Mulitinormativität und administrative Logik – neue verwaltungshistorische Perspektiven
Publicado en línea: 24 may 2021
Páginas: 6 - 19
DOI: https://doi.org/10.2478/adhi-2020-0002
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© 2021 Peter Collin, published by Sciendo
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›Administrative Multinormativität‹ ist eine Wortverbindung, welche für Band 5 der Zeitschrift
Ähnliches gilt, wenn man eine verwaltungsorganisatorische Sichtweise wählt, in der Verwaltung vor allem als hierarchisches Gebilde wahrgenommen wird. In diesem Fall schafft der Befehl die allein maßgebliche Verpflichtungssituation; dem widersprechende Pflichtenbindungen sind ausgeschlossen. Auch diese Betrachtungsweise hat etwas für sich. Denn trotz aller Team- und Netzwerkkonzepte und trotz allen marktlichen und Wettbewerbsdenkens, welches vor allem in den 1900er- und 2000er-Jahren in die Verwaltung eingedrungen ist, ist diese – und auch dieser Befund bezieht sich auf die deutsche Verwaltung, dürfte aber weitgehend generalisierbar sein – nach wie vor überwiegend hierarchisch organisiert (2) und die Funktionsweise der Hierarchie wird durch die rechtlich statuierte Gehorsamspflicht der Verwaltungsbediensteten sichergestellt.
Trotz dieser unzweifelhaft vorhandenen Rahmenbedingungen handelt Verwaltung nicht normativ homogen. Sie sieht sich unterschiedlichen normativen Einflüssen ausgesetzt und entwickelt heterogene normative Vorstellungen. Dies muss nicht Folge von Normvollzugsdefiziten oder schwächelnden Hierarchien, also Folge eines (partiellen) Ausfalls der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen sein. Heterogene Normativität kann genauso Charakteristikum von Verwaltungen sein, in denen die formalen Strukturen weitgehend störungsfrei funktionieren.
Doch was bedeutet Multinormativität genau? Die Verwendung des Begriffs ›Multinormativität‹ in seiner (rechts-)historischen Verwendungsweise ist im Wesentlichen am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte etabliert worden
(3) und soll einen Gedanken zum Ausdruck bringen, der sich nur vor dem Hintergrund einer breiteren Diskussion verständlich machen lässt. Schon seit geraumer Zeit findet in der Rechtswissenschaft eine Debatte zum Rechtspluralismus statt, die solch unterschiedliche Problembereiche wie zum Beispiel das Verhältnis von traditionellem Gewohnheitsrecht und staatlichem Recht in Ländern des Globalen Südens oder von nationalstaatlichem und transnationalem Recht betrifft. Vor allem Sally Falk Moore hat allerdings gezeigt, dass sich damit auch der nationale Binnenraum westlicher Industriegesellschaften erfassen lässt.
(4) Dieser Ansatz des
Allerdings sind damit auch Nachteile verbunden. So stehen beim
Anders ist es in der Verwaltungsgeschichte, die hinsichtlich ihres Normenverständnisses nicht auf eine bestimmte Normgattung festgelegt ist. Hinzukommt, dass maßgebliche Steuerungswirkungen für die Verwaltung oft nicht vom Recht im üblicherweise verstandenen Sinne, d. h. von den in Gesetzbüchern kodifizierten Regeln ausgingen bzw. ausgehen, sondern von kleinteiligen, oft situationsbezogenen Verordnungen, nicht zuletzt auch vom ›Innenrecht‹, welches lediglich verwaltungsinterne Bindungswirkung entfaltet. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass der verwaltungsgeschichtliche Zugriff normalerweise nicht primär normenfokussiert ist, sondern praxeologisch auf die konkreten Kommunikationsund Entscheidungsvorgänge. Dennoch ist es auch für verwaltungshistorische Arbeiten unabdingbar, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was ›Multinormativität‹ ist. Sonst besteht die Gefahr, dass der Begriff zur kleinen Münze verkommt und als ubiquitäres Label für all jene Fälle verwendet wird, in denen unterschiedliche Gewohnheiten, Sitten, Interessen, Rationalitäten, Werte, Leitmaximen sozialen Handelns, Ideale guten Lebens oder
Versucht man hier zu einer Klärung zu gelangen, ist man allerdings mit einer Mannigfaltigkeit von Normenverständnissen konfrontiert. Sind Normsätze all jene Sätze, die präskriptiv verwendet werden? (6) Sind Normen Gründe, und zwar Gründe, dafür, dass wir etwas tun sollen? (7) Sind Normen Spielarten von Verhaltensmustern, die sich als »Verhaltensanforderungen« von bloßen »Verhaltensgleichförmigkeiten« unterscheiden? (8) Oder können Normen, wie Luhmann es tut, als »kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen« (9) bezeichnet werden, also als Verhaltenserwartungen, die auch dann nicht aufgegeben werden, wenn einzelne Mitmenschen sich nicht nach ihnen richten.
Ähnliches gilt für das Verständnis von Normativität. Auch hier ist die Begrifflichkeit klärungsbedürftig. In einem eher statischen Konzept von Normativität wird dieses mit Geltung gleichgesetzt. (10) Begreift man hingegen Normativität eher prozesshaft (11), als Vorgang der Ingeltungbringung, der Mobilisierung von Normen, rücken die sozialen Interaktionen in den Vordergrund, in denen sich normative Vorstellungen entfalten, in denen Normen erst an Kontur gewinnen, in denen sich normative Kämpfe abspielen oder normative Arrangements einspielen.
Schließlich ist man mit einer dritten Begrifflichkeit konfrontiert – der der ›normativen Ressourcen‹. Diese lassen sich nicht mit Normen gleichsetzen, sondern sind weiter zu verstehen. Zu ihnen gehören auch »Wertvorstellungen, Ideologien und soziale Skripte«. (12) Normative Ressourcen lassen sich in der Weise einsetzen, dass ihnen direkt normative Kraft entnommen und damit Verbindlichkeit behauptet wird. Man kann sich aber normative Ressourcen auch als den Normen vorgelagert vorstellen. Danach handelt es sich um Wissens- und Wollensbestände, die noch nicht zu Normen erstarkt sind, aber normatives Potential besitzen und in Verbindung mit anderen Normen zu Aussagen führen, die Verbindlichkeit vermitteln – die ›Ehre‹ wäre ein Beispiel für solch eine normative Ressource. (13) Schließlich lassen sich den normativen Ressourcen solche Normbestände zuordnen, die an sich außer Kraft gesetzt sind, aber wegen ihrer traditionellen Verwurzelung in der Gesellschaft herangezogen werden, um neues Recht zu relativieren. (14)
Die hier geschilderte Vielfalt der Begriffsverständnisse eröffnet etlichen, wenn auch nicht beliebigen Spielraum, mit dem Problem administrativer Weise in unterschiedlicher Weise konzeptuell und erzählerisch umzugehen. Nur sollten die eigenen kategorialen Entscheidungen, aber auch die kategorialen Schwierigkeiten transparent gemacht werden.
Aber wie lässt sich Multinormativität als
Für den ersten Fall lässt sich auf ein Raster für Umgangsweisen mit ethnischer Differenz zurückgreifen, jedenfalls was die dort angeführten Grundkategorien betrifft. Danach muss zunächst unterschieden werden zwischen der Eliminierung und dem Management von Differenzen. (15) Für den ersten Fall würde ein politisch-administratives System stehen, welches lediglich das staatliche Recht als normative Instanz anerkennt; konsequenterweise müsste man sogar von nur einer normsetzenden Spitze ausgehen. Im zweiten Fall hat man es mit verschiedenen Spielarten des Umgangs zu tun, die von hegemonialer Kontrolle über die Einräumung von Autonomierechten bis zu dem reichen, was im Zusammenhang mit ethnischen Differenzen ›multikulturelle Integration‹ genannt (und ausdrücklich von Assimilation unterschieden) wird. (16) In der Perspektive auf normative Diversität könnte man dazu zum Beispiel als Teil des staatlichen Justizsystems anerkannte Gerichte zählen, die nicht nur staatlichem Recht unterworfen sind, sondern auch indigenen Verfahrensregeln und Entscheidungsvorgaben folgen. (17)
Heruntergebrochen auf die Ebene konkreter Interaktion von Normen kann damit auch die Inkorporation einer Norm in ein anderes dominierendes Normensystem verbunden sein. Dies kann für beide Seiten Vorteile haben. Auf der einen Seite kann es für die inkorporierte Norm (bzw. den Normenkomplex) ein
Von diesen eher hierarchischen oder zumindest hegemonialen Formen unterscheiden sich solche, die auf einer Gleichrangigkeit oder zumindest weitgehenden Autonomie beider Seiten beruhen. Sie können aber auch in formell hierarchischen Relationen angetroffen werden, in denen aufgrund faktischer Umstände das hierarchische Prinzip nur teilweise umsetzbar ist. In solchen Relationen findet man zum einen die positive Koordination. (20) Hier werden die normativen Rationalitäten gleichermaßen in die Verfolgung eines gemeinsamen Zieles integriert. Davon zu unterscheiden ist die negative Koordination, in denen verschiedene normative Positionen nicht zum Zweck der Verfolgung gemeinsamer Ziele aufeinander abgestimmt werden, sondern als Vetopositionen rote Linien markieren, quasi die Funktion unüberwindbarer Einspruchsrechte übernehmen.
Weitgehend parallel laufen verschiedene normative Positionen da, wo man sie zwar wahrnimmt, gar nach außen hin ihre Bedeutung anerkennt, sie aber letztlich irrelevant bleiben. Dies kann man in Anknüpfung an den Sprachgebrauch der Interdisziplinaritätsforschung als »
Zweierlei ist allerdings zu diesen Einordnungen anzumerken: Erstens handelt es sich hierbei nur um grobe Raster. Oft verschmelzen verschiedene Modi normativer Interaktion. Und zweitens werden damit in erster Linie solche Aussagen erfasst, deren normativer Anspruch schon relativ stark ausgeprägt ist. Wie wirtschaftliche Interessen, moralische Maximen, politische Belange oder wissenschaftliche Rationalitäten in der Verwaltungspraxis derart zu normativen Ressourcen erstarken, dass ihnen gegenüber dem Recht eine konkurrierende Rolle zukommt, wie die Prozesse der Ingeltungsetzung subkutan ablaufen, lässt sich damit nur eingeschränkt erfassen. Dies kann nur durch Untersuchungen der konkreten Verwaltungspraxis herausgearbeitet werden.
Diese Ausführungen deuten schon darauf hin, dass der Aufeinanderbezug von Normen und normativen Ressourcen innerhalb sozialer Beziehungen stattfindet, in denen Interessen und Machtverhältnisse in einer bestimmten Weise konfiguriert sind (wobei es einen Unterschied macht, ob man gewissermaßen aus der Vogelperspektive auf administrative Strukturen und die diese betreffenden Gestaltungsprozesse blickt oder auf einzelne konkrete Verwaltungsverfahren).
Diese Relationen sind anzutreffen zwischen Verwaltungen und ihrer Verwaltungsumwelt, zwischen Verwaltungsstellen oder innerhalb von Verwaltungsstellen. Dabei muss es sich nicht immer um hierarchische Beziehungen handeln. Als übergeordneter Begriff bietet sich hier der Begriff der Governance an, soweit man darunter eine Gesamtheit von Regelungsmodi bei der Bewältigung öffentlicher Angelegenheiten begreift, welche bürokratische-hierarchische Mechanismen, Netzwerke, verschiedenste Kooperationsformen und gesellschaftliche Selbstregulierung erfasst. (22) In diesen Governanceregimen ist Multinormativität schon vorprogrammiert und kann mannigfaltige Konturen annehmen.
Verbleibt man innerhalb des administrativen Raums, bieten sich verschiedene Betrachtungsweisen an, in denen die interne Pluralität von Verwaltung thematisiert wird. Hier soll auf eine schon etwas ältere, aber auch für die Verwaltungsgeschichte recht nützliche Kategorienbildung Toonens von 1983 aufmerksam gemacht werden, die zwischen drei Perspektiven unterscheidet. 1. »
Diese Perspektiven lassen sich auf verschiedene organisatorische Modelle übertragen, in denen bestimmte der oben beschriebenen Aspekte in besonders deutlicher Weise hervortreten. Allerdings ist dies nur auf einem recht hohen Abstraktionsniveau möglich. In Reinform lassen sich korrespondierende Organisationsstrukturen kaum beobachten, oft hat man es mit Arrangements aus allen drei Modellen zu tun. Erkennbar wird aber, dass Multinormativität nicht nur in verschiedene Organisationsformen eingebettet ist, sondern auch weitgehend organisatorisch vorstrukturiert.
Deutlich wird also, dass die oben geschilderten verschiedenen Modi des Aufeinanderbezugs von Normen, normativen Positionen und normativen Ressourcen zu einem Gutteil erst in Abhängigkeit von bestimmten organisatorischen Vorstrukturierungen und Machtkonstellationen zum Tragen kommen können. Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, woraus normative Differenz überhaupt entsteht. Diese Frage muss nicht unbedingt beantwortet werden. Man kann normative Differenz auch lediglich konstatieren und sich dann darauf konzentrieren, wie sie praktiziert wird. Dennoch – um die dahinterstehenden sozialen Kräfte, ihre Legitimationsnarrative und ihre Wirkmächtigkeit zu verstehen, scheint es wichtig herauszuarbeiten, welche sozialen Differenzen normativen Differenzen zugrunde liegen – nicht in einem deterministischen Sinne, der keine Alternativen zulässt, sondern eher in der Weise, dass durch soziale Differenzierung normative Spannungsverhältnisse entstehen
Hierbei könnte man zunächst von sozialer Differenzierung im Sinne der Einteilung in soziale Schichten bzw. Klassen ausgehen. Fruchtbar machen lässt sich dieses Verständnis für die Erfassung administrativer Multinormativität aber eher nur in begrenzter Weise, vor allem dann, wenn Verwaltung es mit einer bestimmten, als Schicht oder Klasse beschreibbaren Klientel zu tun hat, für die spezifische normativ aufgeladene Beschreibungsmuster und Handlungsorientierungen zu erarbeiten sind (z. B. ›Arme‹ (26)). Mehr Ertrag verspricht dagegen die Anknüpfung an ein Verständnis sozialer Differenzierung, welches auf unterschiedliche Handlungsrationalitäten und Kommunikationsweisen abstellt. Hier kommen vor allem systemtheoretische Konzepte ins Spiel, die gerade für das hier behandelte 19. und 20. Jahrhundert Beobachtungsmuster bereitstellen, welche auch in normativer Hinsicht Erklärungsansätze liefern können. Bekanntlich geht die in jüngerer Zeit vor allem von Luhmann repräsentierte, aber auf einer langen Theorietradition aufbauende (27) Systemtheorie von der zunehmenden Durchsetzung funktionaler Differenzierung als vorherrschender Differenzierungsform aus. Abgelöst wird damit – jedenfalls als Leitdifferenzierungsform – die bis dahin dominierende stratifikatorische Differenzierung, die freilich nicht völlig verschwindet.
Wenn man nun davon ausgeht, dass die durch funktionale Differenzierung hervorgebrachten funktionalen Teilsysteme (z. B. Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik usw.) jeweils eigene normative Botschaften aussenden, die in der Verwaltungspraxis zusammenstoßen (28), jedenfalls dort irgendwie zu koordinieren sind (29), könnte dies ein vielversprechender Ansatz sein, um das Verständnis von administrativer Multinormativität zu vertiefen. Deutlich wird dies ja in der Konkurrenz von normativ unterfütterten Gestaltungsansprüchen in der Industriellen Revolution, als ökonomische und technische Rationalitäten gegen die juristische Rationalität ins Feld geführt wurden, um zu begründen, dass Unternehmensverbände und Ingenieure die Federführung bei technischer Normsetzung und betrieblichen Kontrollen übernehmen sollten und nicht die Verwaltung. (30)
Allerdings verbieten sich hier vorschnelle Ableitungen. Die für die Reproduktion der funktionalen Teilsysteme konstitutiven Kommunikationskodes enthalten noch keine klaren normativen Aussagen, sondern bestimmen nur,
Allerdings bringt funktionale Differenzierung andere Formen, also stratifikatorische und segmentäre Differenzierung, nicht gänzlich zum Verschwinden. Darauf wird vor allem aus nichteuropäischer Perspektive verwiesen, wobei hier zugleich auch eine Kritik an der westlichen Fixierung auf funktionale Differenzierung mitschwingt. (33) Es ist also auch perspektivenabhängig, ob man das Vorhandensein nichtfunktionaler Differenzierungsformen als Ausdruck insuffizienter funktionaler Differenzierung (34) ansieht und damit diese Formen eher als Manifestation noch bestehender Rückständigkeit einstuft oder ob man beispielsweise segmentäre Differenzierung, die zum Beispiel in ethnischen Gruppen und religiösen Communities zum Ausdruck kommt, auch als normalen Bestandteil der Moderne akzeptiert und ihr damit einen ›gleichberechtigten‹ Platz neben funktionaler Differenzierung zuweist. (35) Auf jeden Fall hat auch eine Geschichte administrativer Multinormativität der Moderne derartige Differenzierungsformen zu berücksichtigen, zumal hier die Möglichkeit schwerwiegender normativer Konflikte in größerem Maße vorhanden ist.
Die Aussage, dass Verwaltungshandeln konfrontiert sein kann mit verschiedenen Normativitäten, die aus der spezifischen Rationalität bestimmter sozialer Zusammenhänge erwachsen, muss nicht unbedingt systemtheoretisch hergeleitet werden, wie dies im obigen Fall geschieht. Wenn aber im verwaltungswissenschaftlichen Schrifttum der allgemeine Befund in den Raum gestellt wird, dass aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Recht unterschiedliche, von der Verwaltung zu verarbeitende Handlungsanforderungen resultieren (36), läuft dies auf das Gleiche hinaus. Doch inwiefern handelt es sich hierbei um einen historischen Befund? Mit anderen Worten: Gilt die Aussage, dass Verwaltung divergierende Normativität verarbeitet, durchgängig oder erscheint es sinnvoll, nicht nur auf graduelle Änderungen, sondern auch auf Brüche oder substanzielle, das Selbst- und Fremdverständnis von Verwaltung im Kern betreffende Verschiebungen hinzuweisen?
Denn es fallen zwei Grundaussagen auf, die sich – auf das hier behandelte Thema bezogen – fundamental zu widersprechen scheinen. Geht man vom Befund fortschreitender funktionaler Differenzierung aus, liegt die Annahme wachsender normativer Pluralität nahe, die dann auch das Verwaltungshandeln prägt – denn Verwaltung wäre dann in immer stärkerem Maße heterogenen normativen Irritationen aus ihrer Umwelt ausgesetzt. Demgegenüber steht zum Beispiel die von Jens Ivo Engels behauptete Tendenz, dass organisierte Staatlichkeit seit Ausgang des 18. Jahrhunderts immer weniger normative »Ambiguitätstoleranz« zeigte und eher zu Mononormativität neigte. Zwar seien diese mononormativen Ansprüche immer wieder Gefährdungen ausgesetzt, hierfür könnten jedoch Hilfsmechanismen geschaffen werden, in denen Hilfsnormen mit Korrekturfunktion zum Einsatz kommen, ohne die Dominanz der Hauptnorm zu gefährden. Insgesamt jedenfalls wird schon in der Verwaltungsentwicklung des 19. Jahrhunderts eine Tendenz zur »Vereinheitlichung«, »Vereindeutigung« und »klaren Kategorienbildung« gesehen. (37)
Letztlich sind hiermit zwei miteinander verbundene Tendenzen der (vor allem europäischen) Verwaltungsgeschichte angesprochen. Zum einen emanzipierte sich die Verwaltung von altständischen Klientelbeziehungen, stand einem theoretisch gleich gedachten Untertanen bzw. Staatsbürger gegenüber und hatte gegenüber diesem auf der Grundlage einer einheitlichen Normenordnung zu handeln, zu der das – Rechtseinheit und Rechtsgleichheit unterlaufende – Privileg (38) nicht mehr gehörte. Hinzu kam ein auch und gerade die Verwaltung ergreifender Prozess der Verrechtlichung im Sinne der immer stärkeren Durchdringung sozialer Handlungskomplexe durch Recht. (39) Hierdurch wurden andere Normativitäten verdrängt – jedenfalls konnten diese nicht mehr in gleichem Maße wie früher den Rang offizieller Leitlinien beanspruchen.
Auf der anderen Seite ist man konfrontiert mit einem sich im Laufe der letzten 200 Jahre wechselseitig verstärkenden Komplexitätswachstum von Verwaltung und Verwaltungsumwelt (40). Dies hat zu tun mit dem Wachstum der Staatsaufgaben, mit der damit einhergehenden Ausdifferenzierung der administrativen Wissensbasis, vor allem in Bezug auf technisch-naturwissenschaftliches, aber auch sozialtechnologisches Wissen, und mit der Herausbildung »fragmentierter Interessenarenen« (41), innerhalb derer die Verwaltung agiert. Der Chor, der seine Bedürfnisse und Regelungsvorstellungen, aber auch sein Problemwissen an die Politik heranträgt, wird immer vielstimmiger. Ergebnis sind »größere, diversifiziertere und detailreichere Policy-Portfolios« (42)
Somit werden zwei sich auf den ersten Blick widersprechende, letztlich aber ineinandergreifende Tendenzen sichtbar. Mit der Auflösung altständischer Sonderordnungen wird Verwaltung zur Verwaltung gegenüber einem einheitlich gedachten Volk von Untertanen bzw. Staatsbürgern, geleitet von gleichheitsbasiertem Recht. Gleichheit bedeutet hier – tendenziell – territoriale Gleichheit, d. h. einheitliches Recht für das gesamte Staatsgebiet (soweit es sich nicht um Gebilde mit föderaler Struktur handelt), personale Gleichheit im Sinne des Wegfalls von Privilegien und
Damit sind Grundlinien skizziert. Doch welche Erkenntnisse vermögen die in diesem Band versammelten Beiträge dem hinzuzufügen? Inwiefern tragen sie dazu bei, bestimmte Einsichten infrage zu stellen oder auch noch schärfer zu akzentuieren?
Zunächst ist auf das breite Spektrum von Untersuchungsfeldern und Perspektiven hinzuweisen, welches die Beiträge bieten – was den Vorteil hat, dass man einen weiten Blick auf die Manifestationen administrativer Multinormativität gewinnt, aber den Nachteil, dass es wegen der Verschiedenheit der Zugänge schwierig wird, einheitliche Maßstäbe für die Präsentation von deren Ergebnissen anzulegen. Einige Aufsätze befassen sich mit komplexen Verwaltungsvorgängen, in denen Multinormativität schon von der Natur der Sache her angelegt ist
(43):
Dass hiermit unterschiedliche Perspektiven auf Multinormativität verbunden sind, ergibt sich schon aus der Mannigfaltigkeit der Akteurskonstellationen, die in den Beiträgen eine Rolle spielen. Bei
Welche Arten von Normen kommen nun in den von den Beiträgen behandelten Akteurskonstellationen zum Austrag? Zunächst finden sich die ›üblichen Verdächtigen‹: innerstaatliches Recht (in verschiedener Ausprägung, so als gesamtstaatliches Recht und als Recht föderaler Einheiten), ausländisches Recht (
Was die Modi von Multinormativität betrifft, zeigen die Beiträge, dass die Vorstellung einer Gegenüberstellung von Normen, welche sich gegeneinander durchsetzen oder miteinander abzustimmen sind, zu unterkomplex ist. Sicher finden sich solche Konstellationen auch hier, etwa bei der Hafenstaatskontrolle (
Lassen sich die oben geschilderten Gemengelagen noch als Konfliktlagen präsentieren, so versagt ein derartiges Darstellungsmuster, wenn es am Zusammenstoß widerstreitender Normen oder auch nur normativ relevanter Vorstellungen fehlt. Wenn Standesbeamte aufgrund bestimmter Ehrvorstellungen binationalen Eheschließungen dann ablehnend gegenüberstanden, wenn die Frau eine Deutsche war, hingegen weniger Einwände hatten, wenn ein deutscher Mann eine Ausländerin heiraten wollte (
Die Intensität des Zusammenspiels bzw. des Konflikts von normativen Vorstellungen ist im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen.
Anders als in verwaltungswissenschaftlichen Perspektiven, in denen Verwaltungshandeln auch außerhalb von Ermessensspielräumen von Abwägungsfreiräumen geprägt ist, Arthur Benz: Zur Legitimation administrativer Entscheidungen, in: Michael W. Bauer / Edgar Grande (Hg.): Perspektiven der Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2018, S. 73–100, hier S. 77–79; Jörg Bogumil / Werner Jann: Verwaltungswissenschaft(en) in Deutschland, in: Jörg Bogumil / Werner Jann (Hg.): Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, Wiesbaden 32020, S. 7–58, hier S. 34.
Wolfgang Seibel: Politisierungsrisiken der Normalverwaltung, in: Bauer/Grande: Perspektiven, S. 101–120, 102.
Siehe vor allem Thomas Duve: Was ist ›Multinormativität‹? – Einführende Bemerkungen, in: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 88–101. Ursprünglich geht der Begriff zurück auf einen Akademievortrag des damaligen Mitarbeiters Miloš Vec. Siehe Miloš Vec: Multinormativität in der Rechtsgeschichte, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Jahrbuch der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2008, Berlin 2009, S. 155–166.
Sally Moore: Law and social change. The semi-autonomous social field as an appropriate subject of study, in: Law & Society Review 7 (1973), S. 719–746.
Dazu siehe vor allem Brian Z. Tamanaha: A Non-Essentialist Version of Legal Pluralism, in: Journal of Law and Society 97 (2000), S. 296–321, hier S. 297–299.
Rainer Lippold: Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit von Rechtsnormen, Rechtstheorie 19 (1988), S. 463–489, hier S. 465.
Peter Stemmer: Die Konstitution der normativen Wirklichkeit, in: Rainer Forst/Klaus Günther (Hg.): Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main 2011, S. 57–68, hier S. 57.
Klaus F. Röhl: Rechtssoziologie, Köln 1987, S. 200.
Niklas Luhmann: Normen in soziologischer Perspektive, Soziale Welt 20 (1969), S. 28–48, hier S. 37.
Manfred Rehbinder: Rechtssoziologie, Berlin 21989, S. 1; Jan Sieckmann: Recht als normatives System. Die Prinzipientheorie des Rechts, Baden-Baden 2009, S. 101f. (als eine Möglichkeit).
So (mit unterschiedlichen Aussageabsichten) Friedrich Müller: Strukturierende Rechtslehre, Berlin 1984, S. 257f.; Sabine Müller-Mall: Normative Kräfte, in: Jochen Bung/Brian Valerius/Sascha Ziemann (Hg.): Normativität und Rechtskritik (ARSP Beiheft 114), Stuttgart 2007, S. 16–27, hier: S. 19ff.; Peter Stemmer: Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin 2008, S. 40f.
In diesem Sinne Maximiliane Berger / Clara Günzl / Nicola Kramp-Seidel: Normen und Entscheiden. Bemerkungen zu einem problematischen Verhältnis, in: Ulrich Pfister (Hg.): Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 248–265, hier 249.
Siehe z. B. Peter Collin: Ehrengerichtliche Rechtsprechung im Kaiserreich und der Weimarer Republik: Multinormativität in einer mononormativen Rechtsordnung? In: Rechtsgeschichte – Legal History 25 (2017), S. 138–150 (DOI:
Siehe den Beitrag von Aleksandra Oniszczuk in diesem Heft.
Will Kymlicka / Wayne Norman: Citizenship in Culturally Diverse Societies. Issues, Contexts, Concepts, in: dies. (Hg.): Citizenship in Diverse Societies, Oxford 2000, S. 1–41, hier S. 12–18 (diese folgend John McGarry/Brendan O’Leary: Introduction. The macro-political regulation of ethnic conflict, in: dies. (Hg.): The Politics of Ethnic Conflict Regulation, London 1993, S. 1–40, hier S. 4ff.).
Kymlicka / Norman: Citizenship in Culturally Diverse Societies, S. 1–41, hier: S. 14.
Beispiele bei Matthias Kötter: Better Access to Justice by Public Recognition of Non-State Justice Systems? In: Peter Collin (Hg.): Justice without the State within the State, Frankfurt am Main, 2016, S. 283–307.
Brynna Connolly: Non-State Justice systems and the State: Proposal for a recognition typology, in: Connecticut Law Review 38 (2005), S. 239–294, hier S. 247f.
Erk Volkmar Heyen: Amt und Rationalität, Legitimität und Kontrolle. Grundbegriffe historisch-komparativer Verwaltungsanalyse, in: Arthur Benz / Heinrich Siedentopf / Karl-Peter Sommermann (Hg.): Institutionenwandel in Regierung und Verwaltung. Festschrift für Klaus König zum 70. Geburtstag, Berlin 2004, S. 49–60, hier: S. 59.
Fritz W. Scharpf: Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen, in: Adrienne Héritier (Hg.): Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung (Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 24), Opladen 1993, S. 57–83.
Winfried Löffler: Vom Schlechten des Guten. Gibt es schlechte Interdisziplinarität, in: Michael Jungert u. a. (Hg.): Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme, Darmstadt 2010, S. 152–172, hier: S. 165.
Renate Mayntz: Governance im modernen Staat, in: Arthur Benz (Hg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden 2004, S. 65–76, hier S. 68–71.
Theo Toonen: Administrative Plurality in a Unitary State. The Analysis of Public Organisational Pluralism, in: Policy and Politics 11 (1983), S. 247–271, hier S. 255.
Toonen: Administrative Plurality, S. 256f.
Toonen: Administrative Plurality, 257f.; so auch Michael M. Atkinson / William D. Coleman: Policy Networks, Policy Communities and the Problems of Governance, in: Governance 5 (1992), S. 154–180, hier S. 163: »In this version, state authority is seriously fragmented, agencies and bureaus are in open competition …«.
Wilfried Rudloff: Würdigkeit, Bedürftigkeit, Wertigkeit. Zum Wechselspiel von Armutsbildern, Armutspolitiken und Armutsregimen in Deutschland 1880–1960, in: Günther Schulz (Hrsg.): Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte, Stuttgart 2015, S. 249–265.
Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 32007.
So lässt sich die Verwaltung zwar einerseits als Teil des politischen Systems beschreiben, andererseits aber auch als Knotenpunkt, an dem das politische System mit anderen Systemrationalitäten konfrontiert wird; siehe dazu Leo Wansleben: »Ghost in the Machine«. Der Staat in Luhmanns Theorie politischer Systeme, Soziale Systeme 21 (2016), S. 279–306.
Dies betont – allerdings ohne direkt an systemtheoretischen Ansätzen anzuknüpfen – Ignace Snellen: Grundlagen der Verwaltungswissenschaft, Wiesbaden 2006, S. 101, 106, der von den vier für Verwaltungshandeln maßgeblichen »Rationalitäten« bzw. »Aspekten des Lebens« spricht, nämlich Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Recht.
Miloš Vec: Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung, Frankfurt am Main 2006, S. 352–365; Ina vom Feld: Staatsentlastung um Technikrecht. Dampfkesselgesetzgebung und -überwachung in Preußen 1831–1914, Frankfurt am Main, S. 64–75.
Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, S. 89–100, hier S. 89, 94.
Klaus Türk: Die Organisation der Welt, Opladen 1995, S. 183–185.
Lucas Fucci Amato: Still a European anomaly? Theses on Luhmann, functional differentiation, world society and the legal system, in: Marco Antonio Loschiavo Leme de Barros/Lucas Fucci Amato/Gabriel Ferreira da Fonseca (Hg.): World Society’s Law. Rethinking systems theory and socio-legal studies, Porto Alegre 2020, S. 71–118, insb. S. 75, 81.
Zu deren verschiedenen Ausprägungen Paul Colomy: Revisions and Progress in Differentiation Theory, in: Jeffrey C. Alexander / Paul B. Colomy (Hg.): Differentiation Theory and Social Change. Comparative and Historical Perspectives, New York 1990, S. 465–495, hier S. 470–472.
So Benjamin Ziemann: Gesellschaftswandel und Modernisierung, 1800–2000. Zur Einführung, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017), S. 3–20, hier: S. 10; Amato: Still a European anomaly? S. 71–118, insb. S. 81.
Snellen: Grundlagen der Verwaltungswissenschaft, S. 101, 106.
Jens Ivo Engels: Vom vergeblichen Streben nach Eindeutigkeit. Normenkonkurrenz in der europäischen Moderne, in: Arne Karsten / Hillard von Thiessen (Hg.): Normenkonkurrenz in historischer Perspektive, Berlin 2015, S. 217–237, insb. S. 224.
Zum Privileg als ubiquitärem Regelungsmodell des Ancien Règime siehe nur jüngst Guillaume Garner (Hg.): Die Ökonomie des Privilegs, Westeuropa 16.–19. Jahrhundert/L‘ économie du privilège, Europe occidentale XVI–XIX siècles, Frankfurt am Main 2016.
Michael Bock: Die Eigendynamik der Verrechtlichung in der modernen Gesellschaft, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.): Zur Entwicklung von Rechtsbewusstsein, Frankfurt am Main, S. 403–428, hier: S. 403.
William F. West: The Growth of Internal Conflict in Administrative Regulation, in: Public Administration Review 48 (1988), S. 773–782, hier S. 774.
Karl-Heinz Ladeur: »Abwägung« — ein neues Rechtsparadigma? Von der Einheit der Rechtsordnung zur Pluralität der Rechtsdiskurse, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 69 (1983), S. 463–483, hier: S. 470.
Christian Adam / Christoph Knill: Plädoyer für eine epidemiologische Neuausrichtung der Implementationsforschung. Skizze einer Forschungsagenda, in: Bauer / Grande: Perspektiven, S. 223–256, hier S. 224.
Siehe nur Uwe Schimank / Raimund Werle: Einleitung. Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit, in: Raimund Werle / Uwe Schimank (Hg.): Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit, Frankfurt am Main 2000, S. 9–20, hier S. 15.