Theokratie als Ausweg aus der Krise? Das Gutachten der Straßburger Prediger Wegen Abschaffung grober laster vnd aufrichtung gueter ordnung vnd disciplin (1547)
Categoría del artículo: Research Paper
Publicado en línea: 06 nov 2024
Páginas: 9 - 18
DOI: https://doi.org/10.2478/sck-2024-0005
Palabras clave
© 2024 Hubert Guicharrousse, published by Sciendo
This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
Das Jahr 1547 war ein Krisenjahr für die evangelischen Stände des Heiligen Römischen Reiches. Die militärische Allianz der protestantischen Fürstentümer und Städte, der 1531 geschmiedete Schmalkaldische Bund, wurde am 24. April 1547 in der Nähe der kursächsischen Stadt Mühlberg an der Elbe von den kaiserlichen Truppen vernichtend geschlagen. Schlimmer noch: die zwei ranghöchsten Fürsten des Bundes, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen und Landgraf Philipp von Hessen, gerieten in kaiserliche Gefangenschaft. Am 19. Mai 1547 mussten sie die Wittenberger Kapitulation unterschreiben, die Johann Friedrich um die Kurwürde und um beträchtliche Teile seines Territoriums brachte. Herzog Moritz von Sachsen von der konkurrierenden Linie der Albertiner, auch er ein Evangelischer, der aber während des Schmalkaldischen Krieges auf der Seite des katholischen Kaisers gekämpft hatte, war der Hauptnutznießer der protestantischen Niederlage. Der Kaiser triumphierte: Karl V. ließ sich von Tizian als Sieger von Mühlberg porträtieren, und noch vor der Entscheidungsschlacht an der Elbe zwang er die führenden Köpfe der protestantischen Stände dazu, vor ihm niederzuknien. Der Straßburger Stettmeister1 Jakob Sturm von Sturmeck musste sich am 21. März 1547 in Nördlingen dieser demütigenden Zeremonie unterziehen (Lienhard 1981: 413).
Was war passiert? Warum hatte Gott die Anhänger des wahren Glaubens auf diese Weise bestrafen wollen? Das waren die Fragen, welche die Straßburger Prediger Martin Bucer, Paul Fagius, Johannes Marbach und Matthäus Zell zu beantworten hatten. Hinzu kam noch die Frage, was nun zu tun sei, um den Zorn Gottes von der Freien und Reichsstadt abzuwenden. Angesichts der unübersehbaren Krise im Leben der Kirchengemeinden und in der Stadt hatten sich die Prediger bereits mehrmals im Laufe des Jahres 1546 an den Stadtrat gewandt mit der Bitte, die „Missbräuche“ in der Stadt zu beseitigen (Stupperich 1981: 159-195; 198-206). Obwohl sie im April 1547 persönlich vor dem Rat erschienen, blieb die Antwort der Obrigkeit aus, was sie zur Abfassung einer viel umfangreicheren Stellungnahme veranlasste:
Im Folgenden wird der Konflikt zwischen den Predigern und der Obrigkeit der Reichsstadt um die strikte Einhaltung der Disziplinarordnung von 1535 (Wolgast 2011: 248-253) dargestellt sowie die Auseinandersetzung um die Ausarbeitung einer Neufassung dieses Textes (die Arbeit des gemeinsamen Ausschusses der Kirchenleitung und des Magistrats kam erst 1548 zum Abschluss). Außerdem soll die theologisch motivierte Kritik an der Alltagskultur des Stadtstaates als Rechtfertigung für die Eingriffe der Kirchenleitung in die Befugnisse der weltlichen Obrigkeit und somit als Versuch gedeutet werden, eine theokratische Grundordnung aufzurichten. Abschließend sollen die ordnungspolitischen Maßnahmen zur Disziplinierung und Kontrolle in den Blick genommen werden, die nach dem Streit beschlossen wurden. Der Konflikt zwischen den Predigern der Straßburger Kirche und der weltlichen Obrigkeit trug sich in einer Stadt zu, die bereits seit dem 13. Jahrhundert den Status einer Freien und Reichsstadt genoss. Die zur Reformationszeit noch gültige Stadtverfassung ging auf das Jahr 1334 zurück und war vom Sieg der Zünfte – vor allem auf Kosten des Adels – im 14. Jahrhundert geprägt. Änderungen wurden 1482 vorgenommen, die vor allem die Zahl der Mitglieder in den verschiedenen Räten betrafen. Eine eingehende Darstellung der Straßburger Institutionen in der frühen Neuzeit würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zur politischen Organisation der Stadt sollte jedoch Folgendes zur Kenntnis genommen werden (für eine gründlichere Beschreibung, s. in der neueren Literatur Wolgast 2011: 23-26 und Greschat 2009: 61-62).:
Die Basis der Machtpyramide bestand theoretisch aus der Versammlung der 300 Schöffen (die 20 Zünfte entsandten je 15 Vertreter). Aber faktisch waren die Schöffen vom Magistrat abhängig, da dieser sowohl den Zeitpunkt ihrer Einberufung als auch ihre Tagesordnung bestimmte. Jedoch mussten die S hatten, im Gegensatz zum zünftigen Ammeister (Wolgast 2011: 25). chöffen in politisch wichtigen Fragen zu Rate gezogen werden, etwa um über Krieg und Frieden zu entscheiden. In der Reformationszeit kamen religiöse Fragen hinzu, z. B. die Einziehung des Kirchenbesitzes im Jahre 1524, die Abschaffung der katholischen Messe 1529, oder die Zustimmung zum Augsburger Interim 1548, also Fragen, die in der Ausei-nandersetzung Bucers und der protestantischen Prediger mit dem Magistrat eine sehr wichtige Rolle spielten. Die von den Predigern geforderten Disziplinierungsmaßnahmen dagegen gehörten wohlgemerkt nicht dazu und wurden als formal-rechtliche Fragen betrachtet, nämlich als Novellierung bzw. erneute Inkraftsetzung der Disziplinarordnung von 1535.
Das Wort „Magistrat“ wird im Folgenden verwendet, um die höchste Regierungsinstanz des Stadtstaates zu bezeichnen, d. h. „die Gemeinschaft des Rates und der Einundzwanzig (XXI)“ (Wolgast 2011: 25). Der eigentliche Rat bestand aus 20 Vertretern der Zünfte und 10 des Adels („Konstofler“). Die XXI (auch „ewiger Rat“ genannt) waren im 16. Jahrhundert 32 (22 Vertreter der Zünfte und 10 Konstofler) und wurden auf Lebenszeit gewählt. Beide Gremien tagten nie unabhängig voneinander. 28 Mitglieder unter diesen 32 nahmen auch an zwei ständigen Kollegien teil, die XV und die XIII. Die XV übten eine Art Oberaufsicht über die Stadtverwaltung, während die XIII, deren Prestige alle anderen Kollegien in den Schatten stellte, für die Außen-und Verteidigungspolitik zuständig waren.
In diesem komplizierten Machtgefüge hatten die Forderungen der Straßburger Prediger deshalb kaum Aussicht auf eine schnelle Durchsetzung, zumal die Freie und Reichsstadt seit ihren Anfängen im 13. Jahrhundert bemüht war, den Einfluss des Klerus einzudämmen. Dennoch war die Einführung der Reformation in Straßburg in den Jahren 15232 bis 1529 (Verbot der katholischen Messe) ein Ergebnis der wechselseitigen Beziehung zwischen dem Magistrat und den protestantischen Predigern, da die städtische Obrigkeit in dieser unruhigen Zeit sich gezwungen sah, den Anhängern des Luthertums immer wieder Zugeständnisse zu machen. Im bereits erwähnten Mandat vom 1. Dezember 1523 betonte der Magistrat seine Bereitschaft, „wie eyner Christlichen Oberkeit zu thun gebürt“ den religiösen Frieden und den wahren Glauben zu schützen. Aber die politische Situation war nach dem verlorenen Schmalkaldischen Krieg eine ganz andere als in den 1520er Jahren, in denen die Reformation in Straßburg und vielen anderen Städten triumphierte. Offensichtlich konnte die
In der Reformationszeit bezeichnete das Wort „Zucht“ die Erziehung der Kirchenmitglieder. Die Kirchenzucht, die vor allem in den reformierten Gemeinden neben dem Dienst am Wort (Verkündigung des Evangeliums) und der Spendung der Sakramente als berechtigtes und wirksames Mittel der Seelsorge galt, war für den Straßburger Reformator Martin Bucer durchaus legitim, um die Menschen zu bessern bzw. in ihrer inneren Entwicklung zu fördern (Stupperich 1964: 76-77). Martin Bucer, faktisch das Oberhaupt der Straßburger Kirche und einer der „oberdeutschen Reformatoren“, deren Theologie vom Zürcher Reformator Huldrych Zwingli (14841531) beeinflusst war, hatte diesen Gedanken 1538 in seiner
In Straßburg sollte der Auftrag der Kirchenzucht einem Gremium von je drei Kirchenpflegern (Kirchenverwaltern) pro Pfarrezustehen. Diewichtigsten Disziplinierungsmaßnahmen, die diesen „oberen Zuchtherren“ (Stupperich 1964: 78) zur Verfügung standen, waren die Ermahnung, die Verhängung von Geldstrafen und – in äußersten Fällen – der Ausschluss aus der Gemeinde (Kirchenbann). Zur Rechtfertigung dieser Praxis beriefen sich die Theologen insbesondere auf das Matthäusevangelium (Mt 18,15-18). Bucer hatte bei der Tagung der hessischen Synode im November 1538 die
Bucers Bemühungen um die Zuchtordnung in Straßburg führten zu einer Spaltung im Kollegium der Prädikanten: während die Gruppe um Bucer für eine „weitere3 Reformation“ eintrat, wollten andere die Obrigkeit schonen und vorerst keine weiteren Schritte unternehmen. Kaspar Hedio4 (14941552), der „zweite Mann“ der Straßburger Kirche, entschied sich für einen Mittelweg und legte dem Rat ein viel moderateres Gutachten vor (Bellardi 1976: 120-132). Die Beziehungen zwischen den Predigern um Martin Bucer und dem Magistrat waren alles andere als harmonisch. Während die Obrigkeit gewillt war, das kirchliche Leben unter ihrer Kontrolle zu behalten, strebten die Prediger eine Autonomie ihrer Kirche an und wiesen dem Magistrat lediglich eine schützende Rolle zu. Hedio dagegen war der Ansicht, dass die kirchlichen Instanzen auf die weltliche Obrigkeit angewiesen waren und deshalb unabhängig vom Magistrat keine Massnahmen ergreifen durften.
Seit der Verabschiedung der Zuchtordnung von 1535 hatten die Kirchenoberen dem Magistrat eine Reihe von Beschwerden zukommen lassen, die fehlende Maßnahmen zur Einhaltung der verschiedenen Mandate mit Bitterkeit kritisierten (de Kroon 1991: 242). Schließlich musste Bucer 1545 feststellen, dass seine Bemühungen um eine allgemeine und wirksame Seelsorge gescheitert waren, und er setzte sich für eine „weitere Reformation“ ein, die zur Bildung von „christlichen Gemeinschaften“ aus Freiwilligen führte, deren Glaube einer Prüfung unterzogen wurde. Diese elitären Gemeinden wurden mit der Absicht gegründet, ein Leben in der wahren Nachfolge Christi zu ermöglichen. Es waren Parallelstrukturen, die Bucer schon in Von der waren Seelsorge vorgeschlagen hatte: sie sollten eine Vorbildfunktion haben, vor allem durch die Praxis der gegenseitigen Zuchtübung („bruderliche straff vnd warnung“, Stupperich 1981: 251). Dadurch sollte in Straßburg eine neue, geläuterte Gemeinde der Liebe und Zucht entstehen, die nach der Reformation der Lehre auch die Reform des Lebens und der kulturellen Praxen in Angriff nehmen würde. Bucer präzisierte seine Gedanken 1547 in einer Schrift, die er jedoch vor seiner Auswanderung5 nach England im Jahr 1549 nicht veröffentlichen konnte (Stupperich 1981: 245-255). Dass die Obrigkeit von einer solchen Konkurrenz zum landesherrlichen Kirchenregiment nicht begeistert war, liegt auf der Hand, zumal sie immer wieder beteuert hatte, für die Einhaltung der christlichen Ordnung sorgen zu wollen (Bellardi 1934: 71). Dazu war die außenpolitische Situation der Stadt nach der Niederlage prekär, und der Magistrat, der schon vor dem Anfang des Augsburger Reichstags von 1547-1548 über die Leitlinien des künftigen Interims informiert war, konnte sich kein radikales Abenteuer leisten. Unter dem Stettmeister Jakob Sturm waren bereits Verhandlungen mit den Kaiserlichen aufgenommen worden. Der Magistrat musste den Frieden durch den Austritt aus dem Schmalkaldischen Bund, dem protestantischen Verteidigungsbündnis, erkaufen. Da im Straßburger Regierungssystem die XIII den Vorrang hatten, waren die Mitglieder des Magistrats auf Mäßigung bedacht und suchten deshalb einen Kompromiss mit der Kirchenleitung.
Die vier Prediger interpretierten in der Schrift Wegen Abschaffung grober Laster die noch ausstehende, aber unabwendbare Niederlage des Schmalkaldischen Bundes als Strafe Gottes für die mangelnde Bereitschaft der Obrigkeit, im Alltag gegen die Sünde vorzugehen. Diese Interpretation wurde offenbar von sehr vielen Einwohnern Straßburgs geteilt und war für die Autoren mithin ein Vorwand, Eingriffe in die Alltagskultur der Stadt zu fordern, um das Leben – und nicht nur die Kirche – neuzugestalten.
Das Gutachten (
„Der wegen hat der liebe Paulus auch gezeuget, das die kein theil am reich Gottes haben mögen, die mit dem laster behafftet sind, das sie jmer jr vortheil suchen vnd wollen mehr haben, dan sich gepuret, 1 Corinth. 6 [9-10] vnd Ephes. 5 [5].“ (Stupperich 1981: 233).
Das Dilemma, dem der Straßburger Magistrat sich stellen musste, war also von äußerster Radikalität: entweder sollten die „groben Laster“ von Amts wegen bekämpft und abgeschafft werden, oder Gott würde die Stadt zum Untergang verdammen. Dieser geradezu eigenmächtige Eingriff der Theologen in die Angelegenheiten der weltlichen Obrigkeit kann aus heutiger Sicht durchaus als theokratisch bezeichnet werden. Aber für die Autoren war er eine Notwendigkeit, die als Folge der konkreten historischen Situation ausgelegt werden musste. Die Bestrebungen der Straßburger Prediger mündeten in eine kritische Hinterfragung der weltlichen Obrigkeit, die Bucer in zwei Schriften des Jahres 1535 bereits angedeutet hatte (Stupperich 1984: 19-188). Der Reformator behandelte in diesen Schriften die grundsätzliche Frage der Eingriffe der Obrigkeit in das religiöse Leben, die er für zulässig hielt, um die Frömmigkeit der Bevölkerung zu fördern und religiöse Irrlehren zu bekämpfen.
Über ein Jahrzehnt später ging es den Straßburger Predigern vor allem darum, die gesamte Stadtbevölkerung zur Verantwortung zu ziehen und zu disziplinieren bzw. zu kontrollieren. In der Tat holten sie in ihrem „Bedencken“ von 1547 zu einem regelrechten Rundumschlag gegen die Alltagskultur der Stadtbevölkerung aus. Sie richteten ihre Vorwürfe zunächst an den Magistrat, der den Kampf gegen die „groben Laster“ schlichtweg vernachlässigt habe. So schrieben sie zur Besserung des sechsten Lasters: „Auß dem kan auch ein ieder Christ wol erkennen, das ein ware christliche reformation erfordert, das die oberkeit erstlich alle hurey [Hurerei, Prostitution], ehbruch, cupelley [Kuppelei, Zuhälterei] vnd vffenthalt [Beherbergung, Schutz] solches Übels mit grossem ernst [Entschlossenheit] straffe.“ (Stupperich 1981: 229). Damit trat der Konflikt zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirchenleitung deutlich zu Tage, in einer Zeit, die für die Protestanten äußerst schwierig war, da sowohl die Papstkirche wie auch der Kaiser eine ernsthafte Bedrohung für die oberdeutschen Reichsstädte darstellten: das Trienter Konzil war Ende 1545 eröffnet worden und Karl V. machte auf dem „geharnischten“ Reichstag zu Augsburg (1547-48)7 aus seinem Vorhaben keinen Hehl, den Protestantismus niederzuwerfen. Am 30. Juni 1548 trat das Augsburger Interim in Kraft, das für 27 oberdeutsche protestantische Städte, darunter Straßburg, die Wiederherstellung des katholischen Gottesdienstes zur Folge hatte. Bucer und alle anderen Straßburger Prediger lehnten dies vehement ab, während der Magistrat, der auf Frieden aus war, sich konziliant zeigte. In Straßburg wurde der katholische Gottesdienst jedoch erst im Februar 1550 wieder eingeführt (Lienhard 1981: 415).
Der schwerste Vorwurf, den die vier Autoren des „Bedenckens“ gegen Obrigkeit und Bevölkerung erhoben, betraf die mangelnde Heiligung des Sonntags („die heiligen feir gottes“, Stupperich 1981: 221). Die Prediger erinnerten daran, dass der Sabbat bei den Hebräern „so gar [sehr] ernstlich [rigoros] gebotten“ war, dass das jüdische Gesetz die Steinigung der Zuwiderhandelnden vorsah (Stupperich 1981: 221). Da die Einhaltung des Sabbats „des menschen heil vnnd notdurfft diene“ (Stupperich 1981: 222), erforderte das ein „müssig stehn [Aussetzung] aller zeitlichen geschefften“.
Aber diese Verpflichtung, warfen die Prediger ihren Mitbürgern vor, wurde in der Stadt nicht erfüllt. Nicht nur das, was „zu diesem zeitlichen leben erfordert wirdt“, musste verschoben und gänzlich abgeschafft werden, „Sonder aüch alle sunst zulessige spil vnnd kurtzweilen [Zerstreuungen], noch vil mehr aber alle vngötliche zechen, lustlins spil [Glücksspiele] vnnd dergleichen sündtliche werckhe“ (Stupperich 1981: 222). Das machte einen Bruch mit den bisherigen Gewohnheiten unvermeidlich, da man – wohlgemerkt nach dem Vorbild des Judentums –, alle Besorgungen am Vortag (dem Rüsttag, wie Luther ihn in seiner Bibelübersetzung nennt8) erledigen sollte. Die Prediger forderten ein Ende der „lüstlins spiele“ am Sonntag, aber auch des „Schießens“, d. h. des Armbrustschießens, das im frühneuzeitlichen Straßburg sehr beliebt war und theoretisch schon seit Inkrafttreten der Disziplinarordnung von 1535 am Sonntag verboten war. Alle diese „kurtzweilen“ waren kulturelle Ausprägungen, die für die Straßburger Prediger am dringendsten einer Reform bedurften und deren Disziplinierung sich als schwierig erweisen sollte. Der Tanz war 1547 gänzlich verboten worden, aus Rücksicht auf die „löuff“ [Zeitläufte], womit der Anfang des Schmalkaldischen Krieges gemeint war. Später wurde das Tanzen wieder erlaubt, aber unter Beaufsichtigung und nur tagsüber. Der Magistrat der Stadt Straßburg und vieler anderer Reichsstädte sah hier offensichtlich einen wichtigen Handlungsbedarf, auch in der Reglementierung der Hochzeitsfeste, deren Dauer und Gästezahl später begrenzt wurden (Lienhard 1981: 502; Wolgast 2011: 90). Die Zuchtordnung sah für die Verstöße verschiedene Strafen vor, meistens Geldbußen oder Haftstrafen. Zum Beispiel wurde der Ehebruch mit 6 Wochen Kerker bei Wasser und Brot bestraft, im Rückfall mit 8 Wochen Einkerkerung (Wolgast 2011: 212).
Darüber hinaus richtete sich die Kritik der Prediger gegen die Gewohnheiten der Straßburger in Sachen Kleidung. Sie verlangten ein Vorgehen der Obrigkeit bei Verstößen gegen die geltende Kleiderordnung und sprachen sich für eine weitergehende Regelung der Kleidungsgewohnheiten aus. Sie waren entsetzt über „den verderblichen pracht vnd vnkosten [übertriebene Ausgaben] vff hochzitten“ und wollten eine Bestrafung derjenigen, die ihren Reichtum durch exzessive Feste oder eben durch ihre Kleidung auffällig zur Schau trugen (Stupperich 1981: 228-229). Sie plädierten also für eine städtische Wer vil nüw fünd macht durch die land Der gibt vil ärgernyß vnd schand Vnd halt den narren by der hand. (Lemmer 1986: 13).
Die Straßburger Prediger verwiesen dabei ausdrücklich auf die Augsburger und Wormser Reichsabschiede von 1530 und 1545: „Nun aber hat man [&] alweg [überall] gesetzte mas [vorgeschriebene Maße] der kleidung jedem stand gegeben, wie auch jm rich [im (Heiligen Römischen) Reich] vff denn reichstag zu Augspurg anno 30 vnd jüngst zu Worms ist versuchet worden.“ Der Augsburger Reichstag von 1530, der vor allem deshalb in die Geschichte eingegangen ist, weil dort die Confessio Augustana der Lutheraner dem Kaiser vorgelegt wurde, verabschiedete auch eine Reichspolizeiordnung. In 14 Artikeln (von 39) gibt dieses Dokument genaue Kleidungsvorschriften für die verschiedenen Stände an, etwa für die Bauern, Städtebewohner, Kaufleute, Adeligen oder Juden (Aulinger 2003: 979-1067). Auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1545 dagegen rückten die Glaubensfragen in den Hintergrund, und eine Neufassung der Reichspolizeiordnung wurde erarbeitet, welche aber erst drei Jahre später, auf dem „geharnischten“ Reichstag zu Augsburg von 1547-1548, verabschiedet werden konnte. Diese Kleiderordnungen auf Reichsebene wurden als solche kaum in Kraft gesetzt, weil ihre Umsetzung in den meisten Fällen in die faktische Zuständigkeit der Reichsbzw. Freistädte fiel, die ihre eigenen Regelwerke erarbeiteten. Aber die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung bzw. Abgrenzung der Bevölkerungsgruppen (oder gar, im Fall der Juden, Konfessionen) durch die Kleidung war im neuzeitlichen Europa unumstritten. Die vier Straßburger Theologen nahmen sich auch dieser Frage an, um eine soziale Disziplinierung der Bevölkerung zu fordern. Die Kleiderordnung war allgemein akzeptiert, schützte er doch die einfachen Bürger vor den Machenschaften des Teufels, der sich bekanntlich immer verkleidet.
Schon seit den Anfängen der Reformation in Straßburg hatten die Reformatoren betont, dass die Erneuerung der Kirche nicht bei einer einfachen Verbesserung der Lehre bleiben, sondern auch eine Reform des gesamten Lebens bewirken sollte (Wolgast 2011: 47). Was die Kirchenoberen in der Straßburger Alltagskultur am meisten erzürnte, war aber das sog. Zutrinken, die Anstiftung zum übermäßigen Alkoholkonsum bzw. die Trunkenheit in der Öffentlichkeit, die sie als weit verbreitete und meistens verharmloste gesellschaftliche Praxis verurteilten. Wie viele Beispiele im Alten Testament zeigen, argumentierten sie, will Gott, dass dieser „grewliche grewel“ aufs Schärfste (nötigenfalls unter Anwendung der Todesstrafe) geahndet wird:
Dieweil nun auch das allen Christen wol bewüßt, so kan ia ein ieder auch das wol erkennen, mit was erschröcklichen, ontreglichen zorn Gottes ein gantzes land vnd Stat beladen [belastet, bedrängt] wirt, da ein Oberkeit solich also gotslesterlich vnd dem menschen so verderblich, schandtlich vnd wüster dann vihisch läster nit mit höchstem ernst straffet vnd ab treibet [unterbindet]. (Stupperich 1981: 230).
Wenn die Obrigkeit nichts unternehme, werde Gottes Rache alle Einwohner der Stadt in Mitleidenschaft ziehen, auch die Unschuldigen, argumentierten die Autoren. Darauf folgt eine äußerst detaillierte Kritik an der mangelnden Heiligung des Feiertags Gottes: die Obrigkeit wird dazu ermahnt, alle Lokale, wo Alkohol eingeschenkt oder wo gespielt, getanzt usw. wird, am Sonntag rigoros zu schließen. Die Prediger baten die „gasthalter [Herbergswirte], wirte, hauptkannen [Zunftwirte] sampt deren diener ire gest, wa [wenn] die bei jnen solich übel wollten anfahen, darfür alsbald verwarnen vnd Jnen die gesetze straff [energisch] anzeigen, und wo das bei den gesten nit sollte stat finden, jnen kein wein zu solchem laster darreichen“ (Stupperich 1981: 231-232).
Die Predikanten wandten sich auch entschieden gegen alle Unsitten, die den Gottesdienst und die Predigt – vor allem im Münster – störten und dadurch „zu gar grewlichem hon götlicher Maiestät“ führten (Stupperich 1981: 226). Dazu gehörten die Benutzung des Münsters für Spaziergänge, als Ort des Kaufs und Verkaufs, als Übernachtungsstätte, aber auch die Störung durch laute Gespräche oder Schreie in den nahegelegenen Gassen. Die Schilderung der vier Prediger legt nahe, dass Andacht und stilles Benehmen – milde ausgedrückt – noch kein Bestandteil der städtischen Kultur seien, und dass die Störung des Gottesdienstes insbesondere im Münster eine ständige Sorge für die Straßburger Kirche sei.
Die Prediger mahnten also zur sozialen Verantwortung und wollten allen klar machen, dass die militärische Niederlage im Schmalkaldischen Krieg möglicherweise nur der Anfang der göttlichen Bestrafung sein konnte – vor allem wenn die Einwohner der Stadt weiterhin „den Mammon, das ist reichtumb, zum abgott“ machten (Stupperich 1981: 233). Dieser Teil der Argumentation stützt sich auf das Neue Testament, insbesondere auf den ersten Korintherbrief (1 Ko 6,9-10) und auf den Epheserbrief (Ep 5,5), in denen Paulus die Sünder, allen voran die Gierigen, als „Götzendiener“ bezeichnet, also als Übertreter des ersten Gebots: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Die Autoren nutzten diese schwerwiegende Anschuldigung, um wirtschaftliche Praktiken ihrer Zeit zu verurteilen: Wucher, Monopole, freie Preisbildung (die sie wegen ihrer inflationären Auswirkungen ablehnten). Diese finanziellen Handelsund Finanzbräuche sollten, erklärten die Prediger, von der Obrigkeit überwacht und geregelt werden. Sie schlugen außerdem vor, den Zinssatz auf 5 Prozent zu begrenzen, den Satz, den die städtische Münzstätte im Regelfall verlangte. Das „erfordert [die] christliche reformation“, schrieben die Autoren, damit „alle verfortheilung [Übervorteilung] des nechsten“ abgeschafft wird (Stupperich 1981: 233-234).
Der dritte Teil des Gutachtens enthält trotz seiner Überschrift „Wie vnd durch was wege vnd Mittel dise Reformation anzufahen, ins werck zurichten [in Kraft zu setzen] vnd auch daryn möge erhalten werdenn“ (Stupperich 1981: 235) vor allem verfahrensrechtliche Vorschläge. Die Autoren waren in der Tat darauf bedacht, die Obrigkeit als Werkzeug der unausbleiblichen „weiteren Reformation“ durch Historien und
Sogar der neutestamentliche Gott der Gnade, bemerken die Autoren, ließ in der Urgemeinde Todesurteile gegen Ananias und Saphira ergehen (Apg 5, 5-11). Diese göttliche Unerbittlichkeit interpretieren sie als Abschreckungswillen. Und eben weil ein solcher in Straßburg bisher fehlte, habe die Sünde die Oberhand bekommen: „Wie fil tause[n]t leutt hette man geystlich und leyblich mögen erhalten zun ehren Gottes vnd grossem gut der gantzen Christenheit, hette man allein das Zutrinken mit rechtem ernst gestraffet?“ (Stupperich 1981: 238).
Aus diesem Grund fordern die Prediger den Magistrat auf, fünf Maßnahmen zu ergreifen, um die „Christliche reformation“ durchzusetzen:
Erarbeitung einer korrigierten Neufassung der Zuchtordnung aus dem Jahr 1535; Verabschiedung der gebesserten Fassung durch den Rat und die Schöffen; anschließend soll der Text in den Zünften von den Meistern vorgelesen werden; Erleichterung vom „erkundigen [Ermittlung, Untersuchung] und anzeygen der laster“ (Stupperich 1981: 239); Besetzung des Frevelgerichts mit „recht eiferigen, bewerten vnd ernsten Herren“ zur Vollstreckung der Strafen, die in der Zuchtordnung vorgesehen sind (Stupperich 1981: 242); Vorgestraften oder eines Fehlverhaltens bezichtigten Personen darf kein städtisches Amt anvertraut werden (Stupperich 1981: 243).
Dieses Programm, das einer theokratischen Bevormundung der Obrigkeit durch die Kirche gleichkam, ging mit einer expliziten Kritik der „rahts personen“ und „gemeinen Stadtdiener“ einher, welche „auch nit alle des sinnes, wie man wol weyss, das sie alle onfügen [Zuwiderhandlungen, Verstöße], die sie erfaren, wolten anzeygen“ (Stupperich 1981: 240). Es ging den Predigern also darum, das Leben in der Stadt zu säubern, um die strikte Einhaltung der Zuchtordnung zu gewährleisten. Das Frevelgericht sollte deshalb von der politischen Macht unabhängig werden, also in eine kirchliche Institution verwandelt werden. Diese juristische Instanz (auch Policeygericht oder Zuchtgericht genannt) war für niedere Gerichtsbarkeit zuständig: Sittenverstöße, ostentativer Luxus, Betrug, öffentliche Beleidigungen und Skandale (Lienhard 1981: 503).
Am 29. Januar 1548 antwortete der Straßburger Rat mit einem Mandat zur Kirchenzucht (Wolgast 2011: 347-351), das alle „groben Laster“ wieder aufgriff, die von der Eingabe der Prediger angeprangert worden waren. Die Mitglieder des Rates teilten die Auffassung der Prädikanten zur bedrohlichen Situation der Stadt und erklärten sich bereit, gegen diese Laster einzuschreiten, aber legten ansonsten eine auffällige Hilflosigkeit an den Tag:
Daneben hatten wir gehofft, es solte auß gehör Göttlichs Worts täglichs je mehr dahin kommen sein, das meniglich [alle, jedermann] sich selbs beflissen haben solt, dasselbig begirlich zuhören und sein leben und wesen von hertzen darnach anzurichten, darmit es nit allein bei eusserlichem schein, hörung der Predig, bleiben, sonder auch in die werck des lebens gerathen [gelangen, eindringen] [&] (Wolgast 2011: 348). Der Rat stimmte der theologischen Argumentation der Prediger zu und sah ebenfalls die Gefahr einer weiteren göttlichen Strafe ein:
Daher und umb solcher undanckbarkeit willen sonder zweivel der allmechtig zum höchst seinen zorn anbrennen [aufflammen] und zu wol verdienter straff die anzognen [bereits erwähnten] schweren und sorglichen [besorgniserregenden] löuff [Zeitläufte, Ereignisse] uber uns schickt und sich also ansehen laßt [es scheint], das, wo man sich nit inn rechter warheit mit buß, rew und leidt zu ime bekert [sich nach ihm richtet, sich zu ihm hinwendet], seiner bewißnen [bewiesenen, sicheren] Göttlichen gnaden mehr dann bißher danckbar ist und nach seinem willen zu leben sich befleißt, das er es mit uns [.] gäntzlich auß machen [vernichten, ausmerzen] wöll (Wolgast 2011: 348).
Dem Bucerschen Konzept einer Reform des Lebens stimmte die Obrigkeit also zu und strebte auch eine Übereinstimmung der Lebensart ihrer Bürger mit der evangelischen Botschaft an. Das bedeutet, dass der Rat sein Einverständnis für ein härteres Vorgehen gegen die „groben Laster“ der Straßburger, durch eine schärfere Anwendung der Zuchtordnung aus dem Jahr 1535 bzw. für die Verabschiedung einer neuen Fassung, die schließlich im Jahre 1548 in Kraft trat. Aber trotz dieser theologischen Einigkeit schlug der Rat kaum praktische Lösungen zur Sozialdisziplinierung der Straßburger Bevölkerung vor, sondern gab sich zufrieden mit Empfehlungen und Ermahnungen. Außerdem war der Rat strikt gegen die von den Predigern geforderte größere Eigenständigkeit der Kirche und lehnte die Gründung der „christlichen Gemeinschaften“ ab. Bucer und seine Kollegen setzten sich darüber hinweg und gründeten diese Gemeinschaften, die allerdings sehr kurzlebig sein sollten (Bellardi 1934, Greschat 2009: 240-241).
Das Mandat zur Zuchtordnung von 1548 war im Wesentlichen eine Bekräftigung der Mandate, aus denen die Zuchtordnung von 1535 bestand. Das Ergebnis der Eingabe der Prediger an den Straßburger Rat war also viel moderater als der ursprünglich vorgeschlagene Maßnahmenkatalog. Zur Heiligung des Sonntags wollte sich der Rat mit einer öffentlichen Lesung der Mandate in den Versammlungen der Zünfte begnügen, was sicherlich nicht im Sinne der Kirchenleitung war. Die Erziehung der Jugend blieb Sache der Eltern, und gegen Unzucht und Trunkenheit wurden keine besonderen Maßnahmen beschlossen. Das Ergebnis war für die Prediger ernüchternd: offensichtlich war der Magistrat nicht bereit, repressivere Regelungen zur Disziplinierung und Sozialkontrolle durchzusetzen.
Die Straßburger Obrigkeit empfand die Predigten Bucers und seiner Kollegen zur „weiteren Reformation“ als übertrieben. Der Magistrat hoffte deshalb, mit der Neufassung der Zuchtordnung dem Streit zwischen Kirchenleitung und Obrigkeit ein Ende zu setzen. Bucer antwortete mit der Schrift
Der Streit zwischen Martin Bucer und dem Straßburger Magistrat der Jahre 1547-1548 verdeutlicht geradezu beispielhaft die Bedeutung der Kirchenzucht in der frühen lutherischen und vor allem reformierten Konfessionalisierung. In vieler Hinsicht hat die „Zucht“, die in den calvinistischen Kirchen ihre stärkste Ausprägung fand, eine wichtige Rolle im Übergang zur Moderne gespielt. So bemerkt der Historiker Heinz Schilling zu den calvinistischen Ältesten, die mit dem Auftrag der Kirchenzucht betraut wurden:
[sie] erwiesen sich nicht nur als Agenten eines geschlossenen Glaubensund Weltanschauungssystems, sondern auch und vor allem als Motoren der modernen Affektenkontrolle, des vernünftig-gemäßigten Lebensstils, der Ausdauer und Selbstdisziplinierung sowie der nüchternen Verantwortlichkeit für das eigene Leben und dasjenige des Nächsten in Ehe, Familie, Gemeinde und Gesellschaft. (Schilling 1992: 11).
Der Versuch Bucers, das Evangelium auch „in die werck des lebens gerathen“ zu lassen, also das Alltagsleben und die kulturellen Bräuche der Stadt Straßburg zu reformieren, konnte der Reformator aufgrund der historischen Ereignisse nicht zu Ende führen. Das Projekt einer wahren christlichen „Liebesgemeinschaft“ hat er nach dem Vorbild der Urkirche geplant und unter den schwierigen Bedingungen der protestantischen Niederlage von 1547 und der bevorstehenden Wiederherstellung des römisch-katholischen Kultus nach Unterzeichnung des Augsburger Interims in die Wege geleitet. Die theokratische Ausrichtung der Vorstöße eines Teils der protestantischen Pfarrerschaft blieb nicht unbemerkt: die Errichtung von elitären „christlichen Gemeinschaften“, aber auch der Wille, das Leben und die städtische Alltagskultur zu reformieren und letztendlich zu kontrollieren, führten zu einem Konflikt zwischen weltlicher Obrigkeit und Stadtkirche. Die Suche nach einer durchsetzbaren Zuchtordnung, die für alle Stadtbewohner unmittelbare Geltung haben sollte, wurde vom Magistrat als unzumutbare Einmischung in die eigene Zuständigkeit betrachtet. Die Reglementierung des Alltags und seiner Bräuche, vornehmlich der Unterhaltungspraxen zwecks Heiligung des Sonntags, die sich auf die Heilige Schrift, aber auch auf das von den meisten Reformatoren9 stigmatisierte zeitgenössische Judentum stützte, war ohne die Mitwirkung des Magistrats schwer durchführbar, genauso wie die Kontrolle und Bekämpfung anderer „groben Laster“.
Kurzbiographien (s. Kaufmann 2009: 797-828):
Martin Bucer (1491-1551), der aus Schlettstadt (heute Sélestat) gebürtige Straßburger Reformator war 15061521 Dominikaner und wurde 1516 zum Priester geweiht. Nach einem Studium in Heidelberg schloss er sich 1518 der lutherischen Reformation an und wurde zur führenden Persönlichkeit der Reformation im Südwesten des Heiligen Römischen Reichs. Seit 1523 war er faktisch das Oberhaupt der Straßburger protestantischen Kirche. 1529 zum Pastor der Thomaskirche gewählt, spielte er im gesamten Südwesten eine wichtige religiöse und politische Rolle. Im Abendmahlsstreit 1525-1536 versuchte er – allerdings erfolglos – zwischen Luther und Zwingli bzw. den „oberdeutschen“ und Schweizer Reformatoren zu vermitteln. Im Zeitraum 1539-1547, seinen letzten Jahren in Straßburg, musste er etliche politische Niederlagen erleiden, die ihm hart zusetzten. Er nahm 1549 einen Ruf nach Cambridge an, wo er bis zu seinem Tod 1551 Theologie lehrte. Als Theologieprofessor in Cambridge war er ein wichtiger Übermittler reformierten Gedankenguts in England, aber auch in vielen protestantischen Gebieten Europas.
Matthäus Zell (1477-1548) aus Kaysersberg, seit 1518 Prediger am Straßburger Münster, war der erste Geistliche, der in der Freien und Reichsstadt im Sinne Luthers predigte (ab 1521). Mit seinen Predigten erfreute er sich großer Beliebtheit bei den einfachen Menschen. Als volkstümlicher Prediger, dessen Hauptanliegen vor allem die Seelsorge und die Erziehung war, wurde er in den konfliktreichen Jahren des Schmalkaldischen Krieges (1546-1547) und des Augsburger Interims (1548) von der städtischen Obrigkeit immer geschont und geschützt.
Johannes Marbach (1521-1581) aus Lindau am Bodensee promovierte 1543 in Wittenberg bei Luther und Melanchthon. Er ließ sich 1545 auf Bucers Bitte hin in Straßburg nieder und wurde Prediger an der Nikolauskirche. Als Kirchenorganisator war er ein wichtiger Mitarbeiter Bucers. Nach dem Tod Caspar Hedios (Bucers Nachfolger seit 1549) im Jahr 1555 übernahm Marbach die Leitung des Kirchenkonvents, des vom Rat beauftragten Leitungsgremiums der Straßburger Kirche.
Paul Fagius – eigentlich Büchelin – (1504-1549) aus Rheinzabern bei Germersheim, studierte in Heidelberg u. a. mit Bucer und wurde zu einem der einflussreichsten christlichen Hebraisten seiner Zeit. Er war zunächst in Isny im württembergischen Allgäu tätig, wo er die erste hebräische Druckerei des Reiches gründete. Er ließ insbesondere Lehrwerke zum Studium des Hebräischen drucken, in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Philologen und Humanisten Elijah Levita. 1544 wurde Fagius auf den Lehrstuhl für Altes Testament in Straßburg berufen. Als Gegner des Augsburger Interims verließ er 1549 mit Bucer die Stadt und wanderte nach Cambridge aus, wo er Hebräisch unterrichtete und nach etwa sechs Monaten verstarb.
Caspar Hedio (1494-1552) stammte aus dem badischen Ettlingen und studierte Theologie in Freiburg im Breisgau und Basel. Nach seiner Promotion 1519 bekleidete er in Mainz verschiedene geistliche Ämter, bis er 1523 zum Prediger am Straßburger Münster ernannt wurde. Zusammen mit Bucer und Capito trug er zum Aufbau der protestantischen Kirche Strassburgs bei. Er reformierte das Schulwesen und nahm häufig an Disputationen gegen Altgläubige teil. Sein Einfluss ging weit über die Grenzen Straßburgs und des Elsasses hinaus: Durch seine Beratertätigkeit wirkte er auch in seiner badischen Heimat sowie in der Pfalz und in zahlreichen oberdeutschen Städten. Hedio war auch als Übersetzer tätig. Er wird darüber hinaus als einer der ersten protestantischen Kirchenhistoriker betrachtet. Nach der Durchsetzung des Augsburger Interims legte er aus Protest sein Predigeramt nieder.
Wolfgang Capito (1478-1541) aus dem elsässischen Hagenau: er studierte an den Universitäten Ingolstadt, Freiburg im Breisgau und Heidelberg und war vor allem als Prediger, Hebraist und Theologe bekannt. 1523 zog er nach Straßburg, wo er am Thomasstift, später an der Jung-Sankt Peter-Kirche predigte. Capito war Verfasser oder Mitverfasser zahlreicher grundlegender Schriften, z. B. der Confessio Tetrapolitana (1530) oder der Wittenberger Konkordie (1536), einer Einigung zwischen Luther und Bucer in der Frage des Abendmahls. Er starb im November 1541 an der Pest.