderer sicherlich nicht verschwiegen. Umso beeindruckender ist die Schöpferkraft des Amtsrates, der durch die Versenkung in den reinen Geist der Bürokratie eine Neugestaltung von Geschäftszahlen hervorbringt, mit der zahlreiche Reformer seit den 1910er-Jahren gerungen hatten.(78)

Die Kanzleireform war auf der Agenda der Kommission des Jahres 1911, doch wurde ihr nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt. Zihal kann hier offenbar kein Vorwurf gemacht werden! Kielmansegg, selbst Mitglied der Kommission, sah »zu viele Professoren (Theoretiker) und autonomistisch gesinnte Elemente als Mitglieder in dieselbe berufen«, was aus seiner Sicht mit dazu beitrug, dass die Kommission »nach dreijähriger Tätigkeit ohne richtiges Ergebnis ihrer Beratungen, nach schwerem Siechtum sanft verschied.«(79) In der Verwaltungsreform der 1920er-Jahre wurde die Kanzleireform erneut zum Thema – sie war ein Bestandteil des Reform- und Finanzprogramms von 1922. Die Kanzleireform wurde als Bestandteil des Reformprogramms umgesetzt und wurde am 1. Januar 1927 verbindlich bei allen Landesregierungen eingeführt;(80) sie blieb aber in ihrem Kern den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verpflichtet.(81) Der zeitliche Rahmen der Kanzleireform, der sich vom späten 19. Jahrhundert bis in die Mitte der 1920er-Jahre erstreckte, entspricht somit der Zeit, in der wir Doderers Amtsrat auf dem Weg zu seiner Menschwerdung begleiten.

Welche Bedeutung hatte die Kanzleireform für Zihal, der ja eine ihrer Ergebnisse – die Neugestaltung der Geschäftszahlen – aus sich selbst hervorgebracht hatte. Löste das in seiner höchst persönlichen Registratur ähnliche Erschütterungen aus, wie sie die staatlichen Behörden zu gewärtigen hatten? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein genauer Blick auf die Abläufe erforderlich. Rasch wird erneut der deutliche Unterschied im Geschäftsgang sichtbar. Das Taxamt – die eigentliche Heimat des pensionierten Amtsrates – entwickelte ein hohes Maß an Geschlossenheit in der arbeitsteiligen Erledigung von Geschäftsstücken. Das Taxamt, wie übrigens die meisten der Behörden, war im Bereich einzelner zentraler Schnittstellen an die Umwelt angebunden. Diese Offenheit betraf den so genannten Einlauf. Grundsätzlich durfte kein an die Behörde adressiertes Schriftstück zurückgewiesen werden.(82) Das führte zu einem stetigen Strom an Geschäftsstücken, die in der Registratur verzeichnet und von den Bearbeitern in den einzelnen Abteilungen erledigt werden mussten.

Zihals Amt war von seinem persönlichen Element geprägt. Er hatte ja den Olymp verwaltungskultureller Geschlossenheit verlassen und konnte sich nicht mehr darauf beschränken, die an ihn herangetragenen Vorgänge zu erledigen. Er musste selbst aktiv werden, wollte er seine Amtstätigkeit weiter aufrecht erhalten. Dieser Nachteil wurde mehr als aufgewogen durch die Antizipation einer Bestimmung der Kanzleiordnung des Jahres 1923, dass für die Bearbeitung eines Vorganges »immer jene Art zu wählen [sei], die nach den Umständen des Falles als die zweckmäßigste und einfachste anzusehen ist.«(83) Über die Zweck-Mittel-Relation lässt sich ja immer streiten, aber die Entscheidung von Doderers Amtsrat, den gesamten Aktenlauf in sein Inneres zu verlagern, hatte große Vorteile für die Organisation seines Amtes. Die Verfügbarkeit der Vorakten, wie man seine früheren Beobachtungen zu demselben Objekt bezeichnen kann, war unmittelbar, durch einen kognitiven wie körperlich-sinnlichen Vorgang, gegeben und musste nicht über eine Lagerstelle innerhalb der Registratur abgerufen werden.

Die Überlegenheit von Zihals Speicherlogik, die in gewisser Weise den digitalen Akt ja vorweggenommen hatte, zeigt sich im Vergleich mit der Umsetzung der Kanzleireform in den Ämtern staatlicher Behörden. Dort war die konventionelle, noch ganz dem Papier vertrauende Aktenführung ein echtes Hemmnis zur Verwirklichung eines neuen, rationellen Kanzleibetriebs. Lassen wir dazu Max Iglseder, Kanzleioberdirektor und Landesregistrator von Oberösterreich, zu Wort kommen:

Der Platz in der h. ä. Registratur ist dermaßen derart beschränkt, dass viele Faszikel nur mehr mit Gewalt in die Fächer gepreßt werden können und dadurch vielfach Schaden erleiden. Für die Unterbringung neue Faszikel, welche durch die geplante Einführung entstehen würden, ist daher dermaßen absolut kein Platz.(84)

Die Neugestaltung der Verwaltung im Kernbereich bürokratischer Funktionalität sollte nicht den Professoren und schon gar nicht den Theoretikern überlassen werden. Das hatte schon Graf Kielmansegg hellsichtig erkannt. Nach dem Krieg, der Ausrufung der Republik und einer halbherzigen Demokratisierung der Verwaltung(85) rückten die erfahrenen Praktiker mit ihrer intimen Kenntnis der Abläufe in den Vordergrund. In ihrer Stellungnahme zum Arbeitsabbau in der öffentlichen Verwaltung forderte die steiermärkische Landesregierung deshalb zusätzlich zum systematischen Ausbau des »n. ö. Kielmansegg’schen Systems« die Heranziehung von »Praktikern aus den unteren Instanzen« zur »Verfassung einer neuen Kanzleiordnung«.(86) Dieser Forderung wurde teilweise entsprochen. Die oberösterreichische Landesregierung forderte ihre Praktiker zu gutachtlichen Stellungnahmen zu einer Kanzleiordnung auf, die nicht von den Mitarbeitern der Hilfsämter entworfen worden war.

Sie sollten sich dazu äußern, welche konkreten Folgen die Neugestaltung der Aktenmanipulation haben würde. Wie sah diese Reorganisation konkret aus? Zur verbesserten Kontrolle des Aktenlaufs und zur erhöhten Übersichtlichkeit sollte die zentrale Einlaufstelle und der zentrale Expedit beibehalten, die eigentliche Aktenmanipulation jedoch in fünf thematisch definierten Kanzleiabteilungen ausgelagert werden. Dort sollte das Eingangsbuch geführt und die gesamte Evidenzhaltung der Akten erledigt werden. Waren die Beamten der Hilfsämter und damit die Herren und Bewahrer der Kleinen Formen damit einverstanden? Karl Pühringer (Leiter der Einlaufstelle), Julius Stürzlinger (Leiter des Expedits), Max Iglseder (Leiter der Registratur) und Michael Dirr (Kanzleidirektor in der Registratur) setzten sich im November 1925 mit der geplanten Reform nicht als einer Option auseinander, deren Vor- und Nachteile im Vergleich mit Alternativen diskutiert werden könnten. Sie blieben ihrem Selbstverständnis verpflichtet, das einen Mitarbeiter der Hilfsämter nur zur Reflexion über die praktischen Folgen der Anwendung normativer Vorgaben ermächtigte. Sie nahmen die Reform als gegeben an und wiesen auf deren unmittelbare Folgen hin: die Neuordnung würde keine Ersparung, sondern eine Verteuerung der Manipulation bringen, weil in der »Zeit der Überleitung« Mehrarbeit anfallen würde. Zusätzlich zu einer zeitweisen Erhöhung des Personals musst man Geld in die Adaption der Kanzleiräume mit Beleuchtung, Tischen und einem Ofen investieren.(87)

Die vier Experten begrüßten explizit die Vereinfachung in der Adressierung von Akten. Sie griffen dabei eine Art Waldfee-Problem auf. Es handelte sich dabei nicht um die Präsenz kollektiver erotischer Energien wie im Fall von Zihals romantischer Referenz, sondern um das Fortwirken von längst nicht mehr aktuellen Bedeutungen in der Konstruktion von Aktenbezeichnungen. Längst überwundene tektonische Schichten bürokratischer Praxis waren hier für den Fachmann sichtbar, für den Praktiker aber nur mehr schwer nachvollziehbar. Die Adressierung erfolgte somit als sinn-entleerte Anwendung von bereits obsoleten Regeln! Die vier Experten veranschaulichten diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf die Registraturbezeichnung für eine Sanitätsgemeinde in Oberösterreich.(88) Mit ihrer Kombination von Großbuchstaben und Zahlen, angeordnet in einer Bruchzahl, war sie nicht mehr funktional, weil sie nicht mehr benötigte Informationen transportierte.

Die Rationalisierung im Zuge der neuen Kanzleiordnung machte Schluss mit diesem Mehrwert und reduzierte die Akten-Adressen auf ein Minimum, ohne die für den neuen Aktenlauf wichtigen Informationen über die Zuordnung des Vorgangs zu Ressorts auszublenden. Die neuen Bezeichnungen für die Geschäftsstücke gaben deshalb die Bruchzahl auf, setzten an den Beginn die dafür zuständige Kanzleiabteilung, gefolgt von der Kennzeichnung des Gegenstandes, wobei die laufende Nummer nach dem Schrägstrich die einzelnen Geschäftsstücke zu einer Angelegenheit auswies. Die letzte Position bezeichnete den für die Bearbeitung zuständigen Landesrat:

II 635/1 G(89)

Diese Kombination von Buchstaben und Zahlen stellt die Adresse für das erste Stück in einer Armensache aus der Gemeinde Ried/Innkreis bereit. Sie hat Anklänge an die Geschäftszahlen, wie sie Zihal in seinem ganz persönlichen Amt verwendet hatte. Die Adresse hat, wie bei Doderers Amtsrat, zwei Referenzpunkte: waren es bei Zihal die Koordinaten im Raum und die Bezeichnung der Beobachtungszeit, so verortete die oberösterreichische Verwaltung ihre Akten in einem Koordinatensystem, das über Kanzleiabteilung und thematischer Ordnungszahl das Geschäftsstück in einem festgelegten Aktenplan verankerte und zugleich mit der abgekürzten Bezeichnung des zuständigen Landesrates ein flexibles Element aufnahm. Das Kürzel führte eine Art Fremdbestimmung in den reinen Geist der Bürokratie ein, weil es nicht ausschließlich im Willen der Verwaltung lag, dieses Merkmal zu bestimmen. Im Zihalschen Spanner-Amt hing der Sachbearbeiter vom Verhalten der zur Beobachtung auserwählten Frauen ab. Im Fall der Landesverwaltung war es der Wählerwille, der über die Zusammensetzung des Landesrates und damit auch über die Ressortzuteilung entschied.

Welche Verwirrung hier entstehen konnte, zeigt sich in den Geschäftszahlen, die in einem Gutachten zur Reform und in der abschließenden Verfügung verwendet wurden, um die neue Notationsform zu veranschaulichen. Der Durchführungserlass zur Amtsverfügung vom 2. Oktober 1926 verwendete noch dieselbe Notation wie der fünf Tage später entstandene Bericht von Kanzleidirektor Dirr aus der Registratur beispielhaft für eine Armensache aus dem Bezirk Ried/Innkreis: II 635/1 Schw. Die Zuständigkeit für den Bezirk Ried und damit auch für die dortigen Armensachen lag demnach bei Landesrat Josef Schwinner (CSP). Das war falsch. Schwinner war laut Landesratsprotokoll vom 7. Juli 1925 für die Bezirke Perg und Steyr-Land zuständig.(90) Bei der Endredaktion des Durchführungserlasses wurde der Fehler entdeckt und die korrekte Form eingesetzt: II 635/1 G. Damit wurde Landesrat Anton Gasperschitz (CSP) richtig als zuständige Entscheidungsinstanz bezeichnet.(91)

Dieses Detail unterstreicht das Risiko, das die Offenheit gegenüber der Umwelt bei grundlegenden internen Abläufen mit sich bringen konnte. Die Adressierung war ein zentrales Moment des Geschäftsgangs, weil sie Informationen über laufende und vergangene Vorgänge innerhalb des Entscheidungssystems verfügbar machte. Das war von existenzieller Bedeutung für die Verwaltung des modernen Staates. Ein Vorgang musste nach seinem Eintreffen in der Kanzlei im Datenraum der Registratur verortet werden, um darauf bezogene frühere Geschäftsstücke ermitteln und dem Akt beischließen zu können.(92) Die staatliche Verwaltung nutzte ihre rasch akkumulierenden Datensammlungen nicht nur zum Aufbau von programmspezifischen Wissensbeständen,(93) sondern als Ausgangspunkt für lokale Entscheidungssammlungen. Diese waren eine wichtige Voraussetzung für sachbezogene, neutrale und kompetente Bearbeitung komplexer Sachverhalte, wie sie durch einen rasch expandierenden Staat und die zunehmende Bereitstellung von öffentlichen Gütern seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts notwendig wurde.(94) Das stellte die Verarbeitungskapazität der Bürokratie vor große Herausforderungen. Die stetige Zunahme von Beamtenstellen und Gebäuden und die damit einhergehende erhöhte Sichtbarkeit und Bedeutung des öffentlichen Dienstes wurde mehr als wettgemacht durch die noch rascher wachsende Zahl der aktenmäßigen Vorgänge.

Die Verwaltung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts steckte in einem Dilemma fest. Der Zugriff auf Vorakten und bereits getätigte Entscheidungen wurde angesichts der sich etablierenden Politikfelder(95) immer wichtiger. Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, diesen Zugriff mit den bestehenden Instrumenten auch sicherzustellen. Die Verwaltungsreformdebatte dieser Zeit setzte sich gezielt auch mit der Kanzleireform auseinander, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Eine zentrale Rolle spielte in den Lösungsansätzen die Registratur. Die zentral erstellten Register- und Protokollbände des damaligen österreichischen Staates beeindrucken noch heute aufgrund ihres Umfangs. Die Statthalterei von Niederösterreich, eine wichtige staatliche Regionalbehörde, produzierte jährlich 89 dickleibige Bände. Das erzeugte mehr Unübersichtlichkeit als Kontrolle, wie bereits am Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt wurde. Es benötigte allerdings einen Weltkrieg, einen Regimewechsel und einen nur knapp vermiedenen Staatsbankrott, um die nötigen Reformschritte tatsächlich setzen und die Kanzleiordnung der staatlichen Behörden ändern zu können.(96)

Die Registratur und die Kanzlei erhalten eine Rolle zugeschrieben, für die am besten das Sprachbild der panoptischen Beobachtung passt. Sie sollten nicht nur die Bewegung der Akten dauernd im Blick behalten, sondern auch den rasch wachsenden Bestand an Wissen und Entscheidungen anhand ihrer, praktisch und nicht theoretisch entwickelten Instrumente überwachen.(97) Einen anderen Anspruch hatte auch Zihal nicht. Seine Kontrolle bezog sich auf die Objekte in seinem terrestrischen Sternenhimmel. Seine libidinösen Vorgänge konnte er nur solange durch die Nutzung der Kleinen Formen durch amtsmäßige Bearbeitung rationalisieren, so die poetologische Vorgabe von Doderer, als seine Entpuppung noch nicht fortgeschritten war. Danach deutete sich die kurz bevorstehende Metamorphose durch das Zittern der Extremitäten an. Bis dahin ließ die Durchsetzung der Kontrolle nach außen Zihal als bürokratisches Subjekt nicht unberührt. Der Autor gestattet ihm kurz ein gesteigertes Wertgefühl: »Ja, er war gewissen Leuten überlegen, der Amtsrat, weit überlegen, er befand sich, er stand in Überlegenheit«, wie das Doderer in unnachahmlicher Weise zum Ausdruck brachte.(98) Diese Überlegenheit beruhte auf der radikalen Entzauberung der Welt: »an Feen glaubt nicht mehr, wer ihre Position in Ziffern anzuschreiben vermag.«(99) Er unterwarf die Objekte seines sexuellen Begehrens einem rationalen Ordnungssystem, das selbst dem Mitarbeiter einer Registratur die Hebel zur Kontrolle im Datenraum der Behörde bereitstellte.

War Doderer auch in dieser Hinsicht der Autor einer Mitschrift von bürokratischen Prozessen? Auf der rein phänomenologischen Ebene wohl nicht. Die emotionale Befindlichkeit von einzelnen Beamten lässt sich nur in Ausnahmefällen ermitteln und wäre für diese Überlegungen auch gar nicht relevant. Doderers Auseinandersetzung mit der Rationalisierung von Zihals Geschäftszahlen erschließt sich als Mitschrift, wenn man sie aus der Perspektive der oben eingeführten Leitdifferenz zwischen Offenheit und Geschlossenheit liest. Macht und Kontrolle bezieht sich im Amtsbetrieb von Zihal nach außen, auf die Objekte seines sexuellen Begehrens. Sie werden ihrer romantischen Attribute entkleidet und einem objektivierenden Verfahren zur Befriedigung seines nicht diskursfähigen libidinösen Begehrens unterworfen. Zihals sexuelles Begehren kann durch den Einsatz Kleiner Formen strukturiert werden, weil er es bis zu seiner Menschwerdung als ein ihm äußerliches Phänomen behandelt – Emotionen und Sexualität sind einem engelsgleichen Beamten eben nicht angehörig. Ein solcher Kontrollanspruch findet sich im Bereich der Registratur und Kanzlei nach innen gewendet – auf die internen Verfahren und in der Transformation von Daten in entscheidungsrelevantes Wissen. Auch aus dieser Sicht erschließt sich der ironische Kommentar von Doderer zur österreichischen Bürokratie als einem geschlossenen, von der Gesellschaft abgetrennten Wirklichkeitsbereich.(100)

Doderers Roman kann auch deshalb als Mitschrift bürokratischer Rationalisierung gelten, weil er mit der bürokratischen Aufladung von Zihals voyeuristischer Tätigkeit einen Problemkomplex anspricht, der für die Entwicklung des Staates und die Nutzung der Kleinen Formen relevant ist. Doderer präsentiert diese Aufladung als Bahnung im Sinne von Jacques Lacan,(101) die emotionales Erleben und Handeln anhand früher etablierter Strukturen organisiert. Für den Analytiker Lacan sind die Momente interessant, an denen die bestehenden Bahnungen nicht mehr adäquate Strukturierungen für Emotionalität und Handeln bereitstellten. Das ist ein offensichtliches Problem im Prozess der Menschwerdung von Zihal: Bürokratische Strukturierungen sind im privaten Leben nur bedingt nützlich – in seinem Fall versagten sie bereits bei der Organisation des Umzugs und noch viel mehr beim Umgang mit erotisch-sinnlichem Begehren. An diesem Punkt würde ich nun gerne erneut in den Dialog mit der Kanzleireform einsteigen. Gibt es hier ebenfalls Bahnungen, die nicht mehr adäquat waren für die Klassifikation, Kommunikation und Organisation von Information – alles wichtige Aspekte für das Handeln einer Behörde im Sinne der Produktion bzw. Vorbereitung von Entscheidungen. Für die Verwaltungsund Kanzleireform seit dem 19. Jahrhundert ist diese Frage von höchster Relevanz. Sie wird von der Verwaltungs- und Büroreform immer wieder aufgegriffen, wenn auch nicht in der Begrifflichkeit der Psychoanalyse.(102)

Aus meiner Sicht ist die öffentliche Verwaltung als Organisation ganz besonders von dieser Problematik getroffen. Die Geschäftsordnungen, Aktenläufe und selbst die Festlegung von Geschäftszahlen können nicht ad hoc modifiziert werden, sondern müssen in langwierigen Aushandlungen neu festgelegt werden. Deshalb operierten Behörden in ›Bahnungen‹, die dem Organisationsbedürfnis und den politischen Interessen eines früheren Zeitraums entsprachen. Direkten Ausdruck fanden diese Bahnungen in den Geschäftszahlen, deren Revision mit erheblichen Investitionen verbunden war. Die Entwicklung der Kleinen Formen und ihre spezialisierte Nutzung stärkten den solipsistischen Charakter der Verwaltung. Ihre Änderung hatte deshalb ein erhebliches Potenzial, den Lauf der Verwaltungsdinge und damit die Stellung der Behörden im Hinblick auf die Leitdifferenz Offenheit und Geschlossenheit radikal zu verändern. Das bringt Doderer in seinem Roman auf eine unterhaltsame und witzige Art zum Ausdruck.

Schluss

Doderers Roman »Die erleuchteten Fenster« ist bereits intensiv innerhalb der Literaturwissenschaft behandelt worden.(103) Mein Beitrag steht außerhalb dieser werkgeschichtlichen und poetologischen Reflexion. Ich habe die Darstellung von bürokratischer Persona und von verwaltungstechnischen Verfahren als eine Mitschrift der Verwaltung gelesen. Doderer stellt seinen Roman in einen nicht eindeutig definierten zeitlichen Bezugsraum, der die späten Jahre der Monarchie und den Beginn der Ersten Republik umfassen wird. In diesem Zeitraum steht die Staatsverwaltung unter einem hohen Reformdruck, der zur einschneidenden Reform in den 1920er-Jahren führt.

Die kleinen Formen der Manipulation von Akten, Daten und Vorgängen sind von diesen Reformen direkt betroffen, das habe ich anhand der Kanzleireform in der oberösterreichischen Verwaltung diskutiert. Für Doderer spielen diese kleinen Formen eine wichtige gestalterische Funktion, weil sie den reinen Geist der bürokratischen Welt bezeichnen. Sie sind ebenso wichtig für Doderer, um Zihals Festhalten an diesen, Heimat vermittelnden Formen zu analysieren, wie der Hinweis auf Zihals Lektüre der Dienstpragmatik von 1914.(104) Der Bezug auf die kleinen Formen bietet im Vergleich mit dem Bezug auf die Dienstpragmatik zusätzliche analytische Möglichkeiten. Man kann die Nutzung dieser Kulturtechnik durch Doderers Amtsrat mit den Verwaltungstechniken der Zeit in einen Dialog setzen, auf den sich der Roman bezieht.

Die Inszenierung von Zihals bürokratischer Persona, vermittelt über die Nutzung der kleinen Formen zur Organisation seiner voyeuristischen Tätigkeit, ist für sich selbst schon ein Ansatzpunkt, um die ironische Darstellung von Zihals Menschwerdung besser zuordnen zu können. Der Amtsrat setzte mit seinem Fall aus dem bürokratischen Olymp nicht einfach seine Amtstätigkeit fort, wie ein oberflächlicher Leser vermuten könnte. Er bewegte sich von der Bearbeitung der ihm zugewiesenen Akten zum Aufbau eines Repertoriums, das auf keine Protokolle, Notizen, Akten verwies. Diese Konstellation habe ich in zwei Richtungen weiterverfolgt. Erstens zeigt sich darin das verzweifelte Festhalten von Zihal am Geist der Bürokratie, der in den kleinen Formen viel stärker zum Ausdruck kommt als in den Akten. Zweitens verweist das Fehlen von Akten auf die mangelnde Diskursfähigkeit und Verschriftlichung des sexuellen Begehrens. Dieses muss in seinem Inneren verbleiben.

Lässt sich Doderers Roman als eine Mitschrift der öffentlichen Verwaltung begreifen? Ich sehe für eine solche Lektüre zwei Ansatzpunkte. Der erste betrifft die Thematisierung der Leitdifferenz von Offenheit und Geschlossenheit durch Doderer. Wenn man die Menschwerdung Zihals aus dieser Perspektive betrachtet, bewegt sich der Amtsrat von einem System der verwaltungskulturellen Geschlossenheit mit einem panoptischen Kontrollanspruch im Hinblick auf die Akten, Vorgänge und Wissensbestände hin zu einer neurotischen Abschließung seiner libidinösen Regungen, die durch die Nutzung von kleinen Formen bürokratischer Praxis umgesetzt wird. Die Offenheit des Verwaltungssystems gegenüber der Verwaltungsumwelt, die in strukturierter Form durch einen diskursfähigen Einlauf organisiert wird, bricht im Prozess von Zihals Menschwerdung zusammen und wird ersetzt durch eine libidinös gesteuerte, distanzlose Bezugnahme auf seinen terrestrischen Sternenhimmel.

Die Katharsis von Zihal schafft einen erneuten Ausgleich zwischen Offenheit und Geschlossenheit. Der im Ernst seiner bürokratischen Persona ruhende und damit in sich geschlossene Amtsrat öffnet sich der romantischen Liebe zur kleinbürgerlichen, wenn auch etwas neurotischen Postoberoffizial Opladek. Kann man dieses Happy End auch auf die öffentliche Verwaltung übertragen? Das wäre ja die wesentliche Anforderung an eine solche Lektüre. Aus meiner Sicht könnte man in diesen Roman die Aufforderung an die Verwaltungsreform hineinlesen, sensibler auf die gesellschaftlichen Brüche zu reagieren, damit die Verwaltung auch tatsächlich in den Bahnungen agiert, die den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur entsprechen. Ob Doderer damit einer verstärkten Demokratisierung der Verwaltung das Wort redet, ist angesichts seiner damaligen politischen Überzeugung zumindest zweifelhaft.

Ich bedanke mich bei den Herausgeberinnen und dem Gutachter für ihre Anregungen.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 41.

Zu den Beschreibungskategorien für diese Frauen vgl. Sigrid Nieberle: Metalepsen. Heimito von Doderer: »Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal«, in: Sigrid Nieberle/Elisabeth Strowick (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme, Köln 2006, S. 117–139, hier S. 134.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 40.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 119.

Nieberle: Metalepsen, S. 129, 136, sieht die Menschwerdung in einer Bereitschaft zum zwischenmenschlichen Austausch und zur reflexiven Position in der Welt.

Vgl. Stefan Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre. Bürokratie bei Heimito von Doderer, in: Stefan Winterstein (Hg.): ›Er las nur dieses eine Buch‹. Studien zu Heimito von Doderers ›Die erleuchteten Fenster‹, Würzburg 2009, S. 237–342, hier S. 256, 297; zur „produktiven Selbstentfremdung“ im Zuge der Menschwerdung vgl. Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung, München 2016, S. 45; zu Doderers Roma als Metalepse vgl. Nieberle: Metalepsen, S. 120.

Zum Voyeurismus von Doderer als Vorbild vgl. Nüchtern: Kontinent Doderer, S. 43f.

Doderer nutzt die Kleinen Formen hier in eigenwilliger Weise zur Auseinandersetzung mit einer bürokratischen Kultur, die Subjektivität und auch Körperlichkeit feindlich gegenüber eingestellt ist. Zur Rolle der Kleinen Formen für eine Reflexion über Identitäten und Kulturen vgl. Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger: Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven, in: Sabiene Autsch/Claudia Öhlschläger/Leonie Süwolto (Hg.), Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn 2014, S. 9–17, hier S. 9f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 14: »Aber ich bin ein ernster Mensch. Und ich lese keine Romane. Literatur ist für mich das, was ein Jud’ vom anderen abschreibt.« Zum Antisemitismus bei Doderer vor dem Hintergrund seiner Unterstützung des Nationalsozialismus vgl. Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 95–100.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 38f.

Zu den Geschäftszeichen und ihre Bedeutung in der Organisation des Aktenlaufs vgl. Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkundenund Aktenlehre der Neuzeit, Wien 2009, S. 106–116.

Zu diesem Konzept vgl. Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Tübingen 2004, S. 23–36. Wenn man die ›erleuchteten Fenster‹ als eine Mitschrift der Bürokratie begreift, kann man einen fruchtbaren dritten Weg in der Auseinandersetzung mit diesem Roman beschreiten. Man muss darin nicht das Abbild der Bürokratie sehen, man muss sich aber auch nicht, wie Winterstein, darauf beschränken, hier nur die Darstellung des »maximal distanzierten, von der Ordnung der Objekte besessenen Blick« vorzufinden. (Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 296) Man kann vielmehr die engen Verbindungen zwischen bürokratischer Persona, der Logik des Verwaltungshandelns, der Nutzung von kleinen Formen und dem Wirklichkeitsbezug eines Beamten nachvollziehen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Bd. 3: Die Philosophie des Geistes, Berlin 1845, § 462, S. 347f.

Hans-Ulrich Derlien/Doris Böhme/Markus Heindl: Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden 2011, S. 79.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 10, 13f.

Deshalb eröffneten sich für Zihal keine Karriereoptionen nach der Pensionierung im Bereich der Wirtschaft oder gar der Literatur, wie sie für ehemalige Beamte der Ersten Republik dokumentiert sind. Vgl. dazu Therese Garstenauer: Beamte im Un/Ruhestand. Überlegungen zu österreichischen Staatsbediensteten, in: ÖZG 22 (2011), S, 81–111, hier S. 93–102.

Vgl. zur sozialen Herkunft Zihals aus dem Kleinbürgertum und die aus diesem Grund idealisierte Beamtenexistenz vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 255f. Zur Persona der Beamten vgl. Peter Becker/Rüdiger von Krosigk, New Perspectives on the History of Bureaucratic and Scientific Subjects, in: Peter Becker/Rüdiger von Krosigk (Hg.): Figures of Authority. Contributions towards a Cultural History of Governance from the Seventeenth to the Twentieth Century, Brüssel 2008, S. 11–26, hier S. 24f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 29.

Zur mangelnden produktiven Selbstentfremdung vgl. Nüchtern: Kontinent Doderer, S. 45.

Zur Dienstpragmatik als Orientierungspunkt vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 265–283; Stefanie Augustin: In die Fenster geschaut. Anspielungen und Motive in Heimito von Doderers ›Die erleuchteten Fenster‹, in: Winterstein (Hg.): ‚Er las nur dieses eine Buch‘, S. 21–71, hier S. 27f.

Renate Mayntz: Role Distance, Role Identification, and Amoral Role Behavior (1970), in: Ariane Leendertz/Uwe Schimank (Hg.): Ordnung und Fragilität des Sozialen. Renate Mayntz im Gespräch, Frankfurt am Main 2019, S. 137–148, hier S. 142f.; Doderers Roman bezieht sich durchaus auf diesen Komplex, wie Wendelin Schmidt-Dengler argumentiert: kommentiert mit diesem Roman die Destruktivität eines rein formal begründeten Handlungssystems in der Bürokratie des Nationalsozialismus: Wendelin Schmidt-Dengler: Jederzeit besuchsfähig. Über Heimito von Doderer, München 2012, 115–120; vgl. dazu auch Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 297f.

Vgl. dazu Mayntz: Role Distance, S. 146.

Augustin sieht in dem »ironischen Pathos«, das Doderer bei den Hinweisen auf die Anwendung der bürokratischen Formen auf das Privatleben einsetzt, einen Distanzierungsgestus: Augustin: In die Fenster geschaut, S. 30f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 135.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 96f.; zu den moralischen Anforderungen an Beamte im Sinne des Anstands und der Amtsehre vgl. Peter Becker: Decency and Respect. New Perspectives on Emotional Bonds between State and Citizens, in: Administory 3 (2018), S. 80–95, hier 80–83. Zur Amtsehre bei Doderer vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 237–342.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 186 und 187; vgl. dazu Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 170, sowie Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 300–303.

Vgl. dazu Peter Becker: Der Staat – eine österreichische Geschichte?, in: MIÖG 126 (2018), S. 317–340, hier S. 331f.; zur Weltfremdheit der österreichischen Bürokratie bei Doderer vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 258f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 7.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 28; s. dazu auch Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 45, zum ›selbständigen‹ Charakter einer staatlichen Behörde, die letztlich frei jeder Zweckmäßigkeit existiert hätten.

Vgl. Kirsten Winther Jorgensen: Towards the Angels. British Zoology and the ›Persona Sapientis‹, ca. 1660–1800, in: Becker/von Krosigk (Hg.): Figures of Authority, S. 127–150, hier S. 129–134.

Zur Transposition als eine »Verkleinerungsoperation« vgl. Maren Jäger/Ethel Matala de Mazza/Joseph Vogl: Einleitung, in: Maren Jäger/Ethel Matala de Mazza/Joseph Vogl (Hg.), Verkleinerung. Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen, Berlin 2021, S. 1–12, hier S. 9f.

Vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 287–290; zur Unterscheidung zwischen ›dünen‹ und ›dicken‹ Regeln vgl. Lorraine Daston: Rules. A short history of what we live by, Princeton 2022.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 136.

Luhmann verweist auf die Steuerungsfunktion einfacher Interaktionssysteme in Organisationen, die Verhalten auch jenseits einer Disziplinierung bestimmen. Anzeichen eines solchen Verständnisses finden sich auch bei Doderers Charakterisierung seines Amtsrates Julius Zihal: Niklas Luhmann: Überlegungen zum Verhältnis von Gesellschaftssystemen und Organisationssystemen, in: ders.: Schriften zur Organisation, Bd. 2, hg. Ernst Lukas/Veronika Tacke, Wiesbaden 2019, S. 3–10, hier S. 6. Die Kolonialisierung der Lebenswelt von Beamten durch die bürokratische Persona findet sich in zahlreichen literarischen Mitschriften der Verwaltung. Vgl. dazu Sabine Zelger: Das ist alles viel komplizierter, Herr Sektionschef! Bürokratie – literarische Reflexionen aus Österreich, Wien 2017, S. 276–278.

Vgl. dazu den Verweis bei Pierre Bourdieu: Über den Staat: Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Berlin 2017, S. 88f.

Becker/Krosigk: New Perspectives, S. 24–26; vgl. auch Robert Vance Presthus: The Organisational Society, London 1979, S. 16; sowie Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity, New York 2007, S. 223–228.

Es wäre vermessen, Zihal auf eine Ebene mit dem bedeutenden preußischen Staatskanzler Hardenberg zu stellen. Die Bemerkung von Cornelia Vismann zu dieser Leuchtgestalt preußischer Staatskunst lässt sich jedoch auch für den fiktiven Beamten der österreichischen Habsburgermonarchie nutzbar machen. Vismann sieht bei Hardenberg die »Tendenz zur aktenmäßigen Verwaltung des eigenen Lebens« — eine Tendenz, die Doderer seinem Protagonisten in höchstem Maße zuschreibt: Cornelia Vismann: Das Recht und seine Mittel, Frankfurt/Main 2012, S. 132–141.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 15.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 20; zur poetologischen Diskussion der Aktwerdung vgl. Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 148.

Zur Rolle der Akten als Selbstverwaltungstechnik vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/Main 2000, S. 235–242.

Vgl. dazu Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 138f.

In diesem Sinn ist die Positionierung Zihals durch Winterstein — »ein Verwalter gerät an sich selbst und wird dabei zurechtgerückt …« — irreführend; vgl. dazu Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 259. Denn das Zurechtrücken im Sinne der Menschwerdung von Zihal ergab sich nicht aus der Anwendung bürokratischer Handlungslogik auf sein Privatleben.

Nüchtern: Kontinent Doderer, S. 49; Zihal entwickelte auch keine neue Sprache für seine »Protokollierungspraxis«, wie Winterstein argumentiert (Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 299), sondern entwickelt ein System von Geschäftszahlen.

Zu Zihal als Autor vgl. Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 174f.; zum Zusammenfallen von Verwaltetem und Verwaltendem vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 290.

Ich beziehe hier eine andere Position als Winterstein (Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 294). Für ihn ist der erste Schritt der Menschwerdung von Zihal durch die Wahrnehmung von dessen sexuellen Bedürfnissen erreicht. Aus meiner Sicht waren die libidinösen Antriebe von Zihal nicht bewusst als sexuelle Bedürfnisse wahrgenommen. Dieser Schritt erfolgt erst mit seiner erfolgten Menschwerdung.

Doderer blendet die Körperlichkeit des Amtsrats Zihal weitgehend aus. In der Fortführung des Gedankens, dass Zihal sein eigenes Archiv sei, könnte man den spezifischen Charakter dieses Archivs in enger Beziehung zu seinem Körper und zu den von ihm beobachteten Körpern bestimmen. Vgl. zum Körper als Archiv Hannelore Bublitz: Das Archiv des Körpers. Konstruktionsapparate, Materialitäten und Phantasmen, Bielefeld 2018, bes, Kap. 1.

Zur ›Landkarte des Aktenbestandes‹ als einem ursprünglichen Hilfsmittel zur Orientierung in einer Registratur vgl. Angelika Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen. Grundlagen für ein Referenzmodell für Elektronische Bürosysteme, Heidelberg 1999, S. 64.

Zum Wechsel der Ordnungsmuster vgl. Nieberle: Metalepsen, S. 119.

Die Adressierungsfunktion war in diesem Fall nicht nach Außen gerichtet – an die Nutzer aus Behörden oder an Externe – sondern war ein ausschließlich internes Verweissystem: Vgl. zum Verweissystem von Findbüchern: Liam Cole Young: Lists and other fragments from a general history of compression, in: Jäger/de Mazza/Vogl (Hg.): Verkleinerung, S. 189–204, hier S. 195f.

Das Taxamt war nicht die einzige Organisation, die auf eine »papereality« setzte, d.h. auf »written representations, that take precedence over the things and events represented«. Vgl. David Dery: ›Papereality‹ and Learning in Bureaucratic Organizations, in: Administration & Society 29 (1998), S. 677–689, hier S. 678. Für Zihal hatte das ideale Amt den Zwischenschritt der ›representation‹ bereits hinter sich gelassen und existierte ohne direkten Bezug zur Umwelt – als »l’art pour l’ar«“: Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 45.

Vgl. Becker: Staat, S. 328–331.

Doderer folgt hier seiner eigenen Lesart der Apperzeptionstheorie, um die das Einlassen des Protagonisten auf die Objektwelt auszuloten. Vgl. dazu Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 102–105. Ich stelle diesen Zugang in einen psychoanalytischen und nicht in einen literarischen Kontext im Hinblick auf die narrative Gestaltung der Menschwerdung von Zihal. Zur literarischen Leseweise vgl. Augustin: In die Fenster geschaut, S. 60–62.

Damit kann Doderer die Spannung zwischen Distanz und Distanzlosigkeit sehr gut bearbeiten, auf die Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 127, hinweist. Die Distanzlosigkeit ergibt sich ja aus der anfänglich rein libidinös bestimmten Offenheit. Der durch Distanz bestimmte Umgang mit Menschen war dagegen auf den geschlossenen Raum der bürokratischen Welt und ihres Parteienverkehrs bezogen. Siehe dazu Alexander Preisinger/Stefan Winterstein: ›Die erleuchteten Fenster‹ — ein ›Wieder Roman‹? Über Raum und Ort in Doderers Zihaloide, in: Winterstein (Hg.), ›Er las nur dieses eine Buch‹, S. 189–212, hier S. 194f. Erst als sich diese Offenheit in den Bahnungen einer romantischen Beziehung bewegt, konnte Zihal soziale und persönliche Distanz in einem ›offenen‹ System leben.

Vgl. dazu Evelyn Polz–Heinzl: Zihal aus dem Sack. Zur Sinneswahrnehmung in Heimito von Doderers ›Die erleuchteten Fenster‹, in: Winterstein (Hg.), ›Er las nur dieses eine Buch‹, S. 225–235, hier S. 233.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 179f. Augustin verfolgt in der Lektüre dieser Textstelle einen alternativen Zugang und verweist auf die humoristische Entlastung, die der Autor dem Treiben seines Protagonisten gewährt: Augustin: In die Fenster geschaut, S. 34.

Es fehlte ihm jedoch der Einblick in die konkreten Abläufe des Verwaltungshandelns. Diese blieben in seinen literarischen Arbeiten ausgeblendet. Vgl. dazu Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 245.

Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 111.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 15f; zur literarischen Kongruenz von Form und Inhalt bei der Beschreibung von Zihals ehemalige Arbeitsplatz und des abweisenden Umgangs mit Petenten vgl. Augustin: In die Fenster geschaut, S. 58f.

Vgl. Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 162f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 16.

Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 150 betont bereits in der Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Form und Inhalt, dass er die »alte Form, die zugleich sein Inhalt war, auf die reine Form zurückführt …«.

Eine weitere spannende Perspektive zur verwaltungskulturellen Bestimmung des Zihalschen Handelns würde die gezielte Nutzung von verwaltungssprachlichen Wendungen im Roman betreffen. Vgl. dazu Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 283–293.

Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 109.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 7.

Zur Registratur als der Steuerungszentrale einer Behörde vgl. Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 121.

Vgl. Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 130f. zur rein ichbezogenen Sexualität von Zihal.

Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien 2009, S. 69.

Vgl. zu den Ablagesystemen im modernen Büro Vismann: Akten, S. 276–299.

»Sie trug lange Strümpfe, Hemd und Höschen, Arme und Schultern ruhten weiß im Licht (das war jetzt der Augenblick, da der Amtsrat den Schnurrbart strich)«: Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 35.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 8.

»Ungerührt schwebte der gewesene Amtsrat über allem was war, überall in gleichem Abstand davon. Und so lächelte er nur …«: Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 188. Zirnbauer sieht die Menschwerdung im Umschwung von Apperzeptionsverweigerung hin zu Apperzeption, mit der die Form schliesslich von der Wirklichkeit eingeholt wurde: Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 151. Im Blick auf das Zwischenreich sehe ich aus einer psychoanalytischen Perspektive die Entstehung neuer Bahnungen im Umgang mit dem Objektbereich.

Die Beziehung zwischen Zihal und Doderer beruhte auf Fantasie, sprachlicher Brillanz und Identifikation. So hatte ihn seine Verlegerin einmal als »Literatur-Zihal« bezeichnet: Heimito von Doderer: Zur Matinée bei Dr. Berger. Herausgegeben und kommentiert von Gerald Sommer, in: Winterstein (Hg.), ›Er las nur dieses eine Buch‹, S. 13–18, hier S. 16. Diese Identifikation bestand laut Thomas Zirnbauer auf einer fundamentalen Ebene, weil Doderer sich zunehmend für die Sprache als selbstgenügsames Ausdrucksmittel entschied: Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 88f. u. 154.

Doderer: Sie erleuchteten Fenster, S. 170f.; diesen Schritt hin zu einer neuen Form der Adressierung lese ich nicht als die Entwicklung einer neuen Sprache (s. dazu Zirnbauer: Lesen – Schreiben – Sprache, S. 169), sondern als Nutzung der kleinen Formen der Akten- und Vorgangsbezeichnung zur Organisation der voyeuristischen Tätigkeit.

Vgl. Winterstein: Torpedierung und Apologie der Amtsehre, S. 299.

Kanzleiordnung für die Bundesministerien. Genehmigt mit Beschluss des Ministerrates vom 18. Juli 1923, Wien 1947, 1f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 170.

Vgl. Kielmansegg: Geschäftsvereinfachung, S. 22f.

Kielmansegg: Kaiserhaus, S. 72.

Vgl. Erlass vom 21. Oktober 1926 mit Erläuterungen zur Durchführung der Amtsverfügung vom 30. Dezember 1925 zur Einführung der Kanzleireform, OÖLA, Landesausschuss Allgemeine Reihe, B II 5 348.

Exemplarisch verweise ich für die Jahrhundertwende auf die Darstellung der Studienreisen von Hohenbruck und Sacken nach Preußen, Sachsen und Baden: Kielmansegg: Geschäftsvereinfachung, 22f.

Kanzleiordnung für die Bundesministerien, S. 9.

Kanzleiordnung für die Bundesministerien, S. 2.

Gutachtliche Äußerung des Amtsvorstandes Max Iglseder vom 19.11.1925, OÖLA, B II 5 348 (Unterstreichungen im Original).

Vgl. Peter Becker: ›… dem Bürger die Verfolgung seiner Anliegen erleichtern‹. Zur Geschichte der Verwaltungsreform im Österreich des 20. Jahrhunderts, in: Heinrich Berger et al. (Hg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien 2011, S. 113–138, hier S. 124f.

Stellungnahme der steierm. Landesregierung (Burg) zu der von der Ersparungskommission mit der Note Zl. 71/III/A ex 1921 eingeleiteten Aktion, betreffend den Arbeitsabbau in der staatlichen Verwaltung, OÖLA, Statthalterei-Präs-42-1661-Reform, 11.

Bericht über die bei den Landes-Kanzleiämtern geplanten Reformen, Linz, 18.11.1925, OÖLA B II 5 348. Zur Neuausstattung der Registraturzimmer vgl. Michael Dirr: Bericht über die Einführung der Kanzleireform 1927 vom 7.10.1926, OÖLA, B II 5 348; die Verwaltungsreformprojekte vor 1914 standen den Beiträgen der nicht-akademisch ausgebildeten Beamten deutlich skeptischer gegenüber. Vgl. dazu Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 158.

Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 158.

Durchführung der Amtsverfügung vom 30. Dezember 1925 zur Kanzlei-Reform, 2.10.1926, OÖLA B II 5 348.

LRProt 7.7.1925, 4.

Durchführung der Amtsverfügung (2.10.1926); Dirr: Bericht (7.10.1926).

Vgl. Kanzleiordnung für die Bundesministerien, S. 11f.

Zum Wissen des Staates vgl. die Beiträge in Peter Collin/Thomas Horstmann (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden-Baden 2004.

Vgl. Pieter M. Judson: The Habsburg Empire: a New History, Cambridge 2016, S. 336f.; sowie John Deak: Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015, S. 249f.; aus einer vergleichenden Perspektive vgl. Gary B. Cohen: Neither Absolutism nor Anarchy. New Narratives on Society and Government in Later Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 29/1 (1998), S. 37–61; vgl. dazu Becker: Staat, S. 321f.

Aus der Perspektive der Kabinettskanzlei des österreichischen Kaisers vgl. die Beiträge in dem Sammelband: Clemens Ableidinger et al. (Hg.): Im Büro des Herrschers. Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse, Göttingen 2022.

Zu den Reformplänen, mit denen man dieser Herausforderung begegnen wollt, vgl. Peter Becker: The Administrative Apparatus under Rekonstruktion, in: Franz Adlgasser/Fredrik Lindström (Hg.): The Habsburg Civil Service and Beyond: Bureaucracy and Civil Servants. From the Vormärz to the Inter-war Years, Wien 2019, S. 233–257.

Zur fehlenden theoretischen Durchdringung dieser Instrumente vgl. Menne-Haritz: Geschäftsprozesse in öffentlichen Verwaltungen, S. 162–164.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 172f.

Doderer: Die erleuchteten Fenster, S. 173.

Damit soll keinesfalls das Eingriffspotenzial der Staatsverwaltung dieser Zeit ausgeblendet werden. Es wurde von der zeitgenössischen Kritik, vor allem in den späten 1940er-Jahren, durch Adorno und Horkheimer nachhaltig kritisiert: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer/Eugen Kogon: Die verwaltete Welt oder: Die Krise des Individuums, in Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Max Horkheimer, Gesammelte Schriften 13, Nachgelassene Schriften 1949–1972, Frankfurt am Main 1989, S. 121–142; vgl. dazu Peter Becker: Bürokratie in: Docupedia-Zeitgeschichte (30.08.2016), S. 15–18.

Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, Weinheim 1996, S. 65.

Vgl. Becker: Staat, S. 318f; Becker: Administrative Apparatus, S. 248–251.

Vgl. Stefan Winterstein: Bibliographie der Sekundärliteratur zu Heimito von Doderers ›Die erleuchteten Fenster‹, in: Winterstein (Hg.): ›Er las nur dieses eine Buch‹, S. 415–421.

Vgl. zur Nutzung von Zihals Lektüre der Dienstpragmatik für die Deutung von Doderers Roman als Mitschrift der Verwaltungskultur der Habsburgermonarchie Peter Becker: Rechts, Staat und Krieg. ›Verwirklichte Unwahrscheinlichkeiten‹ in der Habsburgermonarchie, in: Administory 1 (2016), S. 28–53, hier S. 41–45.