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Lernen aus dem Völkerbund. Egon Ranshofen-Wertheimer und seine Studie „The International Secretariat. A Great Experiment in International Administration“ (1945)

  
12 nov 2024

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Die Einrichtung eines dauerhaften Verwaltungsapparats zählt zu den großen Innovationen des Völkerbundes. Mit dem Genfer Sekretariat wurde nicht ein internationales Büro mit nationalen Vertretern etabliert, wie es dem bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgeblühten Intergouvernementalismus entsprochen hätte, sondern eine neuartige Instanz jenseits der einzelnen Mitgliedsstaaten. Diese Entwicklung war allerdings viel weniger zielgerichtet, als es den Anschein haben mochte. Der einschlägige Artikel 6 der Völkerbund-Satzung von 1919 enthielt kaum nähere Hinweise zur Ausgestaltung des Sekretariats, sodass sein institutioneller Aufbau und seine Arbeitsweise wesentlich vom ersten Generalsekretär, Sir Eric Drummond, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geprägt wurde. Zu diesen zählte auch der Österreicher Egon Ferdinand Ranshofen-Wertheimer (1894–1957), der auf Grundlage seiner Genfer Erfahrungen später eine der ersten Studien über dieses ”große Experiment“ internationaler Verwaltung verfasste. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Publikation erneut in den Blick und ordnet sie in ihren historischen Kontext ein.

Wer war Egon Ranshofen-Wertheimer?

Braunau in Oberösterreich hat nur wenige historisch bekannte Persönlichkeiten hervorgebracht. Zu den seit einigen Jahren wiederentdeckten und seither zumindest im lokalen Rahmen nachdrücklich gewürdigten Söhnen der Stadt gehört der 1894 geborene Journalist, Diplomat und Beamte des Völkerbundes Egon Ranshofen-Wertheimer. Ursprünglich aus einer alteingesessenen Gutsfamilie mit weitläufigen jüdischen Wurzeln stammend, musste er seine Heimat angesichts der rassischen Verfolgung zu Beginn der 1940er-Jahre verlassen und emigrierte in die USA. In der gegenwärtigen Stadtgesellschaft wird Ranshofen-Wertheimer als Repräsentant eines weltoffenen Österreichs geschätzt, der sich nicht nur auf internationaler Bühne hohes Ansehen erworben habe, sondern trotz Emigration seiner Heimat immer eng verbunden geblieben sei.1 Seit 2007 vergibt Braunau einen nach ihm benannten Preis, mit dem das Engagement und die Verdienste von Österreichern im Ausland gewürdigt werden sollen; auch die Rückkehr seines Nachlasses fand im Jahr 2019 große Beachtung in der lokalen Öffentlichkeit.2

Eine solche geschichtspolitische Wertschätzung mag moralisch eingefärbt sein und bei näherer Betrachtung unscharf wirken, die Einschätzung von Ranshofen-Wertheimer als Internationalist, Kosmopolit und Weltbürger trifft allerdings einen wahren Kern. Auch die jüngere Geschichtsschreibung hat in ihm längst einen Protagonisten der »Habsburg Histories of Internationalism« (Glenda Sluga) erblickt, dessen Herkunft aus dem multikulturellen und multiethnischen Habsburger Reich vor dem Ersten Weltkrieg mit einem spezifischen Internationalismus einhergegangen sei.3 In der Tat wurde Ranshofen-Wertheimer durch die Zeitläufte von Braunau bis in die Vereinten Nationen nach New York katapultiert. Nach Abschluss des Staatsgymnasiums in Salzburg nahm er zunächst ein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Wien auf. Nachdem er im Ersten Weltkrieg mit sozialistischen und marxistischen Ideen in Kontakt gekommen war, engagierte er sich zunehmend in linken Kreisen, ohne jedoch in das bolschewistische Lager abzuschwenken oder allzu doktrinären Theorien nachzuhängen. Eine im Jahr 1921 an der Universität Heidelberg abgeschlossene Promotion über die britische Arbeiterbewegung signalisierte bereits politischen Pragmatismus und vorsichtige Westorientierung. Die Programmatik der Labour Partei diskutierte Ranshofen-Wertheimer jedenfalls mit derart unaufgeregter Distanz, dass Otto Kirchheimer dem einige Jahre später erschienenen Buch vorwarf, den »proletarischen Kampfwert der Labour Party«4 zu vernachlässigen.5

Nachdem Ranshofen-Wertheimer einige Jahre als außenpolitischer Redakteur für sozialdemokratische Zeitungen Deutschlands und Österreichs gearbeitet hatte, ging er 1924 als Auslandskorrespondent für den »Vorwärts« nach London. Offenbar kam er hier in Kontakt mit dem Presse- und Informationsdienst des Völkerbundes, in den er zum Juni 1930 eintrat und nach Genf übersiedelte. Ab April 1933 folgte eine Verwendung in der Wirtschafts- und Finanzabteilung, im Dezember 1934 sodann ein Wechsel in die Abteilung für Soziale Fragen.6 Die Tätigkeit im bürokratischen Räderwerk einer internationalen Organisation, der in vielerlei Hinsicht eine Pionierrolle zukam, hielt Ranshofen-Wertheimer über eine Dekade gefangen: »I was caught in a machine which did not released me until I left the Secretariat exactly ten years later.«7 Erst im Juli 1940 und unter dem Eindruck des europäischen Krieges, dessen politische Zerwürfnisse die Arbeit des Genfer Sekretariats stark belasteten und oftmals lähmten, schied er aus dem Völkerbund aus. Da Österreich mit dem ›Anschluss‹ von 1938 inzwischen zur NS-Diktatur gehörte und ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, siedelte Ranshofen-Wertheimer, ähnlich wie zahlreiche andere Genfer Beamte und Offizielle, in die USA über.8 Hier kam er zunächst als Dozent an der American University in Washington, DC unter, anschließend wurde er von 1942 bis zum Kriegsende vom Carnegie Endowment for International Peace gefördert. Nach 1945 schlossen sich Tätigkeiten für das amerikanische State Department wie auch die neubegründeten Vereinten Nationen an, für die er beispielsweise Kommissionen zu Korea, Somalia und Eritrea beriet. Bei der Rückreise von einer UN-Vollversammlung im Dezember 1957 erlitt Ranshofen-Wertheimer auf einem New Yorker Flughafen eine Herzattacke, an deren Folgen er mit nur 63 Jahren verstarb.9

Schreiben für die Zukunft

Die hier im Mittelpunkt stehende Studie zum Sekretariat und zur Verwaltungspraxis des Völkerbundes war nicht die erste Schrift, die Egon Ranshofen-Wertheimer im Anschluss an seine Genfer Tätigkeit verfasste. Bereits kurz nach seiner Ankunft in den USA hatte er die realpolitische Bekenntnisschrift »Victory is not Enough: The Strategy for a Lasting Peace« vorgelegt, in der er sich für eine Politik der Abschreckung aussprach, mit der die westliche Staatenwelt die internationale Ordnung gegen totalitäre Mächte verteidigen solle.10 Trotzdem stellte das 1945 erschienene, rund 500 Seiten umfassende Buch »The International Secretariat. A Great Experiment in International Administration« sein eigentliches Hauptwerk dar, welches noch heute in kaum einer Studie über den Völkerbund fehlen darf.11 Als eine der ersten Publikation erschloss es den administrativen Alltag des Völkerbundsekretariats und lieferte einen Überblick über seine einzelnen Felder, Aufgabenbereiche und Tätigkeiten nach Art eines wissenschaftlichen Handbuchs. Schon die Gliederung in fünf Hauptteile erfolgte nach systematischen Gesichtspunkten und war erkennbar um Vollständigkeit bemüht: Nach kürzeren Übersichten zu den »Basis Concepts« internationaler Verwaltung (Teil I) und der Führungsstruktur durch den Generalsekretär des Völkerbundes (Teil II) wurde die Verwaltung als »Machinery« (Teil III) betrachtet und dabei Arbeitsweise, Abteilungsstrukturen, Aktenführung bis hin zum nächtlichen Telefondienst erörtert. Ein weiterer großer Teil befasste sich anschließend mit dem Typus des »International Official« (Teil IV), worunter Personalfragen, Rekrutierung und arbeitsrechtliche Probleme ebenso gefasst wurden wie die ungleiche Geschlechterverteilung auf den einzelnen Hierarchieebenen. Eine knappe Bewertung fasste die wesentlichen Befunde zur Arbeitsweise des Sekretariats zusammen und versuchte sich an einer Einschätzung seiner Bedeutung für Erfolge und Misserfolge des Völkerbundes insgesamt (Teil V). Angefügt waren schließlich einige hilfreiche Anhänge, in denen etwa interne Verwaltungsanweisungen oder, aus der Feder der langjährigen Sekretariatsmitarbeiterin Catherine Pastuhova, Registratur und Ablagesystem der Dokumentenverwaltung erläutert wurden.

Nichts an dieser Studie war zeitlos. Hierin nur den Versuch zu sehen, das Innenleben des Völkerbundsekretariats auf Grundlage eigener Erfahrungen darzustellen, wie es Ranshofen-Wertheimer im Vorwort bescheiden erklärte, war eine kühne Untertreibung.12 Tatsächlich verbarg sich in der Publikation ein umfassendes Programm und ein noch größeres politisches Ziel, nämlich aus den Erfahrungen des Völkerbundes zu lernen und diese für einen neuen Anlauf internationaler Organisation nutzbar zu machen. Zwar hatte sich bereits im Umfeld des Royal Institute of International Affairs in London eine Gruppe ehemaliger Sekretariatsmitarbeiter zusammengefunden, die ab 1941 eine ähnliche Absicht der Bestandsaufnahme und Erfahrungsauswertung verfolgte und im Januar 1944 einen entsprechenden Bericht vorlegte.13 Doch hinter dem Buch von Ranshofen-Wertheimer auf der anderen Seite des Atlantik stand das ungleich schlagkräftigere Carnegie Endowment for International Peace, eine mit dem Ziel internationaler Verständigung und Friedensstiftung im Jahr 1910 von Stahlmagnaten Andrew Carnegie gegründete philanthropische Stiftung. Neben einer beträchtlichen Nähe zur amerikanischen Politik, und hier besonders zum State Department, zeichnete sich das finanziell überaus potente Carnegie Endowment vor allem durch weitgespannte Publikations- und Förderprogramme aus, welche die weltweite Szenerie des Pazifismus, der Völkerrechtslehre oder der als Disziplin entstehenden internationalen Beziehungen seit dem Ersten Weltkrieg wesentlich geprägt hatten.14

Ab 1942, und weitgehend unabhängig von der Londoner Initiative, hatte das Carnegie Endowment damit begonnen, die Erfahrungen des Völkerbundes systematisch zu sammeln und auszuwerten.15 Dazu wurde unter anderem eine »Exploratory Conference on the Experience of the League of Nations Secretariat« veranstaltet, welche am 30. August 1942 in New York stattfand und an der neben Egon Ranshofen-Wertheimer auch weitere ehemalige Mitarbeiter teilnahmen, um aus dem administrativen Maschinenraum des Völkerbundes zu berichten.16

It was really a great pleasure and satisfaction not only to see this group of old friends of happier days but even more to get back into the atmosphere which we all knew so well

So notierte der anwesende Arthur Sweetser hinterher, und er fügte melancholisch hinzu:

Somehow, it was a bit as though the clock had turned back to the good old days when mankind was at least trying to be civilized, and yet at the same time, it was a kind of perspective and glimpse of what may be in the future if mankind only had the guts to demand it.17

Auf diese in solchen Worten erkennbare Zukunftshoffnung steuerte das Carnegie Endowment entschlossen hin. Im Anschluss an die Konferenz wurde offenbar eine Reihe von Stipendien vergeben, damit aus ausgewählten Beiträgen umfassende Publikationen entstehen konnten. Neben der von Ranshofen-Wertheimer in mehrjähriger Arbeit erstellten Studie wurden noch weitere Beiträge von ehemaligen Angehörigen des Sekretariats gefördert, die in der Folgezeit unter den Auspizien der Stiftung erscheinen sollten.18 Das Ziel dieser umfassenden Veröffentlichungsoffensive lag auf der Hand, wie Philip Jessup, der Leiter der zuständigen Division of International Law des Carnegie Endowments, einige Wochen nach dem New Yorker Treffen an den amtierenden Generalsekretär des Völkerbundes, Seán Lester, schrieb:

All of us who were there were animated by the desire to make available for post-war progress in international organization, the lessons to be drawn from past experience.19

Auch wenn dieses Schreiben den dahin dämmernden Völkerbund formal auf dem Laufenden hielt, zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt schon ab, dass eine Wiederbelebung der Genfer Institutionen zunehmend als unwahrscheinlich galt. An der Spitze des Carnegie Endowment fiel wenige Wochen nach der Konferenz jedenfalls die endgültige Entscheidung, für die Nachkriegsplanung auf die Gründung einer neuen Staatenorganisation zu setzen und nicht auf eine Erneuerung des Völkerbundes.20 Dem entsprach eine sich immer deutlicher herauskristallisierende Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik. In Washington war nach dem deutschen Triumph über Frankreich im Sommer 1940 schrittweise der Entschluss gereift, in der internationalen Politik nicht mehr – wie beim Völkerbund – abseits zu stehen, sondern eine aktive Rolle anzustreben und dazu auch die Gründung einer neuen Staatenorganisation mit starker US-Präsenz voranzutreiben.21 Dieser inhaltliche Schulterschluss zwischen State Department und Carnegie Endowment führte bei den Gesprächen von Dumbarton Oaks im Herbst 1944 sowie bei der Konferenz von San Francisco im Frühjahr 1945, aus der die Vereinten Nationen hervorgehen sollten, dazu, dass Vertreter der Stiftung als Berater der amerikanischen Delegation hinzugezogen wurden.22 Und nicht nur das: Auch die Ausarbeitung von Egon Ranshofen-Wertheimer wurde, kaum dass das Manuskript in einem ersten Entwurf vorlag, den Teilnehmern der Konferenz von San Francisco zugänglich gemacht.23 Auch wenn über eine nähere Rezeption oder gar einen Einfluss auf die Verhandlungen nur spekuliert werden kann, so war eben diese Hilfestellung der eigentliche Zweck der Studie und das zentrale Motiv der Förderung durch das Carnegie Endowment. In den einschlägig interessierten Kreisen wurde dieser Zusammenhang jedenfalls rasch erkannt und das Buch von Ranshofen-Wertheimer durchweg mit Blick auf seinen Nutzwert für die entstehenden Vereinten Nationen gewürdigt. Es war nicht untypisch, wenn etwa Raymond Fosdick, als Präsident der Rockefeller Foundation selbst Verfechter internationalistischer Projekte, die Hoffnung ausdrückte,

that the United Nations will profit by the experiences and mistakes of the organization on which it was patterned. In tracing the pattern, one can do no better than read this book.24

Experiment und Erfahrung

Eine genaue Lektüre des Buchs von Egon Ranshofen-Wertheimer unterstreicht den funktionalen Charakter der hier gezogenen ›Lernerfahrungen‹ aus dem Völkerbund und ordnet sie in jenen spezifischen Internationalismus der 1940er-Jahre ein, der sich im Lager der alliierten Nationen als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg entfaltete. Vor allem drei Aspekte fallen ins Auge: (1.) Der Hinweis auf den experimentellen Charakter des Völkerbundes; (2.) die Beschwörung eines internationalistischen Ethos der Verwaltung als Voraussetzung für das Funktionieren einer internationalen Organisation; (3.) die Auseinandersetzung mit dem Einbruch eines autokratischen Nationalismus in die Staatengemeinschaft.

(1.) In einem instruktiven Beitrag hat Jean d’Aspremont vor einiger Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass sich parallel zum Niedergang des Völkerbundes in zahllosen zeitgenössischen Beiträgen eine Rhetorik des Experimentellen findet.25 Der Begriff des Experiments diente demnach seit den 1930er-Jahren dazu, die Enttäuschung über das Scheitern des Völkerbunds bei seiner eigentlichen Kernaufgabe – der Sicherung des internationalen Friedens – produktiv umzuwandeln, indem der Wert der gemachten Erfahrungen herausgestellt wurde. Mit diesen »lessons learnt« konnte nicht nur die Hegemonie einer linearen Fortschrittsgeschichte der internationalen Organisation und des Völkerrechts abgesichert, sondern auch der bald folgende Brückenschlag zu den Vereinten Nationen als legitime Nachfolgeorganisation vorbereitet werden.26 Ranshofen-Wertheimers Publikation ist hierfür ein sprechendes Beispiel.27 Seine Bewertung des Völkerbunds fiel zwar punktuell kritisch aus, doch in der Gesamtbewertung unterstrich er den Erfolg des Genfer Experiments mit beachtlicher Entschiedenheit:

The league experiment has proved beyond the shadow of a doubt that international administration can function competently and successfully even under signally unfavorable circumstances.28

Eine solche Interpretation fügte sich einerseits in das Narrativ einer zwar mühseligen und von Rückschlägen gekennzeichneten, insgesamt jedoch kontinuierlichen Fortschritts- und Aufstiegsgeschichte zunehmender internationaler Organisation. Vor allem im bürgerlich-liberalen Milieu der westlichen Welt gab man sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert überzeugt, dass die Staatengemeinschaft einer gemeinsamen Institution zur Koordination, Kooperation und Streitschlichtung nicht entbehren könne, ja, dass sich darin ein allgemeines Interesse der Menschheit ausdrücken würde. Andererseits verschob die Feststellung, dass Existenz und Tätigkeit des Sekretariats bereits an sich einen Erfolg dargestellt hätten, den ursprünglichen Erwartungshorizont hinsichtlich der Aufgaben des Völkerbundes. Anstatt, wie es bei seiner Gründung und Einrichtung 1919/20 noch allenthalben beschworen wurde, vor allem der Kriegsverhütung und Friedenssicherung zu dienen, rückte nun der gelebte Multilateralismus des Völkerbundes, seine internationale Verwaltungspraxis und seine Bündelung zahlreicher zwischenstaatlicher Kooperationen jenseits der traditionellen Diplomatie in den Vordergrund. Unzählige Institutionen und Akteure »formed a ring of international interest and activity around the League«,29 so notierte Ranshofen-Wertheimer, und sie hätten damit zum Erfolg jenes internationalistischen Esprit de Genève beigetragen, der weit über Stadt und Institution ausgestrahlt habe.30

Diese Bewertung der Genfer Sekretariatsarbeit durch Ranshofen-Wertheimer nahm bemerkenswerterweise ein Argument vorweg, welches sich in der historischen Forschung erst mit dem wiederaufgelebten Interesse am Völkerbund im frühen 21. Jahrhundert voll durchsetzten konnte, nämlich dass die Bedeutung der sogenannten »technical work« höher einzuschätzen sei als seine politischen Erfolge oder Misserfolge.31 Nachdrücklich hielt Ranshofen-Wertheimer fest: »As a matter of fact, in 1938, the technical work of the League stood out as the chief evidence of the League’s continued utility and vitality.«32 In diesem Sinne erschienen die zahlreichen Initiativen und Projekte zur humanitären, sozialen oder wirtschaftlichen Zusammenarbeit nicht lediglich als periphere Tätigkeitsfelder des Völkerbundes, sondern bildeten einen – erstaunlich erfolgreichen – Kernbereich internationaler Administration, dem durch die Hintertür zudem durchaus politische Relevanz zukommen mochte. Denn an einer vermeintlich unpolitischen, ›technischen‹ Kooperation im Rahmen des Völkerbundes konnten sich auch Staaten beteiligen, die ansonsten politische Vorbehalte hegten oder zwischen denen diplomatische Differenzen bestanden. Die von Ranshofen-Wertheimer gezogene Einschätzung, dass humanitäre, soziale oder wirtschaftliche Aufgaben »possessed for the League major political importance, transcending the intrinsic value of the technical work itself«,33 dürfte auch heute noch – oder wieder – geteilt werden.34 Übersetzt in die Rhetorik des Experiments, lässt sich jedenfalls festhalten, dass die Erfolge des Völkerbundes nach Ranshofen-Wertheimer auch und gerade dort zu suchen seien, wo sie, wie in vermeintlich nebensächlichen oder unpolitischen Verwaltungstätigkeiten, nicht geplant oder erwartet worden waren.

(2.) Als wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit des Völkerbundsekretariats begriff Ranshofen-Wertheimer sein internationalistisches Ethos. Angesichts einer bis dato üblichen Verwaltungspraxis, die auf einen nationalen Rahmen bezogen war und meist über eine Grundlage in Form eines mehr oder minder durchgebildeten staatlichen Verwaltungsrechts verfügte, war die Institutionalisierung einer gleichsam freischwebenden internationalen Administration präzedenzlos. Dass die Satzung des Völkerbundes von 1919 kaum den gleichen juristischen Stellenwert wie eine innerstaatliche Verfassung besaß, an der sich – zumindest in der kontinentaleuropäischen Vorstellung – staatliches Verwaltungshandeln auszurichten habe, war nur das eine Problem.35 Schwerer wog, dass sich Fragen der Loyalität und der Treueverhältnisse des Verwaltungspersonals beim Völkerbund ganz anders als in einem nationalen Rahmen stellten. Wohl mochte der Personalbestand des Genfer Sekretariats, der selbst bei seinem Höchstwert im Oktober 1931 nur knapp über 700 Personen hinausging, im Vergleich zu späteren internationalen Organisationen lächerlich gering erscheinen.36 Trotzdem wurde hier erstmals vom etablierten intergouvernementalen Prinzip abgewichen, eine internationale Körperschaft mit Vertretern nationaler Interessen zu besetzen. Anstatt in den Sekretariatsangehörigen nur die weisungsgebundenen Repräsentanten eines Mitgliedstaats des Völkerbundes zu erblicken, sollte das Personal vielmehr der Organisation selbst verpflichtet sein und sich an erster Stelle loyal zu deren Zielsetzungen verhalten.37

Wie aber sollte jene ›Internationale Loyalität‹ zum Völkerbund, in der Ranshofen-Wertheimer den zentralen Pfeiler für die Unabhängigkeit des Sekretariats erblickte, bei den Mitarbeitern erzeugt werden? Als wichtigster Aspekt erschien ihm die Auswahl integrer Persönlichkeiten, die ihre eigene nationale: Zugehörigkeit zwanglos mit einem »international outlook« verbinden würden.38 Zwar blieb offen, wie diese an anderer Stelle als »positive attitude toward the League«39 definierte Haltung genau vorzustellen war; eine ab 1932 eingeführte »declaration of fidelity«, mit der bei jeder Neueinstellung eine Art Bekenntnis zum Völkerbund abgelegt werden musste, rief beispielsweise mehr Kritik als Zustimmung hervor.40 Man wird jedoch nicht fehlgehen, darin die Forderung zu erblicken, die eigene, stets als selbstverständliches Identitätsmerkmal vorausgesetzte Nationalität reflektieren und im Interesse der Staatengemeinschaft (temporär) transzendieren zu können; dass eine solche Verhaltenssouveränität in den Diskursen des frühen 20. Jahrhunderts vielfach als primär europäische oder westliche Fähigkeit verstanden wurde, sei am Rande angemerkt.41

Besonderen Wert legte Ranshofen-Wertheimer danebenaufdieTatsache, dassdiePersonalverantwortung ausschließlich beim Generalsekretär lag, der damit einen wichtigen Hebel erhielt, um die Unabhängigkeit des Sekretariats gegenüber Völkerbundrat und Völkerbundversammlung abzusichern.42 Wohlerschien es ihm an anderer Stelle als Fehler, dass das Amt des Generalsekretärs insgesamt auf einen unpolitischen Beamtentypus zugeschnitten worden sei, was sich besonders im Fall der unrühmlichen Amtszeit von Joseph Avenol als erhebliche Belastung dargestellt habe.43 Doch zu den zumindest potenziellen Gestaltungsmöglichkeiten des Generalsekretärs gehörte seine Rekrutierungsmacht. Diese ließ sich immer dann in politisches Kapital umsetzen, wenn mit personellen Entscheidungen einzelne Mitgliedsstaaten eingebunden werden konnten, wenn es um Kommunikationskanäle zu den nationalen Regierungen ging oder wenn durch eine demonstrative Internationalität die Legimitation des Verwaltungshandelns erhöht werden sollte. Die vielfach eingestreuten Beobachtungen von Ranshofen-Wertheimer, dass Sachkenntnisse, Kompetenzen oder fachliche Leistungen nicht die einzigen oder auch nur ausschlaggebenden Gründe für eine Einstellung waren,44 sind in der jüngeren historischen Forschung jedenfalls breit bestätigt worden.45

Die Zusammensetzung des Personalbestandes war besonders während der Gründungsphase ein zentrales Thema der Sekretariatsorganisation, was Fragen der nationalen und kulturellen Repräsentation in den Mittelpunkt rückte.46 Da erste Personalentscheidungen bereits während der Pariser Friedensverhandlungen 1919/20 und damit vor Inkrafttreten der Satzung getroffen worden waren, überrascht es nicht, dass die Gründungskohorte des Sekretariats stark britisch und französisch dominiert war.47 Angesichts des Unmuts aus den Reihen zahlreicher Mitgliedsstaaten gelang es im Laufe der Zeit zwar, diesen Vorrang durch gezielte Rekrutierungen aus anderen Nationen abzumildern. Gleichwohl blieb eine klare Dominanz der europäischen gegenüber den nichteuropäischen Nationen bestehen, wobei Ranshofen-Wertheimer ein Verhältnis von 7:1 für das Jahr 1920 und von 5:1 für das Jahr 1938 angab.48 Dass er dieses Missverhältnis wiederholt kritisierte und vor allem auf eine mangelnde Rekrutierung aus dem asiatischen Raum hinwies, unterstreicht nochmals die legitimationsstiftende Bedeutung, welche eine universale Zusammensetzung für die beanspruchte Rolle des Sekretariats als autonome internationale Instanz bedeutet hätte.49 Zugleich scheint bei Ranshofen-Wertheimer an vielen Stellen durch, dass der vielfach beschworene Ethos des Internationalismus letztlich doch eine europäische Errungenschaft darstellen würde, die von anderen Kulturen, Zivilisationen und Weltteile zwar übernommen werden könne, jedoch selbst nicht verhandelbar sei.50 In diesem Sinne blieb das Sekretariat, so ist in der Forschung an anderer Stelle pointiert formuliert worden, stets mehr »European club than a ›genuine international officialdom‹.«51

(3.) Die wesentliche Spannungslinie innerhalb des Sekretariats und allgemein des Völkerbundes erblickte Egon Ranshofen-Wertheimer allerdings nicht in den Differenzen zwischen Europa und der restlichen Welt, sondern im Konflikt zwischen dem Internationalismus einer demokratischen Staatengemeinschaft und dem Nationalismus der aufsteigenden autokratischen Regime und faschistischen Diktaturen. Besonders zu Beginn der 1930er-Jahre sah sich der Völkerbund mit einem rapiden Verlust an Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsmacht konfrontiert, wofür besonders die Krise in der Mandschurei (1931) und der Abessinienkrieg (1935) stehen.52 Aber auch die Austrittserklärung NS-Deutschlands im Herbst 1933 gehört in diesen Kontext. Im Genfer Sekretariat waren die Zeichen für einen Wandel der internationalen Verhältnisse bereits einige Jahre zuvor spürbar gewesen. An vielen Stellen verwies Ranshofen-Wertheimer in seiner Darstellung auf einen atmosphärischen Stimmungsumschwung, der sich zunächst in Kleinigkeiten angekündigt habe. Dass etwa eine Reihe italienischer Sekretariatsmitarbeiter nach der Ernennung von Giacomo Paulucci di Calboli, einem ehemaligen Staatssekretär Mussolinis, zum stellvertretenden Generalsekretär im Jahr 1927 damit begonnen hätten, offen und stolz das Parteiabzeichen der italienischen Faschisten zu tragen, sei in Genf als Schock erlebt worden: »It was one of many signs that the advent of autocratic governments was threatening the homogeneity of the administration at the core.«53

Dieser schleichende Wandel habe nach Ranshofen-Wertheimer zu einem neuartigen und letztlich fatalen Misstrauen innerhalb des Sekretariats geführt. An die Stelle eines internationalistischen Ethos sei vielfach nationales Denken getreten.

For as soon as one group or groups within the Secretariat organized themselves into national nuclei, played national politics, and served as observers, agents, and spies for their governments within the international body, those remaining faithful to the League put their own countries at distinct disadvantage.54

Mit anderen Worten: Selbst wenn sich nur eine Minderheit des Personal primär als Vertreter oder Agenten nationaler Interessen verstanden habe, hätten sich dadurch auf allen Seiten bald Argwohn und Zweifel ausgebreitet, welche auch jene Mehrheit, die eigentlich tapfer an einer Loyalität zum Völkerbund festhalten wollte, erfasst habe.

Als Ursache für diesen Verfall des Esprit de Genève nannte Ranshofen-Wertheimer an erster Stelle den Niedergang der Demokratie in vielen Mitgliedsstaaten.55 Das war eine nicht nur zeittypisch naheliegende Antwort. Die Vorstellung, dass zwischenstaatliche Kooperation und internationales Vertrauen besonders zwischen Demokratien gedeihen würden, gehörte – meist auf Kants »Ewigen Frieden«56 zurückgeführt – zu den zentralen Ideensträngen des bürgerlichen Internationalismus, wenngleich häufig mit der imperialistischen Wendung, dass sich am Grad der demokratischen Selbstbestimmung auch ein zivilisatorischer Fortschritt ablesen lassen würde.57 Trotzdem hatte der Völkerbund von Beginn an unterschiedliche Regierungssysteme umfasst, wobei zwar ein bekennender Kritiker wie Carl Schmitt in dieser fehlenden Homogenität die »Kernfrage des Völkerbundes«58 schlechthin erblicken wollte, die Tätigkeit des Sekretariats davon aber bemerkenswert wenig beeinflusst worden war. In der Deutung von Ranshofen-Wertheimer war es vor allem der Umschlag eines semi-oder antidemokratischen Herrschaftssystems in eine expansionistisch-revisionistische Außenpolitik, der sich als kaum zu lösendes Problem entpuppte. Es ist kein Zufall, dass er mit Italien, Deutschland und Japan vorrangig auf jene drei Länder hinwies, welche zum Zeitpunkt seiner Niederschrift die entscheidenden Kriegsgegner der Alliierten darstellten, deren unheilvolles Wirken sich im Genfer Sekretariat aber schon um 1930 angekündigt habe. Der Einzug eines aggressiven Nationalismus habe jedenfalls begonnen

„with the Italians, took possession of the Germans, and finally extended to the Japanese. It ate like a cancer into the living flesh of the entire international body.“59

Dass die drei Achsenmächte damit bereits zehn Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg als entscheidende Gegenspieler des Völkerbunds aufgetreten seien, lässt sich als spätere Stilisierung verstehen.60 Aus ihr spricht in erster Linie das Selbstverständnis der alliierten Kriegskoalition, die sich in der Arcadia-Konferenz zum Jahreswechsel 1941/42 nicht zufällig unter dem Begriff der »United Nations« zusammengefunden hatte. In dieser Sicht verhielt sich der brachiale Nationalismus der Achsenmächte antithetisch zur Kooperationsbereitschaft der überwältigenden Mehrheit der Staatengemeinschaft, deren gemeinsames Interesse am Erhalt der internationalen Ordnung mit der »Declaration by United Nations« vom 1. Januar 1942 knapp auf den Punkt gebracht worden war. Es war nur folgerichtig, dass aus diesem Bündnis eine neue Staatenorganisation erwachsen sollte, in der zwar verschiedene Herrschaftsformen nebeneinander bestanden, sich aber alle Mitgliedsstaaten wenigstens äußerlich zum übergreifenden Prinzip des Internationalismus bekennen mussten.61

Die innere Argumentationslogik von Ranshofen-Wertheimers Buch ist schlussendlich vor diesem Hintergrund zu verstehen. Ebenso wie die weiteren Initiativen des Carnegie Endowments oder auch der Londoner Studiengruppe zum Völkerbund, zielte auch diese Publikation darauf ab, die prinzipielle Machbarkeit internationaler Administration nachzuweisen, auf Schwachstellen aufmerksam zu machen und zugleich den Gedanken des Internationalismus in die Zukunft zu übertragen. In den Augen Ranshofen-Wertheimers lag der Grund für das Scheitern des Völkerbunds weniger in strukturellen Problemen als in der inneren Haltung einiger Mitgliedsstaaten; der Erfolg einer internationalen Organisation war in dieser Sicht weniger eine Frage institutioneller Bauprinzipien als eine Frage der Mentalitäten, der politischen Kultur, der Fähigkeit, nationale Positionen im Interesse übergeordneter, gemeinsamer Ziele zu relativieren. Das Sekretariat, so meinte er jedenfalls, habe die Bewährungsprobe eines echten Internationalismus trotz aller innerer und äußerer Anfechtungen bestanden:

The Secretariat commanded its own loyalties, it had its own corporate reaction, its own psychology. This basic unity survived even the shock of the outbreak of the war when persons whose countries faced each other on the battlefield continued to cooperate at neighboring desk in the offices of the Palais des Nations in the Park Ariana.“62

Schluss

Die Studie von Egon Ranshofen-Wertheimer war ein Gefäß, um Erfahrungen und Einsichten vom Völkerbund zu den Vereinten Nationen zu übertragen. Zwar lässt sich kaum klären, ob und inwieweit seine Ausführungen in den Verhandlungen über die Ausgestaltung des UN-Sekretariats tatsächlich herangezogen wurden. Dass jedoch die einschlägigen Art. 97 bis Art. 100 der UN-Charta in der exakten gedanklichen Fluchtlinie seiner Argumentation lagen, lässt sich nicht ernsthaft bestreiten.63 Die in der Charta artikulierte Erwartung, die Angehörigen des UN-Sekretariats seien als »international officials responsible only to the Organization« (Art. 10), war direkt aus dem gelebten Selbstverständnis des Völkerbundes hergeleitet, wie es von Ranshofen-Wertheimer als »one team for a common purpose«64 auf den Punkt gebracht worden war. Diese Traditionslinie wurde auch 1948 nicht unterbrochen, als sich eine Kommission der Vereinten Nationen an die Ausarbeitung allgemeiner Grundsätze für einen »International Civil Service« machte, welche die bisherige Praxis nicht nur weiter ausformulierten und präzisierten, sondern die bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts für zahlreiche internationale Organisationen maßgeblich blieben.65

Ungelöst – und vielleicht unlösbar – blieb freilich auch beim UN-Sekretariat das Problem, wie sich die Pluralität der globalen Verhältnisse zum Internationalismus europäischer Deszendenz und Prägung verhalten solle. Zwar stellte Ranshofen-Wertheimer zum Ende seines Buches nochmals die Forderung auf, dass jede internationale Verwaltung »must reflect in its composition the cultures, civilizations, and nationalities represented in the membership«.66 Doch das war leichter gesagt als getan. Auch und gerade nach 1945 waren die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen den Staaten und ihre divergenten Partizipationsinteressen so ausgeprägt, dass sich der Verwaltungsapparat der Vereinten Nationen dem kaum entziehen konnte, trotz – oder gerade wegen – seines internationalistischen Ethos.