Anton Kößler und Maria Ortner aus der Pfarre Stilfs, im Südtiroler Vinschgau gelegen, suchten im März 1833 an, dass das ihrer Verehelichung entgegenstehende Hindernis der Verwandtschaft mittels einer Dispens Im kirchlich-theologischen Verwendungskontext – und so auch in wesentlichen Teilen des ausgewerteten Archivmaterials – war die Dispens feminin, im staatlichen Kontext hingegen dominiert die maskuline Form, also der Dispens. Diözesanarchiv Brixen (DIÖAB), Konsistorialakten 1834, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 8.
In Dispensverfahren wird mit Emotionen gearbeitet – das zeigen bereits die zitierten Ausschnitte aus einem einzigen Fall: Hier stecken sie in der »Zudringlichkeit der Bitte«, im »traurigen Zustand«, in der Betrübnis und Betroffenheit bis zur Geistesverwirrung, in der »sehnlich gewünschten Dispens«, im »Erbarmen« des Bräutigams. Ins Spiel gebracht werden Emotionen von unterschiedlichen in das Verfahren involvierten Personen. Geistliche auf den unteren Ebenen bringen sie als Verfasser der an die jeweils nächsthöhere Stelle adressierten Schreiben zum Ausdruck – zum Teil in der Beschreibung von Situationen, in die sie selbst versetzt wurden, hier etwa durch Zudringlichkeit –, zum Teil in der Beschreibung oder vermittelten Wiedergabe des Leidens und Wünschens der sogenannten »Bittsteller« oder »Dispenswerber«. Aber auch Dritte sprachen von Emotionen: Im skizzierten Fall waren dies zum einen »Freunde«, ein Begriff, der zeitgenössisch (auch) Verwandte meinen konnte, und zum anderen die Zeugen, die zusätzlich zum Brautpaar im sogenannten Matrimonialexamen aussagen mussten. Das lässt darauf schließen, dass es auf lokaler Ebene Kommunikation und Wissen um angestrebte und gescheiterte Dispensansuchen gab. Innerhalb des in den ausgewerteten Dispensansuchen dokumentierten emotionalen Spektrums liegt der Fall des Anton Kößler und der Maria Ortner sozusagen im Mittelfeld. So finden sich in anderen Ansuchen diverse Variationen und Steigerungsstufen von Liebe und Leidenschaft ebenso wie von Verzweiflung, aber auch von Zudringlichkeit, etwa wenn von ungestümen und hartnäckigen, von lästigen und sogar »unverschämtlästigen« DIÖA Brixen, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 10. Den Ausdruck »unverschämtlästig« verwendete hier der Konsistorialkanzler im letzten Schreiben eines Dispensverfahrens, das damit endete, »daß diese Angelegenheit einsweil auf sich zu beruhen habe«.
Davon ausgehend steht im Folgenden die Frage im Mittelpunkt, was das Einflechten von Emotionen in das
Verwaltung wird gemeinhin mit staatlichen Institutionen sowie mit dem zunehmenden Ausbau der Bürokratie im Zuge neuzeitlicher Staatsbildungsprozesse in Verbindung gebracht. So auch in den ersten beiden Nummern dieser Zeitschrift zu den Themen »Verwaltungsgeschichte im Dialog« (1, 2016) und »Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert« (2, 2017). Siehe beispielsweise Christian Wieland: »Verwaltung«, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hrsg. von Friedrich Jaeger, online unter: Vgl. Michael Mitterauer: »Christentum und Endogamie«, in: ders., Historisch-Anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien, Köln 1990, S. 41–85; Ludwig Schmugge/Patrick Hersperger/Béatrice Wiggenhauser: Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus der Zeit Pius’ II. (1458–1464), Tübingen 1996. Siehe z. B. das Bayerische Landrecht vom Jahre 1756. Codex Maximilianeus Bavaricus civilis, Von dem Ehestand § 9; Constitutio Criminalis Theresiana 1768, Art. 75. Zur kirchlichen Prägung des österreichischen Eherechts vgl. Stefan Schima: »Das Eherecht des ABGB 1811«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2 (2012), S. 13–26.
Verwaltung kam in diesem Zusammenhang dann ins Spiel, wenn ein Paar heiraten wollte, trotzdem es in einem verbotenen Grad verwandt war. Die verbotenen Grade reichten nach kanonischem Recht bis zum vierten Grad – bis zu Cousins und Cousinen dritten Grades – und damit bis zu den gemeinsamen Ur-Urgroßeltern zurück. Diese Regelung galt seit dem vierten Laterankonzil von 1215, auf dem Papst Innozenz III. die Verbote vom siebten auf den vierten Grad reduzierte, und bestand unverändert bis zur Einführung des Klassisch dazu Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt am Main 1989 [engl.: The Development of the Family and Marriage in Europe, Cambridge 1983]. Diese Ausdehnung gründet auf der Vorstellung, dass Mann und Frau im Geschlechtsakt zu »einem Fleisch« (una caro) verschmelzen. Zu den unterschiedlichen Verwandtschaftssubstanzen siehe Anita Guerreau-Jalabert: »Flesh and Blood in Medieval Language about Kinship«, in: Christopher H. Johnson u. a. (Hg.): Blood & Kinship. Matter for Metaphor from Ancient Rome to the Present, New York, Oxford 2013, S. 61–82. Vgl. dazu Guido Alfani: Fathers and Godfathers. Spiritual Kinship in Early-Modern Italy, Farnham 2009; ders. / Vincent Gourdon (Hg.): Spiritual kinship in Europe, 1500–1900, Basingstoke 2012; Bernhard Jussen: Spiritual Kinship as Social Practice. Godparenthood and Adoption in the Early Middle Ages, London, Newark 2000. Der Beitrag basiert auf Ergebnissen, die im Rahmen eines Hertha Firnberg- und eines Elise Richter-Habilitationsprojekts, finanziert vom Österreichischen Forschungsfonds (FWF), zwischen 2005 und 2011 erarbeitet beziehungsweise auf Material, das in diesem Kontext erhoben wurde. Siehe Margareth Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert, Wien u. a. 2015. Vgl. Luca Bianchi: »›Cotidiana miracula‹, comune corso della natura e dispense al diritto matrimoniale: il miracolo fra Agostino e Tommaso d’Aquino«, in: Quaderni storici 131 (2009), S. 313–328, hier: S. 320. Vgl. Klaus Mörsdorf: Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici 1. Einleitung, Allgemeiner Teil und Personenrecht, München u. a. 1959, S. 174.
Die Heiratsverbote des kanonischen Rechts wiesen zwar eine beträchtliche Persistenz durch Jahrhunderte hindurch auf, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse veränderten sich jedoch im Laufe der Neuzeit und mit ihnen auch Ehe- und Liebeskonzepte sowie Kriterien der PartnerInnenwahl. Vgl. Edith Saurer: Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Margareth Lanzinger, Wien u. a. 2014, Kap. 1. Klassisch dazu Gérard Delille: Famille et propriété dans le Royaume de Naples (XVe–XIXe siècle), Rome, Paris 1985; David Warren Sabean: Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998, S. 217–237; Jon Mathieu: »Verwandtschaft als historischer Faktor. Schweizer Fallstudien und Trends«, 1500–1900, in: Historische Anthropologie 10/2 (2002), S. 225–244. Dies bringt David Warren Sabean zur Schlussfolgerung, dass Verwandtschaftsintegration und bürgerliche Klassenformation aufs Engste zusammenhängen. David Warren Sabean: »Kinship and Class Dynamics in Nineteenth-Century Europe«, in: ders. / Simon Teuscher / Jon Mathieu (Hg.): Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), New York, Oxford 2007, S. 301–313. Vgl. Margareth Lanzinger: »Verwandtenheirat – ein ‚aristokratisches‘ Ehemodell? Debatten um die Goody-Thesen und Dispenspraxis Ende des 18. Jahrhunderts«, in: dies. / Christine Fertig (Hg.): Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung, Wien u. a. 2016, S. 143–166; vgl. auch die Befunde von Raul Merzario: Il paese stretto. Strategie matrimoniali nella diocesi di Como, secoli XVI–XVIII, Torino 1981, S. 54–55. Zur Vermittlungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Marina D’Amelia: »Agenti e intermediari tra negozi curiali e merci false (Roma tra Cinque e Seicento)«, in: Quaderni storici 124 (2007), S. 43–78. Vgl. dazu Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 2.
Weitere Veränderungen brachte schließlich das josephinische Ehepatent von 1783. Es reduzierte die dispenspflichtigen Grade vom vierten auf den zweiten Grad. Vor allem aber verlangte die neue Regelung von den Bischöfen, dass sie die Dispensen im weiterhin dispenspflichtigen ersten und zweiten Grad aus eigener Macht und Autorität erteilen, das heißt also die päpstlichen Stellen in Rom umgehen und damit ausschalten sollten. Vgl. dazu Johannes Mühlsteiger: Der Geist des Josephinischen Eherechtes, Wien, München 1967; Adalbert Theodor Michel: Beiträge zur Geschichte des österreichischen Eherechtes, Graz 1870. Siehe dazu Margareth Lanzinger: »Staat, Kirche, Eheagenden. Staatliche Integration in komplexen rechtsräumlichen Gefügen«, in: Francesca Brunet / Florian Huber (Hg.): Vormärz. Eine geteilte Geschichte Trentino-Tirols [Una storia condivisa Trentino-Tirolese], Innsbruck 2017, S. 143–161.
Für die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ist der Schriftverkehr zwischen staatlichen und kirchlichen Stellen überliefert, der über das Gubernium in Innsbruck lief. Das Gubernium war im Jahr 1763 in dieser bis Mitte des 19. Jahrhunderts bestehenden Form im Zuge einer ersten großen Zentralisierungsmaßnahme, die den Eingriff in die Länder erleichtern sollte, eingerichtet worden. Abgelöst wurde es 1848 durch die Statthalterei. Dem Gubernium unterstanden auf nächster Ebene die bereits 1754 eingeführten Kreisämter.
Für die Diözese Brixen ist ab 1831 umfangreiches Aktenmaterial in Form von Ehedispensansuchen in den nahen Graden der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft unter dem Titel »Römische Dispensen« überliefert. Im ferneren dritten und vierten Grad konnte in der Diözese Brixen in dieser Zeit der Bischof entscheiden, in den 1850er-Jahren dann die Dekane.
Das Erteilen einer Dispens in den nahen Graden der Verwandtschaft und Schwägerschaft war in der hier infrage stehenden Zeit keineswegs ein Formalakt. Das lässt sich sowohl am aufwendigen administrativen Prozedere ablesen als auch an den zahlreichen abgelehnten Ansuchen. Das bischöfliche Konsistorium in Brixen agierte vergleichsweise rigide, sodass verwandte Brautpaare mehrheitlich bereits auf dieser Ebene abgewiesen wurden und zahlreiche Ansuchen nie nach Rom gelangten. Besonders schwierig war es in den Jahren zwischen 1831 und 1846 unter der Ägide von Papst Gregor XVI. Dispensen in den nahen Schwägerschaftsgraden zu erlangen. Dies sollte nur mehr im Fall der »Gefahr des Abfalls vom Glauben« ( Vgl. Margareth Lanzinger: »Widowers and their Sisters-in-Law. Family Crises, Horizontally Organised Relationships and Affinal Relatives in the Nineteenth Century«, in: The History of the Family, 23 (2018), 175–195. Siehe dazu Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 4.
Ansuchen mussten kanonische Dispensgründe enthalten, Begründungen also, die die damit befassten kirchlichen Stellen anerkannten, die aber auch einen gewissen Interpretationsspielraum boten. Dazu gab es entsprechende Listen, die im Laufe der Jahrhunderte länger wurden. Ein Teil der offiziellen Dispensgründe bezog sich ausschließlich auf Frauen. Die Möglichkeit, eine ihrem Status entsprechende Ehe einzugehen, sollte durch die Verbote nicht grundsätzlich verhindert werden. Kanonische Begründungen, die nur für Frauen galten, betrafen folgende Situationen: Wenn eine Frau bereits 24 Jahre alt war, eine nur geringe oder keine Mitgift zu erwarten hatte, wenn sie an ihrem Wohnort keine andere ihrem sozialen Stand entsprechende Heiratsgelegenheit finden konnte, wenn ihr Ruf und ihre Ehre in Gefahr waren oder wenn es sich um eine Witwe mit unversorgten Kindern handelte. Vgl. Edith Saurer: »Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790–1850)«, in: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 345–366, hier: S. 356–357.
Emotionen sind aus historiografischer Sicht ein schwieriges Terrain. Robert Garot bezeichnet sie als » Peter Collin / Robert Garot / Timon de Groot: »Bureaucracy and Emotions – Perspectives across Disciplines«, in: Administory 3 (2018), S. 1–20, hier S. 10. Vgl. Claudia Benthien / Anne Flaig / Ingrid Kasten: »Einleitung«, in: dies. (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u. a. 2000, S. 7–20, hier: S. 9.
Fragt man danach, in welchen Situationen und Zusammenhängen Emotionen in die Verwaltungsabläufe rund um Ehedispensansuchen hineinspielten und sichtbar werden, so lassen sich vor allem drei Bereiche identifizieren. Erstens wird die Beziehung des Paares in jenen Textsorten oder Begründungspassagen, die das Ansuchen befördern sollten, in Begriffe von Liebe und Leidenschaft gefasst, wenn auch lange nicht immer. Spezifisch für Dispensansuchen war, dass sie in ihrer Argumentation für die infrage stehende Eheschließung nicht zu vordergründig oder einseitig ökonomisch ausgerichtet sein durften. Das heißt, dass das Vorhandensein einer gewissen emotionalen Nähe und Verbundenheit zwischen Bräutigam und Braut von kirchlicher Seite erwartet wurde und ebenso das Vorhandensein kanonischer Gründe. Der Konsistorialkanzler Alois Rabanser erklärte in seinem Schreiben vom Juni 1839, dass das Ansuchen des Joseph Dietl und seiner Cousine Theres Zerz, »nach dem Ordinariats-Gutachten« zurückzuweisen sei, »da nur bloß ökonomische und gar keine wichtigen kirchlichen Gründe zur Erlangung einer Dispense im so nahen Grade vorkommen« würden. Joseph Dietl war ein Bauer im oberen Vinschgau und Theres Zerz, seine Cousine, eine Bauerntochter, die in Meran als Dienstmagd tätig war. Sie hatten ein gemeinsames Kind, was allerdings nicht publik – »ganz verborgen« – war. Der zuständige Dekan hatte diesbezüglich in seinem Schreiben an das Konsistorium bemerkt, dass man »auch auf dem Lande [...] schon von allen Lastern Gebrauch zu machen« wisse. So stand das Ansuchen von vorn herein unter keinem guten Stern. DIÖAB, Konsistorialakten 1839, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 21.
Die Darstellungsform von Emotionen variierte in den Ansuchen beträchtlich: Emotionale Bezüge konnten gänzlich fehlen oder in einer lateinischen Formel zum Ausdruck kommen oder sie wurden sehr vermittelt – über positive Bilder und Eigenschaften, die eine stabile Grundlage der Ehe suggerieren mochten – transportiert. In der Aussage des 39-jährigen Witwers Johann Lösch wurde die Liebeserklärung an seine Braut Anna Grabherr – »die ich sehr liebe« – im Protokoll des Matrimonialexamens nachträglich zwischen den Zeilen eingeflickt. Wenn Birgit Aschmann fordert, man müsse »die Quellen auch gerade nach dem ab[]tasten, was ›zwischen den Zeilen‹ steht«, so ist das hier nicht nur im übertragenen, sondern auch im manifesten Sinn umzusetzen. DIÖAB, Konsistorialakten 1840, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 25. Birgit Aschmann: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte«, in: dies. (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier: S. 31. DIÖAB, Konsistorialakten 1835, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 12. DIÖAB, Konsistorialakten 1840, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 25.
DIÖAB, Konsistorialakten 1832, Fasz. 5a Römische Dispensen, Nr. 5.
Leidenschaft kam vor allem dann zur Sprache, wenn ein »öffentliches Ärgernis« vorlag, wenn der Umgang als »verdächtig« und »zu vertraulich« galt oder die Braut schwanger war. Offiziell sollten nur ‚würdige‘, also in ihrem moralischen Lebenswandel untadelhafte Brautpaare eine Dispens erhalten. Daher bedeutete das Überschreiten moralischer Grenzen, dass sich die Paare je nach dispenspolitischer Lage auf einem schmalen Grad bewegten: zwischen einer verminderten oder – da allein eine Heirat die missliche Situation ‚reparieren‘ konnte – einer erhöhten Chance, eine Dispens zu erlangen. Leidenschaft umschrieb hier die »menschliche Schwachheit« und fungierte damit als Legitimation für die Transgression. Positive Emotionen, die in Begründungszusammenhänge von Dispensen eingeflochten sind, dokumentieren die Fabrikation von Liebe.
Emotionen scheinen zweitens in der Thematisierung und Beschreibung von Zuständen der Enttäuschung und Verzweiflung auf, die bis zur Schwermut und zum angedrohten Selbstmord reichen konnten, wenn ein Ansuchen abgewiesen worden war. Drittens sind sie in der Performanz und damit in unterschiedlichen Interaktionsräumen dokumentiert. Dazu zählt das Fortdauern der Beziehung oder zeitgenössisch der »Bekanntschaft« der Brautleute, aber auch Versuche der Involvierung von Dritten als potenzielle Vermittler für einen weiteren Anlauf, vor allem aber die Interaktion zwischen den kirchlichen Repräsentanten und den Brautpaaren. Das Spektrum umfasst demnach sowohl ‚innere‘ Vorgänge als auch ‚äußere‘ Reaktionen, Zu diesen Definitionen siehe Monique Scheer: »Are Emotions a Kind of Practice (and is that what Makes them have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotions«, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220; Aschmann: Vom Nutzen und Nachteil, S. 12. Sie kommt nach diversen Auffächerungen zum Schluss, dass es »ebenso müßig wie unmöglich« sei, »um einen festgelegten Kanon elementarer Gefühle zu ringen«. Ebd., S. 14. Vgl. Aschmann: Vom Nutzen und Nachteil, S. 31 mit Verweis auf Alain Corbin und dessen Sicht auf den Historiker als »Gefangener der Sprache«. Alain Corbin: »Zur Geschichte und Anthropologie der Sinneswahrnehmung«, in: Christoph Conrad / Martina Kessel (Hg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 121–140, hier: S. 128.
Die folgenden an zwei Fällen aufgerollten Ausführungen gehen von der Annahme aus, dass die Situation der kommunizierten Aussichtslosigkeit, eine Dispens zu erhalten und eines abgelehnten Ansuchens, ein in Hinblick auf Emotionen verdichtetes Kommunikations- und Handlungsfeld generiert hat. Der Schwerpunkt liegt damit auf der Situiertheit und Situativität von Emotionen, die sich dem bereits vielfach kritisierten Narrativ linear zunehmender Affektkontrolle versperrt. Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation stellt dabei häufig den Ausgangspunkt der Kritik dar. Siehe Barbara H. Rosenwein: »Controlling Paradigms«, in: dies. (Hg.): Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, Ithaca, London 1998, S. 233–247; Gerd Schwerhoff: »Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht«, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–605. Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, Kap. 3. Edith Saurer hat deutliche Unterschiede zwischen Niederösterreich und Venedig festgestellt: Edith Saurer: »Formen von Verwandtschaft und Liebe – Traditionen und Brüche. Venetien und Niederösterreich im frühen 19. Jahrhundert«, in: dies. / Margareth Lanzinger (Hg.): Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, Göttingen 2007, S. 255–271.
Situativ sind zwei Kontexte der kommunizierten Aussichtslosigkeit und der Ablehnung zu unterscheiden: zum einen am Beginn, bevor ein Verfahren überhaupt in Gang kam, und zum anderen als Folge von Anfragen und Ansuchen, die an die jeweils nächsthöhere Stelle weitergeleitet worden waren. Die Dispensakten dokumentieren eine Art ‚Eingangsritual‘, das vermutlich auf den Gnadencharakter und auf die erforderliche spezifische Begründung zurückzuführen ist, aber auch mit der strengen Vorgangsweise in der Diözese Brixen zusammenhängen könnte: Ein verwandtes oder verschwägertes Paar musste dreimal bei dem für sie lokal zuständigen Geistlichen das Ansinnen vorbringen, dass sie heiraten wollten, bevor derartige Eheschließungswünsche an das Dekanat weitergeleitet wurden und damit überhaupt schriftlich dokumentiert sind. Die lokalen Geistlichen waren angewiesen, Paare, die von einem solchen Ehehindernis betroffen waren, grundsätzlich abzuweisen. Vereinzelt finden sich entsprechende Argumente in den Korrespondenzen angeführt: Kirche und Staat seien gegen solche Verbindungen, hieß es bisweilen. »Die h[eilige] Mutter, die katholische Kirche, dispensirt in Verwandtschafts- und Verschwägerungs-Graden sehr ungern«, DIÖAB, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 24. DIÖAB, Konsistorialakten 1841, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 38. DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 41. DIÖAB, Konsistorialakten 1861, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 24.
In Bezug auf eingeleitete Verfahren ist festzustellen, dass in den Jahren zwischen 1831 und 1846, in der Amtszeit von Gregor XVI., in der Diözese Brixen etwas über 20 Prozent der Ansuchen – zum überwiegenden Teil bereits auf Diözesanebene – abgewiesen wurden. Unter dessen Nachfolger Pius IX. waren es mit 12 Prozent in den ersten 15 Jahren seiner Amtszeit deutlich weniger. Vgl. Lanzinger: Verwaltete Verwandtschaft, S. 253. Collin / Garot / de Groot: »Bureaucracy and Emotions«, S. 9.
In beiden der skizzierten Kontexte der Abwehr unternahmen zahlreiche Paare aus der Diözese Brixen weitere Anläufe. Sie mussten darum kämpfen, dass ihr Ansuchen überhaupt oder ein weiteres Mal formuliert wurde. Manche hatten schließlich Glück, andere scheiterten. Ein extremer Fall war jener von Martin Gmeiner aus Hard in Vorarlberg und Franziska Pfleghard, seiner verwitweten Schwägerin, einer Modehändlerin und Putzmacherin aus Bregenz. Sie suchten zwischen 1827 und 1833 achtmal erfolglos um eine Dispens an und scheinen 1839 mit einem weiteren Versuch in den Akten auf. DIÖAB, Konsistorialakten 1833, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 19 sowie 1839, Nr. 5. Die Korrespondenz zu den vorhergehenden erfolglosen Versuchen befindet sich im Akt von 1833.
Auf neuerliche Anläufe im Jahr 1832 hin verschärfte sich die Gangart. Der Konsistorialkanzler Georg Prünster verwies auf eine Verordnung von 1807, die bestimmte, dass Paare, deren Dispensansuchen abgewiesen worden war, »von den Ortsseelsorgern nöthigen falls mittelst Anrufung des
Im Weiteren brachten sie den in diesen Jahren einzig anerkannten Dispensgrund für Eheschließungen zwischen Schwager und Schwägerin ins Spiel, nämlich eine Konversion. Auf das Schreiben ernteten sie harsche Worte aus dem Generalvikariat in Feldkirch: Ungeachtet der Abweisungen würde das Paar seine Dispensbitte »wieder zu erneuern sich getrauen«, was noch »verzeihlich« sei. Denn vielleicht seien sie »der Meinung«, dass »auf ihr wiederhohltes ungestimes Bitten […] die Gewährung jener Gnade« folge, »welche sie zu erhalten wünschen«. Nun hätten sie ihrer Bitte jedoch die Drohung hinzugefügt, »sich von der Gemeinschaft der katholischen Kirche zu trennen und in einem reformierten Orte des Auslandes die bürgerliche Aufnahme anzusuchen, damit sie in solchem ihren Wunsch, sich einander zu ehelichen, in Erfüllung bringen können«. Dies sei
Das Konsistorium in Brixen schrieb dem Ansinnen des Paares das »Gepräge einer muthwilligen Drohung« zu, »durch welche die gewünschte Ehedispens mehr abgetrotzt als erbethen werden« wolle und sah sich daher »durchaus nicht in der Lage, zu Gunsten der obgenannten Ehewerber beym h[ei]l[igen] Stuhle in Rom fruchtlos einzuschreiten«. Das Wort »fruchtlos« war nachträglich eingefügt worden. Sollten sie dies zum Anlass nehmen, »dem angeerbten katholischen Glaubensbekenntniße untreu zu werden«, so laste dies allein auf ihrem eigenen Gewissen.
Im Jahr 1839 beförderte der Dekan das neuerliche Ansuchen von Martin Gmeiner und Franziska Pfleghard, da er, wie er in einem mehrere Seiten langen Brief schrieb, »besonders seit letzter Zeit bestürmt« worden sei, »sich doch um Gotteswillen« für sie einsetzen zu wollen. Durch die »wiederholten Abweisungen« seien sie einerseits »in die äußerste Betrübniß u[nd] in einen Zustand völliger Hoffnungslosigkeit versetzt« worden. Andererseits fühlten sie sich nicht stark genug, die ihnen »jedesmahl gebothene Trennung auf immer zu bewerkstelligen«. Deshalb hätten sie sich im letzten Dispensgesuch – jenem von 1833 – von dem Advokaten zu der Drohung, »sich von der katholischen Kirche trennen u[nd] zu einer anderen Religionsparthey übertreten« zu wollen, verleiten lassen. »Sie versicherten nun aber hoch und theuer, daß ihnen ein solcher Gedanke ohne den sträflichen Rath dieses Mannes nie zu Sinn gekommen wäre.« Diese Bemühungen hatten zur Folge, dass der Fall den Konsistorialräten zur Begutachtung vorgelegt wurde – eine nur in diesem einen Fall dokumentierte Vorgangsweise. Ergebnis dessen war jedoch eine weitere und zugleich die letzte dokumentierte Abweisung.
Aus diesen wenigen Ausschnitten aus der Korrespondenz wird deutlich, dass alle Beteiligten mit Emotionen operierten: das um Dispens ansuchende Paar auf der Ebene der emotionalen Verfassung und auf der Handlungsebene durch das eindringliche Auftreten und Verfechten des Anliegens, der Dekan, der in diesem Fall auch der für das Paar zuständige Seelsorger war, der vermittelnd und unterstützend, aber auch als Bestürmter auftrat, das Generalvikariat und das Konsistorium als höchste kirchliche Instanzen in der Region, die in der ‚Eskalation‘ des Falles infolge des angedrohten Religionswechsels und angesichts der mangelnden Demut – ertrotzen statt erbitten – zu einer, was die Zuschreibungen an das Paar betraf, immer grundsätzlicheren ablehnenden Haltung und zu einem stark wertenden Vokabular übergingen. Die Interaktion erfolgte zwischen dem Paar und dem Dekan – das unterscheidet dessen Position von der höheren Geistlichkeit im Konsistorium. Die Art, in der er sich darstellte, war durchaus typisch. Die Geistlichen, insbesondere auf den unteren Ebenen, fühlten sich in zahlreichen Fällen von den Paaren bedrängt. Ihre Klagen über die zudringlichen und lästigen Dispenswerber und Dispenswerberinnen durchziehen das Quellenmaterial. Zugleich sahen sie sich von ‚oben‘ unter Druck gesetzt. Denn sie sollten so wenige Ansuchen wie möglich nach Brixen weiterleiten, was den alltäglichen Umgang vor Ort erschweren konnte. So klagte ein Pfarrer beispielsweise, dass eine verweigerte Dispens nur ein »schlechtes Licht auf die Vorstehung oder das Pfarramt« werfe, »als ob man den Bewerbern persönlich abgeneigt wäre«. DIÖAB, Konsistorialakten 1863, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 10. Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context 1/1 (2010), S. 1–32.
Das Zitat aus dem Titel des Beitrags – »… sie bitten, sie weinen, sie drohen« – stammt allerdings von einem höheren Amtsträger, von Joseph Feßler, Er stammte aus Vorarlberg, hatte das Priesterseminar in Brixen absolviert, wo er später, bis 1852 seine Berufung als Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht nach Wien erfolgte, als Theologieprofessor lehrte. Im Jahr 1848 war er Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung. Nach seiner Zeit als Weihbischof von Brixen und Generalvikar von Vorarlberg 1862 bis 1865 hatte er in St. Pölten das Amt als Bischof inne. Feßler leitete zudem im Auftrag der österreichischen Regierung in den Jahren 1862 und 1863 die Verhandlungen mit der römischen Kurie zur Änderung des Konkordats, fungierte als Generalsekretär des ersten Vatikanischen Konzils und prägte insgesamt die Kirchenpolitik in Österreich nicht unwesentlich mit.
DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20.
Ein grundsätzliches Problem lag darin, dass jede Dispensvergabe einen potenziellen Präzedenzfall schuf. Eine Dispens sollte DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22a, Römische Dispensen, Nr. 34.
Die »Behandlung von Ehedispensen« bezeichnete er als »die schwerste« auf ihm »lastende Angelegenheit«, die ihm »nur die bittersten Erfahrungen« bescheren würde. Zur Absicherung seiner Vorgangsweise schilderte er die ihm vorliegenden, zum Teil bereits öfter abgewiesenen Fälle in seinen an das Konsistorium in Brixen gerichteten Schreiben, »um zu berathen, ob u[nd] welche anderen Mittel als die bloße Verweigerung der Dispensen in Anwendung gebracht werden könnten«. Würde er nachgeben, so seine Befürchtung, würden alle – auch die schon abgewiesenen Paare –, wieder kommen und er habe »in den meisten Fällen keine stichhaltigen Gründe, die Andern abzuweisen«, wenn er »auch nur Einen zulasse«. Würde er im einen oder andern Fall nachgegeben, würden »alle andern so heftig andringen«, dass »Widerstand nicht mehr möglich sein« würde. DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20. DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 20. DIÖAB, Konsistorialakten 1864, Fasz. 22c, Verschiedenes, Nr. 35c.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob und inwieweit das säkulare Rechtssystem und staatliche Institutionen im 19. Jahrhundert einen grundsätzlich anderen Kontext als kirchliche – basierend auf dem Gnadenprinzip, auf Flehen und Bitten – dargestellt haben. Formulare und später auch Telegramme waren als bürokratische Techniken der Rationalisierung durchaus in Gebrauch. Die Performanz im direkten Kontakt, aber auch über geistliche Stellen vermittelt, wies zwar ein gewisses Spektrum an Handlungsoptionen auf. Von den um Dispens ansuchenden Paaren war jedoch eine demütige Haltung gefordert. Das Beiziehen von Juristen hat die Lage und Aussicht der Brautpaare auf eine Dispens in der Diözese Brixen durchwegs verschlimmert. Dass dies hier – im Unterschied etwa zur Diözese Salzburg oder zum Raum Wien und Niederösterreich praktisch als Affront aufgefasst wurde, wird aus der Kommunikation zwischen dem fürstbischöflichen Konsistorium und den Dekanaten im geschilderten wie auch in anderen Fällen sichtbar. Zu Wien und Niederösterreich vgl. Saurer: »Stiefmütter und Stiefsöhne«, S. 355. Terry A. Maroney: »Emotional Regulation and Judical Behavior«, in: California Law Review 99 (2011), S. 1485–1555, hier: S. 1487. Monique Scheer: »Are Emotions a Kind of Practice«, S. 193–195.
Gewährt wurde Gnade, nicht Recht. Insofern sind Dispensverfahren als eine »hierarchische Ordnungsfiguration« zu erachten, die Situationen von abgestufter Macht und Abhängigkeit schuf, die zugleich aber auch in »ein komplexes Netzwerk vielfältiger sozialer Beziehungen« eingebunden war. Wenn Ute Frevert flach gedachten Netzwerkstrukturen ein »größeres Gewicht« von Gefühlen zuschreibt als hierarchisch organisierten Formationen, Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Benthien / Flaig/ Kasten: Emotionalität, S. 178–197, hier: S. 183.