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30 Jahre Mauerfall in der französischen Presse

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„1989/90 – 30 Jahre danach: Welche Erinnerungen? 30 ans après: quelles mémoires?”

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Das Jubiläum des Mauerfalls 1989 hat in der französischen Presse ein breites Echo gefunden. Für den vorliegenden Beitrag wurden über hundert Artikel, die in Frankreich am 9. November 2019 und in der Woche vor dem Jahrestag des Mauerfalls erschienen sind, untersucht und rezensiert. Die Artikel waren in bedeutenden Tageszeitungen und wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazinen veröffentlicht worden. Was ihre Verbreitung betrifft, so gehören die hier ausgewählten Tageszeitungen, laut Auflistung der ACPM

Die ACPM (Alliance pour les Chiffres de la Presse et des Médias) erhebt Statistiken über Verbreitung und Verteilung der Zeitschriften.

für das Jahr 2019, zu den acht größten Vertretern der Tagespresse. Es handelt sich dabei um folgende Zeitungen: Le Figaro, Le Monde, Les Echos, La Croix, Libération, L’Humanité. Zur besseren Repräsentativität der französischen Printmedien wurden zusätzlich die Tageszeitung L’Opinion, wegen ihrer pro-europäischen Einstellung, und La Dépêche du Midi, als Beispiel einer regionalen Tageszeitung, ausgewählt. Bei den Wochenzeitschriften fiel die Wahl auf drei national vertriebene Nachrichtenmagazine, L’Express, L’Observateur, Le Point, sowie das monatlich erscheinende Blatt Le Monde diplomatique, das international weit verbreitet ist.

Durch diese breitangelegte Auswahl ist ein großes Spektrum an ideologischen Grundeinstellungen, die sich in der jeweiligen redaktionellen „Philosophie“ spiegeln, angesprochen, die von rechts bis linksextrem, von liberal bis äußerst kapitalismuskritisch reichen. Ziel der Untersuchung ist es, die Sichtweisen und Interpretationen in den Darstellungen, die dem Mauerfall als politisches und historisches Ereignis gewidmet sind, herauszuarbeiten. Zunächst sollen jedoch die ausgewählten Presseorgane kurz vorgestellt werden, um danach deren thematische Lektüre und Interpretation zu präsentieren.

Die von der ACPM durchgeführte „Rangfolge der Verbreitung nationaler Tagespresse in Frankreich für 2019“ basiert auf der Zählung der täglich von der jeweiligen Ausgabe verkauften Exemplare. An erster Stelle steht Le Figaro mit 325.938 Exemplaren. Das 1826 gegründete Blatt ist die älteste der heute noch veröffentlichten französischen Tageszeitungen. Die angestrebte redaktionelle Grundeinstellung ist liberal bis konservativ, europafreundlich, aber der nationalen Kultur verpflichtet,

„Libéral mais pas dogmatique, conservateur mais pas passéiste, européen mais pas eurobéat, attaché à défendre la culture française mais ouvert sur le monde“ (Liberal, doch nicht dogmatisch, konservativ aber nicht rückwärtsgewandt, europäisch aber nicht von einem einfältigen Europaoptimismus ergriffen, der französischen Kultur verpflichtet aber weltoffen), Brézet, Alexis, Leitartikel, 28.03.2013, https://www.lefigaro.fr/mon-figaro/2013/03/27/10001-20130327ARTFIG00729--le-figaro-se-reinvente.php.

seine Leserschaft fühlt sich zur Rechten oder zur rechten Mitte zugehörig. Le Monde folgt mit 325.565 Exemplaren dicht auf Platz zwei der Tabelle für 2019.

Le Monde steht auch manchmal an erster Stelle. Vgl. Bonacossa, Caroline, „Le Monde, quotidien le plus vendu en France en avril 2019“, 12.06.2019, https://www.strategies.fr/actualites/medias/4030535W/le-monde-quotidien-le-plus-vendu-en-france-en-avril-2019.html.

Die Zeitung wurde 1944 gegründet und ihre Orientierung liegt Mitte-Links wie auch ihre Stammleser.

51 % der Linkswähler bezeichnen sich 2014 als Leser von Le Monde. „IFOP en partenariat avec Marianne. Sondage du 04/04/2014. Analyse du vote au premier tour des élections municipales en fonction des habitudes médias“, https://www.ifop.com/publication/analyse-du-vote-au-premier-tour-des-elections-municipales-en-fonction-des-habitudes-medias/.

Mit 130.059 Exemplaren hält Les Echos, 1908 gegründet, den vierten Rang.

Die Sporttageszeitung L’Equipe steht an dritter Stelle mit 233.791 verkauften Exemplaren.

Dieses Informationsblatt für Wirtschaft und Finanzen ist traditionell liberal und pro-europäisch, Verfechter der Marktwirtschaft und dem internationalen Geschehen zugewandt.

„quotidien économique ouvert sur l’international et les grandes entreprises“, „libéral, européen et résolument opposé à l’économie étatisée“ („eine weltoffene und unternehmerfreundliche Wirtschaftstageszeitung“, „liberal, europäisch und entschieden gegen staatliche Eingriffe in die Wirtschaft“), Gaston-Breton, Tristan, „‘Les Echos’: un nouveau média qui n’a de cesse de se réinventer“, 12.10.2018, https://www.lesechos.fr/idees-debats/editos-analyses/les-echos-un-media-qui-na-cesse-de-se-reinventer-141653, „favorable à l’économie de marché et à la liberté d’entreprendre“ (für die Marktwirtschaft und die Unternehmerfreiheit), https://www.lesechos.fr/ethical-code.

Die 1883 gegründete Tageszeitung La Croix ist katholisch und bekennt sich, trotz Änderungen in jüngster Vergangenheit, zur christlichen Identität.

„un quotidien qui affirme clairement son identité catholique mais refuse de s’y enfermer“, (eine Tageszeitung, die offen zu ihrer katholischen Identität steht, ohne sich auf sie zu beschränken), Carasco, Aude, „La Croix marque sa différence avec une nouvelle formule“, 19.01.2016, https://www.la-croix.com/Economie/Medias/La-Croix-marque-difference-avec-nouvelle-formule-2016-01-19-1200732198.

Mit 87.682 Exemplaren ist sie die sechstgrößte nationale Tageszeitung in punkto verkaufter Auflage. Libération, ursprünglich mit Unterstützung von Jean-Paul Sartre 1974 gegründet, heute an die linke Mitte und die sozialdemokratische Linke gerichtet, steht mit 71.466 Exemplaren an siebter Stelle. Mit 36.621 verkauften Exemplaren auf französischem Staatsgebiet ist L’Humanité die achtgrößte nationale Tageszeitung. 1904 von Jean Jaurès ins Leben gerufen, ist sie auf der äußeren Linken angesiedelt und steht weiterhin der Kommunistischen Partei nahe, nachdem sie von 1920 bis 1994 deren zentrales Organ gewesen war.

Vgl. Clérin, Cédric, „Les 1001 naissances de l’Humanité“, 18.04.2019, https://www.humanite.fr/presse-les-1-001-naissances-de-lhumanite-671054.

Bei 41.000 Exemplaren hat die 2013 gegründete Tageszeitung L’Opinion eine klare publizistische Linie und bezeichnet sich als „liberal, unternehmerfreundlich, europäisch“.

„libérale, pro-business, européenne“, https://www.lopinion.fr/qui-sommes-nous.

Schließlich ist La Dépêche du Midi mit 125.824 Exemplaren die elftgrößte regionale Tageszeitung.

Unter den französischen Wochenzeitschriften verkauft das 1972 gegründete und Mitte-Rechts stehende Nachrichtenmagazin Le Point 292.795 Exemplare pro Ausgabe. Dicht darauf folgt mit 215.877 Exemplaren L’Obs, 1964 unter dem Namen Le Nouvel Observateur

Die Zeitung trägt bis 2014 diesen Namen.

gegründet. Das Blatt rechnet sich selbst zur sozialdemokratischen Bewegung.

„La charte“, 15.12.2006, https://www.nouvelobs.com/medias/20061215.OBS3094/la-charte.html.

Die Wochenzeitschrift L’Express, die sich der europäischen Idee und der Öffnung der Märkte gegenüber positiv äußert, wurde 1953 ins Leben gerufen und hat eine Auflage von 201.126 Exemplaren. Die 1954 gegründete Monatszeitschrift Le Monde diplomatique verfügt 2019 über eine Verbreitung von 143.872 zahlenden Lesern. Sie wird in 19 Sprachen übersetzt, behandelt hauptsächlich internationale Themen und bekennt sich zu einer kritischen Einstellung gegenüber Kapitalismus, Freihandel und Militarismus.

https://www.monde-diplomatique.fr/diplo/apropos/.

Legt man diesen ausgewählten Medien mit dem Schwerpunkt Mauerfall eine detaillierte und thematisch ausgerichtete Untersuchung zugrunde, so können sechs Schwerpunkte herausgearbeitet werden. Ein erster Schwerpunkt (die Hälfte der Artikel, wobei es oft Überschneidungen mit einem der anderen Schwerpunkte gibt) liegt auf punktuellen historischen Ereignissen, die im Zusammenhang mit dem Tagesablauf am 9. November oder in den Wochen vor dem Mauerfall stehen. Oft wird Zeitzeugen dieser Ereignisse das Wort gegeben, dabei auch Journalisten, die sich zum Zeitpunkt des Mauerfalls in Berlin aufgehalten hatten. Mitunter sind es auch historische Persönlichkeiten, denen, wie Michail Gorbatschow, eine herausragende Rolle in jener Zeit zukam. Ein zweites wichtiges Thema (25% der Artikel) ist die Erinnerung und die Frage nach der „Vergangenheitsbewältigung“ der DDR. Die heutige Disparität zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands ist eine dritte, oft behandelte Problematik (20% der Artikel). In einer vierten Gruppe von Themen wird ebenfalls das Gedenken an den Mauerfall debattiert, jedoch mit Blick auf die veränderte Erinnerungsperspektive anlässlich des 30. Jahrestages (15% der Artikel). Europa, seine Zukunft, seine Schwerpunkte und deren Zusammenhang mit dem Mauerfall bilden den fünften behandelten Themenkreis (25%). Der sechste Punkt betrifft die ideologische Debatte über das „Ende der Geschichte“ und die Auslegung des Mauerfalls als richtungsweisendes Ereignis im Zusammenhang mit der Entwicklung und der Entstehung des Modells der pluralistischen Demokratie (15% der Artikel).

Unter den Artikeln, deren Schwerpunkt auf dem geschichtlichen Überblick der Ereignisse liegt, behandelt eine kleine Zahl die Geschichte der Berliner Mauer, ihre Errichtung

Vaulerin, Arnaud, „La nuit où les Soviétiques ont fait le Mur“, in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“ (27–36), Nr. 11948, 2-3.11.2019, 34–35.

oder den Handlungsablauf am 9. und 10. November 1989.

Rousseaux, Nicolas, „Le 9 novembre 1989. Une journée très particulière“, in Les Echos Weekend, Supplément au n° 23071, Les Echos, 8.-9.11.2019, 36–37; Avril, Pierre, „9 novembre 1989: le jour qui a transformé l’Europe“, in Le Figaro, Nr. 23401, 9-10.11.2019, 2–3; Piérot, Jean-Pierre, „Le 9 novembre 1989, les retrouvailles allemandes“, in L’Humanité, Nr. 22803, 8.-10.11.2019, 6–7; Dorman, Veronika, „Et pendant ce temps, à Moscou, Gorbatchev dormait“, in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11951, 6.11.2019, 6–7.

Die Mehrheit der Artikel erwähnt eher die ersten Risse im Eisernen Vorhang und die Rolle der ehemaligen Satellitenstaaten des Ostblocks von März bis November 1989, die Durchtrennung des Eisernen Vorhangs an Ungarns Grenze, das paneuropäische Picknick in Sopron

Haquet, Charles, „Hongrie. Le jour où le Rideau de fer s’est enfin déchiré“, in L’Express, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après“ (26–55), Nr. 3566, 6-12.11.2019, 40–44; Didelot, Nelly, „Le Rideau de fer déchiré à la frontière hongroise“, Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11950, 5.11.2019, 14–15; Lorrain, François-Guillaume, „Le pique-nique“, in Le Point, Dossier „Chute du Mur, Histoire inattendue“ (52–61), Nr. 2463, 7.11.2019, 56–59.

oder die Besetzung der bundesdeutschen Botschaft in Prag

Massiot, Aude, „A Prague, l’ambassade de RFA ouvre une brèche“, in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11952, 7.11.2019, 8–9.

. Die Tendenz, Themen und bekannte Persönlichkeiten des ehemaligen Ostblocks in den Vordergrund zu stellen, wird auch in den zahlreichen Gesprächen mit Leitfiguren und Politikern der kommunistischen Länder deutlich, wie in Interviews und Porträts nicht nur von Michail Gorbatschow

Gorbatchev, Mikhaïl, „Nous avons pris la seule décision acceptable“, (das Gespräch führte Laure Mandeville), Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 8; Mandraud, Isabelle, „Le testament ambivalent de Mikhaïl Gorbatchev“, in Le Monde, Nr. 23273, 7.11.2019, 29.

und seinen engen Beratern

Fedorovski, Vladimir, „Le soir de la chute du Mur, Gorbatchev aurait demandé qu’on ne le réveille pas“, (das Gespräch führte Gilles Sengès), in L’Opinion. Quotidien libéral//politique, économie, international, Nr. 1629, 8-9.11.2019, 8; Fédorovski, Vladimir, „Les derniers secrets du mur“, in L’Express, (wie Anmerkung 15), 48–49, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après; Gratchev, Andreï, „En 1989, personne n’était préparé à ce bouleversement historique“, in Le Monde, Nr. 23273, (wie Anmerkung 17), 28.

, sondern auch von Lech Walesa

Walesa, Lech, „Les Polonais ont cassé quelques dents à l’ours soviétique“ (das Gespräch führte Justine Salvestoni), in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11949, 4.11.2019, 6–7; Walesa, Lech „Je pensais être le dernier révolutionnaire de mon pays“, (das Gespräch führte Jean-Baptiste François, Übersetzung Magdalena Viatteau, Laure Mandeville), in La Croix, Nr. 41554, 9.-10.11.2019, 10–16; François, Jean-Baptiste, „Portrait. Un homme controversé mais populaire“, ebd., 17; François, Jean-Baptiste, „Lech Walesa. En aparté“, ebd., 18.

oder anderen polnischen Politikern.

Kwasniewski, Aleksander, „L’année 1989 est la meilleure de l’histoire de la Pologne“, (das Gespräch führte Clément Daniez), in L’Express, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après“, (wie Anmerkung 15), 50–51; Michnik, Adam, „C’est en Pologne, avec Solidarnosc, que le mur de Berlin s’est fissuré“, in Le Monde, Nr. 23274, 8.11.2019, 24.

Diese Art, die Aufmerksamkeit auf das Verdienst Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei als Vorreiter der 1989er-‚Revolution‘ zu lenken, ist eine Parallele zur Haltung der deutschen Regierung. Schließlich waren bei den Berliner Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls nur die Präsidenten Polens, Ungarns, der Slowakei und der Tschechischen Republik zugegen. Die Abwesenheit westlicher Regierungsvertreter kommentierte vor allem L’Express.

„L’Allemagne commémore la chute du mur de Berlin“, 9.11.2019, https://www.lexpress.fr/actualite/monde/europe/comment-l-allemagne-commemore-la-chute-du-mur-du-berlin_2106346.html.

Neben der Befragung großer politischer Persönlichkeiten werden auch Zeugen aus künstlerischen und intellektuellen Milieus der DDR in den Vordergrund gestellt, am weitaus häufigsten Dissidenten und Regimekritiker, so etwa der Schriftsteller Christoph Hein in der Zeitung La Croix, der dort als „klarsehender Chronist“

Alençon, François, „D’une Allemagne à l’autre“, in La Croix, Nr. 41552, 7.11.2019, 26–27.

(chroniqueur lucide) eines von der Ost-West-Fraktur gekennzeichneten Landes beschrieben ist, oder auch Wolf Biermann.

Biermann, Wolf, „Wolf Biermann, entretien ‘Mme Liberté n’embrasse pas M. Barbelés’, (das Gespräch führte Thomas Wieder), in Le Monde, Nr. 23274, (wie Anmerkung 20), 25.

Manche der Befragten sind aus der Zeit nach dem Mauerfall bekannt. Es überwiegen Überlegungen der Verfasser zu Unwägbarkeiten und Fehlern im Wiedervereinigungsprozess. Ein Beispiel dafür ist das Interview mit dem ehemaligen Pressesprecher der Treuhandgesellschaft Wolf Schöde.

Schöde, Wolf, „La plus grande erreur a certainement été le facteur humain“, (das Gespräch führte Ninon Renaud), in Les Echos, Nr. 23071, (wie Anmerkung 14), 7.

Der Verlauf des Mauerfalls wird von anderen Journalisten so wiedergegeben, wie sie ihn 1989 erlebt hatten.

Chalier, Pierre, „Il y a 30 ans, la chute du Mur de Berlin“, in La Dépêche du Midi, 9.11.2019, 2–3; André, Luc, „Est-Ouest: Comment réduire la facture allemande?“, in L’Opinion, (wie Anmerkung 18), 1–3, hier 2; Joffrin, Laurent, „Trouble nostalgie“, Leitartikel, in Libération, Nr. 11954, 9.-11.2019, 2.

So überlässt Libération den Reportern und Fotografen das Wort, die im November 1989 zugegen waren.

Auffray, Alain, „Cette nuit-là, je n’ai pas eu besoin de mon passeport“, in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11953, 8.11.2019, 6–7; Weiss, Maurice, „‘Berlin-Est était comme un autre pays. Il y avait du bordel partout’“ (das Gespräch führte Johanna Luyssen), (wie Anmerkung 13), 32–33.

Die diachrone Perspektive ermöglicht dementsprechend eine vergleichende Sicht auf die Zeit vor und nach der Wende mit dem Vorschlag einer Neuauslegung des Mauerfalls, wobei die Gefahr besteht, dass dabei eine teleologische Sichtweise der Vergangenheit entsteht. L’Obs traf die Wahl, Artikel wieder zu veröffentlichen, die schon in älteren Ausgaben zwischen 1989 und 1994 abgedruckt worden waren,

Muller, Marie / Stern, Jean, „Jours tranquilles à Berlin-Est. Paru dans le n° 838, 01/12/1980“, in Cahier Historique. Mur de Berlin. Le jour où le monde a basculé“ (1–48), in L’Obs, Cahier n°1 de l’édition, n° 2870, 7-13.11.2019, 8–11; Caviglioli, François, „Nuits blanches à Varsovie. Paru dans le n°1028, 20/7/1984“, ebd., 12–17; Mari, Jean-Paul, „Le printemps de Leipzig“. Paru dans le n°1303, 26/10/1989“, ebd., 20–21; Muller, Marie, „Le grand bal des cousins pauvres. Paru dans le n°1306, 16/11/1989“, ebd., 22–25; Schlosser, François, „Les vieux ennemis de la liberté. Paru dans le n°1317, 1/2/1990“, ebd., 40–43.

mit der Absicht, geschichtliche Dokumente (documents d’histoire immédiate),

„voici, ce que nous écrivions sur le moment. Des documents d’histoire immédiate, qui disaient l’espoir immense – et, déjà, la vigilance“, Jauvert, Vincent, „Le Mur et nous“ (1–48), in L’Obs, Dossier „Cahier Historique. Mur de Berlin. Le jour où le monde a basculé“, (wie Anmerkung 27), 3.

Artikel, Reportagen und Gespräche mit herausragenden Persönlichkeiten

Havel, Václav, „Václav Havel. Le théâtre de la Dissidence. Paru dans le n°1288, 13/07/1989“ (das Gespräch führte Elisabeth Schemla), ebd., 18–19.

auszugraben. Durch den Vergleich zwischen den älteren Artikeln und denen, die im November 2019 erschienen sind, lässt sich ebenfalls feststellen, dass den zwei Wochen vor dem Mauerfall eine große Bedeutung beigemessen wurde, um die Idee zu betonen, dass der Ablauf der Ereignisse unausweichlich war.

Jauvert, Vincent, „Les seize jours qui ont changé le monde. Paru dans le n°1565, 3/11/1994“, ebd., 30–35.

Zudem ergibt sich manchmal aus dieser Gegenüberstellung und parallelen Betrachtung die Diskrepanz zwischen der damaligen Geisteshaltung und der Bedeutung, die im Nachhinein dem Mauerfall zugeschrieben wurde, wodurch Deutungsverschiebungen im zeitlichen Verlauf hervorgehoben werden. So schildert ein Artikel vom 2.-3. November 2019, wie die Schriftstellerin

Vgl. u.a. La Robe de Hannah. Berlin 1904–2014, Paris, Les Arènes, 2014.

und Korrespondentin von Libération, Pascale Hughes, nach der historischen Pressekonferenz von Günter Schabowski versucht hatte, ihre Pariser Redaktion zu erreichen; die Redaktion schien jedoch kaum am Besuchsvisum für Ostbürger interessiert gewesen zu sein, denn die Korrespondentin erhielt als Antwort: „Nun beruhige dich, wir streiken gerade“ („Calme-toi on est en grève“).

Péron, Didier, „Calme-toi, on est en grève“, in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, (wie Anmerkung 13), 36.

Am nächsten Tag erschien keine Ausgabe von Libération, aber die Zeitung machte es am Samstag den 11. November 1989 durch die Veröffentlichung einer 17 Seiten langen Doppelausgabe wieder wett. Im Gegensatz dazu geben andere Zeitungen an, einen historischen Moment und das Gefühl vom Ende einer Epoche oder gar eines Jahrhunderts sehr bewusst erlebt zu haben.

Daniel, Jean, „L’Adieu au siècle. Paru dans le n°1317, 1/2/1990“, (wie Anmerkung 27), 36–39.

Die Tendenz zur Historisierung der ideologischen Debatten, da sie mit den Begriffen vom Ende des Jahrhunderts und der Ideologien in Verbindung gebracht wird, ist übrigens ein Leitmotiv in der französischen Presse wie noch zu zeigen sein wird.

Die dritte Gruppe von Artikeln behandelt die Vergangenheit der DDR und ihre spezifische Identität. Diese Artikel thematisieren einerseits das Überwachungssystem in der DDR

De Barochez, Luc, „Le puzzle secret de la Stasi“, in Le Point, Dossier „Chute du Mur, Histoire inattendue“, (wie Anmerkung 15), 60–61.

, andererseits die Problematik der ostdeutschen Erinnerung und kollektiven Identität, vor allem in den zahlreichen Artikeln über Nicolas Offenstadts Buch Urbex RDA.

Offenstadt, Nicolas, Urbex RDA. L’Allemagne de l’Est racontée par ses lieux abandonnés, Paris, Albin Michel, 2019; Offenstadt, Nicolas, „Ex-RDA, l’histoire par les friches. Interview de Nicolas Offenstadt“, (das Gespräch führte Catherine Calvet), in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“, Nr. 11952, (wie Anmerkung 16), 22–24.

Auch in Artikeln, die nicht ausschließlich diesem Autor gewidmet sind, wird er oft erwähnt.

Wieder, Thomas, „En Allemagne, la double-vie de l’ex-RDA“, in Cahier du Monde „30 ans après la chute du Mur“, Nr. 23276, 10.-13.11.2019, 2–3, hier 3.

Darüber hinaus wird das Thema der ostdeutschen Identität auch in Abhandlungen behandelt, die die Frage aufwerfen, wie sich der Alltag und die Vergangenheit der ehemaligen DDR-Bürger am zutreffendsten ausdrücken ließe. Dies wird z.B. in Libération

Camarade, Hélène, „En RDA, l’humour permettait une distance critique, jouer avec le langage soulignait l’écart entre le discours officiel et réalité“, (das Gespräch führte Emmanuèle Peyret), in Libération, Nr. 11954, (wie Anmerkung 25) 22–23.

in einem Interview mit Hélène Camarade zu ihrem Buch Les Mots de la RDA

Camarade, Hélène / Goepper, Sybille, Les Mots de la RDA, Toulouse, Presses universitaires du Midi, 2019.

über Humor und Witze in der DDR deutlich.

Die zweite Gruppe von Artikeln macht den Wiedervereinigungsprozess und die anhaltende Ost-West-Disparität zum Gegenstand der Untersuchung, wobei die Gewinne der AfD in den Gebieten der ehemaligen DDR ausdrücklich unterstrichen werden.

Chalier, Pierre, „Il y a 30 ans, la chute du Mur de Berlin“, in La Dépêche du Midi, (wie Anmerkung 25), 2–3, hier 3; Rioux, Philippe, „L’Allemagne de l’Est de la dictature à la démocratie, de la liberté aux disparités“, ebd., 2; Fekl, Matthias, „Le 9 novembre, journée européenne de la liberté“, in L’Opinion, (wie Anmerkung 18), 4 ; Odent, Bruno, „La Thuringe malade d’une réunification qui n’a pas eu lieu“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 5–6, hier 5; Piérot, Jean-Pierre, „Le 9 novembre 1989, les retrouvailles allemandes“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), Nr. 22803, 6–7, hier 7; Rioux Philippe, „L’Allemagne de l’Est, de la dictature à la démocratie, de la liberté aux disparités“, in La Dépêche du Midi, (wie Anmerkung 25), 2; André, Luc, „Est-Ouest: Comment réduire la facture allemande?“, in L’Opinion, (wie Anmerkung 18), 1–3, hier 2; Wieder, Thomas, „En Allemagne, la double-vie de l’ex-RDA“, in Cahier du Monde „30 ans après la chute du Mur“, Nr. 23276, 10.-12.11.2019, 2–3; Grésillon, Boris, „Un mur peut en cacher un autre. En ex-RDA, des citoyens de seconde zone“, in Le Monde diplomatique, Nr. 788, November 2019, 16–17.

Die Aufmerksamkeit wird auf die Spaltung und das Unbehagen eines „zusammengeflickten Landes“ gelenkt, in dem sich die ehemaligen Bürger Ostdeutschlands als zweitklassige Bürger vorkämen.

Saint-Paul, Patrick, „En Allemagne de l’Est, l’étrange mal de vivre des Ossis, in Le Figaro, 9.-10.11.2019, Nr. 23401, 4–5; Saint-Paul, Patrick, „Platzeck: ‘La séparation était plus profonde que nous ne le pensions’“, Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 5.

Oft kommt diese Feststellung in Reportagen zum Ausdruck.

Odent, Bruno, „La Thuringe malade d’une réunification qui n’a pas eu lieu“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 5–6; Hauteville, Jean-Michel, „Le pari gagné d’Iéna, ‘ville lumière’ de Thuringe“, in Le Monde, Nr. 23272, 6.11.2019, 15; Hauteville, Jean-Michel, „A l’est de l’Allemagne la réunification n’a pas été si florissante“, ebd., 14–15; Hauteville, Jean-Michel, „Le retour au pays des ‘revenants’“, ebd., 14.

Noch weiter gehen andere Artikel, die die Art und Weise offen kritisieren, wie die Wiedervereinigung verlief

Collomp, Florentin, „Le titanesque défi inachevé de la réunification économique“, in Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 6–7; Odent, Bruno, „La Thuringe malade d’une réunification qui n’a pas eu lieu“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 5–6.

und dabei vor allem die Rolle der Treuhand anprangern.

Philippot, David, „Quand les ‘hommes en noir’ de la Treuhand liquidaient les usines de l’Est“, in Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 6–7; Knaebel, Rachel / Rimbert, Pierre, „Liquider une société“, in Le Monde diplomatique, (wie Anmerkung 39), 14.

Manche Artikel vertreten die These einer Annektierung der DDR durch die Bundesrepublik, wobei die ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft als Opfer einer Liquidierungsstrategie dargestellt werden. Diese oft formulierte These

Knaebel, Rachel / Rimbert, Pierre, „Il y a trente ans, la chute du Mur de Berlin. Allemagne de l’Est, histoire d’une annexion“, in Le Monde diplomatique, (wie Anmerkung 39), 1, 14–15; Chalier, Pierre, „Il y a 30 ans, la chute du Mur de Berlin“, in La Dépêche du Midi, (wie Anmerkung 25), 2–3.

beruht auf einer Darlegung von Argumenten, die das Bild einer hinkenden und asymmetrischen Wiedervereinigung aufzeigen, von der vor allem Westdeutschland profitiert hätte.

Knaebel, Rachel / Rimbert, Pierre, „Vieilles dettes et gros bénéfices“, in Le Monde diplomatique, (wie Anmerkung 39), 15.

In ihrer Betonung der Diskrepanz zwischen Ost und West und der Notwendigkeit, das Erbe der Wiedervereinigung neu zu überdenken, schlägt sich der Versuch der französischen Presse nieder, sich als Echo der deutschen Presse zu präsentieren. Wenn die Journalisten eine Veränderung der Erinnerungsperspektive in Deutschland feststellen, beziehen sie sich insbesondere auf die Studien von Raj Kollmorgen. Allgemein wird festgestellt, dass das jetzige Mauerfall-Gedenken sich durch das Eingeständnis der aktuellen Schwierigkeiten in einem gespaltenen Deutschland von der vorherigen Euphorie unterscheidet.

Renaud, Ninon, „Berlin fête les trente ans de la chute du Mur sans euphorie“, Les Echos, (wie Anmerkung 14), 7; Knaebel Rachel / Pierre Rimbert, „Il y a trente ans, la chute du Mur de Berlin. Allemagne de l’Est, histoire d’une annexion“, in Le Monde diplomatique, (wie Anmerkung 39), 1, 14–15, hier 1.

Die Hoffnung, der deutschen Teilung den Rücken gekehrt zu haben und eine Welt erreicht zu haben, die den Triumph der liberalen Demokratie über die Diktaturen feiern würde, habe sich als illusorisch erwiesen, was die Zurückhaltung bei den Gedenkfeierlichkeiten erkläre.

Avril, Pierre, „Des commémorations empreintes de discrétion“, in Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 3.

Wenn dieser Mangel an Begeisterung von manchen kritisiert wird, die ihrerseits den Triumph von Demokratie

Fekl, Matthias, „Le 9 novembre, journée européenne de la liberté“, in L’Opinion, (wie Anmerkung 18), 4; Jauvert, Vincent, „Le Mur et nous“, in L’Obs, Dossier „Cahier Historique. Mur de Berlin. Le jour où le monde a basculé“, (wie Anmerkung 27), 3.

und Freiheit

Leitartikel, „Mur de Berlin: ne nous trompons pas de funérailles“, in Le Monde, Nr. 23276, (wie Anmerkung 39), 26.

bejubeln wollen, denunzieren andere einen „Gedenkzombie

Knaebel, Rachel / Rimbert, Pierre, „Il y a trente ans…“, vgl. Anmerkung 44, 15.

(zombie mémoriel) und die Tatsache, dass vor allem die Besitzenden feierten.

Ebd.

Die Kritik betrifft auch die Mauer als Memorial-Relikt: Mehrere Journalisten prangern die Kommerzialisierung der Geschichte der Mauer an, weil das ein tieferes Reflektieren über ihre Bedeutung verhindere.

Chalier, Pierre, „Il y a 30 ans, la chute du Mur de Berlin“, in La Dépêche du Midi, (wie Anmerkung 25), 2–3; Hauteville, Jean-Michel, „Berlin capitalise sur le tourisme du Mur“, in Le Monde, Nr. 23275, 17; Gyldén, Axel / Bourdoiseau, Christophe, „A la recherche du Mur“, in L’Express, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après“, (wie Anmerkung 15), 28–32; Gyldén, Axel / Bourdoiseau, Christophe, „Berlin, sans cesse réinventée“, ebd., 34–35; Gyldén, Axel, „Le Mur à travers le monde“, ebd., 36–39.

Die Auslegung des Mauerfalls als entscheidendes Ereignis für die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist in den untersuchten Artikeln allgegenwärtig; Europa, seine Identität und seine Gegensätze bilden somit den Hintergrund der Überlegungen. Durch das Porträtieren von Zeitzeugen und der Schilderung der Folgen des Mauerfalls wird Europa entweder gefeiert oder in Frage gestellt. Manchmal wird der Zusammenhang nur angedeutet, wie etwa im Porträt des Cellisten Rostropowitsch, von dem es heißt, er habe bei seinem Konzert an der Mauer vor allem als Europäer auftreten wollen.

Cojean, Annik, „Le Maestro et le Mur“, in Le Monde, Nr. 23276, (wie Anmerkung 39), 15.

Der Fall der Berliner Mauer wird gewöhnlich als „Gründungsmythos der Europäischen Union“

Grésillon, Boris, vgl. Anmerkung 39.

(Mythe fondateur de l’Union européenne), als „Sockel für Europa“

Barnavi, Elie, „Le Mur, un socle pour l’Europe“, in L’Express, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après“, (wie Anmerkung 15), 52–53.

(socle pour l’Europe) oder als Motor der deutsch-französischen Freundschaft

Makarian, Christian, ebd., 27.

bezeichnet. Das Andenken an den Mauerfall erscheint dann als entscheidender politischer Beitrag zum Zusammenhalt und zur Zukunftsperspektive Europas. Demzufolge wird der 9. November in der proeuropäischen Tageszeitung L’Opinion als europäischer Tag der Freiheit charakterisiert, an dem man von nun an um jeden Preis feiern solle.

Fekl, Matthias, „Le 9 novembre, journée européenne de la liberté“, in L’Opinion, (wie Anmerkung 18), 4.

In die gleiche Richtung weisen Le Monde-Artikel, die an zwei für die aktuelle Geschichtsschreibung bedeutsamen Tagen erschienen: Der Leitartikel vom 10.-12. November ruft die Leser auf, sich an die positiven Veränderungen, die der Mauerfall nach sich zog, zu erinnern, anstatt einer pessimistischen Europasicht nachzugehen

Leitartikel, „Mur de Berlin: ne nous trompons pas de funérailles“, in Le Monde, Nr. 23276, (wie Anmerkung 39), 26.

; einige Tage vorher, am 4. November 2019, zitiert Le Monde Heiko Maas, der die deutsch-französische Freundschaft als Motor für den Aufbau Europas beschwört.

Maas, Heiko, „Où étiez-vous lorsque le mur de Berlin est tombé?“, in Le Monde, Nr. 23270, 4.11.2019, 28.

Manchmal ist der Ton pessimistischer, denn der Jahrestag des Mauerfalls bietet ebenfalls die Gelegenheit zur Diagnose von Spaltungen und Bruchstellen

Salles, Alain, „Les fractures de l’Europe“, in Cahier du Monde „30 ans après la chute du Mur“, Nr. 23276, (wie Anmerkung 39), 1.

im gegenwärtigen Europa.

Chastand, Jean-Baptiste / Mendraud, Isabelle / Ricard, Philippe, „Les chemins sinueux de la réunification européenne“, ebd., 4.

Die Idee einer bruchstückhaften europäischen Identität in einem Kontinent, der dabei wäre, seine Wertmaßstäbe zu verlieren, steht hinter sehr vielen Artikeln und Reportagen über die Länder des ehemaligen sowjetischen Lagers.

Chastand, Jean-Baptiste, „Klara Ungar, symbole de la défaite des dissidents libéraux hongrois“, ebd., 5; Iwaniuk, Jakub, „En Pologne, la bataille mémorielle continue de faire rage“, ebd., 5; Mandraud, Isabelle, „En Lettonie, un entêtant parfum de guerre froide“, ebd., 6–7; Semo, Marc, „Le procès d’Ion Illiescu, la révolution roumaine en accusation“, ebd, 6.

Dargelegt wird, wie populistische Regime die europäische Identität und die Erinnerung an den Mauerfall instrumentalisieren würden. Dabei wird auch eine Verbindung zwischen dem Zerfall des ehemaligen Ostblocks und dem Erstarken von Populismus, Rechtsextremismus und Identitätsbewegungen hergestellt.

Souléry, Jean-Claude, Leitartikel „Liberté chérie“, in La Dépêche du Midi, (wie Anmerkung 25), 2; Odent, Bruno, „La Thuringe malade d’une réunification qui n’a pas eu lieu“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 5–6; Makarian, Christian, „Elites mondialisées et citoyens enracinés“, in L’Express, Dossier „Mur de Berlin. L’Europe, 30 ans après“, (wie Anmerkung 15), 54–55 ; De Barochez, Luc, „Europe. Et si la révolution pacifique de 1989 était à la source du regain identitaire d’aujourd’hui…“, in Le Point, Dossier „Chute du Mur, Histoire inattendue“ (52–61), Nr. 2463, (wie Anmerkung 15), 53–56.

Enttäuschungen, Ängste und Misstrauen der Osteuropäer gegenüber Europa und seinen Institutionen werden ausführlich kommentiert

Ricard, Philippe, „Pour une majorité d’Européens de l’Est, la démocratie est en danger. Un sondage montre un désenchantement, trente ans après la chute du Mur“, in Le Monde, Nr. 23271, 5.11.2019, 5; Mink, Georges, „Les élites populistes perçoivent l’UE comme un nouveau Moscou“, in Cahier du Monde „30 ans après la chute du Mur“, Nr. 23276, (wie Anmerkung 39), 7.

, desgleichen die Frage, welche Rolle Russland auf dem europäischen Kontinent zukäme

Gratchev, Andreï, „En 1989, personne n’était préparé à ce bouleversement historique“, in Le Monde, Nr. 23273, (wie Anmerkung 17), 28.

. Manche Artikel behandeln das Thema der Grenzen und Mauern in Europa und beklagen ein in sich verschlossenes Europa und eine Welt, die Mauern bauen würde statt sie zu zerstören

Malagardis, Maria, „De l’Arabie Saoudite aux Etats-Unis, 40 000 kilomètres de murs“, in Libération, Nr. 11954, (wie Anmerkung 25), 8; Farcis, Sébastien, „Les frontières de l’Inde aussi renforcées que contestées“, ebd., 9.

:

Dreißig Jahre ist es nun schon her und es kommt mir so weit weg vor. Zur damaligen Zeit schien die Menschheit Jahr um Jahr auf dem Weg zum Besseren. [...] Dreißig Jahre später ist der Mauerbaumarkt wieder voll am boomen [...]. 1989 spielten wir den schönen Part: Wir waren im Lager der Freiheit und der über den Stacheldraht hinweg gereichten Hände. Sollten wir 1989 dabei sein, auf die falsche Seite der Mauer zu gleiten? Es wäre eine seltsame Wahl, ein Zeichen, dass wir die Lektion von 1989 nicht behalten hätten: Mauern fallen am Ende immer.

„Cela fait déjà trente ans et cela me semble si loin. A cette époque, l’humanité semblait aller vers le mieux d’année en année. […]. Trente ans après, le marché de la construction des murs est à nouveau en plein boom […]. En 1989, nous avions le beau rôle : nous étions dans le camp de la liberté et des mains tendues par-dessus les barbelés. En 2019, serionsnous en train de passer du mauvais côté du mur? Ce serait un choix étrange, un signe que nous n’aurions pas retenu la leçon de 1989: les murs finissent toujours par tomber.“ Ponce, Anne, Leitartikel, „1989–2019. De l’autre côté du Mur“, in La Croix, Nr. 41554, (wie Anmerkung 18), 5.

Die Kritik an einem Europa, das Mauern errichte, statt sich zur Ehre zu machen, ein Raum der Freiheit und der Demokratie zu sein, findet sich auch in den zahlreichen Artikeln wieder, deren Gegenstand die Bedeutung des Berliner Mauerfalls für die Weltgeschichte und die ideologischen Entwicklungen ist. Ausgangspunkt ist das Aufgeben der ursprünglichen These von Francis Fukuyama über das Ende der Ideologien und den Sieg des Modells der liberalen Demokratie. Das „Ende der Geschichte“ wird als eine nunmehr überholte These bezeichnet

De Montety, Etienne, „Editorial. L’histoire est toujours là“, in Le Figaro, (wie Anmerkung 14), 1; Wurtz, Francis, „La ‘fin de l’histoire’ a 30 ans“, in L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 9; Galtier, Mathieu / Labrutère, Florence / Macé, Célian / Malagardis, Maria / Maurice, Stéphane / Silvestroni, Justine / Witter, Louis, „En 2019, l’Europe compte ses murs“, in Libération, Nr. 11954, (wie Anmerkung 25), 2–5, hier 3.

, die Vorahnungen des amerikanischen Politikwissenschaftlers wären „dreißig Jahre später“ komplett „widerlegt“

Gibier, Henri, „Nouveaux Murs“, in Les Echos, (wie Anmerkung 14), 11.

:

Ernüchtert sind sich die Menschen im Westen bewusst geworden, dass die Geschichte alles andere als abgeschlossen ist, dass sie da ist, lebt, dass sie von jedem Mut und Durchblick fordert, weil sie gestern wie heute tragisch sein kann.

„Dégrisés, les Occidentaux ont pris conscience que l’histoire, loin d’être finie, était toujours là, vivante, exigeant de chacun courage et lucidité, parce qu’hier comme aujourd’hui, elle peut être tragique“, De Montety, Etienne, (Anmerkung 67).

L’Express veröffentlicht in der Ausgabe vom 6.-12. November ein Interview mit Francis Fukuyama. Letzterer gibt selbst die Grenzen seiner Argumentation über das Ende der Geschichte zu und, ausgehend von den Krisen der liberalen Demokratie und dem von ihm nicht vorhergesehenen Erstarken der populistischen Strömungen, schlägt er eine neue Auslegung der Ereignisse vor.

Fukuyama, Francis, „Le dédain des élites nourrit le populisme“, (das Gespräch führte Marc Epstein), in L’Express, Dossier „Mur de Berlin“ (wie Anmerkung 15), 46–47.

Auch die Dauerhaftigkeit und die Suprematie der liberalen Demokratie als einzigem Modell werden in zahlreichen Artikeln zum 30. Jubiläum des Mauerfalls in Frage gestellt.

Duclos, Michel, „Aujourd’hui, la démocratie libérale n’apparaît plus comme le modèle légitime“, in Le Monde, Nr. 23273, (wie Anmerkung 17), 29.

Der Abriss der Berliner Mauer und das Erlöschen vieler damit verbundener Hoffnungen bleiben in der Tat der Anlass, eindeutige Unterschiede zwischen den Ideologien zu formulieren und zu verdeutlichen. Wenn auch die These vom Ende der Geschichte widerrufen wird, so wird doch der Zusammenbruch des Ostblocks meistens als Ende der kommunistischen Ideologie interpretiert, mit der Annahme, dass der Kommunismus seinen eigenen Untergang verursacht habe.

Guetta, Bernard, „Le communisme a tué le communisme“, in L’Obs, Dossier „Cahier Historique. Mur de Berlin. Le jour où le monde a basculé“, (wie Anmerkung 27), 4–7; Souléry, Jean-Claude, Leitartikel „Liberté chérie“ (wie Anmerkung 63; Joffrin, Laurent, „Trouble nostalgie“, in Libération, Nr. 11954, (wie Anmerkung 25), 2.

Lucien Sève vertritt in L’Humanité den entgegengesetzten Standpunkt: Was 1989 verschwand, sei kein Kommunismus gewesen, der wahre Kommunismus komme erst noch, und zwar in einer Welt, die sich verändern müsse, um zu überleben.

Sève, Lucien, „Le ‘communisme’ est mort, vive le communisme !“, (das Gespräch führte Pierre Chaillan), L’Humanité, (wie Anmerkung 14), 8.

Libération zufolge hätten der Mauerfall und seine Nachwirkungen die Abwendung von einer bipolaren Welt und die Hinwendung zum Süden und zu den Schwellenländern ermöglicht, eine Perspektive und ein Weg, die man weiterverfolgen müsse.

Badie, Bertrand, „‘Avec la chute du Mur, la décolonisation a pris tout son sens : le Sud est soudain devenu central.’“, (das Gespräch führte Catherine Calvet), in Libération, Dossier „Berlin 30 ans, l’Âge Mur“ n° 11953, (wie Anmerkung 26), 20–21.

Schlussendlich nimmt die Mehrheit der Artikel in Libération das Mauerfall-Jubiläum zum Anlass, um die Vorstellung einer offenen und humanistischen Welt ohne Mauern und Grenzen zu vertreten.

Grosser, Pierre, „Empêcher les gens de partir est devenu quelque chose d’obsolète“, (das Gespräch führte Arnaud Vaulerin), Libération, n° 11954, 9.-11.11.2019, 6–7.

Zusammenfassend zeigen die Zeitungsartikel, die die These und Widerlegung vom „Ende der Geschichte“ thematisieren, am deutlichsten, wie sehr die Interpretation des Berliner Mauerfalls auch noch 2019 in der französischen Presse ein polemisches, ideologisches und politisches Anliegen bleibt.

eISSN:
2545-3858
Idiomas:
Alemán, Inglés, Français