Der demographische Wandel, die Zunahme an chronisch erkrankten und multimorbiden Patienten/-innen sowie eine Veränderung der Patienten/-innenbedürfnisse stellen neue Herausforderungen an eine komplexer werdende Gesundheitsversorgung und erfordern eine stärkere Kooperation zwischen den Gesundheitsberufen (Sachverständigenrat, 2007). Unter interprofessioneller Zusammenarbeit wird eine sich ergänzende, einander wertschätzende, patienten/-innenorientierte Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen des Gesundheitswesens zur Erreichung gemeinsamer Ziele im Sinne einer effektiven Gesundheitsversorgung verstanden (Antoni, 2010; Zwarenstein, 2009; Kälble, 2004). Um erfolgreich in interprofessionellen Teams arbeiten zu können, müssen interprofessionelle Kompetenzen entwickelt werden (CIHC, 2010). Die häufigsten in fünf internationalen Modellen interprofessioneller Kompetenz genannten Teilkompetenzen sind das Kennen und Abgrenzen der Rollen und Verantwortlichkeiten im interprofessionellen Team sowie eine effektive, wertschätzende Kommunikation (vgl. IPEC, 2011; CHIC, 2010; Wilhelmsson et al., 2009; Wood, V. et al., 2009; Walsh et al., 2005). Des Weiteren werden häufig Patienten/-innenorientierung, Teamarbeit, Reflexion, Ethik und teamorientierte Führung beschrieben. Die Modelle veranschaulichen, wie facettenreich sich interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis darstellt und wie komplex die Anforderungen an die Mitglieder des interprofessionellen Teams sind. International empfehlen daher viele Forscher/-innen eine Schulung der Gesundheitsfachkräfte in der interprofessionellen Zusammenarbeit, um im Praxisalltag erfolgreich in interprofessionellen Teams arbeiten zu können (Arfons et al., 2015; Herrmann et al., 2015; Sytsma et al., 2015). Eine interprofessionelle Ausbildung der Gesundheitsberufe gilt als innovative Strategie, um die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe zu fördern, dadurch das Gesundheitssystem zu stärken und bessere Ergebnisse an Patienten/-innen zu erzielen (WHO, 2010).
International liegen viele effektive Modelle interprofessioneller Hochschul-Ausbildung in den Gesundheitsberufen vor (Fernandes et al., 2015; Herrmann et al., 2015; Newton et al., 2015; Reeves, 2015; Systma et al., 2015; Liaw et al., 2014; Wilhelmsson et al., 2009). Diese interprofessionellen Studiengänge beinhalten Lehr-Lernformate, in denen Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen interaktiv zusammenarbeiten, überwiegend in multiprofessionell gemischten Kleingruppen. Häufig eingesetzte Methoden sind fallbasiertes und problemorientiertes Lernen, Rollenspiele, praktische Übungen sowie die Arbeit mit realen Patienten/-innen. Auch die WHO (2010) empfiehlt für die interprofessionelle Ausbildung den Einsatz von Unterrichtsmethoden, die Interaktion fördern. Aktives, selbstgesteuertes, situatives und interaktives Lernen werden allgemein als essentielle Aspekte erfolgreichen Lernens angesehen und lassen sich auch auf die Ausbildung interprofessioneller Kompetenzen übertragen (IPEC, 2011; WHO, 2010). Klinische Outcomes werden häufig mit interprofessionellem Lernen in der praktischen Arbeit mit Patienten/-innen assoziiert (IPEC, 2011).
In Deutschland findet die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe regulär an der Berufsfachschule statt (Muths et al., 2015). In den deutschen Ausbildungsrichtlinien und Lehrplänen mangelt es jedoch an verbindlichen Vorgaben zu interprofessionellem Lernen (Unger, 2010). Seit Inkrafttreten der pflegerischen Berufsgesetze 2003 und 2004 sowie dem Gesetz zur Einführung der Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden/-innen, Physio- und Ergotherapeuten/-innen 2009 können auf Grundlage der jeweiligen Modellklauseln Modell-Studiengänge entwickelt und eingerichtet werden (Muths et al., 2014). Die Gesetze erlauben eine Verlegung des Ausbildungsortes an die Hochschule und eine Abweichung des theoretischen und praktischen Unterrichts zur Erprobung von innovativen Lehr-Lernformen, sofern das Ausbildungsziel nicht gefährdet wird (ModellKlG, 2009). Die in den Berufsgesetzen geregelte praktische Ausbildung muss in vollem Umfang erhalten bleiben (ModellKlG, 2009). Außerdem müssen die staatlichen Abschlussprüfungen in Form von mündlichen, schriftlichen und praktischen Prüfungen am Ende der Ausbildung bestehen bleiben (ModellKlG, 2009). Das Bundesland NRW hat insgesamt elf Studiengänge genehmigt (Muths et al., 2014). Die Studiengänge führen neben dem Bachelorabschluss (B.Sc.- Bachelor of Science/ B.A. - Bachelor of Arts) auch zum berufsqualifizierenden Abschluss (MGEPA, 2015). Im Auftrag des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter (MGEPA) wurden die Studiengänge durch das Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Universität Bremen, und der Katholischen Stiftungshochschule München evaluiert (Muths et al., 2014). Aus den veröffentlichten Evaluationsergebnissen geht nicht hervor, wie genau Interprofessionalität in den Studiengängen verankert ist und insbesondere nicht, ob soziale Interaktion zwischen Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen gefördert wird (Muths, S. et al., 2014).
Ziel der vorliegenden Studie war die Eruierung folgender Fragestellungen:
Wie ist Interprofessionalität in den Modellstudiengängen der Pflege- und Gesundheitsberufe in NRW verankert? Inwiefern ist eine Interaktion zwischen Studierenden unterschiedlicher Professionen vorgesehen? Inwiefern beeinflussen strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen die (Weiter-)Entwicklung der Studiengänge im Hinblick auf interprofessionelle Lehr-Lernangebote? Inwiefern stehen Aspekte des Studiengangmanagements im Zusammenhang mit der (Weiter-)Entwicklung der Studiengänge im Hinblick auf Interprofessionalität?
Im Juni/Juli 2016 wurden acht telefonische, leitfadengestützte Experten/-inneninterviews mit den Studiengangverantwortlichen von sieben Modellstudiengängen der Pflege- und Gesundheitsberufe in NRW geführt. Die Experten/-innen wurden auf den Webseiten der insgesamt elf Modellstudiengänge in NRW gefunden und per E-Mail zu einer Teilnahme eingeladen. Ein Experten/-innenstatus in Bezug auf die vorliegenden Forschungsfragen wurde in Anlehnung an Liebold & Trinczek (2009) und Meuser & Nagel (2009) denjenigen Personen zugeschrieben, die Verantwortung für die Entwicklung und Durchführung der Studiengänge trugen und über das interessierende Wissen bzw. den Zugang zu diesen Informationen verfügten. Befragt wurden demnach entweder die Studiengangleitungen, Studiengangkoordinatoren/-innen oder Personen, die durch die Studiengangleitungen vorgeschlagen wurden und an der Entwicklung des betrachteten Studiengangs beteiligt waren. Insgesamt nahmen neun Experten/-innen aus fünf Hochschulen und sieben Studiengängen an der Studie teil: fünf Professoren/-innen in der Funktion der Studiengangleitung, ein/e Professor/-in mit der Verantwortung einer studiengangübergreifenden Koordination interprofessioneller Lehre, eine Studiengangkoordinatorin und zwei Lehrkräfte für besondere Aufgaben, die in die Entwicklung der betrachteten Studiengänge involviert waren. Zwei der Befragten waren weiblich. Zwei Studiengangverantwortliche konnten auch telefonisch nicht erreicht werden. Ein/e Studiengangverantwortliche/r sagte die Teilnahme ab. Ein/e Experte/-in sagte zwar die Interviewteilnahme ab, erklärte sich aber bereit, den Interview-Leitfaden schriftlich zu bearbeiten. Auf Grund von mangelnder Vergleichbarkeit wurden die in der schriftlichen Befragung gewonnenen Daten allerdings aus der Auswertung ausgeschlossen. Die abweichende Erhebungsform und die damit verbundenen fehlenden Interaktionsmomente erschwerten das Verständnis und das Erfassen von Zusammenhängen.
Die untersuchten Studiengänge sind in Tabelle 1 dargestellt.
Hochschulen und Bezeichnung der untersuchten ModellstudiengängeHochschule Studiengang RWTH Aachen Logopädie Fachhochschule Bielefeld Gesundheits- und Krankenpflege Hochschule für Gesundheit, Bochum Ergotherapie Hebammenkunde Pflege Fliedner Fachhochschule, Düsseldorf Pflege und Gesundheit Fachhochschule Münster Therapie- und Gesundheitsmanagement
Der Interview-Leitfaden beinhaltete offene Fragen zu folgenden Themen:
Allgemeine Angaben Definition und Stellenwert von Interprofessionalität im Studiengang Aufbau des Curriculums und Verankerung von Interprofessionalität Lehr-Lernformate Rahmenbedingungen Studiengangmanagement
Es fanden sechs Einzelinterviews und ein Gruppeninterview mit zwei Experten/-innen statt. Die 18 bis 54 Minuten andauernden Interviews wurden digital aufgezeichnet, in Anlehnung an Kuckartz et al. (2008) transkribiert und mittels qualitativer, zusammenfassender Kategorienbildung (Mayring, 2010) analysiert. Datenerhebung und -auswertung erfolgten durch die Erstautorin. Im Folgenden werden die Ergebnisse mit Fokus auf die Verankerung von Interprofessionalität in den Studiengängen, eingesetzte Lehr-Lernformate und strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen sowie Aspekte des Studiengangmanagements, die in Zusammenhang mit der Implementierung interprofessioneller Lehre gesehen werden, dargestellt. In Bezug auf die Verankerung von Interprofessionalität interessierten insbesondere die Lernziele sowie die Form der Verankerung des Studienziels „interprofessionelle Kompetenz“ im Curriculum. Im Bereich der Lehr-Lernformate wurden die Fragen, inwiefern kollaborative Lernangebote für multiprofessionell zusammengesetzte Studierendengruppen eingesetzt werden, welche Rolle dabei der Praxisbezug spielt und ob der Einsatz digitaler Lernmedien die Umsetzbarkeit interprofessioneller Lehre fördern kann, fokussiert. Bezüglich der organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen und des Studiengangmanagements wurde nach fördernden und behindernden Faktoren gefragt.
Interprofessionalität wird laut der Aussagen der Experten/-innen in den Curricula aller betrachteten Studiengänge berücksichtigt. Zu den Teilkompetenzen interprofessioneller Kompetenz, die die Studierenden erwerben sollen, wurden am häufigsten das Kennen der Rollen und Verantwortlichkeiten unterschiedlicher Berufsgruppen und eine wertschätzende Kommunikation unter den verschiedenen Berufsgruppen genannt (vgl. Tabelle 2).
Zielkompetenzen interprofessioneller Lehre in Bezug zur Anzahl der StudiengängeZielkompetenz N Kennen der Rollen und Verantwortlichkeiten unterschiedlicher Berufsgruppen 7 Wertschätzende Kommunikation 7 Reflexionskompetenz 3 Patienten/-innenorientierung 3 Nutzung anderer Berufsgruppen im Versorgungsprozess zur Informationsbeschaff ung und zur persönlichen Weiterentwicklung 2 Koordination multiprofessioneller Teams 1 Initi ierung gemeinsamer Therapien mit Kollegen/-innen anderer Berufsgruppen 1 gemeinsames Forschen 1
Sechs der sieben betrachteten Studiengänge beinhalten Module, in denen multiprofessionell zusammengesetzte Studierendengruppen miteinander Schnittmengenthemen erlernen „
Vier der befragten Experten/-innen erklärten, dass Studierende im Verlauf des Studiums zuerst eine professionelle Identitätsbildung benötigen, bevor auf dieser Grundlage eine interprofessionelle Auseinandersetzung stattfinden könne „
Abbildung 1 zeigt die Lehr-Lernformate mit multiprofessionellen Studierendengruppen in Bezug zur Anzahl der Studiengänge, die diese anbieten bzw. bei denen sich diese Lehr-Lernformate in Planung befinden.
Neben gemeinsamen Vorlesungen zu Schnittmengenthemen, in denen die Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam lernen, aber keine Interaktion im engeren Sinne stattfindet, bieten sechs von sieben Studiengängen interaktive Lehr-Lernformate wie fallbasiertes Lernen und praktische Übungen für Studierende unterschiedlicher Studiengänge an. Des Weiteren finden in fünf Studiengängen interprofessionelle Projekte statt „
Auf die Frage nach dem Einsatz von E-Learning Angeboten, gaben die meisten Experten/-innen den Einsatz von digitalen Lernplattformen wie Moodle oder Ilias an. Online-Konferenzen werden nur in einem Studiengang angeboten „
Alle Institutionen bewerteten das Vorhandensein verschiedener Studiengänge benachbarter Fachrichtungen an ihrer Hochschule als förderlich für den Auf- und Ausbau von interprofessioneller Ausbildung. Vier der fünf betrachteten Hochschulen bieten keinen Studiengang der Medizin an und sind somit für die Zusammenarbeit mit Medizinstudierenden auf die Kooperation mit anderen Hochschulen angewiesen, was laut Aussagen der Experten/-innen eine große Herausforderung darstelle „
Fünf Experten/-innen erklärten, dass der Austausch und die Zusammenarbeit der verschiedenen im Lehr-Lernprozess beteiligten Personen, d.h. Vertreter/-innen der verschiedenen Studiengänge bzw. der verschiedenen Lernorte (Hochschule, Berufsfachschule, Praxis) die Schlüsselfaktoren für die erfolgreiche Implementierung und Weiterentwicklung interprofessioneller Ausbildung seien „
Es konnten sieben von insgesamt elf Studiengängen untersucht werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass v.a. diejenigen Experten/-innen teilnahmen, für die Interprofessionalität in Bezug auf ihren Studiengang einen eher hohen Stellenwert einnimmt. Die Telefonsituation und Aspekte der sozialen Erwünschtheit können mögliche Verzerrungen der Ergebnisse bewirkt haben (Gläser & Laudel, 2010). Außerdem muss kritisch angemerkt werden, dass die Datenauswertung allein durch die Erstautorin und Interviewerin vorgenommen wurde.
In allen betrachteten Studiengängen nimmt nach Angaben der Experten/-innen die Förderung interprofessioneller Kompetenzen einen wichtigen Stellenwert ein. Somit orientieren sich die Entwicklungen der Modellstudiengänge im Hinblick auf Interprofessionalität an internationalen Studienmodellen (Fernandes et al., 2015; Herrmann et al., 2015; Newton et al., 2015; Systma et al., 2015; Liaw et al., 2014; Wilhelmsson et al., 2009). Als Zielkompetenzen interprofessioneller Unterrichtsveranstaltungen wurden von den befragten Experten/-innen am häufigsten das Kennen und Abgrenzen anderer Berufsgruppen des Gesundheitswesens und deren Rollen und Verantwortlichkeiten sowie eine wertschätzende Kommunikation mit anderen Professionen genannt, wie auch in nahezu jedem Modell interprofessioneller Kompetenzen (IPEC, 2011; CIHC, 2010; Wood, V. et al., 2009). In einer Befragung von praktizierenden Gesundheitsfachkräften unterschiedlicher Fachrichtungen nannten diese ebenfalls ein genaues Rollenverständnis und eine effektive Kommunikation als die wichtigsten Kompetenzen für interprofessionelle Zusammenarbeit (Suter, 2009). Drei Befragte äußerten die Patienten/-innenorientierung als wichtiges Merkmal interprofessioneller Zusammenarbeit. Die Robert-Bosch-Stiftung fordert „die Neuausrichtung arbeitsteiliger Versorgungsprozesse an der Perspektive des Patienten“ und auch der Sachverständigenrat (2007) fordert ein Umdenken von der Perspektive der Berufsgruppen hin zur Perspektive der Anforderungen, d.h. der Patienten/-innenorientierung in der Diskussion um neue Kooperationsformen und Kompetenzen von Gesundheitsberufen. Nur ein/e Experte/in zählt auch die Koordination multiprofessioneller Teams zu einem Teilbereich interprofessioneller Kompetenz, wenn auch die Robert Bosch Stiftung (2011) einen Bedarf an Leitungen oder Koordinatoren mit entsprechender Qualifikation für interprofessionelle Teams in Gesundheitseinrichtungen klar formuliert.
Die Kombination aus Modulen, in denen Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen miteinander Schnittmengenthemen erlernen und Modulen oder Lehr-Lernveranstaltungen, in denen die Studierenden zusammenarbeiten, entspricht dem Verständnis von interprofessioneller Ausbildung der WHO (2010). Der Empfehlung von vier der befragten Experten/-innen, die interprofessionelle Zusammenarbeit im Studium erst dann anzubahnen, wenn eine erste fachspezifische Professionalisierung bereits stattgefunden habe, steht dem kontinuierlichen Einsatz interprofessioneller Lernangebote, der von zwei Experten/-innen beschrieben wurde, gegenüber. Die Diskussion um den optimalen Zeitpunkt für interprofessionelle Lehre wird auch in der Literatur kontrovers geführt. Handgraaf et al. (2016) erläutern, dass die Studierenden an der Hochschule für Gesundheit in Bochum nach einer internen Evaluation nun in der ersten Studienhälfte miteinander gesundheitswissenschaftliche Grundlagen erlernen und sich erst in der zweiten Hälfte in der interprofessionellen Kooperation üben. Dem gegenüber steht die Meinung, dass im interprofessionellen Austausch auch die berufsspezifische Identität geschärft wird und von Beginn an kontinuierlicher Bestandteil der Ausbildung sein sollte (Sukhdeep, A. et al., 2017; Walkenhorst, 2016). Aus der didaktischen Perspektive bestimmen die Fokussierung auf das gewünschte Lernergebnis sowie die Voraussetzungen der Studierenden die Auswahl von Methodik, Setting und Zeitpunkt (Bergstermann et al., 2013). So kann beispielsweise eine interprofessionelle Fallbearbeitung zu Beginn des Studiums eine Methode sein, um die unterschiedlichen beruflichen Rollen zu identifizieren und am Ende eines Studiums, um gemeinsam eine sinnvolle Behandlung zu planen.
Der Einsatz interaktiver Methoden, wie fallbasiertes Lernen oder Simulationstrainings in der interprofessionellen Ausbildung, entspricht aktuellen internationalen Forschungsergebnissen und Empfehlungen (vgl. Fernandes et al., 2015; Herrmann et al., 2015; Newton et al., 2015; Systma et al., 2015; Liaw et al., 2014; Wilhelmsson et al., 2009). Des Weiteren werden Methoden mit hohem Praxisbezug als besonders effektiv beschrieben (Herrmann et al., 2015; Liaw et al., 2014; IPEC, 2011). Grundsätzlich scheint allen Experten/-innen der Praxisbezug in der interprofessionellen Ausbildung sehr wichtig zu sein. Das wird neben der aktuellen methodischen Umsetzung auch an dem geplanten Ausbau von praktischen interprofessionellen Angeboten sichtbar. Jedoch fällt auf, dass zum Befragungszeitpunkt nur ein Studiengang die interprofessionelle Zusammenarbeit mit realen Patienten/-innen realisiert.
Alle Experten/-innen bewerten die Verortung mehrerer Studiengänge an ihrer Hochschule für die Organisation interprofessioneller Ausbildung als förderlich. Gleichzeitig wird deutlich, dass nur wenig interprofessioneller Austausch mit Studierenden der Medizin möglich ist, da an vier der fünf betrachteten Hochschulen keine Medizinstudiengänge angeboten werden. Drei Studiengangverantwortliche planen für ihre Studiengänge gemeinsame Lernangebote mit Studierenden der Medizin benachbarter Universitäten, in zwei Studiengängen wird dies bereits umgesetzt. In internationalen Studien über interprofessionelle Ausbildung sind in der Regel auch Studierende der Medizin involviert (Cohen et al., 2015; Fernandes et al., 2015; Herrmann et al., 2015; Systma et al., 2015; Liaw et al., 2014, Wilhelmsson et al., 2009). Da die Pflege- und Gesundheitsberufe in der Arbeitspraxis mit Medizinern/-innen zusammenarbeiten müssen, wäre die Einbindung von Studierenden der Medizin in interprofessionelle Ausbildungskonzepte grundsätzlich auch in Deutschland nach internationalem Vorbild wünschenswert (Wissenschaftsrat, 2012). Die Kooperation mit anderen Hochschulen für die Umsetzung gemeinsamer Lerneinheiten bringt laut den Experten/-innen allerdings größere organisatorische Herausforderungen mit sich, was den Mangel an interprofessioneller Zusammenarbeit mit Studierenden der Medizin erklären kann.
Aber auch die Organisation von gemeinsamen Lehr-Lernveranstaltungen mit Studierenden unterschiedlicher Professionen derselben Hochschule ist laut der Experten/-innen von Hindernissen geprägt. Newton et al. (2015) stellen ebenso wie die Experten/-innen dieser Untersuchung fest, dass unterschiedliche Praktikumszeiträume die Organisation von interprofessionellen Studierendengruppen behindern. Um Barrieren wie Raum und Zeit zu überwinden, können Online-Lernangebote eine sinnvolle und effektive Ergänzung zur traditionellen Präsenzlehre sein (Djukic et al., 2015; Bathgate & Harris, 2012; Weinstein et al., 2010; Luke et al., 2009). In Bezug auf die betrachteten Studiengänge wird deutlich, dass insbesondere digitale Lernplattformen zwar eingesetzt werden, aber häufig noch nicht so intensiv, dass organisatorische Hürden dadurch effektiv überwunden werden können. Online-Konferenzen beispielsweise werden zum Befragungszeitpunkt nur in einem der betrachteten Studiengänge eingesetzt. Viele Experten/-innen schätzten die Nutzung digitaler Medien im Hinblick auf die Vorteile im interprofessionellen Kontext als ausbaufähig ein.
Alle Experten/-innen berichteten, dass die notwendige Berücksichtigung berufsgesetzlicher Regelungen die Implementierung von interprofessionellen Lehr-Lernformaten behindere. Das Gesetz zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopäden/-innen, Physio- und Ergotherapeuten/-innen erlaubt eine Verlegung des Ausbildungsortes an die Hochschule und eine Abweichung des theoretischen und praktischen Unterrichts zur Erprobung von innovativen Lehr-Lernformen, sofern das Ausbildungsziel nicht gefährdet wird (ModellKlG, 2009). Die in den Berufsgesetzen geregelte praktische Ausbildung muss in vollem Umfang erhalten bleiben (ModellKlG, 2009). Außerdem müssen die staatlichen Abschlussprüfungen in Form von mündlichen, schriftlichen und praktischen Prüfungen am Ende der Ausbildung bestehen bleiben (ModellKlG, 2009). In einer Pressemitteilung teilte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) am 01.12.2016 mit, dass die Modellphase für die akademische Erstausbildung von Hebammen, der Logopäden/- innen und der Physio- und Ergotherapeuten/-innen – ursprünglich befristet auf den 31.12.2017 – um insgesamt vier Jahre, d.h. bis zum 31.12.2021 – verlängert und durch weitere Evaluationsvorhaben begleitet wird. Es kann vermutet werden, dass die Verlängerung der Modellklausel und die damit verbundene weiter bestehende Bindung an die Berufsgesetze die Weiterentwicklung der deutschen Studiengänge der Gesundheitsberufe im Bereich Interprofessionalität bremsen wird.
Böttcher et al. (2016) konstatieren ebenso wie die Teilnehmenden dieser Studie, dass die gemeinsame Entwicklung und Reflexion interprofessioneller Lehr-Lernkonzepte unter den Lehrenden notwendig für erfolgreiche interprofessionelle Lehre und Zusammenarbeit sind. Die Empfehlung, dass Lehrende ein gemeinsames Verständnis interprofessioneller Lehre entwickeln sollen, teilt auch die WHO (2010).
Die Ergebnisse dieser Untersuchung liefern wichtige Hinweise für die Planung neuer Studiengänge im Gesundheitsbereich. Die Förderung interprofessioneller Kompetenz sollte von Anfang an fester Bestandteil der Planung neuer Studiengänge sein, um spätere Hürden bei der organisatorischen Umsetzung zu vermeiden. Die gemeinsame Ausbildung der Gesundheitsberufe einschließlich der Medizin an einer Hochschule erleichtert die Organisation gemeinsamer Lernveranstaltungen mit den relevanten Akteuren des interprofessionellen Teams. Außerdem zeigt sich, dass für die Planung von interprofessioneller Ausbildung Freiheit bei der curricularen Gestaltung der Studiengänge benötigt wird. Weiterhin setzt eine erfolgreiche Entwicklung interprofessioneller Kompetenzen unter den Studierenden interprofessionelles Denken und interprofessionelle Zusammenarbeit unter den Lehrenden voraus, was entsprechend gefördert werden sollte. Um die Gesundheitsversorgung nachhaltig zu verbessern, erscheint insbesondere bei der Ressourcenvergabe ein größerer Fokus auf die Förderung interprofessioneller Kompetenzen sinnvoll.
Die Autorinnen danken den Experten/-innen für ihre Teilnahme an der Studie. Weiterhin danken wir Frau Dr. Karola Wolff von der Universität Duisburg-Essen für die Unterstützung dieser Arbeit.