Uneingeschränkter Zugang

Innovation durch Technik? Rohrpostsysteme als Medientechnologien der Verwaltung im 20. Jahrhundert


Zitieren

Daher bitten wir Sie, die negative Haltung, die von der Zolldirektion geäußert wurde, zu revidieren […] und dafür zu sorgen, dass in dieser Ära der Automatisierung und der Elektronik unsere Verwaltung ihr Prestige bewährt und nützliche Mittel nicht nur für unsere, sondern auch für die künftigen Generationen schafft.

Schweizerisches Bundesarchiv [BAR], E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). D. Camponovo, Ispettore (Ispettorato doganale Chiasso stazione), an Direzione delle Dogane, Lugano, 01. 07. 1969: Posta pneumatica nella stazione di Chiasso: »Vi preghiamo quindi di rivedere l’atteggiamento negativo esposto dalla DGD […] e di far in modo che la nostra amministrazione, in quest’era dell’automazione e dell’elettronica, abbia a salvaguardare il proprio prestigio e a creare dei mezzi validi non solo per le nostre generazioni, ma anche per quelle future.« Diese und alle weiteren Übersetzungen sind meine eigenen.

So schrieb 1969 D. Camponovo, schweizerischer Zollinspektor am Bahnhof Chiasso, an die Zolldirektion in Lugano, um sie von der Nützlichkeit eines eigenen Rohrpostanschlusses zu überzeugen. Dieses Zitat verdeutlicht, welcher Stellenwert Rohrpostanlagen in der Verwaltung damals zugeschrieben wurde.

Die Rohrpost ist während mehrerer Jahrzehnte, in manchen Fällen auch länger als ein Jahrhundert, ein wichtiges Kommunikations- und Transportmittel gewesen.

Der Forschungsstand zur Rohrpost ist sehr beschränkt, obwohl in den letzten Jahren in den Geschichtswissenschaften sowie in der Medienwissenschaft und Anthropologie vermehrt Studien zu einzelnen Städten veröffentlicht wurden: vgl. Laura Meneghello: Kulturgeschichte und ›STS‹ kombiniert. Die Rohrpost als kommunikations- und raumerzeugende Infrastruktur, in: Astrid Wiedmann / Katherin Wagenknecht / Philipp Goll / Andreas Wagenknecht (Hg.): Wie forschen mit den ›Science and Technology Studies‹? Bielefeld 2020, S. 25–49; Rachele Delucchi: Unter Druck. Wie die Rohrpost unter die Schweiz kam, in: Traverse 27/2 (2020), S. 83–97 (zu schweizerischen Stadtrohrposten in den 1920er-Jahren); Florian Bettel: Ware Zukunft – Erzählung und Kommerzialisierung von Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert, in: Blätter für Technikgeschichte 80 (2018), S. 31–54; Anna Harris: Sounds like Infrastructure: Examining the Materiality of Pneumatic Tube Systems through their Sonic Traces, in: Andreas Marklund / Ruediger Mogens (Hg.): Historicizing Infrastructure. Aalborg 2017, S. 21–50; Ingmar Arnold: Luft-Züge. Die Geschichte der Rohrpost. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2016; Florian Bettel: Futures & Options: Utopische Bildwelten des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Wiener Rohrpost, in: Marlene Illner / Matthias Winzen (Hg.): Technische Paradiese: die Zukunft in der Karikatur des 19. Jahrhunderts. Oberhausen 2016, S. 207–231; Gabriele Schabacher: Rohrposten. Zur medialen Organisation begrenzter Räume, in: Christoph Neubert / Gabriele Schabacher (Hg.): Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien. Bielefeld 2014, S. 189–222; Florian Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher. Die Rohrpost am Arbeitsplatz in fünf Darstellungen, in: Blätter für Technikgeschichte 73 (2012), S. 127–148; Florian Bettel: Technik, Kommerz und Totenkult. Die technische Vision der pneumatischen Leichenbeförderung zum Wiener Zentralfriedhof von 1874, in: Uwe Fraunholz / Anke Woschech (Hg.): Technology Fiction. Technische Visionen und Utopien in der Hochmoderne. Bielefeld 2012, S. 43–64.

Die Sendungen, die in Büchsen verpackt waren, wurden mittels Druckluft durch die Rohre verschickt und reisten so durch die Gebäude oder den Stadtuntergrund. Die meisten Rohrpostsysteme in der Verwaltung waren sogenannte Hausrohrpostanlagen, die innerhalb von Gebäuden installiert waren; es gab aber auch Systeme, die eine direkte Verbindung zwischen Unternehmen und Stadtrohrpostnetz leisteten, oder Anlagen, welche Gebäude und Gebäudekomplexe in Verbindung setzten. Alle Rohrpostanlagen, die in den folgenden Beispielen behandelt werden, waren aus Luftkomprimierungsmaschinen, Rohren, Büchsen und Rohrpoststationen zusammengesetzt; je nach Zeitpunkt waren diese Systeme mehr oder weniger automatisiert und elektrifiziert: Anstatt Dampfmaschinen wurden ab den 1930er-Jahren elektrische Anlagen verwendet, während die Büchsen durch einen magnetischen Ring automatisch durch die richtigen Weichen zur Ankunftsstation geleitet wurden.

Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher, S. 138.

Diese Entwicklungen in der Rohrposttechnik waren mit dafür verantwortlich, dass die Rohrpost sich rasch etablierte und in den unterschiedlichsten Bereichen der öffentlichen und privaten Verwaltung Einsatz fand. In Unternehmen, im Parlament, in der Bibliothek und im Zollamt wurden Rohrpostsysteme zu wesentlichen Faktoren im Arbeitsalltag. Zusammen mit menschlichen Akteuren wie Angestellten, Vorgesetzten, Beamten und Technikern sowie mit nicht-menschlichen Akteuren wie (verschickten und empfangenen) Objekten, Dokumenten und Briefen, mit Normen und (implizitem sowie explizitem) Wissen gestalteten Rohrpostsysteme den Geschäftsverlauf, die Zirkulation von Papier und Dingen und das Arbeitsleben; sie ließen neue Interaktionen und neue (soziale) Räume entstehen, während sie andere verschwinden ließen.

Zu sozialen relationalen Räumen vgl. Pierre Bourdieu: ›Sozialer Raum, symbolischer Raum›, in: Stephan Günzel / Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006 [1989], S. 354–368.

Gerade die Möglichkeit, Schriftstücke im Original zu befördern, war für die Einführung von Rohrpostsystemen in Behörden und Verwaltungen entscheidend. Diese Einführung ging mit Diskursen zur Modernisierung, Beschleunigung der Vorgänge, »arbeitsrationalen Organisation« und Entlastung des Personals einher. Büropraktiken und Büroarbeit veränderten sich, da Rohrpostsysteme die Kommunikation zwischen mehreren Etagen und Hunderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ohne viele Boten und großen Aufwand ermöglichten. Verschiedene sozio-technische Konstellationen (im Sinne von »assemblages« von Menschen und Artefakten)

Aihwa Ong / Stephen J. Collier: Global Assemblages, Anthropological Problems, in: Dies. (Hg.): Global Assemblages. Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems. Malden 2005, S. 3–21.

, so meine These, bestimmen also institutionelle und soziale Ordnungen und lassen Räume, Beziehungen und kommunikative Praktiken entstehen oder gestalten diese mit. Je nach Konstellation diente die Rohrpost als Garantie für Legalität, für rationale Arbeitsorganisation, Präzision und Zuverlässigkeit (oder ihr Scheitern), für Transparenz der Institutionen und Zusammenarbeit in den Behörden. Basierend auf Archivalien aus unterschiedlichen europäischen Archiven wird hier einerseits analysiert, wie Verwaltungs- und Arbeitspraktiken durch das System der Rohrpost gestaltet und wie soziale Beziehungen und Arbeitsalltag verändert wurden.

Zur Verwaltungsgeschichte im Sinne einer Geschichte von Diskursen und Praktiken vgl. Peter Becker / Stefan Nellen: Verwaltungsgeschichte im Dialog. Einleitung, in: Administory 1/1 (2018), S. 3–9. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0001. Insbesondere zur Rolle des Archivs als ein Mittel zur Reproduktion von Staatlichkeit und ihren eigenen Kategorien sowie zur kritischen Aufgabe der sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschung, diese Kategorien zu hinterfragen und ihre Gewordenheit und Konstruiertheit aufzuzeigen vgl. Caroline Dufour: Administrative History and the Theory of Fields. Towards a Social and Political History of Public Administration, in: Administory 1/1 (2018), S. 124–137. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0007.

Andererseits wird gefragt, wann die Ein- und Fortführung des Rohrpostbetriebes mit Rationalisierung, Innovation und Modernisierung in Zusammenhang gebracht wurden und wann diese im Gegensatz als Symbol einer veralteten, trägen Bürokratie identifiziert wurden.

Zur Innovation aus technik- und kulturhistorischer Perspektive vgl. Helga Nowotny (Hg.): The Quest for Innovation and Cultures of Technology, in: Cultures of Technology and the Quest for Innovation. New York/Oxford 2006, S. 1–23. Marcus Popplow: Die Idee der Innovation – ein historischer Abriss, in: Birgit Blättel-Mink / Ingo Schulz-Schaeffer / Arnold Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung. Wiesbaden 2019, S. 1–9. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive: Hubert Knoblauch: Kommunikatives Handeln, das Neue und die Innovationsgesellschaft, in: Werner Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle. Wiesbaden 2016, S. 111–131. Zur Geschichte von Innovation: Benoît Godin: Innovation Contested. The Idea of Innovation over the Centuries. New York/London 2015 sowie Benoît Godin: Technological Innovation: On the Origins and Development of an Inclusive Concept. Technology and Culture 57/3 (2016), S. 527–556. Zur Innovationspolitik: Ulrich Wengenroth: Innovationspolitik und Innovationsforschung, in: Gerd Graßhoff / Rainer Schwinges (Hg.): Innovationskultur. Von der Wissenschaft zum Produkt. Zürich 2008, S. 61–77.

Im untersuchten Zeitraum, welcher von den 1940er-Jahren bis Ende des 20. Jahrhunderts sich ausstreckt, veränderten sich die Vorstellung der Rohrpost in der Verwaltung, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Behörden und Abteilungen und somit die (sozialen) Räume der Verwaltung und die Verwaltungspraktiken selbst.

Auf der Grundlage unterschiedlicher Methoden (insbesondere Science and Technology Studies sowie Kulturgeschichte der Technik)

Zu STS und ›large technological systems‹ vgl. Wiebe E. Bijker / Thomas P. Hughes / Trevor J. Pinch (Hg.): The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology. Cambridge, Mass. 1987; zur Kulturgeschichte der Technik vgl. Martina Heßler: Kulturgeschichte der Technik. Frankfurt am Main 2012.

wird gezeigt, wie technische Innovation als ein Mittel zur Innovation in der öffentlichen Verwaltung benutzt wurde, und welche Folgen Infrastrukturen als Dispositive der Macht für die Produktion, die (Selbst-)Darstellung und die Inszenierung von Staatlichkeit hatten.

Zur Postverwaltung als Dispositiv vgl. Antonia von Schöning: Die Administration der Dinge. Technik und Imagination im Paris des 19. Jahrhunderts. Zürich 2018. Zu Infrastrukturen und Macht vgl. van Laak, Dirk: Infrastrukturen und Macht, in: Jens Ivo Engels / François Duceppe-Lamarre (Hg.): Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. München 2008, S. 106–114.

Verwaltungsgeschichte wird hier im Sinne einer Kulturund Technikgeschichte verstanden. Verwaltung als »gesellschaftliche Funktion« und »Teil staatlichen Handelns« ist nicht von Praktiken zu trennen, die die Kommunikation strukturieren, und die sich auch für einen Blick ›von unten‹ anbieten. Insbesondere Technologien der Kommunikation wie Rohrpostsysteme gestalteten Verwaltungsgebäude als Arbeitsort sowie als Entscheidungsort. Automatisierungs-, Mechanisierungsund Modernisierungsmaßnahmen (seien sie ›von oben‹ oder, gelegentlich, ›von unten‹) prägten so »Prozesse moderner Staatlichkeit« mit.

Sebastian Brändli-Traffelet: Verwaltung des Sonderfalles: Plädoyer für eine Verwaltungskulturgeschichte der Schweiz, in: SZG/RSH/RSS 54/1 (2004), S. 79–89, insbesondere 83 und 85–86.

Die ausgewählten Fallbeispiele sind sowohl zeitlich als auch geografisch heterogen, sie sind aber gerade dadurch für die Entwicklungen in der Technisierung der Verwaltung während des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen europäischen Regionen repräsentativ. Die zugrundeliegenden Quellen stammen aus deutschen, schweizerischen, tschechischen und britischen Archiven, die wiederum in Unternehmensarchive (Siemens-Archiv) und staatliche Archive zu unterteilen sind. Die Quellensprachen sind somit Deutsch, Englisch, Italienisch sowie Französisch und, zu einem kleineren Anteil, Tschechisch. Das hier behandelte geografische Territorium ist aber mit dem der jeweiligen Sprachen entsprechenden Nationalstaaten nicht deckungsgleich.

Die Identifikation von Sprache mit Nation wird in der Globalgeschichtsschreibung hinterfragt. L. Elena Delgado / Rolando J. Romero: Local Histories and Global Designs: An Interview with Walter Mignolo, in: Discourse 22/3 (2000), S. 7–33, zu Sprache und Territorium S. 13. Zur Globalgeschichte vgl. Sebastian Conrad / Shalini Randeria / Beate Sutterlüty: Jenseits des Eurozentrismus: postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York 2002.

So gehören auch Ministerialgebäude in Zagreb und Bukarest in den frühen 1940er-Jahren zum Objekt der Untersuchung. Am Beispiel der Technikübertragung aus Deutschland zu den Ministerien in diesen beiden südosteuropäischen Hauptstädten in den 1940er-Jahren wird argumentiert, dass technische Innovation zum Zwecke einer besseren Kontrolle der bürokratischen Vorgänge eingeführt wurde. Zudem wird gezeigt, dass Geheimhaltung und Sicherheit die Hauptziele der Einführung von Rohrpostanlagen und somit der Neugestaltung der Kommunikation innerhalb und zwischen den Verwaltungsgebäuden in Whitehall (London) während des Zweiten Weltkriegs waren.

Die Fehlerhaftigkeit und die Ablehnung technischer Innovation werden im zweiten Abschnitt am Beispiel des deutschen Bundeskanzleramts und der schweizerischen Bundeskanzlei in den 1960er- und 1970er-Jahren thematisiert. Im ersten Fall setzte sich die Rohrposttechnik trotzdem durch, nachdem das erste, mangelhafte System durch ein neueres ersetzt wurde; im zweiten Fall wurde die Installation eines zusätzlichen Rohrpostsystems abgelehnt. Der dritte Abschnitt handelt von der »Modernisierung« der Zollämter in der Schweiz und in Deutschland in den 1960er- bis 1980er-Jahren, die auch in diesem Fall unter anderem durch die Einführung von Rohrpostanlagen erfolgte. Es wird hiermit gezeigt: Erstens, dass Rationalisierungsdiskurse vom Bereich der privaten Wirtschaft in den institutionellen Bereich übertragen wurden; hierbei galt technische Innovation als Lösungsvorschlag zum Zweck der »Modernisierung«. Dies ist in einem Zusammenhang mit dem utopischen Charakter zu verstehen, der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Rohrpostprojekte umhüllte.

Vgl. Arnold: Luft-Züge, sowie Bettel: Futures & Options.

Zweitens, dass Innovation in der Verwaltung sich als work in progress gestaltete, indem sie durch Technik eingeführt wurde, (teilweise) scheiterte und abgelehnt wurde, oder sich durch Reparatur und Erneuerung technischer Systeme doch etablierte. Vom Symbol der Modernisierung wurde dieselbe Technik zum Symbol der Rückständigkeit und umgekehrt. Der Staat und seine Institutionen wurden selber mit diesen Charakteristika assoziiert und ihre kulturelle Konstruktion schwankte somit auch zwischen den beiden Polen von Rückständigkeit und Innovation.

Kontrolle und Sicherheit: Ministerialgebäude und Militärverwaltung in den frühen 1940er-Jahren

Die Nutzung von Rohrpostanlagen in der Verwaltung begann bereits im 19. Jahrhundert. Diese knüpfte an die breitflächige Installierung von Stadtrohrpostanlagen in den 1870er-Jahren an. In den 1920er- bis 1940er-Jahren fand eine rasche Verbreitung der Rohrpost als Innovationstechnologie der Verwaltung

Vgl. Bettel: Der ›vollkommenen‹ Welt um einen großen Schritt näher, S. 137 (›Die Boomjahre der Rohrpost›).

und, in manchen Fällen, eine Technikübertragung durch deutsche Firmen wie Siemens & Halske und Mix & Genest statt. Diese fing mit der Modernisierung der Stadtrohrpost in Prag durch Mix & Genest an, welche die Hersteller als Beispiel für die Fortschrittlichkeit »deutscher Technik« und als wesentliche technische Hilfe für eine reibungslose, effiziente Kommunikation darstellten,

Vgl. Fritz Jeske: Eine deutsche Stadtrohrpostanlage in Prag (Mitteilung aus der Rohrpostabteilung der Mix&Genest AG), in: Elektrisches Nachrichtenwesen (Zeitschrift für Fortschritte in der Fernsprech-, Telegraphen- und Funktechnik, vierteljährlich hrsg. von der C. Lorenz AG, Berlin-Tempelhof und der Standard Elektrizitäts-Gesellschaft AG, Berlin-Schöneberg) 12/1 (Oktober 1933), S. 19–24. Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 16133.

und ging dann mit der Rohrpost in der öffentlichen Verwaltung weiter. Im Folgenden werden Fallbeispiele aus den 1940er-Jahren näher untersucht, welche zeigen, dass während des Zweiten Weltkriegs die Rohrpost als ein Mittel zur Überwachung und zur Versicherheitlichung der Kommunikation in der Staatsverwaltung interpretiert und genutzt wurde. Zuerst wird auf das Beispiel von zwei Ministerien südosteuropäischer Städte eingegangen, in denen Rohrpostanlagen deutscher Hersteller installiert wurden. Ferner wird der Fall des Rohrpostnetzes innerhalb von und zwischen unterschiedlichen Gebäuden der britischen Militärverwaltung analysiert.

Macht und Kontrolle durch technische Innovation: Ministerien in Südosteuropa im Zweiten Weltkrieg

In Bukarest und Zagreb wurden während des Zweiten Weltkriegs Rohrpostanlagen in den wichtigsten Verwaltungsgebäuden montiert. Hiermit waren sie Teil eines Verwaltungs- und Ordnungssystems. Per Rohrpost zirkulierten nicht nur Schriftstücke, Anweisungen und Befehle, sondern es wurden nicht zuletzt die Sendungen und Telegramme gerade bei den Rohrpoststationen in ein Register eingetragen und somit erfasst, die Kommunikation wurde kontrolliert und eventuell zensiert. Dieses Muster wurde bereits 1939 bei der Prager Stadtrohrpost eingeführt.

Národní archiv (Prag), MPT 429, Karton 1388. Ředitelství pošt a telegrafů Praha, Věc: Rejstřík odchodu připojování telegramů podaných u potrubnich stanic [Register der Abfahrt der Telegramme, die bei den Rohrpoststationen eingereicht worden sind], Praha 7. 01. 1939.

So wurden Technologien der Kontrolle und Versicherheitlichung (ein Prozess, bei dem etwas als sicherheitsbenötigend definiert und entsprechend gehandhabt wird) vom Bereich der Stadtrohrpost in den Bereich der öffentlichen Verwaltung übertragen.

Zu Versicherheitlichung vgl. Eckart Conze: Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven. Göttingen 2018; zu Sicherheit vgl. Claudia Aradau: Security That Matters: Critical Infrastructure and Objects of Protection, in: Security Dialogue 41 (2010), S. 491–514.

Noch Anfang Mai 1943 wurde die Rumänische Nationalbank in Bukarest mit einer automatischen Rohrpostanlage sowie zwei Aktenpaternosteraufzügen, beide von Siemens, ausgestattet. Dem Postamt Zagreb lieferte im Jahre 1942 die Telephon Apparate Fabrik E. Zwietusch & Co. GmbH in Berlin-Charlottenburg die Briefverteil- und Transportbandanlagen sowie eine Hausrohrpost. Dabei wurden deutsche spezialisierte Kräfte, insbesondere Rohrpostspezialisten wie »Ingenieure, Techniker und Monteure« zur Verfügung gestellt und die Firma Zwietusch verpflichtete sich, die Spezialisten für die ganze Zeit der Montage auf der Baustelle zu halten.

Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 13671 [Rechtsabteilung SuH & SSW, Kroatien, Altsignatur 5043]. Anschrift an die Zentrale Rechtsabteilung SSW-Verwaltungsgebäude, Siemensstadt, 05. 05. 1943, darin: Vertrag, Rumänische Nationalbank A.G. Bukarest, 31. 03. 1942 (in deutscher und rumänischer Sprache); Vertrag, Generaldirektion für öffentl. Arbeiten im Ministerium des Unabhängigen Staates Kroatien und Telephon Apparate Fabrik E. Zwietusch & Co. GmbH Bln. Charlottenburg für Postamt Zagreb vom 28. 12. 1942 (in deutscher und kroatischer Sprache), hier insbesondere Artikel 10: Montagepersonal. Ein ähnlicher Vertrag in deutscher und rumänischer Sprache mit Datum Bukarest, 31. 03. 1942, ist auch in SAA 14942 zu finden.

Diese waren keine Sonderfälle. Ein Prozess der Technisierung der Einflusszonen des nationalsozialistischen Deutschen Reichs hatte früher begonnen. 1941 wurden zwischen Siemens und der Arge Hochtief-Prager, Bukarest (vermittelt durch die Hochtief, Essen) Vereinbarungen über die »Lieferung und Montage der elektrischen Stark-und Schwachstromausrüstung für den Neubau des Innenministeriums« in Bukarest getroffen. Neben der Rohrpost wurden eine automatische Fernsprechanlage, ein Aktenaufzug mit sieben Stationen und drei Aktenaufzüge mit je sechs Stationen, eine Bandanlage und eine Lichtsignalanlage sowie eine elektroakustische Anlage und eine Fernschreibanlage, eine Uhranlage sowie Arbeitszeitkontrollapparate und Zeitstempel und schließlich ein Feuermelder und eine Wächterkontrollanlage installiert.

Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute. SAA 14872. Vertrag 4680, Essen den 15. 08. 1941, Hochtief AG / Siemens & Halske AG.

So wurde ein Kontroll- und Verwaltungsapparat errichtet mit dem Ziel, Personen und Vorgänge zu überwachen, Macht auszuüben und Strukturen durch Verwaltungspraktiken zu gestalten.

Die Verwaltungsfunktion der Rohrpost ging so mit ihrer Versicherheitlichungsfunktion einher. Im Bereich der Militärverwaltung wurde letztere prioritär, wie auch aus dem nächsten Fallbeispiel ersichtlich wird. Die Anwendung technischer Innovation war kein Mittel zur offenen Kommunikation und zu einer potentiell globalen Vernetzung, sondern diente der Ermöglichung eines geschlossenen und kontrollierten Austausches.

Geheimhaltung und Sicherheit: Innovation der Kommunikation in den Verwaltungsgebäuden in Whitehall (London) während des Zweiten Weltkriegs

Zwischen 1942 und 1944 wurde in Whitehall, dem administrativen Herzen von London, ein sogenanntes »inter-departemental [sic] system« geplant, das die verschiedenen Systeme innerhalb von einzelnen Gebäuden, Ministerien oder Verwaltungs- und Regierungseinheiten miteinander verbinden sollte. Das »inter-departemental« Rohrpostnetz sollte zwischen Admiralty (Royal Navy), No. 10 Downing Street, Office of the War Cabinet, HM Treasury, Air Ministry, India Office, Home Office, Colonial and Dominions Office und Foreign Office verlaufen. Im Projekt spielten War Cabinet Office und Foreign Office eine tragende Rolle gerade deswegen, weil sie interne Rohrpostsysteme mit Erfolg bereits nutzten.

Aus der Akte in The National Archives [TNA], CAB 21/2421 geht hervor, dass das Projekt im Jahre 1944 wegen einer Entscheidung des Bauministeriums nicht weiterverfolgt werden konnte: vgl. TNA, CAB 21/2421 [006], Lawrence Burgis an P.J. Root (Ministry of Works, Lambeth Bridge House), 23. 11. 1944. Jedoch wollten mehrere Akteure aus den vom geplanten Rohrpostsystem betroffenen Behörden es so bald wie möglich weiterverfolgen: vgl. TNA, CAB 21/2421 [007], W.B. Foden (Air Ministry, Ariel House, Strand) an Burgis (Offices oft he War Cabinet, St. George St.), 22. 11. 1944.

Gründe für die Einrichtung des neuen Systems waren sowohl die Beschleunigung der Kommunikation als auch die Einsparung von Arbeitskräften. Insbesondere zu Kriegszeiten, als die ganze arbeitstüchtige Bevölkerung direkt oder indirekt zu Kriegszwecken eingesetzt werden musste, wussten es das Militär und die Regierung zu schätzen, wenn durch Mechanisierungsvorgänge Arbeitskräfte eingespart werden konnten, wie ein Beamter in einem Brief an den Chefingenieur des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten schrieb:

Codrington [Militärbeamter, L.M.] has told me about the proposed interdepartmentall [sic] tube system. I should like to say that, for our part, we should greatly welcome his proposals for a tube connecting the Foreign Office, India Office, Home Office, Colonial and Dominions Office, Air Ministry, Treasury and War Cabinet Offices. […] [A]ll our experience has confirmed the value of these tubes as a secure and rapid means of communication. Furthermore, they undoubtedly save not only time but also manpower in messengers.

TNA, CAB 21/2421 [110], A.J.D. Winnifrith an E. Batch, 17. 02. 1944.

Neben Zeit- und Arbeitskräfteeinsparung waren es vor allem Sicherheitsgründe, die die Einrichtung eines größeren, umfassenden Systems rechtfertigten: Der Transport von Dokumenten zwischen den unterschiedlichen Einrichtungen geschah nämlich durch einen Boten, der zu Fuß oder mit einem Auto Schachteln mit den Unterlagen getragen hatte. Im Notfall (im Fall eines feindlichen »blitz« oder einer Invasion, aber auch im Fall von Nebel)

TNA, CAB 21/2421 [184], Camp Commandant an Mr. Wilkinson, »Your Minute of 14th September«, 16. 09. 1942.

konnte die Möglichkeit eines Transports beziehungsweise dessen Sicherheit eventuell nicht mehr gewährleistet werden.

Der Plan des »inter-departemental system« ist ein Beispiel dafür, dass die Aneignung von Technik Zeit braucht, und dass Innovationen sich erst dann durchsetzen können, wenn sie akzeptiert werden. Tatsächlich wurde vermerkt, dass die Idee eines »inter-departemental system« nicht früher aufgekommen war, weil ein solches System damals »a new innovation« war,

TNA, CAB 21/2421 [102], Machon (The War Office) an Winnifrith (Offices of the War Cabinet), London, 7. 03. 1944.

und es waren diejenigen Abteilungen, die seit längerer Zeit ein funktionierendes Rohrpostsystem zur internen Kommunikation hatten, die den Plan unterstützten. Zunächst wurde der Plan abgelehnt, und erst später, als man mehr Erfahrung mit der Rohrpost gesammelt hatte und positive Berichte darüber zirkulierten, wurde die Idee eines übergreifenden Systems wieder ins Spiel gebracht:

[…] the whole idea of establishing tube connexions [sic] between Service Departments was put up some time ago and turned down.« Doch seitdem »the difficulties of running an effective messenger service have increased, and more experience has been gained in the use of tubes.

TNA, CAB 21/2421 [120], Codrington an Mr. Winnifrith und Brigadier Jacob, 10. 02. 1944.

In demselben Schreiben wurde zudem angemerkt, dass die Boten zum Transport von Sendungen zu den entferntesten Ämtern, zum Beispiel der Law Court, gebraucht werden würden, während sie gegenwärtig für kurze Distanzen zum Einsatz kamen, die am effizientesten mittels einer Rohrpost hätten verbunden werden können. Die geplante umfassende Anlage hätte also dazu dienen sollen, die Militär- und Staatsverwaltung zu einem Kontinuum zu assemblieren.

Bei der praktischen Umsetzung des Plans tauchten unterschiedliche Probleme auf: erstens mit der Gewährleistung der Geheimhaltung, zweitens mit der Zuverlässigkeit des Systems. Die Kapseln waren nämlich aus sicherheits- und geheimhaltungsgründen abgeschlossen; jede Kapsel gehörte einem Büro und jeder Kapsel gehörte ein eigener Schlüssel, der im entsprechenden Büro deponiert war. Es waren gerade die Schlüssel der einzelnen Kapseln, die einerseits ein Dispositiv der Sicherheit waren, andererseits technische Fehler verursachten, wenn die Deckel der Büchsen nicht richtig abgeschlossen wurden oder verloren gingen.

Die Sicherheitsmaßnahmen waren vielfältig und begleiteten die Sendung auf ihrem ganzen Weg: Erstens waren die Büchsen von bestimmten Linien mit einem Schloss versehen; zweitens waren die Linientrassen Unbefugten nicht bekannt, das heißt sie wurden geheim gehalten; drittens mussten die Empfänger ggf. eine Empfangsbestätigung in Form der leeren Büchse zurückschicken, damit dem Sender kein Zweifel bleiben konnte, ob der Inhalt der Büchse verloren gegangen war; viertens hatten die Operatoren, die für den Betrieb von manchen Linien zuständig waren, keinen Schlüssel, um die Büchsen zu öffnen; fünftens hatte jeder Sender einen eigenen Schlüssel für seine spezifische Büchse.

TNA, CAB 21/2421 [236–238, hier 238], WW [Wilkinson] an Batch, Ministry of Works, 26. 03. 1942: Lampson [sic] Tube Installation: »The stuff which would be sent through the tubes would be highly secret.«

Deswegen war Materialität selbst integraler Bestandteil des Sicherheitsregimes: Es war gar nicht nötig, eine schriftliche Empfangsbestätigung zu erfordern, weil die Rückkehr der leere Büchse bereits als Empfangsbestätigung vorgesehen war und als solche interpretiert wurde, wie es aus dem im Dezember 1943 verfassten Memorandum hervorgeht.

TNA, CAB 21/2421 [142], Memorandum, December 1943, 19. Operation of the internal system – return of empty containers proves delivery). Vgl. auch TNA, CAB 21/2421 [075], Foreign Office 4-inch Tube Installation. Extension to the War Cabinet Offices. F.W. Rawlins, Chief Clerk, 7. 10. 1944.

Akustische Signale wie das dreifache Klingeln waren für den »Office Keeper« der Anlass, eine gesicherte (das heißt mit einem Schloss versehene) Rohrpostbüchse dem klingelnden Mitarbeiter (zu Fuß) zu bringen. Nachdem die Nachricht in der Büchse war und diese verschlossen wurde, würde derselbe »Office Keeper« diese zum Exchange per Rohrpost schicken (»to blow«), wo sie dann in die richtige Rohrpostlinie transferiert und weitergeleitet worden wäre; der am Ankunftsort zuständige »Office Keeper« hätte diese dann dem Empfänger gebracht; eine solche Prozedur war notwendig, da die Weichenstellung noch nicht automatisch erfolgte. Diese komplexen Interaktionen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die bei dem täglichen Rohrpostverkehr involviert waren, lassen sich als »assemblages« konzeptualisieren: Sie waren flexibel und konnten ständig verändert und angepasst werden. Daraus folgt, dass auch technische Innovation in diesem Sinne nicht als einmaliges und einzigartiges Phänomen, nicht also als »Revolution«, sondern als eine Anpassung des Alten zu verstehen ist.

Vgl. dazu David Gugerli / Patrick Kupper / Daniel Speich: Rechne mit deinen Beständen. Dispositive des Wissens in der Informationsgesellschaft, in: Dies. (Hg.): Informationsgesellschaft: Geschichten und Wirklichkeit. Fribourg 2005, S. 79 – 108, hier S. 87, wo dazu aufgefordert wird, die Revolutionsrhetorik kritisch zu hinterfragen; zu ›assemblages‹ vgl. George E. Marcus / Erkan Saka: Assemblage, in: Theory, Culture & Society 23 (2006), S. 101–106.

Rohrpostanlagen vermittelten zwischen unterschiedlichen Stellen und ermöglichten so ihre Kooperation, gleichzeitig setzten sie Zusammenarbeit und Koordination voraus. Die Intermedialität der Rohrpost konnte aber auch als Nachteil für die Sicherheit des Transports und die Geheimhaltung der Nachrichten gesehen werden: Mehr Vernetzung bedeutete auch mehr Risiken, z. B. dass die Nachrichten von Unbefugten gelesen werden konnten, dass sie verloren gehen oder aus anderen Gründen nicht zugestellt werden konnten.

TNA, CAB 21/2421 [179–180], Korrespondenz zwischen Banks und Walter, 8. 12. 1942.

Bezüglich der Stabilisierung technischer Innovationen kann man feststellen, dass, im Gegensatz zu dem, was man von einer Militärverwaltung erwarten würde, die meisten Entscheidungen selbst bei den Planungen einer »inter-departemental« Verbindung nicht von oben gefällt, sondern auf mehreren Ebenen verhandelt wurden. Auf keinen Fall handelte es sich hier um eine lineare Entwicklung vom Plan zu seiner Verwirklichung, sondern vielmehr um einen kontinuierlichen Austausch zwischen den beteiligten Behörden, dem Militär und den Ingenieuren des Ministeriums für Öffentliche Arbeiten.

TNA, CAB 21/2421 [035–036], L.F. Burgis an W.B. Foden (Establishment Office, Air Ministry, Ariel House), »Interdepartmental 4-inch Lamson Tube System«, 24. 10. 1944.

Es war im Kontext der Planung außerdem üblich, dass Mitarbeiter unterschiedlicher Abteilungen andere Abteilungen besuchten, um die Funktionsweise des Rohrpostsystems zu besichtigen und um beurteilen zu können, ob sie ein ähnliches System brauchen konnten. Implizites praktisches Wissen

Zum impliziten Wissen vgl. Michael Polanyi: The Tacit Dimension. Chicago 1966.

wurde explizit gemacht, indem die Mitarbeiter geschult wurden und die Abteilungen, die seit längerer Zeit ein Rohrpostsystem verwendet hatten, als Lernort für die Abteilungsleiter dienten, die sich über die Nützlichkeit eines solchen Systems für die eigene Abteilung entscheiden mussten.

TNA, CAB 21/2421 [171], [Winnifrith?] an Major Rawlins, 10. 04. 1943: »Could you possibly initiate our Treasury man into our tube system«; sowie TNA, CAB 21/2421 [172], A.J.D. Winnifrith an E.H. Ritson, Treasury, 10. 04. 1943 (draft).

Die Ambivalenz technischer Innovation in der Verwaltung, die Abläufe beschleunigen, aber auch verlangsamen und verkomplizieren kann, wird in den nächsten Abschnitten anhand der Beispiele der bundesdeutschen Verwaltung und der schweizerischen Zollbehörden an Güterbahnhöfen näher beleuchtet.

Bürokratie, technische Fehler und abgelehnte Innovation: das deutsche Bundeskanzleramt und die schweizerische Bundeskanzlei

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden Rohrpostsysteme in den politischen Institutionen unterschiedlicher europäischer Länder eingesetzt. Transportiert wurden Telegramme und eventuell postalische Sendungen sowie offizielle Berichterstattungen, damit sie schneller in den Druck gehen konnten. Somit wurde die Rohrpost zu einem technischen System, das parlamentarische Prozesse begleitete und mit demokratischen Verfahren in Verbindung gebracht wurde. Das Beispiel des deutschen Bundeskanzleramtes zeigt, wie Innovation trotz ihres anfänglichen Scheiterns vorangetrieben wurde und sich schließlich durchsetzen konnte. In der Schweiz wurde dagegen ein Vorschlag zur Erweiterung des bestehenden Rohrpostnetzes zwischen dem Parlament in Bern und dem Postamt Bollwerk um ein neues Netz innerhalb und zwischen den Verwaltungsgebäuden abgelehnt; in diesem Fall wurde technische Innovation aufgrund des nicht vorhandenen Bedarfs abgeblockt.

Fehlerhafte Innovation: das Bundeskanzleramt in Bonn

Die Rohrpostanlagen des Bundeskanzleramtes wurden mit unterschiedlichen Eigenschaften der staatlichen Verwaltung in Verbindung gebracht; oft waren diese negativ besetzt und wurden benutzt, um gerade die Trägheit der Bürokratie sowie die Rückständigkeit von Regierungen, die fehlende Innovationsbereitschaft und sogar das Scheitern der Politik zu bezeichnen.

Anfang 2001, während der »Beratung des Entwurfs eines Gesetztes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr« deutete die SPDAbgeordnete Christine Lambrecht gerade die Rohrpost als Symbol der Rückständigkeit des deutschen Staates und seines Verwaltungsapparats.

Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 146. Sitzung. Berlin, 25. 01. 2001. Plenarprotokoll 14/146, S. 14378. Anlage 3, Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetztes zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr (Tagesordnungspunkt 7).

Auch in Wien wurde die Rohrpost im Parlament vor allem seitens junger Parlamentarier (wie Julian Schmidt, Grüne) als eine »antiquierte Methode des Transports« angesehen und mit der Rückständigkeit der Staatsverwaltung assoziiert; diese Wahrnehmung der Rohrpost als veraltete Infrastruktur dürfte eine Rolle gespielt haben, als diese im Laufe der »Modernisierung« des Gebäudes komplett durch eine Kombination aus elektronischer Kommunikation und Hauspost ersetzt wurde.

Petra Tempfer, Die Rohrpost ist tot – es lebe die Rohrpost, Wiener Zeitung Online 08. 09. 2015 URL: http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/chronik/773289_Die-Rohrpost-ist-tot-eslebe-die-Rohrpost.html (Stand 08. 07. 2018).

Auf der Grundlage der Akten zur Rohrpostanlage der deutschen Bundesregierung wird hier das enge Verhältnis zwischen politischen Institutionen und ihren medialen und technischen Dispositiven beleuchtet. Insbesondere auf der symbolischen Ebene spielten letztere nämlich eine wichtige Rolle, die sich in den politischen Diskursen widerspiegelte: Regierungen werden oft aufgrund ihres Umgangs mit Technik beurteilt, wenn nicht gar damit identifiziert. Gleichzeitig ist aber auch anzumerken, dass gerade sozio-technische »assemblages«

Vgl. Martin Müller: Assemblages and Actor-Networks: Rethinking Socio-Material Power, Politics and Space, in: Geography Compass 9/1 (2015), S. 27–41; C. McFarlane: Translocal Assemblages: Space, Power and Social Movements, in: Geoforum 40/4 (2009), S. 561–567.

wie die Rohrpost zur Konstruktion von Staatlichkeit beitrugen: Die Legitimation politischer Macht, die institutionelle Transparenz und die demokratische Repräsentanz wurden mitunter auch durch Medien der Zirkulation von Informationen und Schriftstücken wie die Rohrpost erzeugt.

Die Rohrpost im Bundeskanzleramt wurde in das neue Gebäude des Kanzleramtes in Bonn, das gerade errichtet wurde und als »angekündigte Enttäuschung« bezeichnet wird,

Vgl. dazu Elisabeth Plessen: Bauten des Bundes 1949–1989. Zwischen Architekturkritik und zeitgenössischer Wahrnehmung. Berlin 2019, S. 174–183 (Das neue Bundeskanzleramt: Chronik einer angekündigten Enttäuschung).

von der Fa. Tonne aus Stuttgart im Jahr 1976 eingebaut. Es ging um das Modell Airfix Rohrpost, welches einerseits am billigsten war, andererseits aber seit seinem Einbau eine ganze Reihe von Störungen und Fehlern verursachte. Wie es sich herausstellte, war dieses Modell für ein großes Gebäude mit viel Schriftverkehr und langen Distanzen unter keinem Gesichtspunkt geeignet; selbst wenn die Motoren kräftig genug und die Steuerung feinfühliger gewesen wären, wäre ihre Lautstärke zu hoch gewesen für die Beamtinnen und Beamten des Kanzleramtes, die ungestört arbeiten wollten. Noch 1976 wurde festgestellt, dass die Anlage »unzumutbar laut arbeitet«. Zudem wirkte die Wand wie ein Klangkörper und der Auffangkorb aus Eisen verstärkte das Geräusch der »großen Rohrpostbomben«. Insgesamt waren die Angestellten mit der Anlage, die wegen ihrem günstigen Preis von der Fa. Gehrmann Consult ausgewählt worden war, »in höchstem Maße unzufrieden.«

Bundesarchiv (Koblenz) [BArch], B 136/19435. Insbesondere zur Lautstärke und alle Zitate aus: Vermerk, Bonn, 29. 06. 1976, Betr.: Neubau Bundeskanzleramt; hier: Rohrpostanlage, S. [1]–2, gez. Dr. Kern [Bundeskanzleramt], Herrn MR Dr. Bobbert.

Bereits Anfang der 1970er-Jahre war über den Nutzen einer Rohrpost im Bundeskanzleramt beraten und diskutiert worden. Das Ensemble der Rohrpost war also von Anfang an nicht gegeben, sondern das Resultat von öffentlichen Ausschreibungen, die wiederum aus unterschiedlichen Verhandlungen, Beratungen und Entscheidungen stammten.

BArch, B 136/19435. Vermerk, Bonn-Beuel, 14. 07. 1976, betr.: Neubau eines Dienstgebäudes für das Bundeskanzleramt in Bonn; hier: Rohrpostanlagen W 100. Gez. Galandi (Oberregierungsbaurat).

Wahrscheinlich hatte die Beratungsfirma mit der Innenausstattung von Büros und öffentlichen Einrichtungen Erfahrung, ihre Experten kannten sich aber mit Verwaltungsabläufen weniger aus.

Auch der Leiter des Referats 14 beklagte sich über die »ständige Lärmbelästigung«, die die Rohrpostanlage verursachte, und die er »[s]einen Damen« (und sich selbst) nicht mehr zumuten konnte, sowie über die kalte Luft, die aus der Rohrpoststation ständig auf den Rücken einer Mitarbeiterin blies, sodass sie schon mehrmals krank geworden war.

BArch, B 136/19435. Referat 14 (Herr Rang), über Herrn Abteilungsleiter Herrn Ref. ID, Bonn, 09. 02. 1977, Betr.: Rohrpostanlage Referat 14.

Das materielle Ensemble der Rohrpost (inklusive Luft) erwies sich so als eine Bedrohung für das Personal des Bundesamtes und hiermit für den Erhalt der Arbeitsleistung.

Schließlich wurden auch Probleme mit der Sicherheit festgestellt. Die Kontrolleinrichtungen (z. B. eine Anzeige, dass die Sendung tatsächlich angekommen war) fehlten in der Anlage im Kanzleramt komplett, und obwohl die »Airfix«-Anlage angeblich fehlerfrei übergeben wurde, häuften sich die Fehler bei fast jeder Station. Einerseits wurde anerkannt, dass die Anlage für ihren Zweck nicht geeignet war; andererseits kritisierten die Techniker, die für Instandhaltung und Reparatur zuständig waren, auch das Verhalten der Amtsangehörigen, die die Anlage teilweise »als Spielzeug« benutzten (von 12 »befreiten« Büchsen enthielten 8 nur Büroklammern und ähnliches).

BArch, B 136/19435. Bonn, 26. 07. 1976, Betr.: Rohrpostanlage, hier: Mängelbeseitigung – wurde nicht gesandt, gez. Braun, an Gruppenleiter und Abteilungsleiter. Ein Wartungsvertrag für diese Anlage wurde mit der Fa. Hans Bockerhoff, Duisburg (14. 06. 1976) abgeschlossen.

Dass es eine solche zweckentfremdende Nutzung gegeben hat, spricht für den kommunikativen Wert von Rohrpostanlagen für die Angestellten innerhalb einer Behörde und eines Unternehmens, insbesondere was die nonverbale Kommunikation angeht, im Sinne einer Kontaktaufnahme und eines In-Kontakt-Bleibens. So können Rohrpostanlagen als Medien der Kommunikation gedeutet werden, selbst dann, wenn sie primär zum Transport von kleinen Objekten verwendet wurden. Es könnte sich aber auch um eine ganz gewöhnliche Praxis handeln, für welche die Rohrpost zur Verfügung stehen musste. Gerade die Materialität der Rohrpostsendungen erlaubte es, nicht nur Schriftstücke, sondern auch Objekte auszutauschen.

Genauer genommen wurden 1976 zwei unterschiedliche Rohrpostanlagen im Kanzleramt installiert, und zwar eine Leichtrohrpostanlage NW 100 für sämtliche wichtige Transporte zwischen Kanzlerbau und Abteilungsbau, die extern geleitet war und die Büros nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen diesen beiden Gebäuden verbinden sollte; zusätzlich wurde eine Anlage NW 60 eingebaut, die insbesondere »in Krisenzeiten eine rasche und unterbrechungsfreie Verbindung zwischen dem Hauptlagezentrum der Bundesregierung und der Fernschreibstelle herstellen« und gerade deswegen »höchsten Anforderungen entsprechen« sollte. Leider wurde auch diese Rohrpostanlage »den gestellten Aufgaben nicht gerecht«. Bei der »Leichtrohrpostanlage« wurden folgende Mängel festgestellt, und dies bereits kurze Zeit nach ihrem Einbau: Erstens zeigte der Innendurchmesser der Rohre Fertigungsungenauigkeiten und bei derselben Fahrrohrleitung waren keine Prüfverschlüsse vorhanden, d. h. es war sehr aufwendig, Fehlbüchse zu finden und zu befreien. Zweitens wurden sowohl bei den Gehäusen als auch bei der »Mehrzahl der Drahtkörbe« keinerlei Schalldämmmaßnahmen eingesetzt; dies führte dazu, dass das Ankunfts- und Ausfahrgeräusch der Büchsen als »laut, unangenehm und störend« empfunden wurde. Drittens wurde festgestellt, dass das Tastenfeld zur Zieleingabe bei den Rohrpoststationen »unübersichtlich und ergonomisch ungünstig angebracht« war. Viertens war die Zentrale »technisch umständlich konzipiert« und zudem eine »noch nirgends erprobte Neukonstruktion«. Fünftens gingen bei Netzausfall »die in den Relaisspeicher gespeicherten Adressen« der Rohrpoststationen verloren. Sechstens erfolgte häufig eine (nicht nutzerbedingte) Fehlleitung der Sendungen, und dies sowohl innerhalb einer Linie als auch zwischen den Linien. Siebtens betrug die Förderleistung der Anlage nur drei Büchsen pro Station und Stunde.

BArch, B 136/19435. Entwurf, Chef BK (im Auftrag, Dr. Kern), an den Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen, und Städtebau, Bonn, 11. 08. 1976, Betr.: Rohrpostanlage im Neubau des Bundeskanzleramtes, S. 3–4.

Diese Fehler stellten also eine Unterbrechung der Kommunikation zwischen den Abteilungen dar, eine Unmöglichkeit der Verbindung und hiermit auch ein Hindernis für den Arbeitsablauf; d. h. die fehlende materielle Kommunikation wies nicht nur darauf hin, dass das Ensemble der Rohrpostanlage, bestehend aus technischen Dingen, Objekten und Schriftstücken sowie Nutzerinnen und Nutzern, versagt hatte, sondern auch, dass die Verwaltungsstruktur dadurch gefährdet war.

Die Probleme mit der Rohrpost im Kanzleramtsgebäude waren bald überall bekannt, und auch die Presse berichtete darüber, während einige Produzenten ähnlicher Anlagen ihre Werbebroschüren (scheinbar unaufgefordert) schickten, um einen Wechsel des Systems anzubieten.

BArch, B 136/28927. Beispielsweise stellte die Fa. Telelift ihre elektrische Förderanlage mit kleinen Wagen vor, die sie bereits im Bundesministerium für Justiz, im Bundesministerium für Technologie und Forschung, im Hochhaus Bundesabgeordnetenhaus und in zahlreichen Unternehmen, insbesondere in italienischen Banken, eingebaut hatte.

»Kanzlers Rohrpost hat versagt«, ist in einem Ausschnitt einer nicht spezifizierten Zeitung zu lesen (der in der Akte mit einem Vermerk in blauem Bleistift versehen wurde: »Wer gibt denn solche Mitteilungen an die Presse?«). »Rohrkrepierer« betitelte die »Bild Zeitung« ihre kurze, spöttische Nachricht, und kündigte den Abbau der erst vor kurzer Zeit installierten Anlage an: »Bonn. Die neue Rohrpostanlage im Bundeskanzleramt wird herausgerissen, weil sie ständig kaputt ist. Außerdem führt sie an Kanzler Schmidts Schlafkoje vorbei. Ein hoher Beamter: ›Sie poltert wie eine ganze Rinderherde.‹« Diese Analogie aus dem Tierreich hatte Erfolg. Die Zeitung »Die Welt« fügte hinzu: »Oft genug hatte die inzwischen stillgelegte Anlage das ganze Amt durcheinandergebracht. So landeten zum Beispiel für Helmut Schmidt bestimmte Unterlagen in ganz anderen Räumen und umgekehrt.« So hatte sich diese »moderne Rohrpostanlage als ›Rohrkrepierer‹ erwiesen«, berichtete dieselbe Zeitung; »die Amtspapiere werden nach guter alter Sitte wieder durch Boten transportiert«, bis sie »durch eine neue ersetzt« wird.

BArch, B 136/28927. Kanzlers Rohrpost hat versagt, 31. 03. 1978; Rohrkrepierer, Bild Zeitung, 31. 03. 1978; Neue Rohrpost im Kanzleramt, Die Welt, 31. 03. 1978.

Die Rohrpost im Kanzleramtsgebäude war tatsächlich ständig außer Betrieb und es gibt in den Akten keine Hinweise darauf, dass die Probleme irgendwie gelöst wurden. Für das Image der öffentlichen Verwaltung war das auch kein Erfolg, da vor allem in den Medien eine Identifikation der staatlichen Bürokratie mit nichtfunktionierender Technik stattfand. Diese negative Erfahrung mit der ersten Anlage im Kanzleramt führte dazu, dass nur zwei Jahre später (1978) eine neue Rohrpostanlage der Firma Siemens installiert wurde. Die PVC-Röhre der alten Anlage blieben erhalten, aber Steuertechnik, Zentrale und Stationen wurden ausgewechselt.

BArch, B 136/28927.

In diesem Sinne war das technische System der Rohrpost doch erfolgreich, indem es selbst nach anfänglichen Enttäuschungen in Form einer neuen, leistungsfähigeren Anlage weiterbenutzt wurde. Diese Anlage war wesentlich teurer, aber auch effizienter als die alte. Luft wurde nicht nur zur Beförderung, sondern auch zur Federung bei der Ankunft der Büchsen an die Zielstation benutzt: Luft wurde hier also in vielfacher Hinsicht als Ressource angewendet; sie gehörte zum »assemblage« der Rohrpost.

BArch, B 136/28927. Beschreibung der neuen Siemens Rohrpost, Siemens an Bundesbaudirektion, 24. 02. 1978.

Indem die Luftfederung die Anlage leiser und so unauffälliger machte, integrierte sie diese in den Arbeitsalltag. Wie andere Infrastrukturen galt die Rohrpost als erfolgreich und akzeptiert, als sie unbemerkt funktionierte.

Das wird oft als Unsichtbarkeit von Infrastrukturen bezeichnet: vgl. Gabriele Schabacher: Unsichtbare Stadt. Zur Medialität urbaner Architekturen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12/1 (2015), S. 79–90.

Die diesmal erfolgreiche technische Innovation spiegelte sich auch in der Berichterstattung wider: »Endlich läuft Rohrpost leiser«, berichtete das »Handelsblatt«; »Das Kanzleramt ist ›büffelfrei‹«, titelte die »Badische Zeitung« mit Verweis auf die Lautstärke der alten Anlage, die wie ein Büffel »gepustet« haben soll. »Die Welt« berichtete ebenso über die »neue Rohrpost« und erinnerte gleichzeitig an den bisherigen Misserfolg: »Im Kanzleramt ist man mit der Geduld am Ende«, da der »Aktenroboter«, wie die Rohrpost in der »Welt« genannt wurde, »seit fünf Monaten außer Betrieb« sei.

BArch, B 136/28927. Endlich läuft Rohrpost leiser, in Handelsblatt, 30. 10. 1978; Das Kanzleramt ist »büffelfrei«, in Badische Zeitung, 31. 10. 1978; Neue Rohrpost im Kanzleramt, in Die Welt, 31. 03. 1978.

So wurde das Problem nicht durch die Rückkehr zum Alten und die Ablehnung der Rohrposttechnik, sondern durch eine zusätzliche technische Innovation, nämlich das neue Rohrpostsystem von Siemens, gelöst. Dies zeigt, dass die Einführung neuer Technik als ein wichtiger Schritt hin zur Modernisierung der Verwaltung verstanden wurde. Die Versuche, das alte System zu reparieren, können zudem auch als Teil des Innovationsprozesses verstanden werden,

Vgl. dazu Cornelius Schubert: Innovation als Reparatur, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–13; sowie Jörg Potthast: Die Bodenhaftung der Netzwerkgesellschaft. Eine Ethnografie von Pannen an Großflughäfen. Bielefeld 2007.

selbst wenn diese letztlich scheiterten.

Über diese neue Rohrpostanlage sind keine Fehlerberichte vorhanden, weshalb anzunehmen ist, dass sie ohne erwähnenswerte Probleme funktionierte; zwei Jahre nach ihrer Einrichtung wurde sie um drei Rohrpoststationen erweitert und ein Anzeigetableau wurde eingebaut.

BArch, B 136/28928. Siemens an Bundeskanzleramt, Berlin 01. 12. 1980, Erweiterung der Rohrpostanlage Simacom NW 100 TM.

Rohrpostanlagen sind ein relativ flexibles System, das durch den Einbau neuer Stationen erweitert werden kann. Die Firma Siemens, welche die neue Anlage installierte, konnte eine schon damals jahrhundertlange Expertise sowie eigene wissenschaftliche Forschung zur technischen Entwicklung der Systeme aufweisen. Zudem bezogen sich ihre Broschüre und Werbematerialien auf die »Rationalisierung« der Arbeits- und Büroorganisation und argumentierten, dass diese für die innerbetriebliche Kommunikation sowie für die Steigerung von Effizienz und Produktivität unabdingbar wäre. Auch die ergonomischen Vorteile der eigenen Rohrpostanlagen und somit die Verbesserung der Arbeitsbedingungen wurden hervorgehoben.

BArch, B 136/9834. Dipl.-Kfm. Gerold Stiegler, Lenkung des Schriftgutsverkehrs in einem Bürogroßraum-Gebäude; Ing. Olaf Jüngling, Rohrpostanlagen rationalisieren den innerbetrieblichen Schriftguttransport in Reparatur-Betrieben.

In Konformität mit der Feststellung von Karsten Uhl und Lars Bluma, die Rationalisierung der Arbeit in den Betrieben würde in den 1960er- und 1970er-Jahren als eine ›Humanisierung‹ der Arbeit bezeichnet und gerechtfertigt, wurde auch im Fall der Rohrpost die Büroorganisation (genau wie die Organisation der Arbeitsabläufe in Werkstätten und Reparaturbetrieben) und die Leistungssteigerung als Humanisierung des Arbeitsalltags beschrieben.

Vgl. Karsten Uhl: Humane Rationalisierung? Die Raumordnung der Fabrik im fordistischen Jahrhundert. Zgl. Habilitation, Universität Darmstadt 2012. Bielefeld 2014.

Das von Siemens bereitgestellte Material wurde nicht als Werbung, sondern als Resultat wissenschaftlicher Forschung und Empfehlung wissenschaftlicher Expertise dargestellt: Im Sinne einer »Verwissenschaftlichung des Sozialen« wurden Ingenieurwissenschaft und Betriebswirtschaft mobilisiert, um eine gewisse Umstellung der Arbeitsweise und die Installierung von Rohrpostsystemen voranzutreiben.

Dazu Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22/2 (1996), S. 165–193.

Hier kamen nicht nur in Kapitel gegliederte und in Aufsatzform geschriebene Texte, sondern auch unterschiedliche Grafiken zum Einsatz.

BArch, B 136/9834. Ing. Olaf Jüngling, Rohrpostanlagen rationalisieren den innerbetrieblichen Schriftguttransport in Reparatur-Betrieben. Diese Publikation, die Siemens als Informationsmaterial dem Bundeskanzleramt zur Verfügung stellte, erklärte mittels einer schematischen Darstellung auf welche Weise die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Abteilungen durch den Einbau einer Rohrpostanlage hätte organisiert werden können.

Nach der Anschaffung und Einrichtung der neuen Siemens-Rohrpostanlage erhielt das Bundeskanzleramt eine spezielle »Bedienungsanleitung für die Rohrpostanlage im Bundeskanzleramt« von der herstellenden Firma.

BArch, B 136/28928. Bedienungsanleitung für die Rohrpostanlage im Bundeskanzleramt.

Solche Broschüren wurden nur bei größeren Anlagen gefertigt; sie waren nicht nur eine Anleitung zu einer korrekten Nutzung, sondern auch eine Form der Visualisierung des Datenflusses zwischen Etagen, Abteilungen und Gebäuden. Der Farbdruck auf Hochglanzpapier lässt vermuten, dass das Zielpublikum nicht nur und nicht hauptsächlich die Techniker waren, sondern eher die einzelnen Abteilungsleiter und Sekretariatsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter. Sie waren als Mittel gedacht, die Nutzerinnen und Nutzer mit der Anlage vertraut zu machen, sie in ihre räumliche Vorstellung des Arbeitsplatzes einzuordnen und schließlich in ihre alltägliche Arbeitspraxis zu integrieren. Sie förderten also die kulturelle Aneignung dieses technischen Systems in lokale soziale Praktiken und inskribierten technische Innovation in den Arbeitsalltag sowie in die räumlichen, hierarchischen und sozialen Ordnungen.

Für die Hersteller von Rohrpostsystemen war jedes Unternehmen, das an einer beschleunigten Vermittlung von Papier oder Objekten Interesse hatte, ein potenzieller Kunde. »Rationalisierung«, »Vereinfachung« und »Beschleunigung« waren die Schlüsselwörter der Werbung für Rohrpostanlagen nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Bibliotheken, Krankenhäuser und Hotels; sie gehörten dem Diskurs der Unternehmen und Hersteller sowie vieler Ingenieure und Techniker an.

Z. B. Karl Beckmann: Stadt-Rohrpostanlagen. Berlin-Schöneberg 1927; Svend Heinze: Rohrpostanlagen. Ihre Technik, Anwendung und Wartung, Goslar 1956. Zum scientific management in Bibliotheken vgl. Marion Casey: Efficiency, Taylorism, and Libraries in Progressive America, in: The Journal of Library History 16/2 (1981), S. 265–79.

So ist eine Übertragung von Diskursen zur Beschleunigung und »Rationalisierung« der Arbeitsflüsse, die für das 20. Jahrhundert und insbesondere für Fordismus und Taylorismus typisch waren, vom Bereich der Industrie zum Bereich der öffentlichen Verwaltung zu beobachten. Auch die Übertragung der Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Arbeitsorganisation fand im Bereich der Verwaltung statt, ohne dass dies problematisiert wurde, im Gegenteil: ›wissenschaftliche‹ Arbeitsrationalisierung wurde als Mittel betrachtet, um die Bürokratie zu vereinfachen.

Erst durch die Gewerkschaften wurde diese Annahme infrage gestellt. Vgl. Karsten Uhl: Maschinenstürmer gegen die Automatisierung. Der Vorwurf der Technikfeindlichkeit in den Arbeitskämpfen der Druckindustrie in den 1970er und 1980er-Jahren und die Krise der Gewerkschaften, in: TG Technikgeschichte 82/2 (2015), S. 157–179.

Technische Innovation wurde in diesem Sinne als ein Mittel benutzt, um solche Rationalisierungsdiskurse auf die öffentliche Verwaltung unreflektiert zu übertragen, wobei Unternehmen wie Siemens wichtige Akteure in diesem Prozess waren: In wissenschaftlichen Publikationen sowie Werbematerialien (wobei sich diese Genres oft überschnitten) wendeten sie genau dieselbe Rhetorik wie im Bereich der industriellen Produktion und der innerbetrieblichen Kommunikation an und forderten so (bewusst oder unbewusst) räumliche und soziale Neuerungen. Da Letztere durch die Einführung neuer Technologien erfolgten, wurden sie nicht öffentlich debattiert, sondern entstanden als Folge der Nutzung dieser neuen Anlagen. Der Umgang mit diesen Systemen wurde teilweise direkt in der Praxis und teilweise durch Anleitungen erlernt, die sich gerade auf diese Rhetorik der Rationalisierung und Optimierung stützten.

(Abgelehnte) Innovation ›von unten‹: die Bundeskanzlei in Bern

Technische Innovation wurde als Lösung für viele Probleme der Verwaltung vorgeschlagen, und das nicht nur von den Behörden selbst und den staatlichen technischen Kommissionen, sondern auch von einzelnen Beamtinnen und Beamten, die sich davon verbesserte Arbeitsbedingungen versprachen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Ende 1969 reichte ein Übersetzer der Bundeskanzlei in Bern einen Vorschlag an die Personaldirektion, der den infrastrukturellen Ausbau als Ziel hatte, nämlich, eine Rohrpostverbindung bei der Bundesverwaltung einzurichten, die auch auf sämtliche föderale Gebäude erweitert werden konnte. Es ging also darum, ein Rohrpostnetz für die Bundesverwaltung in der Stadt Bern zu konzipieren, das unabhängig von der bereits existierenden Rohrpostanlage zwischen dem Parlament und dem Postamt Bollwerk gewesen wäre; Letztere wurde von den »journalistes parlamentaires« benutzt, um ihre Nachrichten in Form von Telegrammen zu verschicken. Diese Idee einer zusätzlichen Rohrpostanlage hatte als Ziel, den »transport ultra-rapide de certains documents (communications écrites urgentes, textes à traduire sur-le-champ, et cetera.)« durch die ganze Stadt Bern zu ermöglichen. So hätte das materielle Ensemble der vorgeschlagenen Rohrpostanlage schnellere und womöglich auch neue Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Abteilungen und den Verwaltungsgebäuden geschaffen; die Bundesverwaltung wäre gerade durch die Infrastruktur der Rohrpost zu einem auch physisch-materiell vernetzten und deswegen zusammenhängenden Ganzen geworden. Darüber hinaus wurde die Rohrpostanlage als Schritt hin zu einer »Rationalisierung der Arbeit« (»mesure de rationalisation du travail«) verstanden, die »viele Gründe zur Enervierung« erspart hätte (»supprimerait bien des causes d’énervement«).

BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. C. von Kaenel, traducteur au Service central de rédaction et de traduction de la Chancellerie fédérale, Section française, an Direction de l’Office fédéral du personnel, concerne: Suggestions de fonctionnaires de l’administration centrale de la Confédération. Berne, 3. 12. 1969. Hervorhebungen im Original.

Die Arbeitsrationalisierung als Ziel und die Rohrpost als Zweck dazu wurden also nicht nur von Rohrpostherstellern als Grund für die Installierung neuer Anlagen angebracht, sondern auch Techniklaien, wie der obengenannte Übersetzer, eigneten sich diesen Diskurs an und nutzten ihn für den Vorschlag und die Einführung von technischen Neuerungen ›von unten‹. Trotz dieser Argumentation wurde der Vorschlag abgelehnt, weil eine Umfrage unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den unterschiedlichen Abteilungen der Bundesverwaltung ergab, dass kein Bedarf vorhanden war. Interessanterweise wurde also dieser Vorschlag ›von unten‹ durch eine Umfrage überprüft, die eben auch die Mitarbeitenden ins Zentrum der Entscheidungsfindung rückte. Die Zentralstelle für Organisationsfragen der Bundesverwaltung stützte sich unter anderem auf diese Umfrage, als sie argumentierte, dass dringende Transporte die Ausnahme waren, dass die Kosten für die Einrichtung eines solchen Rohrpostsystems sehr hoch gewesen wären, und dass eilige Korrespondenz anders als mit der Rohrpost gesendet wurde. Schließlich, da Akten wegen ihres Formats nicht per Rohrpost verschickt werden konnten, hätten Kuriere sowieso weiterhin im Dienst der Bundesverwaltung angestellt werden müssen, sodass die Einsparungen auf der Personalebene sehr gering gewesen wären. Zudem waren viele Stellen der Bundesverwaltung in Mietobjekten heruntergebracht, welches den Einbau eines umfassenden Netzes erschwert hätte.

BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. Zentralstelle für Organisationsfragen der Bundesverwaltung, an Direktion der eidg. Bauten, Bauinspektion II, 27. Januar 1970, betreff. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970. BAR, E6500-01#1992/181#45* Vorschlag C. von Känel (Bundeskanzlei) betr. Ausbau der bestehenden Rohrpostanlage 1970.

Der Vorschlag des Übersetzers zeigt sowohl die u. a. in der öffentlichen Verwaltung verbreitete Tendenz, Technik als Versprechen für eine bessere Organisation anzusehen,

Zur Infrastruktur als Versprechen vgl. Nikhil Anand / Akhil Gupta / Hannah Appel (Hg.): The Promise of Infrastructure. Durham, London 2018.

als auch, dass technische Innovation von den Nutzerinnen und Nutzern selbst gefordert wurde. Der Ablehnung des Vorschlags entnimmt man aber ebenfalls, dass dies nicht ausnahmslos der Fall war, sondern dass der Bedarf nach neuen technischen Systemen nicht immer vorhanden war.

Jedenfalls sind die beiden Beispiele, die Funktionsfehler des Rohrpostsystems im deutschen Bundeskanzleramt und der abgelehnte Vorschlag des Übersetzers in Bern, nicht als Sonderfälle gegenüber einer funktionierenden Technik und einer absoluten Befürwortung von Innovation zu verstehen. Im Gegenteil wird das Scheitern technischer Systeme und Innovationen in der technikhistorischen Forschung als »Normalfall« angesehen, der »in den Handlungsmodus der modernen, durch Wissenschaft und Technik geprägten Gesellschaft eingeschrieben« ist.

Helmuth Trischler / Kilian J. L. Steiner: Innovationsgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Wissenschaftlich konstruierte Nutzerbilder in der Automobilindustrie seit 1950, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 455–488, insbesondere 460, 462.

Auch die Globalgeschichte von Innovationen wird vornehmlich als eine Geschichte des Scheiterns beschrieben.

Vgl. David Edgerton: Creole Technologies and Global Histories: Rethinking How Things Travel in Space and Time, in: Journal of History of Science and Technology 1 (2007), S. 75–112, hier 112.

Modernisierung als Rationalisierung: Zollämter in Deutschland und in der Schweiz in den 1960er- bis 1980er-Jahren

»Arbeitsrationale Organisation« und »Entlastung des Personals« wurden in den 1960er- bis 1980er-Jahren als Hauptgründe für die Errichtung von Rohrpostanlagen in Behörden angeführt. Vor allem Rohrposthersteller wie Siemens betonten, dass dies als Folge eine Erhöhung der Effizienz der Arbeitenden hätte, und stellten die von ihnen hergestellten Anlagen als Mittel der Modernisierung und Arbeitsrationalisierung dar.

Vgl. H. Dohse: Automatische Rohrpost- und Kastenförderanlagen in der Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek/Automatic Pneumatic Tube and Box Handling Systems at Frankfurt’s Municipal and University Library/Systèmes automatiques de poste pneumatique et pour boîtes à la bibliothèque municipale et universitaire de Francfort, in: fördern und heben 5 (1966), S. 406–410; sowie Siemens & Halske Aktiengesellschaft, Wernerwerk für Fernsprechtechnik: Siemens-Kastenförderanlagen. Rationeller transportieren mit Kasten-Förderanlagen. Archivzentrum UB Frankfurt am Main, A 1 1177.

Zwischen 1961 und 1964 definierte das Zollamt von Frankfurt am Main seine eigene Arbeits-, Zeit- und Raumorganisation als rationalisierungsbedürftig: »bei der weitläufigen Aufsplitterung der Zollabfertigung und Sachbearbeitung« wurden »zwangsläufig zahllose Wege zurückgelegt«, was als »besonders zeitraubend und kräftezehrend« beschrieben wurde. Es wurde ein »Leerlauf« festgestellt, der für das »Leistungsergebnis« negative Folgen hatte. Diese als »nicht rationell« wahrgenommene Situation versuchte man durch technische Innovation zu lösen, die zu »Rationalisierung« und »Modernisierung« der Arbeitsvorgänge sowie des Material- und Papierflusses führen sollte.

Durch die Einführung einer Rohrpostanlage wurde geplant, nicht nur Zollurkunden, sondern auch kleine Objekte, Papier, Formulare, unterschiebene Dokumente und gestempelte Belege »prompt und rasch an jede beliebige Stelle zu befördern«. Die materielle Kommunikation per Rohrpost hätte es ermöglicht, »Materialien aller Art« im Dienste der Zollabfertigung zu transportieren. Diese waren beispielsweise »Dienstgeräte, Stempel, Siegel, Verschlußmaterialien, Warenproben«. Gerade diese »immutable mobiles«, also Objekte und Zeichen, die als solche mobilgemacht wurden und dabei Herrschaft ermöglichten,

Vgl. Bruno Latour, Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, S. 259–307.

waren der Schlüssel zur Kontrollfunktion des Zollamtes. Dass die Rohrpost als »eine sehr wertvolle Stütze der großen Zollstelle« beschrieben wurde, die zu einer »Verflüssigung der Arbeitsgänge« geführt hätte, bezeugt die zentrale Rolle von Materialität für die öffentliche Verwaltung.

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden [HHStAW], Abt. 488, Nr. 17 (Verbesserung der Kommunikationswege in der Zollabfertigungsstelle am Zollhof in Frankfurt und Einbau einer Rohrpost-Anlage, 1961–1963). Dienstanweisung Nr. 2 (Hauptzollamt Ffm, Zollabfertigung, Betr.: Sicherung der Zollurkunden vor Verlust; hier: Lauf der Zollurkunden vom Buchführer über die Zollabfertigung und zurück zu diesem); zur Rationalisierung der Arbeitsläufe s. auch Vorstehender des Zollamts an die Oberfinanzdirektion Frankfurt (Main) über die »Einrichtung einer Rohrpostanlage beim ZA I Ffm.-Zollhof und der ZZ I Ffm.-Westhafen, Frankfurt (Main)«. Vgl. Meneghello, Kulturgeschichte und STS kombiniert.

In der Zollbehörde, genauso wie im Krankenhaus, wurde die Rohrpost als hybrides Kommunikationssystem verstanden, das sowohl Mitteilungen als auch Materialien transportieren konnte. Diese kleinen »mobilen Objekte«

Vgl. Christian Vogel / Manuela Bauche: Mobile Objekte. Einleitung, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 39/4 (2016), S. 299–310.

beeinflussten aber nicht nur die innerbetriebliche Kommunikation, sondern auch die Zeitlichkeiten und Ökonomien von größeren »mobilen Objekten«, nämlich der Waren selbst. Die Hafenbetriebe der Stadt Frankfurt am Main erklärten sich bereit, die Kosten der Maurerarbeiten zum Einbau der Rohrpostanlage in das Zollamt zu übernehmen, weil sie sich von der Einführung dieser neuen Technik »eine wesentliche Beschleunigung in der Abfertigung der Zollbeteiligten« versprachen und diese mit einer möglichen Arbeitserleichterung auch in dem von ihnen geführten Lagerhausbetrieb »in den Zollhallen im Bereiche des Zollhofes« in Zusammenhang brachten.

HHStAW, Abt. 488, Nr. 17. Hafenbetriebe der Stadt Frankfurt am Main an die Oberfinanzdirektion Frankfurt, Betrifft: »Schaffung eines Raumes für den Abgabenberechnungsautomaten des Zollamtes Frankfurt am Main – Zollhof«, Frankfurt am Main 04. 07. 1963.

Schließlich beeinflusste die Zirkulation von Stempeln, Siegeln, Wertpapieren und Zollurkunden die Zirkulation von Waren, das heißt das ganze logistische Vorgehen des Hafens.

Daraus folgt, dass die Bereiche der öffentlichen Verwaltung und der privaten Wirtschaft nicht als getrennt konzipiert werden können. Zum einen beeinflussten sich technische Neuerungen in den beiden Bereichen gegenseitig: Die Einführung von Rohrpostanlagen in Zollämtern war auch für die Beschleunigung logistischer Vorgänge im Gütertransport relevant, was wiederum eine Rolle in der Verbreitung von Rohrpostanlagen in der Zollverwaltung spielte. Zum anderen wurden Rationalisierungs-, Modernisierungsund Optimierungsdiskurse von der privaten Wirtschaft übernommen und im Bereich der öffentlichen Verwaltung angewendet.

Stefan C. Aykut / Jan-Peter Voß: Innovationen in Politik und Governance, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–16.

Der Fall des Frankfurter Zollamtes war nicht isoliert: Ungefähr zum selben Zeitpunkt wurden in schweizerischen Grenzbahnhöfen Rohrpostanlagen montiert. Analog zum oben genannten Beispiel wurde auch in diesen Fällen mit Rationalisierung, Automatisierung, Modernisierung, Kosten- und Personalersparnis und Beschleunigung von Arbeitsprozessen argumentiert. Schweizerische Grenzbahnhöfe waren schon seit dem frühen 20. Jahrhundert an Rohrpostanlagen interessiert gewesen: Bereits 1922 erkundigten sich die Schweizerischen Bundesbahnen beim Reichspostministerium, welche Erfahrungen es mit der Fa. Henrich und Henning (Deutsche Rohrpostwerke in Elberfeld) hätte, da diese Firma eine kleine Rohrpostanlage für den internationalen Bahnhof Chiasso liefern sollte.

BArch (Berlin Lichterfelde), R 4701/2656 (Ertheilung von Auskunft über Rohrpost-Einrichtungen), Schweizerische Bundesbahnen an das Reichspostministerium, Luzern 15. 02. 1922.

An der Grenze wurden Zollkontrollen durchgeführt und Zollvorgänge abgewickelt, sodass in diesen Bahnhöfen die Rohrpost im Zusammenhang mit der Aktivität des Zollamts stand.

In den 1960er-Jahren ließ das Zollamt Chiasso seine Dienststelle an das Rohrpostsystem der Eisenbahnen anbinden.

BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970).

So wurde 1962 ein drei Kilometer langes Rohrpostnetz geplant, das sowohl von den Eisenbahnen als auch vom Zollamt benutzt werden konnte. Die Möglichkeit, die Rohrpostbüchsen hermetisch zu schließen, sodass auch Zollpapiere sicher transportiert werden konnten, wurde ausgeschlossen. Wie besprochen hatten die britischen Militärbehörden im Zweiten Weltkrieg verschließbare Büchsen eingeführt, welche aber Störungen verursachten. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen den Rohrpostanlagen der britischen Behörden am Anfang der 1940er-Jahre und derjenigen am Bahnhof und im Zollamt Chiasso in den 1960r- bis 1970er-Jahren war die Benutzung von Büchsen unterschiedlicher Farben, die ihre Zugehörigkeit kennzeichneten. In Chiasso hatten die Schweizerischen Bundesbahnen (FFS/SBB) dem Schweizerischen Zollamt die kostenlose Nutzung der Anlage zwischen den Gebäuden L (»ufficio 14, Controllo Veicoli Sud/Nord«, Zollabfertigung Kraftfahrzeuge Süd/Nord) und R (»ufficio 7: Ufficio Centro«, Zentralbüro) gewährt, sodass dort sowohl Dokumente der Eisenbahn als auch des Zollamts transportiert wurden; die Büchsen hatten aber unterschiedliche Farben und das Zollamt hatte die Empfänger der Büchsen im Voraus telefonisch über die Sendung zu unterrichten, damit diese rasch abgeholt werden konnten.

BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). Amministrazione Merci Chiasso FFS e Ispettore Dogana Svizzera Chiasso Stazione: Accordo sull’uso della posta pneumatica da parte della Dogana Svizzera fra i fabbricati L e R e viceversa. Chiasso, 31. 08. 1970.

Mitbenutzer der Rohrpostanlage am Bahnhof Chiasso waren, neben der SBB und schweizerischen Zolldirektion, auch die italienischen Eisenbahnen und das italienische Zollamt, sowie die italienischen und schweizerischen tierärztlichen Kontrollstellen und der Eidgenössische Pflanzenschutzdienst (»servizio fito svizzero«). Es ging also um eine internationale Rohrpostanlage, die an der Grenze zwischen zwei Staaten von mehreren Parteien dieser beiden Staaten mitbenutzt wurde. Der Inspektor des Bahnhofs Chiasso musste aber die schweizerische Zolldirektion von der Nützlichkeit eines eigenen Anschlusses überzeugen; zu diesem Zweck erklärte er 1969, dass in der »Ära der Automatisierung und der Elektronik« die (technischen) Mittel »nicht nur für unsere [Generation], sondern auch für die künftigen Generationen« zur Verfügung gestellt werden sollten. Nicht zuletzt wäre dies auch nötig, um das »Prestige« der Zollbehörde zu bewahren.

BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970). D. Camponovo, Ispettore (Ispettorato doganale Chiasso stazione), an Direzione delle Dogane, Lugano, 01. 07. 1969.

Diese Einschätzung ist in einer Kontinuitätslinie mit der Beschleunigung und Automatisierung des Verkehrs in der Schweiz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusehen; in diesem Rahmen ist auch die Einführung der Rohrpost innerhalb des Bahnhofsgeländes Chiasso in den 1960er-Jahren zu verstehen, da zu demselben Zeitpunkt die Automatisierung bei der Entwicklung der Eisenbahnen als höchste Priorität angesehen wurde und die Schweizerischen Bundesbahnen als Vorreiter in der Verkehrstechnologie »der Zukunft« präsentiert wurden.

Vgl. Gisela Hürlimann: »… das automatischste System der Zukunft«. Die Schweizerischen Bundesbahnen und die Automatisierung, 1960 bis 2000. SZG/RSH/RSS 56/1 (2006) (Verkehrsgeschichte), S. 76–85, sowie Thomas Frey: Die Beschleunigung des Schweizer Verkehrssystems 1850–1910. SZG/RSH/RSS 56/1 (2006) (Verkehrsgeschichte), S. 38–45.

So wurde technische Innovation als Fortschritt sozial konstruiert, sozio-materielle Konstellationen wurden als wesentlich für die Entwicklung der Gesellschaft der Zukunft inszeniert.

Ingo Schulz-Schaeffer: Innovation als soziale Konstruktion von Technik und Techniknutzung, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–18.

Die hier erwähnte Vorstellung der Rohrpost in der Verwaltung ist in einer Kontinuitätslinie mit den utopischen Zukunftsbildern des 19. Jahrhunderts anzusehen; obwohl diese Utopien im 20. Jahrhundert nicht mehr aktuell waren, reproduzierte sich die Idee des pneumatischen Transports als fortschrittlich und zukunftsweisend auf der Ebene der Verwaltung weiter.

Zu pneumatischem Verkehr und Zukunftsvorstellungen vgl. Bettel: Futures & Options, und Ders., Ware Zukunft.

Ähnlich wie die Rohrpostanlagen der deutschen Bundesverwaltung waren auch Rohrpostanlagen innerhalb von Bahnhöfen fehleranfällig. So wies zum Beispiel die Rohrpostanlage des neuen Warenzollamts an der italienisch-schweizerischen Grenze in Chiasso-Brogeda häufig Fehler auf. Die zuständigen Beamten dokumentierten die Fehler und fertigten grafische Schematisierungen an.

Ähnlich wurden technische Probleme mit der Rohrpostanlage im Landes- und Universitätskrankenhaus Innsbruck in den 1980er-Jahren gehandhabt: vgl. Meneghello, Kulturgeschichte und STS kombiniert.

Am Anfang waren die Büchsen zu der falschen Ankunftsstation gelangt, danach kam es bei den Türen der Rohrpoststationen zu Problemen, da sich diese nicht öffnen ließen oder bereits verrostet waren, sodass man sie nur mühsam aufmachen konnte; die Rohre mussten oft repariert werden mit Klebband oder mit dem, was man gerade zur Verfügung hatte. Schließlich war die Kapazität nicht ausreichend, sodass viele Dokumente trotzdem zu Fuß oder mit dem Fahrrad transportiert werden mussten.

BAR, E6357F#2000/336#159* Brogeda: posta pneumatica. Incarto: Amministrazione Federale delle Dogane, Direzione di circondario di Lugano, 293/3.52 (1967–1969). Ufficio Doganale Chiasso-Strada, Chiasso 13. 05. 1968, an Direzione delle Dogane, Lugano, oggetto: Funzionamento difettoso della posta pneumatica. Rilievi richiesti dal Signor Boss, DGD, Capo Sezione del Servizio costruzioni.

Diese Beispiele zeigen, dass das bricolage (im Sinne des Anthropologen Claude Lévi-Strauss) in der Verwaltung zum Alltag gehörte und dass kreative Zwischenlösungen im Umgang mit nicht funktionierender Technik eine akzeptierte und selbstverständliche Praxis waren. Wenn selbst das Flicken nichts gebracht hatte, kamen Workarounds im Sinne eines Vermeidens des Problems ins Spiel: Anstatt die Rohrpost zu benutzen fuhr man Fahrrad oder vermittelte man die Papiere von Hand.

Vgl. Stefan Krebs / Gabriele Schabacher / Heike Weber: Kulturen des Reparierens und die Lebensdauer der Dinge, in: Dies. (Hg.): Kulturen des Reparierens. Dinge – Wissen – Praktiken. Bielefeld 2018, S. 9–46, hier S. 32; insbesondere zu Workarounds: Gabriele Schabacher: Im Zwischenraum der Lösungen. Reparaturarbeit und Workarounds, in: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 4 (2017), S. XIII–XXVIII; zum bricolage Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage, Paris 1962.

Auf keinem Fall wurden Innovationen nur explizit und gezielt eingeführt, sondern auch auf diese unbemerkte und bricoleur-artige Weise setzte sich Wandel in der Verwaltung durch.

Als Grund für die genannten Fehler und Mängel hielt die Zollbehörde fest, dass keine Studie im Vorfeld der Installation stattgefunden hatte. Interessanterweise wurde gerade diese Anlage als positives, nach den anfänglichen Problemen funktionierendes Vorbild für den Einbau der größeren Rohrpostanlage am Bahnhof Chiasso genannt,

BAR, E6357F#2000/336#134* Nuovo palazzo postale Chiasso: posta pneumatica. Incarto: amministrazione federale delle dogane, direzione di circondario di Lugano, 296/4.54 (1962–1970).

welches darauf hinweist, dass die erwähnten Störungen behoben wurden, gleichzeitig aber auch, dass Fehler zum Alltag gehörten und als solche wahrgenommen, akzeptiert und schließlich repariert wurden.

Reparatur und Instandhaltung werden von der neueren Innovationsforschung als Innovationsinstanzen interpretiert.

Cornelius Schubert: Innovation als Reparatur, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–13.

Gerade in diesem Zusammenhang kann man auch Verwaltungsbehörden als Orte des ständigen Reparierens und Anpassens verstehen und so auf die kontinuierlichen Innovationsprozesse hinweisen, die dort täglich stattfinden. Dies betrifft auf jeden Fall den technologischen Bereich, die These könnte aber auch auf andere Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung erweitert werden, beispielsweise auf ihre interne Organisation und Arbeitspraktiken.

Elke Schüßler / Benjamin Schiemer: Innovation und Organisation, in: Blättel-Mink / Schulz-Schaeffer / Windeler (Hg.): Handbuch Innovationsforschung, S. 1–16.

Auch die Nutzung der Rohrpostanlagen weist in diese Richtung; so wurden in den schweizerischen Grenzbahnhöfen Rohrpostanlagen unter verschiedenen schweizerischen und italienischen Dienststellen geteilt und gemeinsam benutzt. Dies spricht für die Flexibilität der Behörden und bezeugt ihre Fähigkeit, neue gemeinsame Lösungen zu finden und in diesem Sinne nicht nur technische, sondern auch organisatorische und soziale Innovationen einzuführen und diese ständig neu anzupassen. Technische Innovation bringt nämlich organisationale Umstellungen und dadurch auch soziale Innovation mit sich.

Cornelius Schubert: Soziale Innovationen, in: Rammert et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute, S. 403–426.

Innovation in der Verwaltung als ›work in progress‹

Die hier analysierten Fallbeispiele zeigen sowohl, dass Infrastrukturen das Arbeitsumfeld und die Arbeitspraktiken mitgestalten als auch, dass sie selbst das Produkt von (Arbeits-)Praktiken sind, die Infrastrukturen erhalten und ständig neu konstruieren.

Vgl. Krebs / Schabacher / Weber: Kulturen des Reparierens.

Obsoleszenz wurde maßgeblich dadurch beeinflusst, ob und wie technische Systeme repariert wurden, welches wiederum entscheidend war, als es darum ging, sie beizubehalten, zu ›modernisieren‹ oder abzuschaffen und durch neuere zu ersetzen.

Vgl. Heike Weber: Zeitschichten des Technischen. Zum Momentum, Alter(n) und Verschwinden von Technik, in: Martina Heßler / Heike Weber (Hg.): Provokationen der Technikgeschichte. Zum Reflexionszwang historischer Forschung. Paderborn 2019, S. 107–150. Vgl. auch Ruth Oldenziel: Whose Modernism, Whose Speed? Designing Mobility for the Future, 1880s–1945, in: Frank James / Morag Shiach / Paul Greenhalgh / Robert Bud (Hg.): Being Modern. The Cultural Impact of Science in the Early Twentieth Century. London 2018, S. 274–289.

Auf der zeitlichen Ebene lässt sich eine Verschiebung von Kontrolle und Versicherheitlichung durch Technisierung (bei den Ministerien in Bukarest und Zagreb sowie bei den britischen Behörden in den frühen 1940er-Jahren) zu Rationalisierung und Automatisierung von Arbeitsvorgängen im Sinne einer Verwissenschaftlichung der Arbeitsorganisation (bei den Zollbehörden, Grenzbahnhöfen und Bundeskanzleien in Deutschland und in der Schweiz in den 1960er- und 1970er-Jahren) feststellen. Diese Verwissenschaftlichung wurde vom Unternehmenszum Verwaltungsbereich übertragen, sodass sich in dieser Hinsicht keine klare Trennung zwischen der Organisation dieser beiden Bereiche feststellen lässt. Aspekte der Kontrolle und Versicherheitlichung wurden auch in der Nachkriegszeit bei der Planung von Rohrpostsystemen berücksichtigt; da aber zu dem Zeitpunkt Chiffriersysteme weiterentwickelt und breiter eingesetzt wurden, spielte die Rohrpost für die Sicherheit der Übertragung von Nachrichten keine zentrale Rolle mehr.

Vgl. Arnold: Luft-Züge, S. 176–192 (zur Berliner Rohrpost im Krieg) und S. 193–210 (zur Rohrpost im gespaltenem Berlin).

In der öffentlichen Verwaltung wurde auch der Diskurs zu Arbeitsflüssen und Rationalisierung der Arbeitsorganisation von der privaten Wirtschaft übernommen. Dadurch wurde der Raum der Bürokratie neugestaltet: Während Infrastrukturen wie die Eisenbahn dazu dienten, das Territorium eines Staates besser zu integrieren,

Zur Eisenbahn vgl. Nadja Weck: Staat, Raum und Infrastruktur. Wie die Eisenbahn nach Galizien kam, in: Administory 2/1 (2018), S. 230–248. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0023. Zur Post sowie generell zu Raum und Verwaltung vgl. Stefan Nelle / Thomas Stockinger: Staat, Verwaltung und Raum im langen 19. Jahrhundert. Einleitung, in: Administory 2/1 (2018), S. 3–28. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0013.

diente die Rohrpost innerhalb von Verwaltungsgebäuden der Integration von unterschiedlichen Abteilungen, Arbeitsbereichen und Verfahren.

Es kann zudem festgehalten werden, dass die Nutzung der Rohrpost in der Verwaltung bis in die 1980er-Jahre mit steigender Tendenz und mit sehr unterschiedlichen Resultaten stattfand. Die Anlagen konnten die interne Kommunikation verbessern, aber auch verschlechtern, wenn sie den Erfordernissen nicht entsprachen. Sie konnten den Verkehr beschleunigen, aber auch verlangsamen, wenn die Büchsen nicht an ihr Ziel ankamen. Sie konnten die Arbeitenden entlasten, aber auch mit zusätzlichen Aufgaben belasten und ihnen vor allem wertvolle Kontakte und inoffizielle Pausen entziehen, wenn sie, anstatt etwas zu bringen, immer an demselben Arbeitsplatz sitzen und von dort die Rohrpoststation bedienen mussten: Das, was aus der Sicht der »arbeitsrationalen Organisation« eine Einsparung von Arbeitswegen und Arbeitsstunden war, konnte aus der Sicht der Arbeitenden durchaus ein Beitrag zur Monotonie ihres Alltags werden. Je nach Perspektive können technische Systeme ganz unterschiedliche Bedeutungen und Assoziationen hervorrufen; so war es auch bei der Rohrpost, die als kommunikationshemmend oder -fördernd, als problemlösend oder -schaffend interpretiert wurde, ohne dass man ein eindeutiges Muster feststellen könnte, welche soziale Gruppe welche Rohrpostanlagen (und technische Innovation) wie interpretierte. Dieselbe Anlage konnte nämlich je nach Zeitpunkt und Raum, je nach Funktionsfähigkeit, je nach Nutzung und je nachdem, welche weitere Medien und Infrastrukturen vorhanden waren, anders wahrgenommen werden. Erfahrung von Technik konstituiert diese mit und trägt zu ihrer (Weiter-)Entwicklung (oder Abschaffung) bei.

Die Technikwahrnehmung war für die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz pneumatischer Transportsysteme von Bedeutung. So spielten Emotionen und Wahrnehmungen von Technik auch im (Arbeits-)Alltag eine große Rolle für ihre Aneignung, Akzeptanz und Stabilisierung in den jeweiligen Einsatzbereichen.

Zur Verwaltungsgeschichte als Emotionengeschichte vgl. Peter Collin / Robert Garot / Timon de Groot: Bureaucracy and Emotions – Perspectives across Disciplines. Einleitung, in: Administory 3/1 (2018), S. 5–19. DOI: 10.2478/ADHI-2018-0029.

Für die Anschaffung, Beibehaltung oder Abschaffung von Rohrpostanlagen waren die alltäglichen Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheidend, denn die Begeisterung für die Anlage konnte dazu führen, dass der Arbeitgeber eine Erweiterung plante, während Klagen wegen mangelnder Funktionsfähigkeit oder ständiger Lärmbelastung zum Wechsel der Anlage und der Rohrpostfirma (wie 1978 beim deutschen Bundeskanzleramt) oder zu einem Ersatz der Rohrpost durch neuere Systeme führen konnten. Dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch Akteure bei diesen Entscheidungen sein konnten (wenn nicht direkt, zumindest indirekt) war den Rohrpostproduzenten klar. Rohrposthersteller wie Siemens stellten in ihrer Werbung nicht nur die Vorteile für eine »Rationalisierung der Arbeit« dar, sondern hoben auch die Handhabbarkeit der Büchsen und die Bequemlichkeit für die Angestellten hervor und schilderten diese durch zahlreiche Bilder, die gerade diese Angestellten abbilden, während sie mit Leichtigkeit und Zufriedenheit die Büchsen in der Hand halten oder diese an einer Station in die Rohre hineinschieben.

Siemens Corporate Archive, Siemens Historical Institute, SAA 37/Li 424. SIMACOM von Siemens: Wirtschaftliche Systeme mit Zukunft, in: Der Anzeigenspiegel. Neue Siemens-Anzeigen, Juni-Juli 1975, N 16-7513.

Auch hier zeigt sich also (im Sinne der Science and Technology Studies) die Verwobenheit von Technik und ihrer Wahrnehmung, von Produzenten und Benutzern, Technikentwicklung und Techniknutzung. Selbst wenn im Fall der Rohrpost keine direkte Auswirkung der Nutzung auf die Weiterentwicklung des Systems bekannt ist und die Nutzerinnen und Nutzer keine aktive Rolle im Designprozess spielten, wurden sie und vor allem ihre Körperlichkeit bei Entwicklung, Design und Werbung seitens der Produzenten berücksichtigt: Ergonomie am Arbeitsplatz war eins der wichtigsten Argumente für die Einführung der Rohrpost in Verwaltung und Unternehmen. Ihre Gegenseite, die ebenso im Sinne der Arbeitsrationalisierung angestrebt wurde, war, dass die Entfernung vom Arbeitsplatz immer seltener nötig und oft komplett überflüssig wurde: Der ergonomische Arbeitsplatz war auch einer, aus dem sich die Angestellten nur ausnahmsweise entfernen mussten – und durften.

About the Author

Laura Meneghello holds a postdoc position in Modern European History of Knowledge and Communication at the University of Siegen. Her current research project investigates the history of pneumatic tubes since the nineteenth century.

Having studied in Venice and Utrecht, she held a scholarship at the International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) and received her PhD from Justus-Liebig-University of Giessen. Her dissertation Jacob Moleschott – A Transnational Biography. Science, Politics, and Popularization in Nineteenth-Century Europe was published in 2017.

Her research and teaching foci include the history of science and technology, (cultural) translation, the history of infrastructures and sustainability.

eISSN:
2519-1187
Sprache:
Englisch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Geschichte, Themen der Geschichte, Verfassungs- u. Rechtsgeschichte, Andere Themen der Geschichte, Rechtswissenschaften, Öffentliches Recht, andere, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Kommunale Politik und Verwaltung