Österreichisches Staatsarchiv (Wien) [ÖStA], Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kabinettsarchiv, Reichsrat Organisierungskommission, Kt. 2, Z. 29, Vortrag der Organisierungskommission, 31. 8. 1852. – Für wertvolle Rückmeldungen, Hinweise und Diskussionen zu diesem Text und zu seinen auf mehreren Veranstaltungen präsentierten Vorstufen sei (in alphabetischer Reihenfolge) Peter Becker, John Deak, Ellinor Forster, Wolfgang Göderle, Pieter Judson, Josef Löffler, Stefan Nellen, Hedwig Richter, Anette Schlimm und Nancy Wingfield sowie der anonymen Gutachterin / dem anonymen Gutachter gedankt.
So brachte der Präsident des Reichsrates, Karl Friedrich von Kübeck, im Jahr 1852 die Bedeutung auf den Punkt, die der staatlichen Bezirksverwaltung im Rahmen der »Neugestaltung« Der Ausdruck erscheint im Titel einer offiziösen Schrift des Direktors der administrativen Statistik; Carl von Czoernig: Oesterreich’s Neugestaltung 1848–1857, Wien 1857, 2Stuttgart 1858. Eine solche Sicht auf die eigenen Maßnahmen wurde von den meisten Akteuren innerhalb des neoabsolutistischen Regimes geteilt, wenn auch bei im Einzelnen divergierenden Zielvorstellungen; vgl. Georg Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im österreichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849–1859, Wien 2015, S. 13–14; Waltraud Heindl: »Verwaltungseliten im Neoabsolutismus. Professionelles und politisches Profil vor dem Horizont der Modernisierung«, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 145–157, hier S. 145; Jiří Kořalka: »Idea a realita rakouského státu v době tvůrčí činnosti Boženy Němcové«, in: Milan Horký / Roman Horký (Hg.): Božena Němcová. Život – dílo – doba. Sborník příspěvků ze stejnojmenné konference konané ve dnech 7. – 8. září 2005 v Muzeu Boženy Němcové, Česká Skalice 2006, S. 95–102, hier S. 98. Eduard Bach an Alexander Bach, 26. 5. 1853, zitiert nach Waltraud Heindl: Bürokratie und Beamte in Österreich, Bd. 2: Josephinische Mandarine. 1848 bis 1914, Wien 2013, S. 52.
Was den zeitgenössischen Entscheidungsträgern bewusst war, blieb auch späteren Historikern und Historikerinnen nicht verborgen. Von Josef Redlich Josef Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bde., Leipzig 1920–1926, hier Bd. 1, S. 367–378, 412–413, 441–444. Friedrich Walter: Die österreichische Zentralverwaltung, Abt. 3: Von der Märzrevolution 1848 bis zur Dezemberverfassung 1867, 4 Bde., Wien 1964–1971, hier Bd. 1, S. 367–381, 545–557; Bd. 3, S. 46–48, 83, 237–242, 287–288. Harm-Hinrich Brandt: Der österreichische Neoabsolutismus. Staatsfinanzen und Politik 1848–1860, 2 Bde., Göttingen 1978, hier Bd. 1, S. 248–251, 255–256. John Deak: Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015, S. 85–88, 115–121, 130, 164–165, 172, 189–192; Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 216-248. Verhältnismäßig ausführlich Pieter M. Judson: The Habsburg Empire. A New History, Cambridge (Massachusetts) 2016, S. 222–226. Knapp auch etwa Brigitte Mazohl: »Die Habsburgermonarchie 1848–1918«, in: Thomas Winkelbauer (Hg.): Geschichte Österreichs, Stuttgart 2015, S. 391–476, hier S. 407; Robert A. Kann: A History of the Habsburg Empire 1526–1918, Berkeley 1974, S. 320. Aus archivischen Erschließungsarbeiten geht freilich manche wertvolle Darstellung hervor, etwa die von Gernot Peter Obersteiner: »Die steirischen Bezirkshauptmannschaften 1868 bis 1925«, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 42/43 (1993), S. 77–98. Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 591: »Mit dem Problem der Bürokratie sind die Grundfragen des ›österreichischen Staats- und Reichsproblems‹ verknüpft«. Diskussionen um eine Epochenbezeichnung für den Zeitraum zwischen 1848 und 1867 sowie um eine nähere Periodisierung innerhalb desselben sind immer wieder geführt worden und dauern auch in der Gegenwart an. Dazu jüngst Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 31–35; Harm-Hinrich Brandt: »›Den Vorhang zu – und alle Fragen offen‹? Versuch eines Resümees«, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 449–486, hier S. 484–486. Waltraud Heindl: »Verfassung als Verwaltung – das neoabsolutistische Experiment«, in: Dušan Kováč / Arnold Suppan / Emilia Hrabovec (Hg.): Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, Bratislava 2001, S. 23–35. Harm-Hinrich Brandt: »Verwaltung als Verfassung – Verwaltung und Verfassung? Zum historischen Ort des ›Neoabsolutismus‹ in der Geschichte Österreichs«, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 11–34. Judson: Habsburg Empire, S. 251–257; Oskar Lehner: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte mit Grundzügen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Linz 1992, S. 197–201; Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 900–996; Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 3, S. 113–245.
Bei der Betrachtung in diesen großen Rahmen ist freilich die Bezirksebene als unterstes Glied der genuin staatlichen Verwaltung doch meistens nur knapp behandelt worden. Den zentralen Gegenstand der Untersuchung hat sie bisher selten abgegeben. Die Ausnahme bildet ein kleiner Sammelband, dessen Herausgabe durch das Zentenarium der endgültigen Einrichtung der Bezirkshauptmannschaften im Jahre 1868 veranlasst wurde. Johannes Gründler (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970. Die überwiegend von Archivaren und Landesverwaltungsbeamten erarbeiteten Aufsätze darin beruhen zwar zum Teil sichtlich auf eingehendem Quellenstudium, wurden aber bedauerlicherweise durchgehend ohne Nachweise gestaltet. Ernst C. Hellbling: »Die Landesverwaltung in Cisleithanien«, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 2: Verwaltung und Rechtswesen, Wien 1975, S. 190–269. Der Ausdruck wird verwendet in Anlehnung an Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer: »Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts«, in: Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln 2016, S. 7–31. Ganzenmüller und Tönsmeyer definieren freilich nicht explizit, was sie damit meinen. Ausgehend von den in ihrem Text und dem Sammelband, den er einleitet, behandelten Gegenständen kann unter ›Fläche‹, oder besser unter ›Flächenhaftigkeit‹, ein bestimmter Modus des Vorhandenseins eines Phänomens in einem Raum verstanden werden, nämlich eine tendenziell gleichmäßige und dichte Verteilung im Gegensatz zu einer sporadischen und unebenen; der höchste Steigerungsgrad bestünde in der lückenlosen und homogenen Ausfüllung des Raumes. Die Rede von der ›Fläche‹ setzt im Übrigen voraus, dass der Raum des Staates als zweidimensional nach Art eines Kartenbildes vorgestellt wird – eine zwar heute vertraute, aber keineswegs selbstverständliche Anschauungsweise. Die grundherrschaftliche Verwaltung im österreichischen Vormärz hat als unbefriedigend erforscht zu gelten. Neben dem Beitrag von Josef Löffler in diesem Band vgl. Ralph Melville: Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998, S. 15–60; Walter Sauer: Grund-Herrschaft in Wien 1700–1848. Zu Struktur und Funktion intermediärer Gewalten in der Großstadt, Wien 1993; Hellmuth Feigl: »Der Adel in Niederösterreich 1780-1861«, in: Armgard von Reden-Dohna / Ralph Melville (Hg.): Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Stuttgart 1988, S. 191–223, hier S. 212–213.
Die Beobachtungen in diesem Artikel sind erste Resultate eines Forschungsprojektes, das sich zum Ziel setzt, die formativen Jahre der Bezirksverwaltung in den Blick zu nehmen, indem Aufbauvorgänge, alltägliche Behördentätigkeit und deren aktenmäßiger Niederschlag aus der Perspektive einer kulturhistorisch orientierten Verwaltungsgeschichte untersucht werden. Birgit Emich: »Verwaltungskulturen im Kirchenstaat? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung«, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 163–180; Birgit Näther: »Produktion von Normativität in der Praxis: Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht«, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 121–135, hier S. 121–127; Peter Becker: »Sprachvollzug: Kommunikation und Verwaltung«, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 9–42; Stefan Haas / Mark Hengerer: »Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne«, in: Stefan Haas / Mark Hengerer (Hg.): Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt am Main 2008, S. 9–22; Peter Becker: »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung«, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), S. 311–336. In diesem Artikel werden Orte, die sich heute in der Tschechischen Republik oder in Slowenien befinden, mit ihren aktuellen amtlichen Namen bezeichnet; deutsche Namensformen werden gegebenenfalls bei der Erstnennung in Klammern angeführt. In den Verwaltungsakten aus dem Untersuchungszeitraum finden sich durchgehend deutsche oder eingedeutschte Namensformen. Andreas Gottsmann: Venetien 1859–1866. Österreichische Verwaltung und nationale Opposition, Wien 2005; Brigitte Mazohl: Österreichischer Verwaltungsstaat und administrative Eliten im Königreich Lombardo-Venetien 1815–1859, Mainz 1993. Zsolt K. Lengyel: »Österreichischer Neoabsolutismus in Ungarn. Grundlinien, Probleme und Perspektiven der historischen Forschung über die Bach-Ära«, in: Südost-Forschungen. Internationale Zeitschrift für Geschichte, Kultur und Landeskunde Südosteuropas 56 (1997), S. 213-278; Oszkár Sashegyi: Ungarns politische Verwaltung in der Ära Bach 1849–1860, Graz 1979. Siehe den Beitrag von Ellinor Forster in diesem Band; außerdem Reinhard Stauber: Der Zentralstaat an seinen Grenzen. Administrative Integration, Herrschaftswechsel und politische Kultur im südlichen Alpenraum 1750–1820, Göttingen 2001, S. 275–346; Margot Hamm: Die bayerische Integrationspolitik in Tirol 1806–1814, München 1996. Margareth Lanzinger: »Das Lokale neu positionieren im
Damit ist eine schwierige Frage angeschnitten, die für die Einordnung dieses Beitrags in den konzeptuellen Rahmen des Bandes neuralgisch ist: jene, ob es denn überhaupt statthaft ist, von der habsburgischen Monarchie im 19. Jahrhundert als ›Staat‹ zu sprechen. Dass sie kein Nationalstaat im Sinne damals verbreiteter Idealvorstellungen war und auch nicht anstreben konnte, einer zu werden, ist unbestritten, wenngleich es zeitgenössisch und historiographisch höchst unterschiedlich gewertet worden ist. Als prominentes, verhältnismäßig rezentes Beispiel jener Historiographie, die in der Diskrepanz zum nationalstaatlichen Ideal den wesentlichen Grund für den Untergang der Monarchie sah, mag etwa zitiert werden Robert A. Kann: »Zur Problematik der Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1848–1918. Eine Zusammenfassung«, in: Adam Wandruszka / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches, Teilbd. 2, Wien 1980, S. 1304–1338. Als aktuelle Vertreter der Gegenposition seien Pieter Judson und John Deak genannt, die sich auch explizit kritisch mit der historiographischen Tradition auseinandersetzen; vgl. Judson: Habsburg Empire, S. 9–15; Deak: Forging a Multinational Empire, S. 2–6. Damit war sie freilich im europäischen Vergleich nicht allein. Dass diese Kriterien etwa auch mit Blick auf Preußen und Deutschland Probleme bereiten, argumentiert Thomas Ellwein: Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, 2 Bde., Opladen 1993–1997, hier Bd. 1, S. 26–32. Im Sinne von Jane Burbank / Frederick Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010, S. 8. In diesem Sinne Wolfgang Goderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016, S. 17–23; Benno Gammerl: Staatsbürger, Untertanen und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010, S. 12–17; weiters vgl. Jana Osterkamp: »Wasser, Erde, Imperium. Eine kleine Politikgeschichte der Meliorationen in der Habsburgermonarchie«, in: Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln 2016, S. 179–197. Dagegen Pieter M. Judson: »L’Autriche-Hongrie était-élle un empire?«, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 63 (2008), S. 563–596. Ebenfalls skeptisch zeigt sich, freilich auf der Basis eines weniger klar bestimmten Imperienbegriffs, Franz Leander Fillafer: »Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert«, in: Philipp Ther (Hg.): Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich, Wien 2012, S. 23–53.
In Reaktion auf diese Debatten sei zunächst festgestellt, dass es verkürzend und nicht eben hilfreich erscheint, Nationalstaat und Imperium als Gegensatzpaar aufzufassen, neben dem keine weiteren alternativen Möglichkeiten vorstellbar wären. Gerade im Hinblick auf die Habsburgermonarchie ist mit Benno Gammerl daran festzuhalten, dass auch ein plurinational oder anational konzipierter Staat auf dem Postulat staatsbürgerlicher Gleichheit beruhen kann, und das nicht bloß in der Theorie. Eine solche Logik des Staates zählte neben der nationalen und der imperialen zu den Modellen, die in der Geschichte der Habsburgermonarchie, vor allem im 19. Jahrhundert, nicht nur verfochten, sondern auch in der praktischen Umsetzung erprobt wurden Gammerl: Staatsbürger, S. 73–102. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 22.
Sobald also der Nationalstaat nicht mehr, wie dies lange der Fall war, als einzige oder doch als vollendetste Erscheinungsform des ›modernen‹ Staates gilt, wird es möglich und sinnvoll, von habsburgischer Staatsbildung zu sprechen, ohne dass die Frage der ›Nationalitäten‹ im Mittelpunkt stehen muss. Diesen historiographischen Ansatz verficht und realisiert Deak: Forging a Multinational State. Siehe Einleitung, Abschnitt 2. Falk Bretschneider / Christophe Duhamelle: »Fraktalität. Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43 (2016), S. 703–746, hier S. 726.
Im Folgenden wird versucht, als Ergebnis einer Prospektion relevanter Archivbestände einige zentrale Problemfelder beim Aufbau der österreichischen Bezirksverwaltung von 1848 bis in die 1860er Jahre zu skizzieren. Der Zugang, vom überlieferten Material auszugehen, ist nicht unproblematisch, setzt er sich doch zwangsläufig dem Einfluss der eigenen Sichtweisen der Aktenproduzenten aus – einer Gefahr, auf die unter anderen Pierre Bourdieu hingewiesen hat, als er davor warnte, sich beim Denken des Staates ein vom Staat geschaffenes Denken zu eigen zu machen. Pierre Bourdieu: »Ésprits ďÉtat. Genèse et structure du champ bureaucratique«, in: Actes de la recherche en sciences sociales 96/97 (1993), S. 49–62, hier S. 49: »Entreprendre de penser l’État, c’est s’exposer à reprendre à son compte une pensée ďÉtat, à appliquer à l’État des catégories de pensée produites et garanties par l’État, donc à méconnaître la vérité la plus fondamentale de l’État«. Zu den besonderen Gefahren der Archivbenutzung in der Verwaltungsgeschichte vgl. Caroline Dufour: »Administrative History and the Theory of Fields: Towards a Social and Political History of Public Administration«, in: Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte 1 (2016), S. 124–137, hier S. 128–129. Gerade die Akten der Mittel- und Unterbehörden des 19. Jh. sind zu großen Teilen skartiert worden; vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 7, 213–214; Obersteiner: »Bezirkshauptmannschaften«, S. 95.
Es wird in drei Schritten vorgegangen. Im ersten soll versucht werden, einige Arten von Räumen der Verwaltung zu benennen und knapp zu beschreiben, die bei der Errichtung der Bezirksbehörden neu gebildet oder maßgeblich verändert wurden. Auch soll das Verhältnis zwischen diesen und den zugleich bestehenden räumlichen Ordnungen anderer Arten – etwa ökonomischen Räumen – zumindest berührt werden. Ausgehend davon, dass Räume stets von Menschen konstituiert werden, soll es im zweiten Schritt darum gehen, welche Gruppen von Akteurinnen und Akteuren an der Bildung der neuen Räume der Verwaltung beteiligt waren – solche, die dem Staat in besonderem Maße zugerechnet werden können, aber auch jene, die ihm ›nur‹ als auf seinem Gebiet Lebende und seiner Verwaltung Unterstellte angehörten. In einem dritten, thematisch stark aufgefächerten Abschnitt wird zuletzt eine Art Katalog von Auswirkungen dieser neuen Raumbildungen geboten – in erster Linie Auswirkungen auf den Staat, seine weitere Entwicklung und sein Verhältnis zu seinen Angehörigen. Es versteht sich von selbst, dass die Aufzählung von Problemfeldern keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Vielmehr soll sie Perspektiven für eine künftige Forschung aufzeigen.
Als chronologisches Gerüst zur Einordnung der im Hauptteil dieses Artikels in thematischer Anordnung vorgebrachten Beobachtungen wird eine behördengeschichtliche Überschau der fraglichen Jahrzehnte vorausgeschickt. Sie kann zugleich als – freilich sehr knappe – Synthese des Forschungsstandes gelten, wie er sich als Ergebnis einer überwiegend an der normativ geregelten Einrichtung von Institutionen orientierten Verwaltungsgeschichtsforschung zeigt. Dieser Stand ist ein notwendiger Ausgangspunkt für eine vertiefende und durch zusätzliche Perspektiven und Fragestellungen erweiterte Kulturgeschichte der Verwaltung und – speziell hier – für eine Betrachtung der Verwaltungsgeschichte in räumlicher Perspektive.
Im genannten Zeitraum von 1848 bis etwa 1870 zeigen sich im Wesentlichen drei Zyklen von Verwaltungsreformen auf der Bezirksebene, die mit verfassungsgeschichtlichen Zäsuren zwar in Verbindung standen, auf diese aber – angesichts der Vorbereitungszeiten für großflächige Umstellungen in den administrativen Strukturen – jeweils zeitversetzt folgten. Bekanntlich erfolgte die Aufhebung der Patrimonialherrschaften nach dem Beschluss des konstituierenden Reichstages Die Abstimmungen zogen sich vom 26. 8. bis zum 5. 9. 1848 hin: Verhandlungen des österreichischen Reichstages nach der stenographischen Aufnahme, Bd. 2, Wien 1848, S. 73–249. Seiner k. k. Majestät Ferdinand des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen, Bd. 76, Wien 1851, S. 285–288, hier S. 287. Moravský zemský archiv (Brno) [MZA], B 95, Kt. 649, fol. 748–749, 764–765, Z. 6309/1848, Innenministerium an Landespräsidium Brno, 7. 9. 1848; vgl. Franz Stundner: »Zwanzig Jahre Verwaltungsaufbau – Die Entstehung der Bezirkshauptmannschaften (1848–1868)«, in: Johannes Grundier (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970, S. 18–30, hier S. 18. Im Bereich der Justiz hatten erste Vorkehrungen schon vor dem Sommer eingesetzt: Steiermärkisches Landesarchiv (Graz) [StLA], Gubernium Präsidial-Akten [GPA], Kt. 253, Z. 2080/1848, Innenministerium an Gubernium Graz, 6. 6. 1848; vgl. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 148–149; Gerald Kohl: Die Anfänge der modernen Gerichtsorganisation in Niederösterreich. Verlauf und Bedeutung der Organisierungsarbeiten 1849–1854, St. Pölten 2000, S. 15–16. Text bei Ilse Reiter: Texte zur österreichischen Verfassungsentwicklung 1848–1995, Wien 1997, 33–42; Edmund Bernatzik: Die österreichischen Verfassungsgesetze, Leipzig 1906, S. 106–121; vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 83–94; Lehner: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 180–186; Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 1, S. 295–327. Zu seinem Wirken als Minister vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 65–98; Melville: Adel und Revolution, S. 220–254; Andreas Gottsmann: Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage, Wien 1995, S. 33–35, 40–43, 88–114. Zur Kontinuität der »Grundzüge« mit seinen Ideen vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 115; Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 155. Text bei Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 2, S. 54–59; vgl. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 152–156; Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 1, S. 368–370. Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 2, S. 54–55.
In den Kronländern wurden Einführungskommissionen eingesetzt, und zwar jeweils eine für das Gerichtswesen und für die politischen Behörden. In Niederösterreich und Mähren nahmen die politischen Einführungskommissionen ihre Tätigkeit im August 1849 auf: Niederösterreichisches Landesarchiv (St. Pölten) [NÖLA], Organisierungs-Commissionen [OC], Kt. 1, Z. 1 POC, Innenministerium an Gubernium Wien, 9. 8. 1849; MZA, B 13, Kniha 1806, »Politische Einführungs-Commission. Protocoll und Index«, beginnend am 18. 8. 1849. Jene für die Steiermark wurde im folgenden September eingerichtet; vgi. Fritz Posch: »Steiermark«, in: Johannes Grundier (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970, S. 61–71, hier S. 65. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 156; Posch: »Steiermark«, S. 65–67; Stundner: »Verwaltungsaufbau«, S. 22–23.
Diese neue Organisation hatte allerdings vorerst kein langes Leben, sondern wurde bereits bei der 1851 eingeleiteten Verfassungsrevision, welche letztlich auf die Aufhebung der nie in Kraft gesetzten Märzverfassung durch das ›Silvesterpatent‹ vom 31. Dezember 1851 hinauslief, Text bei Reiter: Texte, S. 67–68; Bernatzik: Verfassungsgesetze, S. 178–179; vgl. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 110–133; Thomas Kletečka: »Die Installation der Autokratie: Von den Augusterlässen 1851 bis zur Demontage des Ministerrates 1852«, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neoabsoiutismus ais Verfassungsund Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 95–110; Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 1, S. 487–558. Lehner: Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, S. 196; Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 1, S. 556–557; Redlich: Staats- und Reichsproblem, Bd. 1, S. 412–413, 428–429. Ausführliche Analyse der Debatten in Ministerrat, Verfassungsrevisions- und Organisationskommission bei Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 220–237. Die Akten der niederösterreichischen Kommission sind geschiossen erhalten in NÖLA, OC, Kt. 10–38; jene der mährischen unvollständig in MZA, B 13, Kt. 1820–1821. Obersteiner: »Bezirkshauptmannschaften«, S. 85–86; Stundner: »Verwaltungsaufbau«, S. 24–29.
Die neuerliche Revision dieser Ordnung setzte 1860 mit der Rückkehr zur konstitutionellen Regierung ein, zog sich aber diesmal über ein knappes Jahrzehnt hin. Über weite Strecken handelte es sich um eine »Erneuerung der Einrichtungen des Jahres 1849«. Franz Stundner: »Niederösterreich«, in: Johannes Gründler (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970, S. 33–53, hier S. 33; vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 155. Obersteiner: »Bezirkshauptmannschaften«, S. 86–89; Oswald Gschließer: »Die gesetzliche Einführung der Bezirkshauptmannschaften und ihre territorialen Veränderungen«, in: Fritz Steinegger (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Tirol, Innsbruck 1972, S. 20–34; Posch: »Steiermark«, S. 68–69; Stundner: »Niederösterreich«, S. 33–40; Otto Wutzei / Herbert Grabherr: »Oberösterreich«, in: Johannes Gründler (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970, S. 54–60, hier S. 55–58.
Wenn im Folgenden über diese seit langem bekannten Konturen der Behördenentwicklung hinausgelangt werden soll, dann in zweifacher Hinsicht. Zum einen geht es darum, mithilfe der Akten der Landes- und Bezirksebene eine Detailansicht zu gewinnen, in der besser erkennbar wird, auf welche Weise und in welchem Grade die normativen Vorgaben für die Organisation der Verwaltung in die Praxis umgesetzt wurden. Damit ist – ganz im Sinne aktueller Ansätze der Implementationsforschung – kein normzentrierter Abgleich gemeint, in dem jede Differenz als Defizit aufgefasst wird; vielmehr wird der Beitrag der an der Implementierung beteiligten Beamten und auch jener der Verwalteten als Ergänzung, Adaptierung und Weiterentwicklung der Vorgaben gesehen, die für das Zustandekommen einer funktionierenden Verwaltungspraxis konstitutiv und unverzichtbar ist. Stefan Haas: »Verwaltungsgeschichte nach Cultural und Communicative Turn. Perspektiven einer historischen Implementationsforschung«, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 181–194. Siehe auch den Beitrag von Birgit Näther in diesem Band.
Zur Konzeptualisierung von ›Raum‹ sei hier auf die Darlegungen in der Einleitung zu diesem Band verwiesen Siehe Einleitung, Abschnitt 4. Im Sinne von Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 154. Zum hier zugrunde gelegten Verständnis von ›Politik‹ vgl. Thomas Stockinger: Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise), Wien 2012, S. 53–57, 74–75. Löw: Raumsoziologie, S. 198–203. Zu anderen Bestimmungen des Verhältnisses von ›Ort‹ und ›Raum‹ einführend Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt am Main 2013, S. 64–65.
Die Bezirke als verwaltete Räume zählten zweifellos zu den signifikanten Innovationen der nach 1848 ausgebauten staatlichen Verwaltung in der Habsburgermonarchie. Zuvor hatte es ›Gubernien‹ oder ›Landesregierungen‹ als Provinzverwaltungen gegeben, die 1850 durch ›Statthaltereien‹ ersetzt wurden. In den größeren Gouvernementsbezirken Die Verwaltungsgliederung in ›Gouvernementsbezirke‹ korrespondierte nur teilweise mit der historisch gewachsenen staatsrechtlichen Einteilung in ›Länder‹, indem kleinere Länder fallweise mit benachbarten zu einem Gouvernementsbezirk kombiniert waren; vgl. Wilhelm Brauneder: »Gesamtstaat – Gouvernementbezirke – Länder – Kreise 1848/49«, in: Martin P. Schennach (Hg.): Rechtshistorische Aspekte des österreichischen Föderalismus. Beiträge zur Tagung an der Universität Innsbruck am 28. und 29. November 2013, Wien 2015, S. 51–62, hier S. 52–53; Rudolf Hoke: »Österreich«, in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Stuttgart 1983, S. 345–399, hier S. 368–369. Corinna von Bredow: »Die niederösterreichischen Kreisämter als Scharnier zwischen Landesregierung und Untertanen – Kommunikationsprozesse und Herrschaftspraxis«, in: Stefan Brakensiek / Corinna von Bredow / Birgit Näther (Hg.): Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014, S. 25–36; Gernot Peter Obersteiner: »Kreisamt und Kreishauptmann in der Steiermark nach 1748. Einrichtung und Tätigkeit der neuen iandesfürstiichen Unterbehörden Maria Theresias«, in: Herwig Ebner / Horst Haselsteiner / Ingeborg Wiesflecker-Friedhuber (Hg.): Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990, S. 195–208; Franz Stundner: »Die Kreisämter ais Vorläufer der politischen Behörden I. Instanz (1748–1848)«, in: Johannes Grundier (Hg.): 100 Jahre Bezirkshauptmannschaften in Österreich. Festschrift, Wien 1970, S. 9–17. Melville: Adel und Revolution, S. 22–44. Melville: Adel und Revolution, S. 17, 19–20; Feigl: »Adel«, S. 203. Manfred Straka: Verwaltungsgrenzen und Bevölkerungsentwicklung in der Steiermark 1770–1850. Erläuterungen zur ersten Lieferung des Historischen Atlasses der Steiermark, Graz 1978, S. 28–29; Anton Mell: Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Landes Steiermark, Graz 1929, S. 622–626; Bohuslav Rieger: »Grundherrschaft«, in: Ernst Mischler / Josef Ulbrich (Hg.): Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, Bd. 1, Wien 21905, S. 34–43, hier S. 41–43. Das raumbildende Prinzip ähnelte jenem, das für die Kleinterritorien des Heiligen Römischen Reichs beschrieben wird von Bretschneider / Duhamelle: »Fraktalität«, S. 706–707.
Demgegenüber stellte die Bildung der Bezirkshauptmannschaften einen homogenisierenden Einschnitt dar. Schon seit den ersten Vorbereitungsschritten bestanden zentrale Vorgaben für den ungefähren Flächeninhalt der Gerichtsbezirke und der politischen Bezirke: Erstere sollten ungefähr 5 Quadratmeilen (grob 290 Quadratkilometer) umfassen, Letztere zwei bis drei Gerichtsbezirke, und es sollten »möglichst gleiche Bezirke« gebildet werden. MZA, B 95, Kt. 649, Z. 6309/1848, fol. 749v, 764r; vgl. StLA, GPA, Kt. 264, Z. 5380/1848, Gubernium Graz an Innenministerium, 8. 11. 1848. MZA, B 95, Kt. 649, fol. 646–647, Z. 1035/1849, Innenministerium an Landespräsidium Brno, 8. 2. 1849, hier fol. 647r. Deak: Forging a Multinational State, S. 121. MZA, B 95, Kt. 649, Z. 1035/1849, fol. 647r. Das Prinzip, möglichst alle Zweige der Verwaltung auf eine gemeinsame räumliche Einteilung festzulegen, konnte zwar nicht vollständig verwirklicht werden, aber schon die Zusammenführung von politischer und Finanzverwaltung sowie Gerichtswesen auf denselben Raster erfasste einen sehr großen Teil der regelmäßigen Kontakte zwischen Staat und Bevölkerung. Dies kontrastiert mit den sehr zahlreichen, nicht übereinstimmenden Territorialeinteilungen für verschiedene Verwaltungszweige im Königreich Italien, auf die der Beitrag von Luigi Blanco in diesem Band hinweist. Siehe dazu etwa StLA, Statthalterei alt [StH alt], Kt. 3, fol. 216, 219, Z. 8372/1850, Statthalterei Graz an Kreisregierung Bruck an der Mur (Konzept), 15. 6. 1850; fol. 235, 238, Z. 8808/1850, Statthalterei Graz an Kreisregierung Graz (Konzept), 26. 6. 1850.
Bei allem Willen zur Vereinheitlichung war allerdings ein prinzipielles Bestreben zum Bruch mit bestehenden räumlichen Einteilungen und Identitäten nicht gegeben, wie dies etwa 1790 in Frankreich, Marie-Victoire Ozouf-Marignier: La formation des départements. La représentation du territoire français à la fin du 18e siècle, Paris 1989, S. 35–43, 63–66. Siehe den Beitrag von Anna Gianna Manca in diesem Band; außerdem Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, S. 240–242. Nach Redlich hatte Stadion zunächst noch die Absicht einer Abschaffung der historischen Länder gehegt und nur vorerst zurückgestellt, aber an ihrer Stelle die »Kreise und Bezirkshauptmannschaften [als] das eigentliche tragende Gebälk der staatlichen Administration« gedacht; Redlich: Staats- und Reichsproblem, Bd. 1, S. 364, 371 (Zitat). Unrichtig ist aber die Behauptung, die Kreisregierungen seien direkt dem Innenministerium unterstellt worden, bei Brauneder: »Gesamtstaat«, S. 59–60. – Einen weit stärkeren Bruch mit der bisherigen Einteilung versuchte man in den 1850er Jahren in Ungarn. Oberösterreichisches Landesarchiv (Linz) [OÖLA], Landesregierung Präsidium [LRP], Kt. 122, fol. 510–554, »Protokoll über die wegen der Eintheilung der politischen Verwaltungsbezirke gepflogenen Comité-Berathungen«, 27. 2. 1849, hier fol. 516v. MZA, B 95, Kt. 649, fol. 504, 506–508, Z. 1413/1849, Kreisamt Brno an Landespräsidium Brno, 21.2. 1849, hier fol. 504r–v; fol. 447–451, 483, Z. 1848/1849, Landespräsidium Brno an Innenministerium (Konzept), 15. 3. 1849, hier fol. 447r. Siehe etwa StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 200, 203, Z. 6886/1850, Kreisregierung Graz an Statthalterei Graz, 10. 5. 1850.
Wenn es um die Zuteilung einzelner Orte zu Bezirken ging, war das mit Abstand am häufigsten vorgebrachte Argument die Entfernung zum jeweiligen Amtssitz. Kaum einmal wurde diese dabei in Längenmaßen angegeben, sondern meistens in Reisezeiten. Für ihren Bericht über das Ansuchen von neun Gemeinden um Zuweisung zum Bezirk Ptuj (Pettau) ermittelte deren aktuelle Bezirkshauptmannschaft Ljutomer (Luttenberg) für alle einzeln die Gehzeiten nach Ljutomer, nach Ptuj sowie zum Bezirksgerichtsort Ormož (Friedau) auf Viertelstunden genau. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 223–226, Z. 8584/1850, Bezirkshauptmannschaft Ljutomer an Kreisregierung Maribor, 5. 6. 1850. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 173–174, Z. 7021/1850, Kreisregierung Graz an Statthalterei Graz, 10. 5. 1850. NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 164, Gemeinde Dürnkrut an Innenministerium, 18. 2. 1852; StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 9–10, Z. 416/1850, Gerichtseinführungskommission an Statthalterei Graz, 19. 1. 1850.
MZA, B 95, Kt. 649, fol. 300–305, Beilage zu Z. 915/1849, Gemeinde Tovačov an Innenministerium, 14. 12. 1848, hier fol. 300r, 301r. Zu Bergen als Hindernis vgl. Kohl: Anfänge, S. 187.
Die Sprengel der 1849 eingerichteten Bezirkshauptmannschaften waren im Verhältnis zu den früheren Patrimonialherrschaften meist erheblich ausgedehnter. Vom Innenministerium wurde dies mit der Abgabe administrativer Agenden an die Ortsgemeinden Zur Autonomie der Gemeinden, welche gleichfalls zu den wichtigsten Neuerungen nach 1848 zählte, vgl. Jiří Klabouch: Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, Wien 1968. MZA, B 95, Kt. 649, Z. 6309/1848, fol. 749r–v, 764r; vgl. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 153–154. Ausführlich etwa MZA, B 95, Kt. 649, fol. 419–443, Z. 1037/1849, Kreisamt Brno an Landespräsidium Brno, 29. 1. 1849, hier fol. 424v-426r. Wiederholt äußerte sich in dieser Richtung auch der Kreispräsident in Maribor: StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 82–83, Z. 4995/1850, 7. 4. 1850; fol. 86–87, Z. 5118/1850, 10. 4. 1850. NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 159, Gemeinde Asparn an der Zaya an Innenministerium, eingelangt 30. 1. 1852. Waltraud Heindl: »Bürokratie und Verwaltung im österreichischen Neoabsolutismus«, in: Österreichische Osthefte 22 (1980), S. 231–263, hier S. 237, 261; vgl. Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 224; Wutzel / Grabherr: »Oberösterreich«, S. 55. Denkschrift Bachs zur Verfassungsrevision, September 1851, zitiert nach Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung, S. 225. Posch: »Steiermark«, S. 66; Stundner: »Verwaltungsaufbau«, S. 21–22; Wutzel / Grabherr: »Oberösterreich«, S. 55. Heindl: »Bürokratie und Verwaltung«, S. 248. Deak: Forging a Multinational State, S. 172.
Bei der Errichtung und bei den späteren Veränderungen der politischen Bezirke als verwaltete Räume ging es nach dem bisher Gesagten um das Verhältnis zwischen dem Staat, seinen Verwaltungsinstitutionen und der Bevölkerung unter mehreren verschiedenen materiellen und metaphorischen Aspekten von Räumlichkeit. Dies lässt sich zunächst mit dem Begriffspaar der relativen ›Nähe‹ oder ›Ferne‹ fassen, die konkret im Sinne von Gehzeiten zum Amtsort oder im übertragenen Sinn als lebensweltlich spürbare Präsenz des Staates – in Form seiner Einrichtungen und seines Personals – verstanden werden kann. Diese Nähe war ein wichtiger Faktor für die Vermehrung und Verdichtung der wechselseitigen Interaktion, weshalb etwa Brandt zu Recht das Zahlenverhältnis von eingesetzten Beamten zur verwalteten Bevölkerung und zur Fläche der Sprengel als »Verwaltungsintensität« bezeichnet hat. Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 599.
Das Potential zur Interaktion wiederum kann, erneut mit räumlichen Metaphern, als ›Zugriff‹ der staatlichen Behörden auf die Verwalteten oder als ›Zugang‹ der Letzteren zu den Ersteren perspektiviert werden; Belege für beide Sichtweisen lassen sich auch in den zeitgenössischen Debatten finden. Das Interesse der neoabsolutistischen Bürokratie am ›Zugriff‹ war offenkundig und wurde mitunter sehr eindringlich formuliert, wenn etwa ein niederösterreichischer Kreisrat von dem »Grundsatz« sprach, dass »die politische Administration in der Regel überall seyn, Alles sehen, von Allem durch Anschauung eine eigene Überzeugung sich verschaffen soll«. Kreisrat Grabmayer in der niederösterreichischen OrganisierungsLandeskommission, 25. 2. 1853, zitiert nach Kohl: Anfänge, S. 187. Zur Perspektive des ›Zugriffs‹ vgl. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 84. So etwa von Innenminister Karl Giskra vor dem Reichsrat; vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 172. Bemerkenswert ist etwa das Argument, bei zu großer Entfernung zum Amtsort würden Menschen aus den Dörfern ihr Recht in kleineren Angelegenheiten gar nicht erst geltend machen und dadurch Verluste erleiden, in NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 163, Gemeinde Zistersdorf an Innenministerium, 16. 4. 1852. Reiche Literaturangaben bei André Holenstein: »Introduction: Empowering Interactions: Looking at Statebuilding from Below«, in: Willem Pieter Blockmans et al. (Hg.): Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, Farnham 2009, S. 1–31, hier S. 4–5.
Für die Interaktion zwischen Beamten und Verwalteten waren allerdings nicht nur die Bezirke als verwaltete Räume maßgeblich, sondern auch die Verwaltungsräume im engeren Sinn: Amtsgebäude und Amtsstuben. Zu deren Beschaffung und Einrichtung sind umfangreiche Aktenbestände erhalten. Etwa MZA, B 13, Kt. 1820–1821; NÖLA, OC, Kt. 35–38. Letzteres etwa im obersteirischen Liezen, wo die Bezirkshauptmannschaft im Haus des Ehepaars Maria und Johann Putz untergebracht war: StLA, Bezirkshauptmannschaft [BH] Liezen alt, Kt. 1, Fasz. I/6, Z. 2147/1851, 3509/1851, 4196/1851.
Über die Beschaffenheit und Einrichtung der Räume geben Akten und Inventare zumindest bruchstückhaft Bescheid. In der Regel scheint es ein Büro für den Amtsvorsteher gegeben zu haben, ein oder zwei weitere für die übrigen Beamten, ein Zimmer für die Registratur, oft ein sogenanntes ›Kommissionszimmer‹ für Verhandlungen mit zahlreichen Anwesenden sowie ein ›Parteienzimmer‹, also einen Warteraum. Der Situationsplan NÖLA, OC, Kt. 38, Fasz. Purkersdorf, Beilage zu Z. 1824/OC/1854, Plan der Lokalitäten des Bezirksamts Purkersdorf im Schloss Purkersdorf. Vgl. Roman Sandgruber: Hausen und Wohnen. Eine Alltagsgeschichte der Wohnkultur, Wien 1992, S. 14-15. Dass sich Amtskanzleien in der Regel im ersten Stock befanden, war auch etwa in Baden üblich; vgl. Joachim Eibach: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt am Main 1994, S. 46. StLA, BH Leibnitz alt, Kt. 1, Fasz. 1a, fol. 29–30, Z. 833/1850, Kreisregierung Graz an Bezirkshauptmannschaft Leibnitz, 7. 3. 1850. StLA, BH Leibnitz alt, Kt. 1, Fasz. 1a, fol. 27, Beilage zu Z. 833/1850, »Ausweis über jene, für die neuen landesfürstlichen Steuerämter nothwendigen Einrichtungs-Gegenstände, welche von den k. k. Steuereinnehmern selbst durch Professionisten aus dem Standorte oder der nächsten Umgebung zu besorgen sind«. Bretschneider / Duhamelle: »Fraktalität«, S. 727–732; Christoph Kleinschmidt: »Einleitung: Formen und Funktionen von Grenzen«, in: Christoph Kleinschmidt / Christine Hewel (Hg.): Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg 2011, S. 9–21, hier S. 11–12. Siehe auch Einleitung, Abschnitt 4. NÖLA, OC, Kt. 38, Fasz. Retz, Z. 1324/OC/1853, Bezirkshauptmannschaft Horn an Organisierungs-Landeskommission, 18. 3. 1853. Cornelia Vismann: »Von der Poesie des Rechts oder vom Recht in der Dichtung. Franz Kafka und Johann Peter Hebel«, in: Hendrik Johan Adriaanse / Rainer Enskat (Hg.): Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext, Leuven 2000, S. 275–282, hier S. 275–276. Für ähnliche Beobachtungen zu spätmittelalterlichen Rathäusern vgl. Antje Diener-Staeckling: Es ist eine klassische Erkenntnis der Soziologie, dass die Beschränkung des Zugangs eine Praxis der Sakralisierung sein kann; so schon bei Émile Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912, S. 55–56. Zur Anwendung auf die Requisiten moderner politischer Verfahren vgl. Olivier Ihl: »L’urne électorale. Formes et usages ďune technique de vote«, in: Revue française de science politique 43 (1993), S. 30–60, hier S. 43. Die Bildung von Sonderräumen in größerem Maßstab – etwa durch die Anlage von separaten Regierungsvierteln oder gar neuen Städten – verbot sich aus Ressourcengründen für die Habsburgermonarchie der 1850er Jahre. Wo sie, etwa in kolonialen Kontexten, vorkommt, erfüllt sie eine ganz ähnliche Funktion; vgl. Matthew S. Hull: Government of Paper. The Materiality of Bureaucracy in Urban Pakistan, Berkeley 2012, S. 49. Timothy Mitchell: »The Limits of the State: Beyond Statist Approaches and Their Critics«, in: American Political Science Review 85 (1991), S. 77–96, hier S. 90. Näheres in der Einleitung, Abschnitt 2.
Situationsplan der Amtsräumlichkeiten des gemischten Bezirksamts Purkersdorf im ersten Stock des Schlosses Purkersdorf bei Wien, Juli 1854 (Quelle: NÖLA, OC, Kt. 38, Fasz. Purkersdorf, Beilage zu Z. 1824/1854; reproduziert mit Genehmigung des Niederösterreichischen Landesarchivs).Abbildung 1
Die Verwaltungsreformen der 1850er und 1860er Jahre brachten mithin die Konstituierung neuer Räume auf verschiedenen Ebenen mit sich. Mit den Bezirken und den Amtsgebäuden sind nur zwei wichtige Kategorien angesprochen, die Spannweite aber weder nach unten noch nach oben ausgeschöpft. Als kleine und kleinste Räume der Verwaltung ließen sich etwa die Arbeitsfläche eines Schreibtisches, ein Aktenschrank oder eine Kassentruhe analysieren; Zu Schränken und Truhen in den Kanzleien als Gegenstand standardisierender Regelung siehe den Beitrag von Josef Löffler in diesem Band. Zu Formularen vgl. Peter Becker: »Formulare als ›Fließband‹ der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen«, in: Peter Collin / Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.): Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.), Baden-Baden 2009, S. 281–298.
Die Konstituierung neuer Räume erfolgte aber keineswegs ausgehend von einer ›tabula rasa‹, sondern von einem vielschichtigen Gefüge bestehender räumlicher Einteilungen – von lokalen und regionalen Wirtschaftsräumen, Siedlungsräumen und einzelnen Gebäuden, Verkehrs- und Kommunikationsräumen, patrimonialen Herrschafts- und Verwaltungsräumen und so fort, die einander alle wechselseitig beeinflussten und sogar bedingten, ohne doch in den meisten Fällen deckungsgleich zu sein. Von diesen wurden zwar einige durch die neuen, explizit als staatlich verstandenen Räume der Verwaltung überschrieben, die meisten aber blieben bestehen, und die neuen staatlichen Räume wurden an sie angepasst, in sie eingefügt oder über sie gestülpt. Dies war etwa der Fall, wenn Bezirke nur aus ganzen Pfarrsprengeln gebildet wurden, oder wenn ein neues staatliches Amt in ein Schloss als bisherigen Sitz der Patrimonialverwaltung einzog. Die Konstituierung ist also nicht als einseitige, voluntaristische Schöpfung zu sehen, sondern als ein Aushandlungsprozess, in den zahlreiche Faktoren und Interessen eingingen. Wer die Akteure und Akteurinnen dieser Aushandlungen waren, soll als Nächstes zur Sprache kommen.
Die traditionelle Antwort der älteren Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bestand darin, die Gestalter der Reformen an der und rund um die Staatsspitze zu sehen – in Männern wie den Innenministern Stadion und Bach, dem Reichsratspräsidenten Kübeck oder dem Kaiser selbst. Ohne die Wichtigkeit ihres Wirkens in Abrede zu stellen oder den Wert neuer quellennaher Analysen ihrer Entscheidungsprozesse Auf dieser Ebene arbeitet nahezu ausschließlich Seiderer: Oesterreichs Neugestaltung. Zentrale Rollen erhalten etwa Stadion und Bach auch auf weite Strecken bei Deak: Forging a Multinational State.
Einzubeziehen sind zunächst auch die Beamten auf den mittleren und unteren Ebenen der Verwaltung. Sie waren es, die relevante Sachverhalte erhoben, Vorschläge erarbeiteten und in den Organisierungskommissionen das Vorgehen grundsätzlich und für zahlreiche Einzelfälle berieten. Dabei beschränkten sie sich nicht auf mechanische Ausführung von Vorgaben aus Wien, sondern brachten eigene Ideen und auch Kritiken ein – teils aus freien Stücken, teils auf explizite Aufforderung. In den Wiener Ministerien war man sich nämlich darüber im Klaren, dass sich vieles »im Allgemeinen nicht genau normiren« ließ, MZA, B 95, Kt. 649, Z. 1035/1849, fol. 647r.
Beamte machten also die neuen verwalteten Räume; diese machten ihrerseits neue Beamte, denn zur Besetzung der Bezirksbehörden reichte das bis 1848 im Staatsdienst stehende Personal nicht aus. Die Rekrutierung erfolgte durch öffentliche Ausschreibungen, sogenannte ›Concurse‹. Das Verfahren war eine signifikante Neuerung gegenüber dem Vormärz; vgl. Heindl: Bürokratie und Beamte, Bd. 2, S. 66. Stundner: »Verwaltungsaufbau«, S. 22. Die zwölf neuen Bezirkshauptmänner in Oberösterreich 1849 hatten alle über zwanzig Dienstjahre in der staatlichen Verwaltung vorzuweisen; vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 117. In Niederösterreich wurden immerhin sechs von 17 Bezirkshauptmännern aus den Reihen ehemaliger patrimonialer Oberbeamter ernannt: NÖLA, OC, Kt. 1, Beilage zu Z. 9 POC, »Übersicht der Ernennungen zu den Dienststellen bei den neuen politischen Behörden im Kronlande Niederösterreich«. Frauen fanden in den habsburgischen Staatsdienst erst seit Ende der 1860er Jahre Eingang, und zwar zunächst nur in technischen Hilfsfunktionen etwa im Telegraphen- und Postdienst; vgl. Heindl: Bürokratie und Beamte, Bd. 2, S. 147–154; Sylvia Hahn: »›Emsig, eifrig, verläßliche‹. Frauen im Post- und Telegraphenwesen oder: die ersten Beamtinnen«, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 25 (1995), S. 126–133. Stellvertretend für viele andere vgl. Brigitte Mazohl: »Quousque tandem …? Das Fach Österreichische Geschichte – eine Herausforderung der männlichen Tradition«, in: Geschichte und Region. Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte Bozen 4 (1995), S. 223–243, hier S. 237. Heindl: Bürokratie und Beamte, Bd. 2; Pavla Vošahlíková: Von Amts wegen. K. k. Beamte erzählen, Wien 1998; Karl Megner: Beamte. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des k. k. Beamtentums, Wien 1985.
Mit Nachdruck sei hingegen darauf hingewiesen, dass die im Namen des Staates handelnden Akteure vom Kaiser bis hinab zum Bezirkskommissär nicht die allein entscheidende Rolle spielten. An der Konstituierung neuer Räume der Verwaltung beteiligten sich mit ihnen noch verschiedenste weitere Gruppen und Individuen: Gemeindevertreter, die Auskünfte lieferten, um Ansiedlung eines Amtes warben oder die Zuweisung zu einem anderen Bezirk erbaten; Besitzer und Besitzerinnen von als Amtslokalitäten geeigneten Gebäuden; Handwerker, die Adaptierungen an diesen vornahmen oder Einrichtungsstücke herstellten. In den untersuchten Aktenbeständen nehmen ihre Äußerungen beträchtlichen Platz ein. Eingespeist wurden diese in die administrative Schriftlichkeit auf verschiedenen Wegen, die jeweils auf eine lange Tradition verweisen. So konnten sie bei mündlichen Befragungen oder Verhandlungen, die meist als ›Kommissionen‹ bezeichnet wurden, zu Protokoll genommen werden, wozu entweder die Verwalteten in die Amtsräume kamen oder die Beamten ihren Sprengel bereisten. Zum letzteren Fall vgl. André Holenstein: »›Local-Untersuchung‹ und ›Augenschein‹. Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsdenken und -handeln des Ancien Régime«, in: WerkstattGeschichte 16 (1997), S. 19–31; Obersteiner: »Kreisamt«, S. 203. Zu Petitionen und ihren Vorläufern, den Supplikationen, vgl. Hull: Government of Paper, S. 86–101; Harriet Rudolph: »›Sich der höchsten Gnade würdig zu machen‹. Das frühneuzeitliche Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit«, in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. – 18. Jahrhundert), Berlin 2005, S. 421–449; Martin P. Schennach: »Supplikationen«, in: Josef Pauser / Martin Scheutz / Thomas Winkelbauer (Hg.): Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16. – 18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien 2004, S. 572–584; Heinrich Best: Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980, S. 125–129. Lutz Raphael: »›Die Sprache der Verwaltung‹. Politische Kommunikation zwischen Verwaltern und Landgemeinden zwischen Maas und Rhein (1814–1880)«, in: Norbert Franz / Bernd-Stefan Grewe / Michael Knauff (Hg.): Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, Mainz 1999, S. 183–205. Zu den Problemen des ›Übersetzens‹ zwischen sprachlichen und sozialen Codes der staatlichen Verwaltung einerseits, der lokalen Ebene andererseits siehe auch den Beitrag von Anette Schlimm in diesem Band. Genaue Einblicke in die Denkweise der Behörden mussten etwa jene Petenten haben, die in ihr Gesuch um Änderung der Bezirkszuweisung eine Berechnung aufnahmen, wie wenig Zeit und Aufwand die dazu nötige Aussortierung von Aktenbeständen kosten würde: NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 164. Zur Konstituierung des Bezirks als Raum durch die Interaktionen zwischen Beamten und Verwalteten siehe auch den Beitrag von Rüdiger von Krosigk in diesem Band.
Im Rahmen eines vielfältigen Argumentariums war es, wie bereits erwähnt, die Reisezeit zum Amtssitz, die am häufigsten als Begründung eingesetzt wurde. Räume wurden also durch die Bewegungen von Menschen konstituiert und ausgemessen; und ihre Wahrnehmung war mit jener der Zeit eng verschränkt. Besonders augenfällig ist das Argumentieren mit Zeitverlust und Zeitersparnis in NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 154, Gemeinde Guntersdorf an Innenministerium, 5. 3. 1852. Die grundsätzliche Verbindung von räumlicher Distanz mit Zeit ist allerdings in den Quellen sehr häufig zu finden. Zu neueren Ansätzen der theoretischen Fassung der Beziehungen von Raum, Zeit und Bewegung in den Humanwissenschaften einführend Michael A. Crang: »Zeit : Raum«, in: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 409–438; Judith Miggelbrink: »Die (Un-)Ordnung des Raumes. Bemerkungen zum Wandel geographischer Raumkonzepte im ausgehenden 20. Jahrhundert«, in: Alexander C. T. Geppert / Uffa Jensen / Jörn Weinhold (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 79–105, hier S. 92–95; vgl. Roland Wenzlhuemer: Connecting the Nineteenth-Century World. The Telegraph and Globalization, Cambridge 2013, S. 37–50. Der Begriff des ›Zentralorts‹ geht auf den deutschen Humangeographen Walter Christaller zurück; vgl. Walter Christaller: Die zentralen Orte in Süddeutschland. Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Jena 1933, S. 21–26. Christallers Theorie der Zentralorte gilt heute als veraltet. Sie und ihr Autor haben zudem im Rahmen der nationalsozialistischen Raumplanung eine fragwürdige Rolle gespielt; vgl. Klaus Fehn: »Walter Christaller und die Raumplanung der NS-Zeit«, in: Siedlungsforschung. Archäologie – Geschichte – Geographie 26 (2008), S. 215–234; Karl R. Kegler: »Walter Christaller«, in: Ingo Haar / Michael Fahlbusch / Matthias Berg (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 89–93. Der Ausdruck wird hier in einem nur mehr lose an Christallers Konzept angelehnten Sinne verwendet und soll einen Ort meinen, an dem eine dauerhafte »räumliche Verdichtung von Interaktionsbeziehungen« vorliegt, so bei Bretschneider / Duhamelle: »Fraktalität«, S. 708 Anm. 24. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 188–189, Z. 7974/1850, Gemeinde Kumberg an Statthalterei Graz, 20. 2. 1850.
Nicht selten wurde solchen Begehren seitens der Beamten Folge gegeben. Für Entscheidungen über die Bezirkseinteilung waren, wie bei der oberösterreichischen Landesregierung formuliert wurde, »der Dienst, das Bedürfniß der Bevölkerung und die Kostenfrage zunächst im Auge« zu behalten. OÖLA, LRP, Kt. 122, fol. 516r–v. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 97–98, 101, Z. 5328/1850, Gerichtseinführungskommission an Statthalterei Graz, 13. 4. 1850. Zur aktiv angestrebten breiten Beteiligung von Akteuren aus der Bevölkerung gerade in den Angelegenheiten der Bildung der Ortsgemeinden vgl. Veronika Duma: »›Worauf die Völker schon lange so sehnsüchtig gewartet haben …‹. Zur Kommunikation der neuen Gemeindeordnung«, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 131–153. NÖLA, OC, Kt. 38, Fasz. Schwechat, Z. 1581/OC/1854, Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha an Organisierungs-Landeskommission, 10. 11. 1853. NÖLA, OC, Kt. 38, Fasz. Seitenstetten; das direkte Zitat aus Z. 1316/ OC/1853, Innenministerium an Organisierungs-Landeskommission, 11. 12. 1853.
Mit diesen Andeutungen sollte plausibel geworden sein, dass die Konstituierungen neuer und die Veränderungen existierender Räume im Rahmen der Verwaltungsreform nicht hinreichend verstanden werden können, wenn sie als Handeln ›des Staates‹ Dass es fragwürdig ist, dem Staat als solchem Handlungsfähigkeit zuzuschreiben, ist näher ausgeführt in der Einleitung, Abschnitt 2. Zur Selbstinszenierung in solchen Rollen im Text von Petitionen vgl. Hull: Government of Paper, S. 93–101. Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 23. Zu lokalem hinhaltendem Widerstand gegen die Durchsetzung staatlicher Normen vgl. Margareth Lanzinger: »…
Auch die Formen und Zielrichtungen des Handelns waren so verschieden, dass sie mit der Vorstellung von der Konstruktion des Staates als einem ausschließlich von Eliten betriebenen und durchgesetzten Projekt nicht hinreichend erfasst werden können. Erweiternd sind auch verschiedene andere Arten der Einwirkung von Menschen auf diesen Konstruktionsprozess zu berücksichtigen, zu deren Verständnis hier zwei Forschungskonzepte aus neueren Debatten um Staat und Herrschaft ins Spiel gebracht werden sollen. Zu den Spielarten dieses Handelns gehörten zum einen aktive Mitwirkung oder explizit geäußerte Nachfrage nach der Präsenz und den Leistungen des Staates, die sich als Formen eines ›statebuilding from below‹ Zu diesem Konzept vgl. Holenstein: »Empowering Interactions«. Explizit für die Habsburgermonarchie des 19. Jh. in Anspruch genommen wird es von Judson: Habsburg Empire, S. 5. Alfred Lüdtke: »Geschichte und Eigensinn«, in: Heike Diekwisch et al. (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139–153; Alfred Lüdtke: »Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis«, in: Alfred Lüdtke (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9–63, hier S. 51–53.
Die Effekte, die von der Verwaltungsreform im Allgemeinen und von der Neuordnung der Räume der Verwaltung im Besonderen ausgingen, können hier nur in einigen ihrer wichtigen Aspekte angerissen werden. Der wohl augenfälligste war die schiere quantitative Ausweitung der staatlichen Verwaltungstätigkeit. Dass die Zahl der staatlichen Beamten deutlich stieg, ist bereits angesprochen worden. Die Gesamtkosten der zivilen Verwaltung lagen in den späten 1850er Jahren für die Erzherzogtümer und die Alpenländer im Vergleich zu 1847 um 80 bis 90 Prozent höher, für die böhmischen Länder sogar um etwa 150 Prozent. Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 1092. Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 2, S. 596–597. Hellbling: »Landesverwaltung«, S. 219–228.
Die Behörden selbst beobachteten den Umfang der eigenen Tätigkeit genau, in erster Linie über die für ihre Aktenführung unerlässlichen Geschäftsbücher. Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Wien 2009, S. 104–106; Heinrich Otto Meisner: Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969, S. 204–205. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt am Main 2000, S. 173–174. ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv [AVA], Ministerium des Inneren, Präsidiale – Akten [MI PA], Kt. 33, Z. 1360/1853, Statthalterei Wien an Innenministerium, 8. 3. 1853; Z. 3105/1856, Instruktion für Kommissionen zur Untersuchung des Geschäftsumfanges der Bezirksämter. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 120–121, Z. 5864/1850, Statthalterei Graz an Gerichtseinführungskommission (Konzept), 26. 4. 1850. Ellwein: Staat, Bd. 1, S. 41–43.
Eine ähnliche Rückkopplung trat auch bei vielen anderen Beständen an Wissen über Räume ein, das die Behörden sammelten und nutzten. Einerseits wurde bereits vorliegendes Wissen in großem Umfang verwendet, um die neuen verwalteten Räume abzustecken, insbesondere die von der Militärkonskription erhobenen Bevölkerungszahlen Zum frühen Konskriptionswesen vgl. Anton Tantner: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2007. Zur Heranziehung der Bevölkerungsstatistik für Zwecke der Verwaltungseinteilung vgl. Silvana Patriarca: Numbers and Nationhood. Writing Statistics in Nineteenth-Century Italy, Cambridge 1996, S. 189–197. Das mährisch-schlesische Landespräsidium holte von den Katastral-Reklamationsinspektoraten im Februar 1849 Übersichten des Flächeninhalts sämtlicher Gemeinden nach Kreisen ein: MZA, B 95, Kt. 649, fol. 515–624, Z. 1208/1849, 1230/1849, 1240/1849, 1249/1849, 1311/1849. Zum Kataster vgl. Helmut Rumpler: »Das Forschungspotential des Franziszeischen Katasters als Quelle für die Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Verwaltungsgeschichte«, in: Werner Drobesch (Hg.): Kärnten am Übergang von der Agrar-zur Industriegesellschaft. Fallstudien zur Lage und Leistung der Landwirtschaft auf der Datengrundlage des Franziszeischen Katasters (1823–1844), Klagenfurt 2013, S. 93–112; Werner Drobesch: »Bodenerfassung und Bodenbewertung als Teil einer Staatsmodernisierung. Theresianische Steuerrektifikation, Josephinischer Kataster und Franziszeischer Kataster«, in: Histoire des Alpes 14 (2009), S. 165–183; Andreas Moritsch: »Der Franziszeische Kataster und die dazugehörigen Steuerschätzungs-operate als wirtschafts- und sozialhistorische Quellen«, in: East European Quarterly 3 (1969/70), S. 438–448. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 80–86, 93–101; vgl. Alain Desrosières: La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 1993, S. 43–48. OÖLA, LRP, Kt. 122, fol. 514v; StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 409–410, Z. 5003/1851, Kreisregierung Graz an Statthalterei Graz, 8. 4. 1851. James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 2. Stellvertretend für viele Bereiche, auf die dies zutrifft, sei hier auf Interventionen staatlicher Verwaltung in Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt hingewiesen; vgl. Jessica Richter: »What is ›Domestic Service‹ Anyway? Producing Household Labourers in Austria (1918–1938)«, in: Dirk Hoerder / Elise van Nederveen Meerkerk / Silke Neunsinger (Hg.): Towards a Global History of Domestic and Caregiving Workers, Leiden 2015, S. 484–510, hier S. 492–500; Christian Topalov: »The Invention of Unemployment. Language, Classification and Social Reform 1880–1910«, in: Bruno Palier (Hg.): Comparing Social Welfare Systems in Europe, Bd. 1: Oxford Conference. France – United Kingdom, Paris 1995, S. 493–507. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 86–93. Zu den Anfängen der Gendarmerie vgl. Helmut Gebhardt: Die Gendarmerie in der Steiermark von 1850 bis heute, Graz 1997, S. 28–106. Zu Raumwissen und den dadurch eröffneten Steuerungs- und Interventionsmöglichkeiten siehe auch die Beiträge von Rüdiger von Krosigk und von Stefan Couperus et al. in diesem Band.
»Verzeichniß der nach dem provisorischen Gesetze vom 17. März 1849 constituirten neuen Ortsgemeinden mit ihrer Zutheilung in die Gerichts- und Steueramts-Bezirke in dem Kronlande Kärnten«, 1851, S. 10–11 (Quelle: StLA, StH alt, Kt. 4, Beilage zu Z. 3727/1851; reproduziert mit Genehmigung des Steiermärkischen Landesarchivs).Abbildung 2
Wie wichtig das Wissen um die neue Raumgliederung war, zeigt sich auch an den beträchtlichen Anstrengungen, die zu seiner Verbreitung innerhalb des Behördenapparats und über diesen hinaus unternommen wurden. In der Steiermark beispielsweise wurde die erste Kundmachung der neuen Gerichtseinteilung unter dem Datum des 9. Oktober 1849 »durch die ProvinzialZeitungsblätter allgemein veröffentlicht«. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 97–98, 101. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 14, 17–19, Z. 445/1850, Statthalterei Graz an Innenministerium (Konzept), 29. 1. 1850. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 37, 42, Z. 1805/1850, Statthalterei Graz an Statthalterei Brno (Konzept), 18. 2. 1850. StLA, StH alt, Kt. 3, fol. 309–310, Z. 12404/1850, Statthalterei Graz an Innenministerium und zahlreiche weitere Behörden (Konzept), 13. 10. 1850. StLA, StH alt, Kt. 4, Z. 467/1850 mit Folgeakten; als Beispiel für die erwähnten Urgenzen etwa Z. 1720/1850, Bezirkshauptmannschaft Graz an Kreisregierung Graz, 11. 2. 1850. Zum Passwesen in der Habsburgermonarchie vgl. Georg Christoph Berger Waldenegg: »Fremde im eigenen Land? Die Neuordnung des österreichischen Paßwesens während des Neoabsolutismus«, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111 (2003), S. 146–184; Hannelore Burger: »Paßwesen und Staatsbürgerschaft«, in: Waltraud Heindl et al. (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, Wien 2000, S. 1–172, hier S. 3–87.
Diese Aktivitäten machen deutlich, dass der Behördenapparat in der Habsburgermonarchie – wie in jedem größeren Staat – nicht zuletzt ein gewaltiges Kommunikationsnetz bildete, ein System der Nachrichtenübermittlung und der Publikation, das die Teilräume zu einem großen Raum des Staates zu verklammern half. Die angestrebte einheitliche Verwaltungspraxis über möglichst sämtliche Gebiete der Habsburgermonarchie hinweg erforderte einen gemeinsamen Informationsstand, eine geteilte Gegenwart, deren Herstellung von der Geschwindigkeit, Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit der Weitergabe von Nachrichten abhängig war. Kirsty Rolfe: »Probable Pasts and Possible Futures. Contemporaneity and the Consumption of News in the 1620s«, in: Media History 23 (2017), S. 159–176; Achim Landwehr: Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014, S. 153–164. Patrick Joyce: The State of Freedom: A Social History of the British State since 1800, Cambridge 2013, S. 53–143. Herbert Matis: »Staat und Industrialisierung im Neoabsolutismus«, in: Harm-Hinrich Brandt (Hg.): Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien 2014, S. 169–188, hier S. 179–181; Franz Pichler: Elektrisches Schreiben in die Ferne. Die Telegraphie in Österreich. Technische Entwicklung 1846–1906, Linz 2007, S. 41–43, 70–73; Brandt: Neoabsolutismus, Bd. 1, S. 315–326, 351–359. Zur Rolle der Telegraphie für staatliche Herrschaft vgl. Wenzlhuemer: Connecting, S. 77–84; Wolfgang Foit / Rudolf Seising: »Telegraphie und Herrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Ralf Pröve / Norbert Winnige (Hg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600–1850, Berlin 2001, S. 229–252. Zur raumbildenden Wirkung der Eisenbahn siehe auch den Beitrag von Nadja Weck in diesem Band. Milan Hlavačka: »Frühes Eisenbahnwesen und Technologietransfer in den böhmischen Ländern und in der Habsburgermonarchie 1837–1842«, in: Günter Dinhobl (Hg.): Eisenbahn/Kultur, Wien 2004, S. 263–282, hier S. 280–281; Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München 1992, S. 318321; David S. Landes: Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge (Massachusetts) 1983, S. 285–287. Vanessa Ogle: The Global Transformation of Time 1870–1950, Cambridge (Massachusetts) 2015, S. 27–32; Peter Payer: Die synchronisierte Stadt. Öffentliche Uhren und Zeitwahrnehmung, Wien 1850 bis heute, Wien 2015, S. 73–76.
Ein besonders wichtiger Gegenstand der staatlichen Kommunikation waren rechtliche Normen verschiedener Ebenen. Wenn Rechtsräume als räumliche Geltungsbereiche von Recht zu verstehen sind, dann setzen sie nicht nur einen einheitlichen Normenbestand, sondern auch dessen Bekanntheit innerhalb ihrer Grenzen voraus. Nicht zufällig erfolgte gleichzeitig mit den ersten Schritten der postrevolutionären Verwaltungsreformen 1849 – im Vergleich mit anderen deutschen und europäischen Staaten recht spät Pascale Cancik: Verwaltung und Öffentlichkeit in Preußen. Kommunikation durch Publikation und Beteiligungsverfahren im Recht der Reformzeit, Tübingen 2007, S. 67–109; Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005, S. 275–288; Timo Holzborn: Die Geschichte der Gesetzespublikation – insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzesblättern im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 149–164. Siehe auch den Beitrag von Stefan Couperus et al. in diesem Band. Walter: Zentralverwaltung, Abt. 3, Bd. 1, S. 344–345. StLA, StH alt, Kt. 2, Z. 99/1850 und Folgeakten.
Nicht zuletzt bewirkte der Ausbau der staatlichen Behörden neue Gelegenheiten und zugleich eine gesteigerte Notwendigkeit, die Präsenz und Regelungsmacht des Staates in den lokalen Räumen symbolisch und performativ erfahrbar zu machen. Die neuen Verwaltungsräume wurden durch Hoheitszeichen wie das Wappen an den Aushängetafeln, deren Gebrauch durch kaiserliche Entschließung genau geregelt war, als staatlich markiert. OÖLA, Statthalterei Präsidium [StHP], Kt. 516, Z. 5100/Pr/1855, Innenministerium an Statthalterei Linz, 4. 10. 1855. Die detaillierten Inventare der mährischen Bezirksbehörden kurz vor der Umwandlung in gemischte Bezirksämter weisen nur in wenigen Fällen Porträts nach. Etwa besaß von den Behörden im politischen Bezirk Valašské Meziříčí (Walachisch Meseritsch) nur das Bezirksgericht in Rožnov pod Radhoštem (Rosenau) ein Kaiserbildnis, hingegen Bezirkshauptmannschaft, Steuer-Unterinspektorat, Kollegialgericht sowie ein weiteres Bezirksgericht keine: MZA, B 13, Kt. 1821, fol. 1–32, Z. 1307/1854, Bezirkshauptmannschaft Valasske Meziffci an Kreisregierung Olomouc, 27. 1. 1854. Andere Bezirke bieten ein ähnliches Bild. Das niederösterreichische Bezirksgericht Pottenstein besaß ein »Brustbild Seiner k. k. apostolischen Majestät in Goldrahmen«, das ihm die dortige Marktgemeinde »zur schönsten und erhabensten Zierde des Gerichtssaales« geschenkt hatte: NÖLA, OC, Kt. 34, Fasz. 3, Nr. 108/3, Gemeinde Pottenstein an Innenministerium, 12. 2. 1853. OÖLA, StHP, Kt. 516, Z. 4113/Pr/1855, Statthalterei Linz an die Kreisregierungen und Bezirksämter in Oberösterreich (Konzept), 25. 8. 1855. Bruno Latour: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Cambridge (Massachusetts) 1999, S. 24–79; Bruno Latour: »The ›Pédofil‹ of Boa Vista. A Photo-Philosophical Montage«, in: Common Knowledge 4 (1995), S. 144–187. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 99.
Die Präsenz des Staates in den lokalen Räumen verkörperten – im wörtlichen Sinne – auch die Beamten selbst, denen im Gegensatz zum Vormärz das Tragen von Uniformen nun verpflichtend vorgeschrieben wurde. Deak: Forging a Multinational State, S. 125; Megner: Beamte, S. 240–242. Zur Signifikanz der Beamtenuniform vgl. Haas: Kultur der Verwaltung, S. 353–395; Stefan Haas: »Im Kleid der Macht. Symbolische Kommunikation und Herrschaft in der preußischen Verwaltung des 19. Jahrhunderts«, in: Ralf Pröve / Norbert Winnige (Hg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600–1850, Berlin 2001, S. 137–155. ÖStA, AVA, MI PA, Kt. 61, Z. 2376/1860, Statthalterei Linz an Innenministerium, 15. 7. 1860. Zu ähnlichen Fällen vgl. Deak: Forging a Multinational State, S. 231–232.
Alle diese Effekte der Neuordnung und Präzisierung von Räumen der Verwaltung auf den mittleren und unteren Ebenen blieben schließlich nicht ohne Rückwirkung auf den Raum des Staates insgesamt und die Arten, wie dieser Raum vorgestellt werden konnte. Der Abbau lokaler Besonderheiten, die Herstellung möglichster Eindeutigkeit und Überschaubarkeit der Gliederung, die Vermehrung und Standardisierung von Raumwissen, die beschleunigte kommunikative Vernetzung und die Förderung des Bewusstseins der Staatszugehörigkeit durch Symbole und Inszenierungen trugen alle dazu bei, den Raum des Habsburgerstaates der Idealvorstellung vom ›Territorium‹ näher zu bringen, das nach außen abgeschlossen sowie nach innen homogen imaginiert wurde und innerhalb dessen die Regelungsmacht des Staates sowohl ausschließlich als auch einheitlich gelten sollte. Siehe Einleitung, Abschnitt 2. Göderle: Zensus und Ethnizität, S. 104. Die vormärzliche Gliederung auf Basis der Grundherrschaften war in manchen Regionen so kleinteilig und kompliziert gewesen, dass sie sich einer kartographischen Darstellung entzog, wie Josef Löffler in seinem Beitrag in diesem Band zeigt.
Dieser Beitrag versteht sich als Problemaufriss, dessen Zweck eher darin liegt, Richtungen für künftige Forschung anzudeuten als eine eingangs präzise formulierte Forschungsfrage klipp und klar zu beantworten. Aus den gesammelten Beobachtungen lassen sich allerdings doch einige zusammenfassende Bemerkungen ableiten, die hier abschließend vorgebracht werden.
Die Tätigkeit der Verwaltung erscheint in dieser Hinsicht als die Handhabung einer Grenze mit der Doppelfunktion der gleichzeitigen Scheidung und Verklammerung verschiedener Räume. Die Räume der Verwaltung bestehen aus Verwaltungsraum und verwaltetem Raum, deren hierarchisierte Unterschiedlichkeit jedes Mal performativ aktualisiert wird, wenn etwas – ein Mensch, ein Schriftstück, ein Sprechakt – die Schranke zwischen ihnen überschreitet. Das gilt auf den kleinen wie den großen Ebenen, die Interaktion zwischen Beamten und ›Parteien‹ in der Amtskanzlei über eine bauliche Barriere hinweg ist in diesem Sinne parallel zum Verhältnis des Bezirksamtes zu seinem Bezirk und zu jenem des ›Staates‹ zur ›Gesellschaft‹. Die konkreten Interaktionen auf der lokalen Ebene spiegeln dabei nicht nur die Verhältnisse im Großen, sondern konstituieren sie erst; einen oder gar ›den Staat‹ gegenüber und oberhalb ›der Gesellschaft könnte es gar nicht geben ohne unzählige einzelne Kontakte zwischen einzelnen Menschen, unter denen die zwischen Beamten und den von ihnen Verwalteten einen wichtigen Anteil ausmachen. Das hätte gewiss weder Reichsratspräsident Kübeck noch irgendein Funktionär der neoabsolutistischen Habsburgermonarchie so gesehen oder formuliert, aber ein Bewusstsein für derartige Zusammenhänge spricht aus den eingangs zitierten Worten von den Bezirksbehörden als den wichtigsten Organen‹, welche die unmittelbarsten Beziehungen zwischen Behörden und Bevölkerung führten.
Der Mehrwert der räumlichen Perspektive ist in erster Linie ein heuristischer: Ihr konsequent nachgehen, heißt bekannte Dinge neu denken, Sachverhalte genauer in den Blick nehmen, die bislang unproblematisch oder selbstverständlich erschienen, ein verändertes Vokabular und entsprechend umgestellte Deutungsraster auf die Beschreibung von Phänomenen anwenden. Die Resultate sind mehr als nur Altbekanntes in neuem sprachlichem und metaphorischem Gewand: Zumindest in einigen Punkten macht eine Neuvermessung aus anderer Perspektive Zusammenhänge, Parallelen oder Ähnlichkeiten sichtbar, die »den bisherigen Beschreibungen entgangen« sind. Bretschneider / Duhamelle: »Fraktalität«, S. 711. Einen solchen erkenntnisfördernden Effekt räumt auch Thomas Mergel ein, der zugleich aber auch vor Gefahren der Beschreibung in räumlichen Metaphern warnt; vgl. Thomas Mergel: »Kulturgeschichte – die neue ›große Erzählung‹? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft«, in: Wolfgang Hardtwig / Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 41–77, hier S. 71–72. Barbara Stollberg-Rilinger: »Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung«, in: Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 12. Zur grundlegenden Wichtigkeit der Zerstörung scheinbarer Selbstverständlichkeiten weiters Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt am Main 2001, S. 148, 170, 381.
Seiner k. k. Majestät Ferdinand des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für sämmtliche Provinzen des Oesterreichischen Kaiserstaates, mit Ausnahme von Ungarn und Siebenbürgen, Bd. 76, Wien 1851.
Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischen Funktionen, Jena 1933.