Cornelia Vismann, zitiert nach Markus Mohr: Wir sehen uns. Cornelia Vismann in memoriam, in: Ästhetik & Kommunikation 47 (2017), S. 81.
Die beiden nächstliegenden historischen Einordnungen, um die man fast 20 Jahre nach Erscheinen der »Akten« nicht herumkommt, nimmt Cornelia Vismann selbst vor. Das Zeitalter papierner Akten schien im Jahr 2000 an sein Ende gekommen, der Millennium-Bug hatte keinen nennenswerten Schaden angerichtet. Die Geschichte, die Vismanns »Akten. Medientheorie und Recht« erzählt, ist die eines »im Aussterben begriffene[n] Medium[s]« Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 335. Vismann: Akten, S. 12.
»Eine in Berlin erprobte Medientheorie im Umkreis von Friedrich Kittler« Vismann: Akten, S. 12. Valentin Groebner: Zu den Akten, in: Neue Zürcher Zeitung (14.02.2001). Mario Wimmer: Rezension zu Cornelia Vismann. Akten. Medientechnik und Recht, in: Traverse 18/2 (2011), S. 176.
Der medientheoretische Kontext führt, wie könnte es anders sein, auf den medientechnischen zurück. Friedrich Kittler nannte schon im Sommersemester 1988 an der Ruhr-Universität Bochum in einem Seminar über »Lacan, Foucault, Derrida« – also über die für Vismanns Studie maßgeblichen Autoren – die »allgemeine, d. h. computerisierte Datenverarbeitung« das historische Apriori des Poststrukturalismus. Friedrich Kittler: Bochum, Sommersemester 1988, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 6/1 (2012), S. 98. Friedrich Kittler: Es gibt keine Software, in: Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 225. Vismann: Akten, S. 19. Friedrich Kittler: Einleitung, in: Friedrich Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn 1980, S. 12. Arndt Niebisch: Close Writing. Friedrich Kittler und die Digital Humanities, in: Metaphora 1: Was waren Aufschreibesysteme? IV, S. 3, online: Vismann: Akten, S. 336. Ute Holl: Medientheorie (oder, und, trotz) Kulturtechnikforschung, in: Texte zur Kunst 98 (2015), S. 81.
Das ist ungewöhnlich für ein juristisches Buch. Cornelia Vismann war Juristin. »Akten. Medientechnik und Recht« ist die Dissertation, die sie nach einem Studium des Rechts und der Philosophie zwar in Berlin geschrieben, aber in Frankfurt am Main eingereicht und verteidigt hat. Und so verdankt dieses Buch die andere Hälfte der Leichtigkeit, mit der es Disziplingrenzen überschreitet, den Rechtswissenschaftlern Michael Stolleis und Günter Frankenberg wie wohl vor allem der 2008 verstorbenen Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen, die Vismann 2002 ans Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte geholt hatte. Wie ihre Dissertation wechselte auch Cornelia Vismann während und nach der Promotion zwischen den Fakultäten hin und her und saß später zwischen allen Lehrstühlen, bis sie schließlich nach einer juristischen Habilitation über die Verfassung nach dem Computer und mit einer
Die Akten in »Akten« entziehen sich einer allgemeinen Definition. Sie sind keine abzählbar-diskreten Einheiten, sind nicht nur der Inhalt von Leitz-Ordnern oder Hängeregistraturen. Die Akten, von denen Vismann schreibt, »können in verschiedenen Formationen vorkommen: als lose Blätter, in Kästchen liegend, mit Packpapier umwickelt oder in Kapseln verschlossen, als ein mit Faden verschnürtes Bündel oder als aufrecht stehender Ordner, der alles aufnimmt, was zwischen zwei Pappdeckeln Platz hat«. Vismann: Akten, S. 7. Erhard Schüttpelz: Was ist eine Akte?, in: NCCR Mediality Newsletter 7 (2012), S. 5. Vismann: Akten, S. 135. Vismann: Akten, S. 7, 9.
Auch das Recht definiert Vismann in Abhängigkeit von Akten. Es ist ihr nicht Instrument oder Medium der Konfliktentscheidung, sondern »Formenreservoir autoritativer und administrativer Handlungen, das sich wiederum in Akten konkretisiert«. Vismann: Akten, S. 9. Vismann: Akten, S. 9.
Weil Akten und Recht sich gegenseitig definieren, beginnt Vismanns Geschichte des Rechts auch nicht mit dem Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, sondern mit pragmatischen oder administrativen Schriftformen, mit Gebrauchstexten des Rechts und der Verwaltung also, und das heißt: mit Akten. Nicht die Gründe, die Rechtskulturen zu schriftlichen Aufzeichnungen bewogen haben mögen, sind in dieser Geschichte entscheidend, sondern die Art und Weise, in der diese administrativen Schriftformen funktionieren, »gerade insofern sie nicht der Logik der gesprochenen Sprache unterliegen«. Vismann: Akten, S. 19. Vismann: Akten, S. 9–10.
Dabei sind die Zeiträume, die Vismann in den Blick nimmt, sehr groß, die Perspektive ist mikroskopisch und das Abendland vor allem preußisch. »Akten« erzählt von mehr als 2000 Jahren Rechts- und Verwaltungsgeschichte: Vismann rekonstruiert die von Akten getriebenen Veränderungen der Dispositive des Rechts vom Imperium Romanum und den Kanzleien der Kaiserzeit über den Codex Iustinianus, die Register des Stauferkaisers Friedrichs II. und die preußischen Verwaltungsreformen bis zur »Aktenmäßigkeit der Verwaltung« (Max Weber) in der Weimarer und dem Stasi-Unterlagen-Gesetz der wiedervereinigten Bundesrepublik. Dass Vismann für dieses Unterfangen nicht selbst aus dem Archiv schöpft, sondern sich in Abhängigkeit von älteren historischen Forschungen begibt, hat seinen Preis: So reproduziert sie die Muster dieser Literatur, die im Dienste einer großen nationalen Erzählung viel Gewicht auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation legte, vom Kirchenstaat und dem französischen Königshof aber schwieg. Umgekehrt gilt allerdings dasselbe: Jacob Solls archivgesättigter Meistererzählung über Jean-Baptiste Colberts Erfindung des modernen Staates von 2009 etwa hätte es gutgetan, hätte ihr Autor einen Blick in die englische Übersetzung der »Akten« geworfen. Cornelia Vismann: Files. Law and Media Technology, Stanford 2008; Jacob Soll: The Information Master. Jean-Baptiste Colbert’s Secret State Intelligence System, Ann Arbor 2009. Siehe zur Kritik am Borussianismus der »Akten«: Groebner: Zu den Akten.
Der Größe des Untersuchungszeitraums, die bisweilen eher großzügige historische Argumentationen begünstigt, setzt Vismann jedoch immer wieder die Beschreibungsgenauigkeit der Historischen Hilfswissenschaften entgegen. Darin liegt eine der größten Stärken dieses Buches: Wenn Vismanns Thesenbildung sich aus großen historischen Linien ebenso wie aus einer Aufmerksamkeit für paläografische und diplomatische Details ergibt, werden Formulare, Register oder Tabellen – nicht unbedingt die ersten Objekte historischen Begehrens – zu welthaltigen Dokumenten und die an ihnen betriebene Empirie theoriefähig. Die genaue Beschreibung solcher Papiertechnologien und die strenge Verknüpfung ihrer Veränderung mit jener von Aktendispositiven und Rechtssystemen sorgt dafür, dass das medientechnische Apriori nicht einfach Suggestion oder Behauptung bleibt.
Wenn bei Vismann vermeintlich ›trockene‹ Verwaltungsgeschichte zu Theorie wird, die zu lesen ein Vergnügen ist, liegt das auch an der Sprache, in der das Buch geschrieben ist. »Akten« ist, anders als manches Lob es in den Rezensionen nahelegte, keine leichte Lektüre. Aber Wissenschaft ist nun einmal Arbeit und ›stilistische Eleganz‹ vielleicht kein falsches Wort für das Geschick, mit dem Cornelia Vismann, »denkbar komplexe Gedankengänge, in denen sich die unablässige Metamorphose der Akten reflektiert, in eine aphoristisch zugespitzte Formulierung auslaufen [lässt], die dafür sorgt, dass das ausgebreitete Wissenstableau nicht vor den Augen des Lesers verschwimmt«. Friedrich Balke: Wer kann das alles zusammenhalten!, in: die tageszeitung (9.12.2000).
Die englische Übersetzung ist nicht zuletzt auch deshalb ein anderes Buch geworden. Vom Medienwissenschaftler Geoffrey Winthrop-Young übersetzt sind die »Akten« 2008 als »Files: Law and Media Technology« bei Stanford University Press erschienen und dem Andenken des 2007 verstorbenen Historikers Raul Hilberg gewidmet. Der englische Text verzichtet dabei auf viele empirische Details des Originals und sogar auf ganze Unterkapitel, wie etwa auf jenes über die Tabellen der Polizeywissenschaft des 18. Jahrhunderts. Als Teil des Theorieimportunternehmens »German Media Theory« stärkt die so gekürzte Übersetzung den theoretischen Charakter der Studie. Was der Rezeption des Textes in der englischsprachigen Medienwissenschaft zuträglich gewesen sein dürfte, scheint Archivaren und Historikerinnen die Lektüre verleidet oder zumindest erschwert zu haben. Geoffrey Yeo: A Review of ›Files: Law and Media Technology‹, in: Journal of Archival Organization 7/4 (2009), S. 222–223; Wimmer: Rezension, S. 177.
Enttäuschung über eine ausgebliebene Rezeption der »Akten« war auch eine der Reaktionen auf Cornelia Vismanns Tod im August 2010. In einem Nachruf, den der Rechtstheoretiker Rainer Maria Kiesow für die »Kritische Justiz« verfasste, vermischt sich die Wut auf den viel zu frühen Tod mit der auf die Disziplin, der er vorwirft, eine »außergewöhnliche, intellektuelle, professionell und akademisch durchqualifizierte Juristin [...] bis zum Ende ordnungsgemäß betreut und dann zu den Kulturwissenschaftlern abgeschoben« zu haben. Rainer Maria Kiesow: Cornelia Vismann. 26. Mai 1961–28. August 2010, in: Kritische Justiz 43/4 (2010), S. 373. Kiesow: Cornelia Vismann, S. 327; Susanne Baer: Vom Gericht zum Tribunal?, in: die tageszeitung (16.06.2011).
So klar und umfassend, wie in dieser Theorie angelegt, lösen Medien einander nicht ab. Zwar ist es schwieriger geworden, die Steuererklärung auf Papier einzureichen, aber von einem Ende des Papierzeitalters wird kaum sprechen wollen, wer seit Erscheinen von Vismanns Buch auf irgendeiner Behörde war. Dass ein deutscher Geheimdienst Akten schreddert (und nicht Dateien löscht), nachdem die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds als solche bekannt wurden, bestätigt auf zynische Weise die papierne Wahrheit des Schriftlichkeitsgrundsatzes, der auch auf dem Buchdeckel der »Akten« steht: »
Die Wissenschafts- und Technikgeschichte hat der Erfindungsbegeisterung vieler Medien- und Technikgeschichten in den letzten Jahren zwei alternative Konzepte entgegengestellt: die Geschichte der Nutzerinnen und Nutzer und eine Fokussierung auf Störungen. Siehe etwa David Edgerton: The Shock of the Old. Technology and Global History since 1900, Oxford 2007; Thomas Bäumler / Benjamin Bühler / Stefan Rieger (Hg.): Nicht Fisch – nicht Fleisch. Ordnungssysteme und ihre Störfälle, Zürich 2011. Zumindest Ersteres ist wiederum in einem späteren Text Vismanns theoretisch erfasst, wenn sie »zwischen Personen, die
Das fiele auch in den Bereich einer Rechts- und Verwaltungsgeschichte von Störfällen, die nicht nur Disziplinierungs- und also Erfolgsgeschichten, sondern auch von administrativem Scheitern erzählen. Vielleicht wäre heute wieder Berlin der geeignete Ort, um diese Geschichte zu schreiben – nicht so sehr als intellektuelles Milieu wie um die Jahrtausendwende, aber doch als Erfahrungsraum, der einen Anfangsverdacht für eine andere Geschichte der Bürokratie liefert: dass Verwaltungen funktionieren, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme.