Das Behagen in der Kultur – Der Kulturprotestantismus in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts
Categoría del artículo: Research Paper
Publicado en línea: 11 nov 2024
Páginas: 27 - 34
DOI: https://doi.org/10.2478/sck-2024-0006
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© 2024 Gisa Bauer, published by Sciendo
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1932 forderte Thomas Mann in seinem Essay „Goethe und Tolstoi“ den sogenannten Kulturprotestantismus auf, sich stärker in die deutsche Kulturnation einzubringen, um politischen und kulturellen Entgleisungen, insbesondere dem „Faschismus“ in Deutschland, entgegenzuwirken (Mann 1932: 148f.). Der Kulturprotestantismus war eine Strömung im deutschen Protestantismus, bei dem das Christentum mit der modernen Welt „in Einklang“ gebracht werden sollte. In der ursprünglichen Fassung des Essays von 1925 hatte der renommierte Schriftsteller, der vier Jahre später denLiteraturnobelpreis erhielt, eben diese Forderung noch an die Sozialdemokratie gerichtet (Mann 1986: 609).1 Dieser Wechsel der Bewertung antifaschistischen Potentials in Deutschland ist vor dem Hintergrund des sich schon seit den 1890er Jahren, spätestens aber nach dem Ersten Weltkrieg deutlich ausbreitenden Kulturpessimismus im deutschen Protestantismus erstaunlich. Eine Hoffnung auf ein Aufleben des Kulturprotestantismus oder gar einer protestantischen Kulturhegemonie war ausgesprochen illusorisch – und es erscheint im Nachhinein geradezu verblüffend, dass Mann dieser Hoffnung noch im Jahr 1932 Ausdruck verlieh, gepaart mit einer Kritik am Verfall des Kulturprotestantismus. Aber offensichtlich war der kulturhegemonialeAnspruch des bürger-lich-liberalen Protestantismus der Reichsgründungsära lange Zeit in der Gesellschaft tragfähig und die Kultur galt einem Zeitgenossen, dem der aufstrebende Nationalsozialismus als die Barbarei in Reinform erschien, als Teil der letzten Bastion gegen den drohenden politischen und gesellschaftlichen Untergang.
Im Folgenden wird der Blick auf verschiedene Aspekte dieses so hoch gelobten Verhältnisses von Kultur und Protestantismus gerichtet. Zunächst wird es um die Wahrnehmung von Kultur in der evangelischen Theologie und generell in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehen, dann der Kulturprotestantismus, seine Anliegen und schließlich sein Niedergang dargestellt und abschließend das Verhältnis von Kultur und Kirche bzw. Theologie Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts erläutert.
Der später so genannte „Kulturprotestantismus“ wurzelt im protestantischen Liberalismus. Durch dessen Urvater, den Berliner Theologieprofessor und Prediger Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, erfuhr die in Folge der Französischen Revolution entwickelte Vorstellung von einer homogenen Kulturnationan derWendedes 18./19. Jahrhunderts eine umfassende theoretische Untermauerung und Ausdifferenzierung. Schleiermacher, der Zeit seines Lebens eine Annäherung von Philosophie und Theologie, von Wissenschaft und Christentum und darüber hinaus von Kultur anstrebte – wenn er auch ihre prinzipielle Verschiedenheit konstatierte –, entwickelte in seiner „philosophischen Ethik“, der Grundlagendisziplin aller wissenschaftlichen Analysen einzelner Kulturphänomene, erstmals eine systematische Theorie der Pluralisierung moderner Kultur. Dabei klassifizierte er vier verschiedene „Kultursphären“: Recht und Staat, freie Geselligkeit, Wissenschaft sowie schließlich Religion und Kunst. Grundlage der Ethik Schleiermachers und damit seiner Kulturphilosophie war die Überzeugung, dass „Geschichte […] wesentlich Kulturgeschichte, Kulturgeschichte […] Geschichte der sittlichen Welt“ sei (Birkner 1964: 38). Obwohl dem Staat nach Schleiermacher als Bildungsinstitution eine hohe Kulturfunktion zukomme, plädierte der Theologe für die Gleichberechtigung der vier Sphären. Dem korrespondierte die zeitgenössische Forderung des liberalen Bürgertums nach Unverletzlichkeit der Privatsphäre, Freiheit der Wissenschaft, Autonomie der Kunst sowie nach Trennung von Staat und Kirche (Graf / Tanner 1990: 191). Die zentrale Bedeutung eines ausgewogenen Verhältnisses von Religion und Wissenschaft für die Kultur war Schleiermacher wichtig und er sprach sich wiederholt für eine Verbindung von lebendigem christlichem Glauben und einer freien und unabhängigen wissenschaftlichen Forschung aus. Mit Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur wurden die Weichen für protestantische Kulturtheorien und Auseinandersetzungen mit diesem Thema im gesamten 19. Jahrhundert gestellt. Der systema-ctische Theologe Reinhold Seeberg urteilte am Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Abhandlung „Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert“ zu Recht: „Das ist schließlich die Geschichte der systematischen Theologie des Jahrhunderts, daß Schleiermachers Ideen sich durchgesetzt haben […]. Sie sind allen – auch denen, die von Schleiermacher wenig wissen wollen – etwas geworden.“ (Seeberg 1910: 351).
Durch die Industrialisierung und das „Wirtschaftssystem des entfesselten Industriekapitalismus“ (Wehler 1995: 450), den Anstoß eines neuen Wissenschaftsbildes, den endgültigen Durchbruch von Erfahrung und Empirie in den Wissenschaften und die szientistisch-populäre Bewegung, die aus den Erkenntnissen der Wissenschaft „weltanschauliche“, in erster Linie religionskritische Konsequenzen zog, wurde die Theologie im 19. Jahrhundert vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Die prägende Kraft des Christentums verlor ebenso wie alle idealistischen und naturphilosophischen Weltanschauungen zusehends an Bedeutung. In den Jahren zwischen 1840 und 1880 entfernten sich Religion und Wissenschaft deutlich voneinander. Religiöse Transformationen, die ihren Ausdruck sowohl in einem Rückgang kirchlicher Bindungen als auch einer parallelen religiösen Vitalisierung oder Rechristianisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fanden, waren Teil des Zerfalls des Bürgertums in differenzierte soziale, kulturelle und politische Fraktionen. Die Differenzierungsprozesse „kultureller Vergesellschaftung“ der bürgerlichen Schicht überschnitten sich mit der Ausweitung des Spektrums von Frömmigkeitstypen. Die Individualisierung des Glaubens spielte dabei eine zunehmende Rolle.
Gemeinsam war den verschiedenen protestantischen Gruppen und Milieus die Selbstreflexion im Hinblick auf die kontextuelle gesellschaftliche Kultur. Die „theologischen und religiösen Deutungen [waren] unauflöslich in die moderne Kultur verstrickt“ (Kuhlemann 2000: 301), unabhängig ihrer theologischen Ausrichtung. So erhielt der Kulturbegriff in Philosophie und Theologie einen zentralen Stellenwert. In den Statuten des 1863 gegründeten liberalen „Deutschen Protestantenvereins“ hieß es beispielsweise, Ziel der Arbeit sei es, „eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung“ der Zeit voranzutreiben (Protestantenverein 1889: 1).
Der Kampf um die konfessionelle „Leitkultur“ prägte die zwischenkirchlichen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert. Neben den theologischen und dogmatischen Divergenzen wurde nun die Frage nach der Stellung der Konfessionen zur Kultur gestellt und reihte sich in Polemik und Apologetik ein. Spätrationalisten wie der Thüringer evangelische Theologe, Pfarrer und Generalsuperintendent Karl Gottlieb Bretschneider proklamierten die These, es gäbe einen unmittelbaren Zusammenhang von Reformation und Kulturfortschritt. Er stellte verschiedene „Culturstufen“ heraus, wobei der Katholizismus „mit der jetzigen Culturstufe der christlichen Völker […] nicht mehr in Einklang zu bringen“ sei (Graf / Tanner 1990: 192). Im Übrigen gelte das ebenso für konservative Haltungen innerhalb des Protestantismus, z.B. diejenige der „Partei“ um den lutherisch-konfessionalistischen und politisch ultrakonservativen Theologen Ernst Wilhelm Hengstenberg. Hengstenberg, Herausgeber der kirchenpolitisch einflussreichen „Evangelischen Kirchen-Zeitung“, repräsentierte wie kaum ein anderer das seit den 1820er Jahren aufkommende konfessionelle Neuluthertum, das sich durch eine scharfe Kritik der modernen Kultur profilierte. Diese wurde in Hengstenbergs einflussreichem protestantischen Lager als prinzipielle sittliche Fehlorientierung gewertet. Ihr wurde das Christentum als eigenständige, rettende Entität des gesellschaftlichen Kosmos gegenübergestellt. „Kultur“ diente also als Kampfbegriff zwischen den innerprotestantischen Lagern, die sich an die politischen Fraktionen anlehnten, und als Schlüsselbezeichnung völlig divergierender Gegenwartsdeutungen. Weniger die Bewertung des zeitgenössischen Kontextes als vielmehr die Deutung von Kultur im Rahmen dieses Kontextes war signifikant für Gruppen- und Milieuzugehörigkeiten.
Der „Kulturkampf“ der 1870er Jahre, bei dem es um die Zurückdrängung des römisch-katholischen Einflusses aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und Politik ging, verschärfte die innerprotestantische Auseinandersetzung um den Kulturbegriff. Man war sich zwar darin einig, dass die „protestantische Kultur“ eine Vorrangstellung gegenüber der römisch-katholischen besäße und als solche auch verteidigt werden müsse – aber im Verständnis des Kulturbegriffes kamen konservative und liberale Theologen des Protestantismus nach wie vor zu keiner Übereinstimmung. Vertreter des protestantischen Liberalismus sprachen sich vehementer als die Neulutheraner gegen den katholischen Ultramontanismus aus. Darüber hinaus hatten sie weniger Berührungsängste mit dem durch die Reichsgründung beförderten nationalen Selbstverständnis und zeigten verstärkt Tendenzen zur Vereinsgründung, weg von der institutionellen evangelischen Kirchlichkeit.
Alseinmassiver Kritiker des katholischen Kulturverständnisses gilt der Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl, der als
Nun hieße es aber, den Blick allzu sehr zu verengen, wenn nur die Konstellationen um oder mit Kultur in Kirche und Theologie in den Blick genommen würden und sich die Entwicklungen hin zu einem „Kulturprotestantismus“ damit theologiegeschichtlich nur aus sich selbst heraus erklärten. Gerade die historische Verankerung von Kirche und Theologie, der gesamte historische Kontext sowie die gesellschaftlichen Konstellationen und Mentalitäten bieten einen bemerkenswerten Deutungsschlüssel für die hohe Bewertung von Kultur im Protestantismus.
Im Folgenden wird deshalb ein Blick auf die Gewichtung von Kultur im 19. Jahrhundert generell als Matrix der kulturprotestantischen Welt- und Christentumsvorstellung geworfen.
Unter dem Diktum der „unpolitische[n] Tradition der deutschen politischen Kultur“ beschreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Bergem in seiner Untersuchung der historischen Entwicklung politischer Kultur in Deutschland die Situation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie folgt:
Die Tradition des Obrigkeitsstaates förderte im Zusammenspiel mit der, vergleichsweise späten Gründung eines Nationalstaates die eskapistische Haltung einer prinzipiellen Distanz zur Politik. Im Kontext der historischen und ideengeschichtlichen Verspätungen Deutschlands […] entstand die Vorstellung von einer deutschen Kulturnation als Surrogat für die fehlende Staatsnation. (Bergem 2004: 42).
Bereits 1984 konstatierte der Soziologe Helmuth Berking in seiner Studie „Masse und Geist“ mit ähnlicher Stoßrichtung, dass mit der Industriellen Revolution in Deutschland das „elitäre, ständische Bildungskonzept der ästhetischen Erziehung zum Zwecke individueller Vervollkommnung“ die Grundlage einer „geistigen Aristokratie“ geworden sei, die eine „ideale Begeisterung für
Vor diesem Hintergrund ist, da im Allgemeinen spätestens seit der Französischen Revolution der Begriff „Nation“ in Deckungsgleichheit mit dem (National)Staat gebracht wurde, auch der Vorstellung der „Kulturnation“ eine politische Orientierung inhärent. Bei einer Zugrundelegung der immer noch tragfähigen, wenn auch inzwischen modifizierten und kritisierten Definition Max Webers, Politik sei „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ (Weber 1987: 8), scheint es durchaus angemessen, sowohl die „Kulturnation“ als auch die Zuschreibung einer hegemonialen Stellung von Kultur im 19. Jahrhundert, die sich im Terminus „Kulturnation“ wiederfindet, nicht als unpolitische, sondern mindestens als vorpolitische, wenn nicht als dezidiert politische Ideen zu begreifen. Sie bestimmten und regulierten letztendlich gesellschaftliche Machtkonstellationen, d.h. sie entfalteten
Der liberale Protestantismus hegte dementsprechend nicht nur Ambitionen, sich theologisch an die Vorstellung der gesamtgesellschaftlich relevanten Vorstellung von Kultur anzubinden, sondern diese auch mit zu bestimmen (Graf 1989). Nicht zuletzt durch den Einfluss Albrecht Ritschls setzten sich seit der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Bürgertum protestantischer Couleur Hegemonieformeln wie „Kulturpotenz des Protestantismus“ oder „Kulturmacht des Protestantismus“ durch (Graf / Tanner 1990: 194). Popularisiert wurde die Identifikation von Protestantismus und „Kulturfortschritt“ in dem 1886 gegründeten „Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen“, der einen enormen Zulauf erfuhr. Einen ebenfalls nicht geringen Einfluss auf die bürgerlich-intellektuellen Eliten hatte der 1890 gegründete „Evangelisch-soziale Kongreß“, dessen Zielsetzung es war, „die sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilsfrei zu untersuchen, sie an dem Maßstab der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher“ (Pollmann 1982: 645 [aus der Satzung von 1891]). Der „Evangelisch-soziale Kongreß“, der ursprünglich eher eine Agitationszentrale zur Abwehr sozialdemokratischer Interessen war, entwickelte sich vor allem unter dem Vorsitz des Berliner Kirchenhistorikers, Wissenschaftsorganisators und Symbolfigur des sogenannten „Kulturprotestantismus“ Adolf von Harnack von 1902 bis 1912 zu einem interdisziplinären Forum der Diskussion sozialpolitischer und sozialethischer Fragen zwischen Theologen, Nationalökonomen, Soziologen und Pfarrern. Geprägt war „der Kongreß“ aber weniger sozialoder wirtschaftswissenschaftlich, sondern kulturprotestantisch, da die ethischen Leitlinien und der weltanschauliche Rahmen von eben dem Kulturprotestantismus gestellt wurden (Schick 1970).
Als „Kulturprotestantismus“ etablierte sich also eine Strömung innerhalb des Protestantismus, die aus der liberalen Theologie hervorging und mit dieser auf das Engste verbunden war, aber im Gegensatz zu dieser eher als Frömmigkeitshaltung gelten kann, bei der das Christentum mit der modernen Welt in Einklang gebracht werden sollte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre entfaltete der Kulturprotestantismus in Deutschland eine breite Wirkung. Das soziale Milieu entsprach dem des liberalen Protestantismus und als „Vater des Kulturprotestantismus“ galt auch hier Albrecht Ritschl. Fortschrittsglaube, Kulturbewusstsein, Bildung und das Ideal der allseitig gebildeten sittlichen Persönlichkeit standen im Mittelpunkt der kulturprotestantischen Haltung.
Aber bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Vorstellung einer durch Sittlichkeit und Bildung vorangetriebenen Kulturentwicklung, die das Reich Gottes in der Welt vorwegnehme, seine Bindekraft und Evidenz zu verlieren. Allein die Begriffsgeschichte des Terminus „Kulturprotestantismus“ spiegelt die hochgradige Fraktionierung und Polarisierung im Protestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider, die schließlich dazu führten, dass einer positiven Konnotation von „protestantischer Kultur“ der Boden entzogen wurde.
Obwohl das Phänomen des „Kulturprotestantismus“ eine lange Tradition im liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts hatte, wurde der Begriff erst kurz nach der Jahrhundertwende als Fremdbezeichnung eingeführt. Sozialkonservative Theologen benutzten ihn als Bezeichnung für einen unkritisch an Aufklärung, liberaler Theologie und Individualismus orientierten Protestantismus. Konkret waren die kirchlichen Liberalen des „Deutschen Protestantenvereins“ und die 1903 zur „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“ zusammengeschlossenen, so genannten „modernen Theologen“ gemeint. Diese wiederum lehnten die Bezeichnung ab, da sich inzwischen nur noch wenige der führenden Theologen unkritisch zur Kultur äußerten, und von einem gesellschaftlich und politisch einflussreichen Protestantismus, der sich auf die Kultur berief, im Grunde genommen nicht mehr gesprochen werden konnte. Erst in den 1920er Jahren nahmen „Vertreter kulturprotestantischer Vereine und Verbände den Kulturprotestantismusbegriff offensiv als Selbstbezeichnung auf, um den neuen, Krisentheologien’ ein Defizit an kultureller Gestaltungskraft entgegenzuhalten“ (Graf 1990: 234).
Das Abwandern protestantischer, bildungsbürgerlicher Kreise in Vereine und Verbände, die um die Jahrhundertwende ein schillerndes Spektrum boten, war signifikantes Zeichen der Heimatlosigkeit dieser Gruppen in der institutionellen, als konservativ und dogmatisch empfundenen Kirche. Das Bemühen um eine Vermittlung von Religion und Kultur, auch unter kritischer Distanznahme, wurde von dieser nicht getragen.
Unter politischen Gesichtspunkten lassen sich die diversen protestantischen Vereine, Kreise und an Zeitschriften angebundene Gruppen, beispielsweise „Die Christliche Welt“ des Marburger Theologen und linksliberalen Politikers Martin Rade oder „Die Hilfe“ des Mitbegründers der Deutschen Demokratischen Partei Friedrich Naumann, nicht einheitlich zuordnen. So stand zum Beispiel Paul Göhre, der vom Pfarrer zum SPD-Politiker avancierte, der Sozialen Frage und den sozialdemokratischen Interessen sehr nahe, während der Professor für Systematische Theologie Otto Pfleiderer und der ehemalige Pfarrer Arthur Bonus in nationalistischer Manier ein „deutsches Christentum“ als Zivilreligion des Kaiserreiches forderten. Alle drei aber waren kulturprotestantisch geprägt. Der theologisch-religiöse Impetus und die, mit ihm untrennbar verwobenen konkretisierten ethischen Ideale – wie soziale Versöhnung, der Dienst des Einzelnen an der Gemeinschaft und Bildung als Erziehungsmacht für die Vervollkommnung der individuellen Persönlichkeit – bildeten die Motivlage kulturprotestantischen Bestrebens um Universalisierung protestantischer Kultur.
1911 wurde Adolf von Harnack in einem Rundschreiben des Jahrbuches für protestantische Kultur „Noris“ gebeten, sich zu der Frage „Ist Protestantische Kultur ein geeigneter und genügender Ausdruck für die höchsten Welt- und Lebensziele?“ zu äußern. In seiner Antwort wies Harnack darauf hin, dass in Kultur, wenn sie nicht in Kulturseligkeit verfalle, drei sie konstituierende Elemente zur rechten Geltung kämen: Religion, Wissenschaft und Ästhetik. Wenn sowohl die Ausbildung der freien individuellen Persönlichkeit als auch gerechte Formen des gemeinschaftlichen Lebens die gebührende Aufmerksamkeit erfahren würden, dann, so Harnack, dürfe „der Ausdruck, Kultur’ sehr wohl als die Bezeichnung für die höchsten Welt- und Lebensziele gelten“. Konfessionsapologetisch fuhr der Kulturprotestant fort: „,Protestantisch’ aber ist diese Kultur, weil erst der Protestantismus den Entwicklungen Freiheit gegeben und sie aus der Bevormundung durch die Kirche [gemeint ist die katholische] herausgeführt hat.“ (Harnack 1996: 307f.)
Im kulturprotestantischen Lager, welches sich soziologisch vor allem aus den intellektuellen protestantischen Eliten (Universitätsprofessoren, Redakteure, Pfarrer) rekrutierte, waren die Haltungen auch im Hinblick auf die theologisch-religiöse Anbindung gespalten. Während sich der „Protestantenverein“ und einige der „Freunde der christlichen Welt“ 1910 maßgeblich an der Gestaltung des „Fünften Weltkongresses für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt“ beteiligten, fragten andere, u.a. Harnack, im Vorfeld der Veranstaltung an, ob sie überhaupt stattfinden solle. Die rechtgläubigen Lutheraner nahmen solche Differenzen allerdings gar nicht wahr. Harnack stand für sie „mitten im schamlosen Heidentum“ (Zahn-Harnack 1936: 202), so eine Äußerung im Zusammenhang mit dem Apostolikumsstreit von 1892.
Die Kulturprotestanten saßen zwischen allen Stühlen: Angegriffen von der eigenen Kirche und dem konservativen Neuluthertum versuchten sie gegen die Breitenwirkung der Religionskritik im Zuge von Karl Marx, Ludwig Feuerbach, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche – um nur einige Namen zu nennen -, den Protestantismus salonfähig in der gesellschaftlichen Kultur zu erhalten. Erschwerend kam hinzu, dass sich um die Jahrhundertwende ein zunehmender Kulturpessimismus auch in den eigenen Reihen breitmachte. Am ehesten schlug sich dies in dem Werk des ehemaligen Ritschl-Anhängers Ernst Troeltsch nieder, der Professor für Systematische Theologie in Bonn und Heidelberg und später für Religionsphilosophie in Berlin war. Troeltsch äußerte sich in seiner Schrift „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ von 1911 dahingehend, dass von „einer Erzeugung der modernen Kultur durch den Protestantismus ohne weiteres […] natürlich überhaupt nicht die Rede sein“ könne, die Beziehungen von Kultur und Religion sehr verwickelt und undurchsichtig seien und zunächst erst einmal „der Gegensatz des Protestantismus gegen die moderne Kultur noch schärfer bezeichnet werden“ müsse (Troeltsch 1911: 53).
Nach dem Trauma des Ersten Weltkrieges und dem Modernisierungsschub durch den Wechsel des politischen Systems von einer konstitutionellen Monarchie zur Demokratie 1918/19 brachen sich kulturkritische Stimmen auch innerhalb des liberalen Lagers des Protestantismus noch deutlicher Bahn und trafen sich mit den aggressiven Kulturgegnern der sich formierenden Dialektischen Theologie, mit den konservativ-revolutionären Neulutheranern und den Religiösen Sozialisten. Diese Entwicklung spielte sich vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz hin zum Kulturpessimismus, der Angst vor Massenkultur und einer zunehmenden radikalen Antibürgerlichkeit im Kontext der gesellschaftlichen Zersplitterung ab. 1921 rief der Direktor des altlutherischen theologischen Seminars in Breslau und späterer Ordinarius für Systematische Theologie in Erlangen Werner Elert den „Wortführern“ der „Christenheit“ zu, es gäbe augenblicklich „nur ein einziges großes Gebot: Das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kultur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde.“ (Elert 1921: 489) Der Religiöse Sozialist Paul Tillich konstatierte die Komplementarität von Religion und Kultur, die sich in einer dialektischen Beziehung zueinander befänden: Zwei paradoxe Polaritäten, beide gekennzeichnet durch Unverfügbarkeit und sich in der gegebenen „Sinneinheit“ ähnlich, ständen in einer gebrochenen Relation zueinander (Tillich 2000 und hierzu auch Moxter 2000: 12–101). Noch deutlicher zeigte sich indes die Abkehr von der Kultur bei Karl Barth, Hauptgestalt der „Dialektischen Theologie“. Barth hatte sich, erschüttert von der zustimmenden Haltung der liberalen Theologen und Religiösen Sozialisten zu Beginn des Ersten Weltkrieges, von der liberalen Theologie abgewandt und entwarf eine Theologie der Offenbarung des Wort Gottes im Evangelium. Das Göttliche stellt sich bei Barth als das „Absolute“, das „Ganz Andere“, geschichtlich oder kulturell nicht Erfassbare dar. Damit schottete Barth „Theologie“ von „Religiosität“ und „Kulturphilosophie“ völlig ab. Der Kultur gestand Barth lediglich noch zu, als eine Aufgabe mit dem Charakter der „Beiläufigkeit“ relevant für menschliches Handeln zu sein. Das Reich Gottes allerdings breche in Kulturarbeit niemals an. Über die „dem Kulturmenschen annehmbar gemachte“ Religion spottete Barth: Sie „wird noch einmal ganz anders belächelt werden, als das 18. und 19. Jahrhundert über die Wundergeschichten gelächelt haben.“ (Barth 1977: 74) Die teilweise öffentlich ausgetragene und kontrovers beendete theologische Auseinandersetzung zwischen dem Mittdreißiger Karl Barth und dem über 70-jährigen Adolf von Harnack von Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts stellte nicht nur einen kirchenhistorisch bedeutsamen Höhepunkt in der Entwicklung des deutschen Protestantismus dar, sondern einen Kumulationspunkt der in diesem Beitrag dargestellten Richtungskämpfe zwischen einer Theologie, die sich der religiös erschließbar gedeuteten Kultur und Wissenschaft verpflichtet fühlte, und einer Theologie der scharfen Trennung menschlichen Handelns und göttlichen Wirkens. Damit formulierten Harnack und Barth „zwei Pole des protestantischen Wirklichkeits- und Kulturverständnisses […], deren Zusammenführung in einem neuen, geschichtlich wie theologisch reflektierten Zusammendenken von Protestantismus und Kultur nach wie vor ein Desiderat protestantischer Theologie ist“, so der Systematische Theologe Hartmut Ruddies (Ruddies 2001: 124f.). An der Feststellung hat sich seitdem nicht viel geändert.
Die Kritiker der kulturellen Krise Deutschlands seien nicht nur deren Rezensenten, sondern gleichzeitig auch deren Symptome und Opfer gewesen, konstatierte der US-amerikanische Historiker Fritz Stern in seiner 1961 erschienen Untersuchung „The Politics of Cultural Despair“ (Stern 1986: 1). Dies traf zweifelsohne auch auf die Kulturkritiker innerhalb des Protestantismus zu.
Der eingangs angesprochene Aufruf Thomas Manns, eine tragfähige Allianz von bürgerlicher Religion, Kultur und Moral der politischen Verwilderung in Deutschland entgegenzusetzen, die unmittelbar zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft führte, muss im Rückblick als doppelt hoffnungslos erscheinen. Der Verfasser der „Buddenbrooks“ bezog sich nicht nur auf eine gesellschaftlich überholte Richtung des Protestantismus: Auch sein imaginäres Auditorium waren die geistigen und geistlichen Kinder dieses Scheiterns, nämlich Theologen wie Karl Barth, Werner Elert und Paul Tillich.
Der „Kulturprotestantismus“ war in der kirchengeschichtlichen Forschung lange Zeit vergessen, da die Kulturkritik im innerprotestantischen Lager zur nachhaltigen Ächtung des Kulturbegriffs in der Theologie geführt hatte. Die Trennung von Religion und Kultur – vorbereitet durch die konservative neulutherische Theologie des 19. Jahrhunderts, vollzogen von verschiedenen theologischen Gruppen Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer stark fragmentierten Gesellschaft und abgeschlossen durch den Untergang der Kultur im politischen Totalitarismus des Nationalsozialismus – fand schließlich als alleiniger Gedächtnisort Verzeichnung auf der Landkarte deutscher protestantischer Memoria. Das weitgehende Desinteresse der Kulturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaften an der Theologie dürfte ihre Ursache u.a. in eben diesem Faktum, dem Selbstausschluss des Protestantismus aus der Kultur, haben.
Erst in den 1970er, 1980er Jahren begann man sich in der Theologie mit dem Phänomen Kulturprotestantismus zu beschäftigen. Besonders die Schleiermacher-Forschung und die Untersuchungen und Editionen zu Ernst Troeltsch trieben die Forschungsentwicklung in dieser Richtung voran.
Seit den 1990er Jahren erlebte der Kulturprotestantismus in der Kirchengeschichtswissenschaft und bemerkenswerterweise auch in Kirchenleitungsgremien eine zunehmende Aufmerksamkeit. Das Kirchenamt der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) stieß 1992 die Vorarbeiten für einen „Kulturbericht“ an, der 1996 unter dem Titel „Kirche und Kultur in der Gegenwart“ herausgegeben wurde. Darin wurde u.a. ausdrücklich eine Wiederaufnahme der Debatte über den Kulturprotestantismus gefordert (Donner 1996: 20). Die Wahrnehmungen und das Bewusstsein waren damals zunehmend geprägt von dem Zusammenhang und nicht von dem Gegenüber von Kirche und Kultur. In der 1999 von der EKD herausgegebenen Erklärung „Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert“ kam dies ebenfalls zum Ausdruck.
Inzwischen hat sich die Situation noch einmal gewandelt – der Kulturprotestantismus erlebt derzeit ein erstaunliches Revival. Der mentalitätsgeschichtliche Nährboden bildungsbürgerlicher kirchlicher Teilmilieus saugte postmoderne Ausflüsse des Kulturprotestantismus auf und trieb ihn zu neuen Blüten. Ausdruck dieses Umschwungs ist u.a. das 2014 in erster Auflage erschienene Buch des Münchener Theologen Jörg Lauster „Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums“, das bereits ein Jahr später in zweiter Auflage und 2020 als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschien. Lauster definiert seine Kulturgeschichte des Christentums als Sinngeschichte und sieht sich selbst erklärtermaßen als „Kulturprotestant“ (Bucher 2016).
Die Entwicklung in evangelischer Theologie und Kirche hin zu einem Bewusstsein der Vernetzung von Kultur und Christentum ist eingebunden in die verstärkte gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur in den letzten Jahrzehnten. Dies wiederum verweist auf Aspekte unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, die in ihrer Breite und Vielschichtigkeit an dieser Stelle nicht dezidiert erörtert werden können. Nur so viel scheint deutlich zu sein: Das der Kultur immanente uneinholbare Moment der Freiheit und der Möglichkeit der Veränderung, die darin liegt, sowie der höchst subjektive Charakter von Kultur und ihre gleichzeitig gesellschaftlich verbindende Rolle haben an Faszination nichts verloren. Dem korrespondiert auf wissenschaftstheoretischer Ebene, dass Kultur seit den in den 1960er Jahren aufkommenden „Cultural Turns“ verstärkt in den Fokus szientifischer Analysen – und auch Kritik – geraten ist. Religion, nicht nur in historischer Perspektive ein Fundament der Kultur, kann dabei nicht ausgeschlossen bleiben. Der Diskurs über Grenzen und Gemeinsamkeiten von Religion und Kultur sowie deren Geschichte ist aus theologischer Perspektive nach wie vor unabgeschlossen, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive hat er so gut wie noch gar nicht begonnen. Ein In-den-Blick-Nehmen des Phänomens „Kulturprotestantismus“, seiner Vorgeschichte und der gesellschaftlichen und theologischen Kontexte, seiner Begriffs- und Forschungsgeschichte dürfte weitreichende Erkenntnisse für diesen aktuellen Diskurs erbringen.