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Gefühlshaushalt in Mähren: Leistungsverwaltung, Landesschulden und Loyalitäten nach 1905

   | 31. Dez. 2018

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Im Frühsommer 1910 genehmigte der österreichische Ministerpräsident einen Geheimkredit für das Land Mähren. Nationalpolitisch motivierte Mehrausgaben hatten den Landeshaushalt seit der Jahrhundertwende ins Minus gebracht.

Übersicht über den Landeshaushalt in Memorandum des Landesausschusses vom 13. 7. 1910 an die k. k. Regierung zu deren Finanzplan, In: Mährisches Landesarchiv Brünn (Moravský zemský archiv v Brně [Brno]), A 9 Zemský výbor (im Folgenden MZA ZV) K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí [Sanierung des Landesfinanzen]« o. fol. Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung; Mährens Andrea Komlosy: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003, S. 194.

Auch den kollektiven Gefühlshaushalt des Landes bestimmten nicht erst seit dem Mährischen Ausgleich von 1905 der Nationalitätendualismus und nationalpolitische sowie weltanschauliche Konflikte. Obwohl Mähren eine hohe Steuerleistung an das Reich erbrachte und zum wirtschaftlichen Kernraum der Habsburgermonarchie zählte, waren die Landesausgaben von den Einnahmen bei Weitem nicht gedeckt und auch der Geheimkredit trug nur ungefähr die Kosten eines Jahres für den Zinsendienst. Während nach außen der Anschein erweckt wurde, es seien Wiener Banken, die Mähren die Summe von fünf Millionen Kronen zu den üblichen Marktbedingungen liehen, handelte es sich im Innenverhältnis um eine Staatsanleihe zu einem niedrigeren Zinssatz von drei Prozent.

Ein Memorandum über die Gespräche eines dreiköpfigen Komitees des Mährischen Landesausschusses mit dem Ministerpräsidenten am 3. Juni 1910 findet sich in einem Vermerk vom 21. 6. 1910 in MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.

Die Geheimhaltung schützte die Wiener Regierung vor Ansprüchen anderer Länder. Solche Befürchtungen waren begründet, da viele österreichische Länder damals historisch einen Schuldenhöchststand erreichten. Das Defizit der Länderhaushalte lag 1908 bereits deutlich über dem Staatsdefizit in Cisleithanien.

Ferdinand Schmid: »Finanzreform in Österreich«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft 67 (1911), S. 1–149, hier S. 129, 147. Zur Verschuldung Walter Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, in: Finanzarchiv 25/2 (1908), S. 176–181, hier S. 178.

Eine Neuverteilung der öffentlichen Finanzen zwischen Staat und Kronländern in Cisleithanien debattierten Finanzexperten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.

Finanzwissenschaftlicher Überblick bei Richard Pfaundler: Der Finanzausgleich in Österreich. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der finanziellen Beziehungen zwischen Staat, Ländern und Gemeinden in den Jahren 1896 bis 1927, Wien 1927.

Gegenstand der Reformdebatte war nicht nur die Frage, ob den Ländern für die Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben im Bereich von Bildung, Fürsorge und Infrastruktur eine stärkere finanzielle Autonomie oder höhere Einnahmen aus der Staatskasse zustanden, sondern auch das Bemühen, die Steuerlast in einer zeitgemäßen und gerechten Weise auf die Bevölkerung zu verteilen. Mit dem Argument »no taxation without representation« wurde von der Opposition im Abgeordnetenhaus des Reichsrats, insbesondere den Sozialdemokraten, die Steuer- und Finanzreform daher zusätzlich mit Forderungen nach der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts auf Landtagsebene verbunden.

Das allgemeine Männerwahlrecht war im Jahr 1907 zwar zum Abgeordnetenhaus des Reichsrats, nicht aber zu den Landtagen eingeführt worden, die vielfach noch einen ständischen Charakter hatten, Karl Ucakar: Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik, Wien 1985, S. 277–281.

Damit waren Finanzfragen auch ein Spiegel dafür, auf welche gesellschaftliche Akzeptanz die Ausweitung der staatlichen »infrastructural power« im Bereich der modernen Leistungsverwaltung stieß.

Michael Mann: »The Autonomous Power of the State. Its Origins, Mechanisms and Results«, in: European Journal of Sociology/Archives Européennes de Sociologie/Europäisches Archiv für Soziologie 25/2 (1984), S. 185–213.

Vorschläge zu einer Steuer- und Finanzreform hinterließen Aktenberge, brachten aber lange keine systematische, politisch durchsetzbare Lösung. Für das defizitäre Landesbudget der Kronländer gewährte die Regierung Erleichterungen lediglich im Einzelfall, im Übrigen forderten die Wiener Regierung und die ihr unterstehenden Statthaltereien die Länder zum Sparen auf.

Memorandum des mährischen Statthalters vom 22. 6. 1910. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.; Paul Kompert: »Die Reform der Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften«, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 139–150, hier S. 148.

Finanzverhandlungen und -ausgaben indizieren Prioritäten auf den unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen. Die Finanzhoheitsrechte in der Habsburgermonarchie waren so mehrstufig angelegt wie das politische System. Die Habsburgermonarchie setzte sich nach 1867 politisch aus den Ebenen des Gesamtstaats Österreich-Ungarn, der beiden Reichshälften Österreich und Ungarn sowie den einzelnen Ländern und Kommunen zusammen, die in der österreichischen Reichshälfte weitgehende autonome Rechte innehatten. Für die gemeinsamen Angelegenheiten des Gesamtstaats Äußeres, Armee und Finanzen standen dem Gesamtstaat die Zolleinnahmen und ein Anteil am Steueraufkommen der beiden Reichshälften zu (sogenannte Quote). Die eigentliche Steuerhoheit lag bei den Regierungen und Parlamenten der beiden Reichshälften. Gerade die österreichische Reichshälfte (das sogenannte Cisleithanien) vollzog seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Übergang zu einem Leistungsstaat und in Ansätzen bereits zur Sozialstaatlichkeit. Die Kronländer, aber auch die Gemeinden hatten daran im Rahmen ihrer Autonomierechte für Schule, Fürsorge und Landwirtschaft einen wichtigen Anteil. Finanziell waren diese beiden Ebenen unterausgestattet und weitgehend vom cisleithanischen Staat abhängig, auf bestehende Staatssteuern konnten die Länder und Gemeinden Zuschläge sowie zusätzlich andere Abgaben und Gebühren erheben.

Den öffentlichen Finanzen kommt regelmäßig eine »Prisma- und Prägefunktion« zu, weil sich die politisch entscheidenden Dynamiken einer Gesellschaft darin bündeln.

Hans–Peter Ullmann: »›Alles hängt an den Finanzen‹. Überlegungen zu einer deutschen Finanzgeschichte von 1790 bis 1990«, in: Hartmut Berghoff/Till van Rahden (Hg.): Staat und Schulden. Öffentliche Finanzen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 37–49, hier S. 45.

Was als politisch entscheidend verhandelt wird, ist nicht zuletzt in hohem Maße durch emotionale Konflikte bestimmt. Auch die Motive der finanzpolitischen Unterhändler in der Habsburgermonarchie mit ihren konfligierenden Emotionen lassen sich dabei als mehrstufige Konflikte um Loyalitäten beschreiben. Eine Stärke des Loyalitätsbegriffs ist es, die inneren Dispositionen historischer Akteure mit ihrer agency, das heißt ihren äußerlich wahrnehmbaren und damit der Untersuchung zugänglichen Handlungen sowie Handlungsspielräumen, in Beziehung zu setzen.

Vertiefend Jana Osterkamp/Martin Schulze Wessel: »Texturen von Loyalität. Überlegungen zu einem analytischen Begriff«, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 553–573.

Die inwendige, meist mehrstufige Seite von Loyalität, beispielsweise das auf Dauer angelegte Pflichtgefühl gegenüber einer Nation, Konfession, sozialen oder familiären Gruppe, oder gegenüber Staat und Gesellschaft berührt den Bereich der Emotionalität. Insgesamt konzentriert sich die Analyse von Loyalitäten auf die handlungsleitende Funktion von Emotionen in verschiedenen sozialen Bezügen.

Zu anderen Emotionen mit handlungsleitender Funktion wie Treue, Vertrauen und Solidarität vgl. die Beiträge in Ute Frevert u. a. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014; Nikolaus Buschmann/Karl Borromäus Murr (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008 sowie Alain Blum: »Emotions, Trust, and Loyalty. The Fabric and Expression of Immaterial Relationships in History«, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 15 (2014), S. 853–872.

Die Frage nach Emotionalität und Gefühlshaushalt lenkt den Blick zunächst auf die Auseinandersetzungen über das »Wofür« öffentlicher Lasten und Schulden. Die finanzpolitischen Debatten in Mähren waren zwischen den beiden nationalen Bevölkerungsgruppen, aber auch innerhalb der Parteienlandschaft emotional hoch aufgeladen. Im Wahlkampf warfen sich die Parteien gegenseitig finanzpolitischen »Schwindel« oder gar die Zerstörung des mährischen Landtags vor.

Parteipolitische Pamphlete strotzen vor persönlichen, antiklerikalen bzw. teilweise antisemitischen Invektiven. Ein Beispiel sind die Veröffentlichungen der mährischen Agrarier, etwa Jaroslav Marcha [D. Nejezchleb]: Klerikální strana ve světle pravdy. Předvolební brožura [Die klerikale Partei im Licht der Wahrheit. Wahlbroschüre], Brno 1913, S. 52–56; aber auch der Klerikalen, etwa J. Šamalík: Bič na agrární lež a klam [Die Peitsche für die agrarische Lüge und Täuschung], Brno 1913, S. 14.

Die Befürchtung vor Benachteiligung durch die unmittelbaren Nachbarn spielte dabei eine große Rolle. In den Äußerungen mährischer Landespolitiker trat deutlich die Sorge zutage, in nationalen Dingen ungleich behandelt zu werden oder zurückstecken zu müssen. Auch Finanzwissenschaftler, wie der kurzzeitige kaiserlich-königliche Finanzminister und führende tschechische Nationalpolitiker, Josef Kaizl, betonten es als ein Postulat der Steuergerechtigkeit, dass sich das Angebot an öffentlichen Gütern auf alle Nationalitäten gleich verteilen müsse.

Josef Kaizl: Finanzwissenschaft, Bd. 2, Wien 1901, S. 201.

In Presse und parteipolitischen Pamphleten kursierten zahllose, mehr oder weniger glaubwürdige Berechnungen, welchen Anteil die einzelnen Nationalitäten Cisleithaniens am Budget hatten.

Anton Schubert: Das Deutschtum im Wirtschaftshaushalte Österreichs (ein Ausbauversuch der Schrift »Deutschböhmen als Wirtschaftsgrossmacht« für ganz Österreich.), 2 Bde., Reichenberg 1905 und 1906.

Die deutschnationale Partei Cisleithaniens schob es beispielsweise nicht zuletzt auf die »Begehrlichkeit der anderen Nationen«, dass »wir […] in das Defizit hineingekommen sind«.

Deutschnationale Geschäftsstelle (Hg.): Zu den politischen Tagesfragen 1910, Wien 1910, S. 9.

Der nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen in Mähren hatte sich seit dem 19. Jahrhundert allmählich herausgebildet und wurde mit dem Mährischen Ausgleich von 1905 institutionalisiert. Der Mährische Ausgleich vom 27. November 1905 sicherte den Tschechen und Deutschen in Mähren eine ihrer Bevölkerungszahl angemessene Repräsentanz im Landtag und den Landtagsausschüssen zu.

Dazu Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Maliř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě/Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa, Brno 2006; Jiří Maliř: »The Moravian Diet and Political Elites in Moravia 1848–1918«, in: Judit Pál/Vlad Popovici (Hg.): Elites and politics in central and eastern Europe (1848 – 1918), Frankfurt am Main 2014, S. 101–127, hier S. 122. Allgemein zur Personalautonomie Börries Kuzmany: »Habsburg Austria. Experiments in Non-Territorial Autonomy«, in: Ethnopolitics 15 (2016), S. 43–65.

Alle wahlberechtigten Bürger, die nicht zur Kurie des Großgrundbesitzes gehörten, wählten von nun an ihre Kandidaten ausschließlich aus einem der zwei nationalen »Kataster« und übten national getrennte, autonome Selbstverwaltungsrechte in den Bereichen Landwirtschaft, Handel und Bildung aus. Die zuvor unterrepräsentierten Tschechen erhielten die Chance auf gleichberechtigte politische Partizipation. Die nicht unbedeutende, mehrheitlich deutschsprachige jüdische Bevölkerung war nicht eigens repräsentiert.

Allerdings bestanden die fast 30 jüdischen politischen Dorf- und Ortsgemeinden fort und wurden erst in den 1920er-Jahren aufgelöst, Michael L. Miller: Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011, S. 322–343.

Eine unmittelbare Folge dieses Ausgleichs war eine Ethnisierung beziehungsweise Nationalisierung der mährischen Gesellschaft.

Gerald Stourzh: »Ethnic Attribution in Late Imperial Austria. Good Intentions, Evil Consequences«, in: Gerald Stourzh (Hg.): From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago 2007, S. 157–176; Gerald Stourzh: »The Ethnicizing of Politics and ›National Indifference‹ in Late Imperial Austria«, in: Gerald Stourzh (Hg.): Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien 2011, S. 283–323.

Für viele in der Bevölkerung ging damit ein emotionaler Lernprozess einher, sich ausschließlich entweder der einen oder der anderen Volksgruppe zugehörig zu fühlen. Dieser Lernprozess wurde nicht zuletzt durch die nationalpolitisch konnotierten Agenden der Landespolitik und -verwaltung gesteuert und auf diese Weise als erwünscht kommuniziert.

Zur Erlernbarkeit und Steuerung von emotionaler Vergemeinschaftung vgl. Birgit Aschmann: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung«, in: Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier S. 17 und 29f.; zur kommunikativen Vermittlung von Emotionen siehe Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Claudia Benthien/Anne Flaig/Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 178–197, hier S. 182.

Mit Barbara Rosenwein ließe sich dieses emotional »lernende System« als »emotional community« beschreiben.

Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), S. 1–32, hier S. 11f.

Tara Zahra schreibt: »The Compromise began to institutionalize a unique form of nationalist-corporatist citizenship whereby fundamental civil rights such as the right to vote or to education were accessed through national collectives

Tara Zahra: Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca 2008, S. 33; vgl. auch Tara Zahra: »Imagined Non-Communities. National Indifference as a Category of Analysis«, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93–119.

Mit der Errichtung nationaler Kataster wurde jedoch gerade nicht erreicht, dass sich die Bevölkerung Mährens von nun an ausnahmslos auf zwei Nationen verteilte. Fälle von nationaler Indifferenz und von Bilingualismus gab es auch weiterhin.

Vgl. zu einem böhmischen Fall Jeremy King: Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002.

Die »emotional community« der »nationalen« mährischen Tschechen war erheblich kleiner als die tschechischsprachige Gruppe insgesamt.

So wie der Mährische Ausgleich eine Teilung der Bewohnerschaft in national exklusive Gemeinschaften und damit »emotional communities« konstruierte, trennte er bestimmte Verwaltungsgebiete nach nationalen Gesichtspunkten. Nicht nur der Schulbesuch wurde durch die nationalen Sektionen des Landesschulrats getrennt gesteuert, um den Besuch tschechischer Schüler in tschechischsprachigen Schulen zu erhöhen. Andere Leistungsangebote der Verwaltung wie kommunale Arbeitsvermittlungsstellen oder die Ortsfeuerwehren wurden für die nationalen Bevölkerungsgruppen ebenfalls gesondert angeboten.

Jan Janák: Morava v národním ruchu 19. století, Brno 2007, S. 452–460.

Die Landes- und Kommunalverwaltung nahm damit eine »normative position«

Barbara H. Rosenwein, »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), S.1–32, hier S. 13.

bei der Herausbildung einer emotionalen Nationsgemeinschaft ein. Die nationalpolitische Segregation verband sich mit einem bestimmten Erwartungshorizont von Zugehörigkeit und Loyalität. Gleichzeitig forcierten Vigilanz und gegenseitiger Wettbewerb den Verwaltungsausbau und ließen dessen Kosten in die Höhe schnellen.

Die finanzpolitische Folge des Mährischen Ausgleichs, der versprochenen Nationalitätengleichberechtigung und einer praktizierten nationalen Segregation in der Verwaltung war ein »nationaler Ausgabendualismus«, der Ausgaben »für deutsche Zwecke« und »für tschechische Zwecke« unterschied und diese gegeneinander aufrechnete – jede ausgegebene Krone für die eine Volksgruppe musste mindestens einer Krone für die andere entsprechen, so kritisch der Finanzexperte Friedrich Kleinwächter.

Friedrich Kleinwächter: »Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (1908)«, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 93 (1909), S. 43–63, hier S. 52.

Für den Gefühlshaushalt von tschechischen Landespolitikern und Wählern in Mähren war es dabei alles andere als gleichgültig, ob Finanzmittel für die Kernfelder der »nationalen Wiedergeburt« bereitstanden oder nicht. Dazu zählte ein muttersprachliches Volks- und insbesondere Mittelschulwesen, das in der Habsburgermonarchie in besonderer Weise nationale Zugehörigkeiten und Loyalitäten vermittelte.

Ernst Bruckmüller: »Patriotic and National Myths. National Consciousness and Elementary School Education in Imperial Austria«, in: Laurence Cole/Daniel Unowsky (Hg.): The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, New York 2007, S. 11–35.

Gary Cohen schreibt dazu: »The Czech educational system in the Bohemian Lands was much admired by the other Slavic groups, and nationally conscious Czech educators took pride in the fact that the other Slavic peoples sent students to Prague and Brno

Gary B. Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, West Lafayette 1996, S. 240.

Die mährischen Deutschen beschwerten sich hingegen darüber, dass die tschechischen Landtagsabgeordneten ihre parlamentarische Mehrheit für vorrangig nationalpolitische, nicht landespolitische Ziele ausnutzen würden.

Hierzu und zum Folgenden, Vermerk des mährischen Landesausschusses vom 7. 6. 1910 über die Verhandlungen zwischen mährischen Mitgliedern des Landesausschusses und des Reichsrats in Wien zur Sanierung der Landesfinanzen, in: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol. Zum Problem der Budgetkontrolle vgl. Michael Pammer, »Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913«, in: José Luís Cardoso/Pedro Lains (Hg.): Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2010, S. 132–161, hier S. 140–157.

Leistungsverwaltung als Nationsermöglichung

Politisch ließ sich die als »national community« vorgestellte »emotional community« durch das Engagement in einer national segregierten Leistungsverwaltung stabilisieren. In Mähren spalteten sich wichtige Institutionen der leistenden Verwaltung sowie intermediäre, zwischen Gesellschaft und öffentlicher Hand vermittelnde Einrichtungen in nationale Untereinheiten auf. Dazu gehörten Gewerbe- und Handelskammern,

Vergleichend für Mähren: Tomáš Jiránek: »Česko-německé vztahy v Obchodních a živnostenských komorách v Brně a v Olomouci v době moravského vyrovnání [Die tschechisch-deutschen Beziehungen in den Handels- und Gewerbekammern in Brünn und Olmütz zur Zeit des Mährischen Ausgleichs]«, in: Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Malíř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě [Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa], Brno 2006, S. 333–346.

Anwaltskammern,

Die paritätische Zusammensetzung ermöglichte hier eine erfolgreiche Vertretung von Standesinteressen, Stanislav Balík: »Česko-něměcké uspořádání v orgánech Advokátní komory v království Českém od počátku 20. století do r. 1918 [Die tschechisch-deutsche Ordnung in den Organen der Anwaltskammer im Königreich Böhmen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1918]«, in: Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Malíř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě [Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa], Brno 2006, S. 325–332.

Landeskultur- und Landesschulräte.

Otto Urban: Die tschechische Gesellschaft 1848–1918, Bd. 1, Wien 1994, S. 382.

Im Rahmen dieser Institutionen mobilisierten und motivierten die bereits bestehenden emotionalen Bindungen die Auffindung und Bereitstellung der notwendigen Ressourcen und Finanzen für diese Gemeinschaft.

Der Ausbau einer öffentlichen Leistungsverwaltung in den Kronländern der Habsburgermonarchie nach der Jahrhundertwende folgte einem europaweiten Trend.

Zum Begriff von Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung vgl. Ernst Rudolf Huber: »Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins«, in: Ernst Rudolf Huber: Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 319–342, hier S. 320f.

Der »moderne Staat« und seine Verwaltung sollten nicht nur die Sicherheit seiner Bürger und seines Territoriums gewährleisten, sondern für die Staatsbürger weitergehende Leistungen erbringen. Die Hauptlast trugen neben den Kronländern vielfach die Kommunen.

Horst Matzerath: »›Kommunale Leistungsverwaltung‹. Zu Bedeutung und politischer Funktion des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hg.): Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln 1990, S. 3–24. Zur Leistungsverwaltung mährischer Kommunen vgl. Pavel Kladiwa/Andrea Pokludová/Renata Kafková: Lesk a bída obecních samospráv Moravy a Slezska 1850–1914 [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung in Mähren und Schlesien 1850–1914], Bd. 2 Teilbd. 2: Finance a infrastruktura [Finanzen und Infrastruktur], Ostrava 2009.

Mit vielfältigen Formen öffentlicher Daseinsvorsorge reagierten diese auf die sozialen Schattenseiten des Wirtschaftsbooms, auf Landflucht, Industrialisierung und Armut infolge erhöhter Mobilität. Investitionen in Bildung und Infrastruktur schufen umgekehrt die Bedingungen für eine weitergehende Industrialisierung. Von politischer Seite war damit die systemstabilisierende Erwartung verbunden, die Staatsbürger über die Teilhabe an öffentlichen Gütern für den Staat zu interessieren und zu integrieren.

Peter Becker: »Stolpersteine auf dem Weg zum kooperativen Imperium. Bürokratische Praxis, gesellschaftliche Erwartungen und sozialpolitische Strategien«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie. Göttingen 2018, S. 23–53; Monika Senghaas: Die Territorialisierung sozialer Sicherung. Raum, Identität und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie, Wiesbaden 2015, S. 95–98.

Neben diesem Aspekt der Modernisierung, der ein Charaktermerkmal des Staats in vielen Teilen Europas wurde, standen jene Besonderheiten, die vor allem die Habsburgermonarchie betrafen. In Kronländern wie Mähren ging es bei der Leistungsverwaltung einerseits um Modernisierung, andererseits um Nationalisierung, beziehungsweise – in den Augen vieler tschechischer Landespolitiker – überhaupt erst um Nationsermöglichung.

Versteht man für Mähren die Leistungsverwaltung als Nationsermöglichung, wird deutlich, warum und dass sich der Zusammenhang von kollektivem Nationsgefühl und Verwaltungsaufgaben in Zeiten der Landesfinanzkrise verstärkte. Die finanzielle Absicherung der Leistungsverwaltung wurde in Zeiten knapper Kassen prekär. Damit geriet jedoch auch das jeweilige nationale Projekt in Gefahr. Der Kampf der mährischen Gemeinden für eine höhere finanzielle Ausstattung spiegelt diese national konnotierten Emotionen beispielhaft wider. Während der cisleithanische Staat über den Reichsrat für zentrale Politikfelder der Leistungsverwaltung wie Fürsorge, Schule und Infrastruktur einen gesetzlichen Rahmen schuf, wurde deren administrative Durchführung von den Kronländern, Bezirken und Gemeinden übernommen. Trotz eines hohen Grads an Politikverflechtung kam den Gemeinden hierbei ein eigener autonomer Handlungsbereich zu.

Jiří Klabouch: Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, München 1968; Milan Hlavačka: Zlatý věk české samosprávy. Samospráva a její vliv na hospodářský, sociální a intelektuální rozvoj Čech 1862–1913 [Das goldene Zeitalter der tschechischen Selbstverwaltung. Selbstverwaltung und ihr Einfluss auf die wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Entwicklung Böhmens 1862–1913], Prag 2006. Zu Mähren vgl. nun Pavel Kladiwa/Andrea Pokludová/Renata Kafková: Lesk a bída obecních samospráv Moravy a Slezska 1850–1914 [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung in Mähren und Schlesien 1850–1914], 2 Bde, Ostrava 2007–2009.

Die Gemeinden in den drei böhmischen Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien (und in anderen Kronländern) galten als die administrativen Arenen, in denen Nationalpolitiker eine relativ freie Tätigkeit entfalten konnten und zwar sowohl die Führungsgruppen eines Landes als auch jene der auf Landes- oder Reichsebene minder bevorzugten Volksgruppen.

Jiří Maliř: »The Moravian Diet«, S. 105; Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Maliř (Hg.): Občanské elity a obecní samospráva 1848–1948 [Bürgerliche Eliten und Gemeindeselbstverwaltung 1848–1948], Brno 2006; Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 223–277.

Nach dem sog. Mährischen Ausgleich von 1905 hatten sich im Land die Gewichte verschoben: War die deutsche Bevölkerung Mährens zuvor von der Landtagswahlordnung privilegiert worden, standen sich beide, Tschechen und Deutsche, in Mähren danach im Landtag als peers gegenüber. In den politischen Foren des cisleithanischen Gesamtstaats prägten trotz der verfassungsrechtlich verbürgten Nationalitätengleichberechtigung hingegen vielfach noch die Deutschen Österreichs die politischen Eliten. Die Wahrnehmung der gemeindlichen Selbstverwaltung als Keimzelle des Staats verband im 19. Jahrhundert Vertreter der Tschechen und Vertreter der Deutschen, Vertreter eines demokratisch-liberalen self-government als auch der konservativ-katholischen Soziallehre. Erstere versprachen sich davon Sachnähe und bürgerschaftliche Partizipation, Letzteren war es um die Einflussmöglichkeiten früherer Eliten zu tun. Allerdings ging es nicht allein um den Gegensatz zwischen einer liberalen »Schule der Demokratie« oder einem konservativen Herrschaftsreservat für Adel und Klerus, sondern um die Gemeinde als »Schule der Nation«.

Ein Vortrag des Sekretärs der mährischen Landeshypothekenbank, Stanislav Bublík, zur Sanierung der Gemeindefinanzen, den er 1909 für den mährischen Gemeindebürgermeistertag zur Finanzkrise geschrieben hatte, macht dies aus tschechischer Perspektive deutlich, darin heißt es:

Die Selbstverwaltung war für unsere Nation stets eine mächtige Stütze im Kampf gegen Germanisierung und Zentralisation. In ihr liegt unsere ganze Zukunft. Auf der Gemeindeselbstverwaltung baut die Landesselbstverwaltung auf und auf der Landesselbstverwaltung wollen wir die Autonomie des österreichischen Staates aufbauen.

Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908 a 1909« [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], Brno 1909, S. 51.

Die Gemeindeselbstverwaltung als Arena der Nationsermöglichung wird hierbei deutlich angesprochen. Selbstverständlich sicherte die Gemeindeautonomie auf gleiche Weise die Interessen auch der Deutschen in Mähren ab, nicht nur in den vielen gemischtsprachigen Munizipalitäten. Die deutschsprachigen Bürgermeister vieler mährischer Städte nutzten die Spielräume der Gemeindeselbstverwaltung bis ins Letzte aus.

Lukáš Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational. Continuity and Discontinuity in Local Politics and the Diet of Moravia 1880–1914«, in: Judit Pál/Vlad Popovici (Hg.): Elites and Politics in Central and Eastern Europe: (1848–1918), Frankfurt am Main 2014, S. 128–144, hier S. 140.

Zwischen der Selbstverwaltung und damit einhergehenden Verschuldung deutscher, tschechischer beziehungsweise gemischt-nationaler Gemeinden bestand kein Unterschied, auch wenn die zeitgenössische Journalistik oftmals jeweils für eine Seite Partei ergriff.

Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 274.

Ähnlich wie das Land Mähren selbst – und die Mehrheit der anderen Kronländer – konnten auch die mährischen Städte und Gemeinden ihre Ausgaben nicht mehr durch Gemeindeumlagen decken, sie fürchteten eine Abwanderung von Industrie und Handel unter steigender Steuerlast und waren durch die Zinsenbedienung überfordert.

Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 47.

Eine Analyse des Gemeindehaushalts für die Stadt Brünn aus dem Jahr 1904 zeigt, welche Investitionen größere Industriestädte – Brünn war die sechstgrößte unter den österreichischen Städten und ein bedeutendes Zentrum der Textilindustrie – für die allgemeine Städteentwicklung typischerweise aufbringen mussten.

Dazu und zum Folgenden Ferdinand Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, in: Volkswirtschaftliche Wochenschrift 41 (1904), S. 322–325, 340–344, 359–363.

Dazu gehörten die Anlage einer Kanalisation und öffentlichen Wasserversorgung, nachdem die städtischen Brunnen hygienischen Standards nicht mehr genügten, der Ankauf der zunächst privaten Gas- und Elektrizitätswerke, der Aufbau eines elektrischen Straßenbahnnetzes, aber auch ein neuer Schlacht- und Viehhof. Diese Kommunalbetriebe wurden fast ausnahmslos als Wirtschaftsunternehmen betrachtet und mit den üblichen Steuern vom cisleithanischen Staat, dem Land Mähren sowie der Gemeinde Brünn belegt. Für solche großen kommunalen Erwerbsunternehmen summierte sich die Steuerlast beträchtlich. Auf den wirtschaftlichen Gewinn wurde eine 10-prozentige staatliche Steuer sowie auf diese zehn Prozent wiederum ein 63-prozentiger Landeszuschlag und ein 70-prozentiger Gemeindezuschlag erhoben, hinzukam ein 2,5-prozentiger Beitrag an die Handelskammer. In summa entfielen 23,6 Prozent der Unternehmensgewinne auf die Steuern, sodass die Erträge der Kommunalbetriebe nicht allein in den kommunalen Haushalt zurückflossen.

Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, S. 341f.

Neben diesen einmaligen Großinvestitionen machten in Brünn wie in anderen Großstädten auch

Zu Budapest und Wien vgl. Susan Zimmermann: Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. Das »sozialpolitische Laboratorium« der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien 1873–1914, Sigmaringen 1997.

die neuen Aufgaben für soziale Fürsorge umfangreiche und dynamisch anwachsende Mittel erforderlich. Dazu gehörten die Bereiche Lokalpolizei, die auch das Lokalsanitätswesen mit einem schulärztlichen Dienst umfassten, und das Armenwesen nach dem sogenannten Elberfelder System. Das Volksschulwesen nahm auch in Brünn den weitaus größten Posten ein und umfasste ein Viertel des Gemeindebudgets.

Der weite Handlungsspielraum von Brünn war nicht allein darauf zurückzuführen, dass Brünn eine Stadt mit eigenem Statut war und sich auch fiskalisch große Spielräume geschaffen hatte.

Schnitzler, »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«.

In einem multinationalen Reich wie der Habsburgermonarchie hatte der Subsidiaritätsgedanke eine weitere, eine nationale Dimension. Nur vor diesem Hintergrund potenzieller Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene Nation ist es zu erklären, dass Bublík als Vertreter der Landeshypothekenbank Mährens trotz der Verschuldung vieler Gemeinden diesen keinesfalls Austerität predigte. Bublík mahnte nicht zum Sparen, sondern forderte eine »baldige und durchgreifende Reform« des Finanz- und Steuersystems, »die den Einfluss der Bevölkerung auf die öffentliche Verwaltung erhöht und der Selbstverwaltung neue Gebiete erschließt«.

Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 44–77, hier S. 51. Zur Berechnung des Defizits in Mähren, das zwischen 1903 und 1905 noch Überschüsse erzielt hatte, vgl. die Zusammenstellung in Jana Osterkamp: »›Kooperatives Imperium‹. Loyalitätsgefüge und Reich-Länder-Finanzausgleich in der späten Habsburgermonarchie«, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 592–620, hier S. 605.

Maßnahmen wie im benachbarten Preußen zur Begrenzung kommunaler Schulden über Ausgabendrosselung, Defizitschranken oder Tilgungspläne wurden hingegen nur vereinzelt eingefordert.

Paul Grünwald: »Zur Finanzstatistik der autonomen Selbstverwaltung in Österreich«, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 19 (1910), S. 68–119, hier S. 68.

Immerhin errichteten Gemeinden wie die Stadt Brünn »Anlehenskontroll-Kommissionen«, um zu überprüfen, ob aufgenommene Darlehen auch zweckgemäß verwendet wurden.

Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, S. 323.

Die Tätigkeit der Gemeinden sollte auch nach Vorstellungen anderer tschechischer Politiker und Rechtspolitiker auf weitere nationalpolitisch bedeutsame Arenen erweitert werden, so der Tenor des ersten tschechischen Juristentags von 1904.

Dazu Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 44–77, hier S. 51.

Dahinter stand nicht zuletzt ein Überbietungswettbewerb mit den deutschen Städten und Gemeinden in Mähren: Mit Prestigebauten, mit erweiterten Fürsorgesystemen und Infrastrukturinvestitionen versuchten die deutschen Bürgermeister in Mähren für ihr oftmals tschechischsprachiges Umland ein »Schaufenster deutscher Kultur« zu schaffen, um einerseits die nationale Loyalität unter der deutschen Bevölkerung zu stärken und andererseits Assimilationsanreize für die tschechischsprachigen Bewohner zu setzen.

Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 140.

Eine wichtige Rolle bei der engen Verzahnung von Gemeinde- und Nationalpolitik spielten der Tschechische Nationalrat und nationale Schutzvereine.

Zu Schutzvereinen und Schulwesen vgl. Pieter M. Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge MA 2006; Miloš Horejš: »Die nationalen ›Schutzvereine‹ in Böhmen, Mähren und Schlesien 1900–1938. Mitgliedschaft, finanzielle Einnahmen und Wirkung«, in: Eduard Kubů/Helga Schultz (Hg.): Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive, Prag 2004, S. 197–220, hier S. 199–202.

Der Tschechische Nationalrat war eines »der wichtigsten politischen Organe der Tschechen in der Vorkriegszeit«, ein »wichtiger Vermittler zwischen den tschechischen politischen Parteien« und wurde gerade von der deutschsprachigen Bevölkerung als eine »Art Nebenregierung« gesehen, die als Lobbyinstitution Einfluss auf die Geschäfte der politischen Verwaltung nahm.

Jaroslav Kučera: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938, München 1999, S. 49f.

Dies verdeutlicht der Umstand, dass auf dem Gemeindetag der tschechisch- und gemischtsprachigen Gemeinden über die Finanzkrise nicht nur tschechische Vertreter des mährischen Landesausschusses, sondern auch Mitglieder des Tschechischen Nationalrats anwesend waren, unter ihnen der Finanzreferent des Landesausschusses Josef Koudela.

Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 11.

Umgekehrt waren auch die deutschsprachigen Bürgermeister eng mit der Landespolitik verflochten, sie waren überproportional im Mährischen Landtag vertreten.

Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 140.

Beiden Seiten wurde vorgeworfen, bei der öffentlichen Auftragsvergabe Firmen der eigenen nationalen Gruppe zu bevorzugen.

Vgl. dazu die Beiträge zu mährischen Städten, leider ohne Brünn, in: Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 1; Muži z radnice [Die Männer aus dem Rathaus], Ostrava 2008. Siehe auch Uwe Müller: »Der cisleithanische Industrierat. Wirtschaftliche Interessenvertretung in einem ›kooperativen Imperium‹?«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen 2018, S. 55–74, hier S. 71.

In der Finanzliteratur der damaligen Zeit wurde die Einflussnahme nationaler Schutzvereine auf Gemeindeausgaben und -agenden in den böhmischen Ländern auch deshalb besonders kritisch gesehen, weil dadurch die Kommunikation zwischen den einzelnen Fachressorts der Verwaltung nur ungenügend funktioniere.

Hlavačka: Zlatý věk české samosprávy [Das goldene Zeitalter der tschechischen Selbstverwaltung], S. 30; Schmid: »Finanzreform in Österreich«, S. 32.

Ein sprechendes Beispiel für eine von nationalen Emotionen affizierte Leistungsverwaltung boten Schulwesen und Sozialfürsorge. Nach der Jahrhundertwende startete der Tschechische Nationalrat eine Kampagne »Tschechische Schulen für tschechische Kinder!«, die eine größere Anzahl an tschechischsprachigen Schulen schaffen sollte. Hierbei erreichten die tschechischsprachigen Mährer Erfolge: Im Zeitraum von 1890 bis 1913 waren von 14 neu errichteten Realschulen in Mähren zehn tschechischsprachig, von 13 neu errichteten Gymnasien lediglich zwei deutschsprachig, sodass es in Mähren vor dem Ersten Weltkrieg mehr tschechische als deutsche Schulen gab.

Petr Kadlec: Střední školy a jejich studenti. (k formování inteligence na severní Moravě a ve Slezsku ve druhé polovině 19. a na počátku 20. století) [Die Mittelschulen und ihre Absolventen (zur Ausbildung der Intelligenz in Nordmähren und Schlesien in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts)], Ostrava 2013, S. 104.

Die Aussicht auf einen sozialen Aufstieg ihrer Nachkommen motivierte dennoch viele Eltern, ihre Kinder auch weiterhin auf deutschsprachige Schulen zu schicken.

Kadlec: Střední školy a jejich studenti [Die Mittelschulen und ihre Absolventen], S. 188–196.

Dazu gehörte auch ein Großteil jüdischer Eltern, die deswegen von Prager tschechisch-jüdischen Vereinen angegriffen wurden, weil sie ihre Kinder zu Feinden der tschechischen Nation erzögen.

Michael L. Miller: Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011, S. 336; zu jüdischen Kindern in deutschsprachigen Schulen instruktiv zu den Debatten um Zugehörigkeit Judson: Guardians of the Nation, S. 48–52.

Solche gesellschaftlichen Reaktionen veranlassten den Nationalrat dazu, in den Gemeinden politischen und vor den Verwaltungsgerichten juristischen Druck aufzubauen, um tschechische Kinder auch gegen den Willen ihrer Eltern auf tschechischsprachige Schulen zu schicken. Die »Nation« als »emotionales Kollektiv« sollte durch derartige Zugehörigkeitsvorstellungen geformt und gefestigt werden.

Die Kampagne des Tschechischen Nationalrats richtete sich damit nicht nur gegen die bisherige Bevorzugung des Deutschen als Schulsprache, sondern auch gegen den von den tschechischen Nationalpolitikern als »nationalen Indifferentismus« wahrgenommenen, in der böhmischen Gesellschaft üblichen Bilingualismus.

Zahra: Kidnapped Souls, S. 19–23.

Zweisprachigkeit wiedersprach dem Postulat einer eindeutigen nationalen Loyalität. Deutsche Parteien und Schutzvereine in Mähren zogen beim Zwang zum Monolingualismus nach: Die Frage, ob an deutschsprachigen Schulen Tschechisch unterrichtet werden solle, spaltete die deutsche Parteienlandschaft.

Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 135f.

Diese sprachliche Exklusivität hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt.

Hannelore Burger: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, Wien 1995, S. 25–31.

Sie widersprach vorherigen Unterrichtsgepflogenheiten und markierte damit einen Wandel national codierter Emotionen, der in Mähren durch das Regelwerk des Mährischen Ausgleichs weiter verfestigt wurde. Dieser verankerte die sogenannte Lex Perek

Zu Václav Perek und Lex Perek nun ausführlich Pavel Marek: Setkání. Osobnost v politickém veřejném životě na přelomu 19. a 20. století [Zusammentreffen. Die Persönlichkeit im politischen öffentlichen Leben an der Schwelle des 19. und 20. Jahrhunderts], Olomouc 2010, S. 48–68.

, wonach Kinder nur in einer Sprache zu unterrichten seien, die sie selbst beherrschten. Die Klausel wurde alsbald zum Gegenstand zahlreicher Gerichtsentscheidungen, in denen nicht über die Sprachfertigkeit, sondern über die nationale Identität der Kinder befunden wurde.

Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs, 1848–1918, Wien 1985, S. 216; Zahra: Kidnapped Souls, S. 33.

Zur zunehmenden nationalen Segregation im Schulwesen trat die nationale Trennung anderer Felder der Leistungsverwaltung. Dies betraf etwa das Fürsorgesystem für Kinder wie Kindergärten oder Waisenhäuser.

Zahra: Kidnapped Souls, S. 65–78.

Ein im Agrarland Mähren besonders wichtiges Feld war die Landwirtschaftsförderung, deren Verbände sich seit 1897 national trennten und nach 1905 Agrarfragen national autonom gestalteten.

Pavel Cibulka: Německé politické strany na Moravě 1890 –1918. Ideje, programy, osobnosti [Deutsche politische Parteien in Mähren 1890–1918], Prag 2012, S. 353.

War Leistungsverwaltung in Mähren ursprünglich auf Nationsermöglichung ausgerichtet gewesen, tendierte sie nun stärker in Richtung Nationszwang. Aus dem allmählichen Aufbau einer »emotional community« war ein rigideres, durch die Verwaltung perpetuiertes »emotional regime« geworden.

William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 129.

Versachlichung nationaler Emotionen durch den Länderfinanzausgleich

Der Konflikt und der Überbietungswettbewerb zwischen den mährischen Nationalitäten in der Gemeinde- und Landesverwaltung weckten und wecken das Interesse vieler Historikerinnen und Historiker. Die Handlungsräume der mährischen Landespolitiker erstreckten sich jedoch nicht nur auf die Landes- und Kommunalebene, sondern bezogen sich auf das mehrstufige politische System der Habsburgermonarchie insgesamt. Wichtige Arenen der Landespolitik bildeten der Landtag und dessen geschäftsführendes Organ, der Landesausschuss. Beide waren Institutionen der Länderselbstbestimmung, anders als die Statthaltereien, die als Organ des cisleithanischen Staats in der berühmten »Doppelgleisigkeit« der Verwaltung ebenfalls die Geschicke des Lands bestimmten. Viele Landespolitiker waren zudem nicht nur Abgeordnete im Landtag, sondern auch im Wiener Reichsrat. Ein institutioneller Aushandlungsort ausschließlich für die Interessen der Länder fehlte allerdings auf cisleithanischer Ebene, der Reichsrat erfüllte diese Funktion nur bedingt. Im Jahr 1905 regte das Land Mähren für Cisleithanien gemeinsame Länderkonferenzen an und hatte damit einigen Erfolg. Diese gemeinschaftlichen Aktionen mährischer Landespolitiker auf Reichsebene wurden zu ihrem Verhalten auf Landesebene selten in Beziehung gesetzt. Auch wenn in Mähren die nationalpolitischen Gräben und Trennlinien scharf gezogen wurden, fanden mährische Repräsentanten in der Kooperation über parteipolitische und nationale Grenzen auf Reichsebene zusammen.

Ziel der mährischen Initiative für gemeinsame Länderkonferenzen war es, ein neues Länderfinanzsystem zu erarbeiten. Mit dem Wechsel auf eine andere politische Ebene wechselten auch die politische Argumentation und die politisch artikulierten Emotionen. Die Initiative Mährens für einen neuartigen Länderfinanzausgleich wurde vom landeseigenen Nationalitätenkonflikt und den damit einhergehenden nationalpolitischen Emotionen angestoßen und forciert, im Dialog mit Vertretern anderer Länder aber in die Rhetorik einer gemeinsamen Solidarität überführt und versachlicht. An den von Mähren initiierten Zusammenkünften im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse nahmen Vertreter der Landesausschüsse aus fast allen nicht-ungarischen Kronländern teil, sie diskutierten gemeinsame Grundsätze über die Sanierung der Länderfinanzen und erzielten schließlich mit der Rückendeckung des Abgeordnetenhauses einen Kompromiss mit der Regierung, die nach mehrjährigem zähen Ringen einem neuen Reichs-Länder-Finanzausgleich zustimmte.

Hans Peter Hye: »Strukturen und Probleme der Landeshaushalte«, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/2: Verfassung und Parlamentarismus. Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 1545–1592; Osterkamp: »›Kooperatives Imperium‹«, S. 592–620.

Eine politische Absprache zwischen Mitgliedern der verschiedenen Landesausschüsse Österreichs war ein innovativer Präzedenzfall und widersprach dem Herrschaftsanspruch Wiens, die Kommunikation über alle wichtigen Angelegenheiten in den eigenen Händen zu behalten. In den Verhandlungen und der dort ausgesprochenen Bereitschaft, fiskalpolitisch nicht lediglich eigene Interessen zu verfolgen, sondern füreinander einzustehen, war ein weiterer Aspekt von Loyalität angelegt, die solidarischen Beziehungen innerhalb der Ländergemeinschaft. Die Ländersolidarität wurde von den Vertretern mancher Länder mit den übereinstimmenden Interessen begründet, das Land Salzburg sprach von einem Akt der »Selbsthilfe«

Vorschlag der Vertreter des salzburgischen Landesausschusses betreffend die Schaffung eines Ländervorschussfonds. In: MZA ZV K. 2772 Konference sanace 1905, fol. 303–311.

und ein niederösterreichischer Landesvertreter postulierte eine langfristig institutionalisierte Kooperation mit der Notwendigkeit »daß gewisse gemeinsame Berührungspunkte in Österreich aufrecht erhalten werden müssen, daß die Länder in gewissen Beziehungen einander nähertreten müssen«.

Stenografisches Protokoll über die am 16., 17. und 18. Februar 1905 im niederösterreichischen Landhause zu Wien abgehaltene Konferenz der Landesausschüsse der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder betreffend die Regelung der Landesfinanzen, Wien 1905, S. 72.

Die im Landesinneren hoch schlagenden Emotionen in Hinblick auf nationalpolitische Projekte wurden mit Blick auf die Reichsebene pluralisiert und damit versachlicht. Bublík, der die Gemeinden als »antigermanisches« Projekt national überhöht hatte, räumte in einer anderen Rolle – als tschechischnationaler Vertreter in der Landeshypothekenbank – in Hinblick auf eine Neuverteilung der öffentlichen Lasten auf Staat, Land und Kommunen ein: »Aus taktischen Gründen ist es sinnvoll, dass die Forderungen der Gemeinden ohne Rücksicht auf die Nationalität so weit als möglich übereinstimmten.«

Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908–1909], S. 44–77, hier S. 62.

Die mährischen Repräsentanten praktizierten auf Ebene des cisleithanischen Staats eine Landesloyalität in Bezug auf Mähren. Sie verfolgten somit das gemeinsame Vorhaben, die Kosten für die teuren, aber im Rahmen der jeweiligen nationalen Loyalitäten als notwendig erachteten Gemeinde- und Landesprojekte, seien es Schulen, Straßen, Krankenhäuser oder Theater, aufzutreiben und abzusichern. Solche gemeinsamen Interessen des Landes in Cisleithanien banden tschechische und deutsche Mährer gleichermaßen zusammen. Indem die Finanzexperten und Landesvertreter in den Verhandlungen mit den anderen Kronländern und der kaiserlich-königlichen Regierung gezwungen waren, die Anliegen des Landes Mähren zu formulieren, sprachen sie notwendigerweise im Interesse beider darin lebender Nationalitäten. Ängste vor einer finanziellen Verkürzung, die zwischen den mährischen Kommunen und Nationalitäten an der Tagesordnung waren, wurden nun auf andere Kronländer projiziert. In Verhandlungen des mährischen Landesausschusses merkte ein Deutschmährer an, man müsse bei einem neuen Finanzausgleich darauf achten, dass Mähren als wichtiges Geberland nicht für andere Länder zahle.

Heinrich Oberleithner: Bericht über die Verhandlung des mährischen Landesausschusses über die Sanierung der Landesfinanzen am 31. 5. 1910, in: MZA ZV K. K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí«, o. fol.

Die Gründe für das zu lösende Problem, die hohe Länderverschuldung, waren nicht nur in der Nationalisierung und parteipolitischen Durchdringung der Landesadministration zu suchen, sie waren ebenso strukturell bedingt. Nach einhelliger Auffassung von Finanzexperten der Habsburgermonarchie bestand ein Missverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Umfang der Landesverwaltungsaufgaben und einer nur unzureichenden finanziellen Ausstattung. Die Staatsgrundgesetze von 1867 für die nicht-ungarischen Kronländer, die im Zuge des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs erlassen wurden, wiesen die Verwaltungsdurchführung und die Verwaltungskosten für Polizei, Gesundheitswesen, Humanitätsanstalten, Armenpflege, Landwirtschaft und Volksschulwesen den Ländern und Gemeinden zu. Wichtige legislative Regelungskompetenzen lagen jedoch nach wie vor beim cisleithanischen Staat. Ein Beispiel für ein solches »Rahmengesetz« ist das Reichsvolksschulgesetz.

Peter Urbanitsch: »Das Schulwesen in Cisleithanien. Element eines kooperativen Imperiums?«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen 2018, S. 95–116, hier S. 98.

Gleichzeitig entsprach dem politischen Handlungs- und Verantwortungsraum der Länder keine Finanzhoheit wie dies beispielsweise im Deutschen Reich der Fall war. Während in Deutschland nach 1871 das Reich ein »Kostgänger der Bundesstaaten« war, lagen die Verhältnisse in der Habsburgermonarchie umgekehrt.

Stefan Korioth: Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, S. 309–324; Albert Hensel: Finanzausgleich im Bundesstaat, Berlin 1922, S. 127; Hans Stumpp: Die Entwicklung des Finanzausgleichs in Deutschland von 1871 bis zur Gegenwart, Würzburg 1965, S. 23.

Die Finanzordnung für die Länder in der Habsburgermonarchie beruhte noch weitgehend auf dem sog. Zuschlagssystem. Ihre fiskalische Haupteinnahmequelle waren Zuschläge auf bestimmte staatliche Steuern und die Landesbesteuerung von bestimmten Verbrauchs- und Genussgütern, insbesondere von Bier, Branntwein oder Spiritus. Das Zuschlagssystem entstammte einer Zeit, in der der Tätigkeitskreis von Land und Gemeinden noch weitaus schmaler gewesen war. Mit der Zunahme der Leistungsverwaltung wurde es veraltet, bedrohte die Kommunen mit einem »wirtschaftlichen Bankrott«

Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908–1909], S. 44–77, hier S. 53; nach einzelnen mährischen Städten differenzierend Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 275.

und war in einigen Nachbarstaaten längst durch ein fiskalisches Trenn- oder Verbundsystem ersetzt worden. Das als Vorbild geltende Preußen hatte das kommunale Finanzwesen bereits 1891 modernisiert: Preußen führte an das Reich Zölle und Verbrauchsabgaben ab, behielt sich selbst die Personalsteuern vor und überließ Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuern und weitere zweckgebundene Dotationen den preußischen Kreisen und Gemeinden.

Friedrich Kleinwächter: »Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (März 1908)«, S. 46; Stumpp: Die Entwicklung des Finanzausgleichs, S. 37.

In der Habsburgermonarchie führte das Zuschlagssystem dazu, dass die Länder und Gemeinden in Hinblick auf ihre Einnahmen von der staatlichen Steuergesetzgebung abhängig waren. Es fehlte an fiskalischer Flexibilität und Eigenständigkeit, bestimmte Güter wurden steuerlich übermäßig belastet. Gleichzeitig mangelte es an wirksamen Maßnahmen zur Kontrolle und Begrenzung der Landesbudgets wie Ausgabendeckelung, Tilgungspläne, Transparenz und Verbindlichkeit. Die Intransparenz der Landeshaushalte ergab sich aus dem ebenfalls veralteten »Fondssystem«, wonach die einzelnen Haushaltsposten eines Landes separat verwaltet wurden, sodass ein schneller Überblick über Einnahmen und Ausgaben oft schwer zu erzielen war. Für Mähren listete Albert Bervid ausführlich die einzelnen Fonds auf, dazu gehörten neben dem ehemaligen Domestikalfonds der Stände, der Sparfonds und der Fonds zur Militärbequartierung, aber auch Fonds wie das mährisch-schlesische Arbeitshaus, der Armenfonds, der Invalidenfonds, der Lehrerpensionsfonds, der Viehversicherungsfonds, der Sternberg-Irrenhausfonds, der Taubstummenfonds, et cetera.

Albert Bervid: Zemské finance Markrabství moravského [Die Landesfinanzen der Markgrafschaft Mähren], Brno 1901.

Den ersten Versuch zu einer systematischen Finanzreform und einer Modifikation des Zuschlagssystems unternahm die Wiener Regierung im Jahr 1898. Die Kronländer in Österreich verzichteten dabei auf ihr Recht, auf die neu eingeführte Personeneinkommenssteuer sowie auf den Branntweinkonsum Zuschläge zu erheben und erhielten im Gegenzug eine feste Quote an den Einnahmen.

Pammer: »Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913«, S. 146f.

Nach Galizien profitierte Mähren am stärksten von der Branntweinsteuer, dennoch reichten diese Einnahmen für die geplanten Ausgaben nicht aus.

Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.

Eine Veränderung und Reform dieses Finanz- und Steuersystems war allerdings nicht nur vom guten Willen der Wiener Regierung abhängig, sondern auch von der Zustimmung der ungarischen Regierung. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867 und dessen Nebenbestimmungen hatten zwischen den beiden Reichshälften Österreich und Ungarn einen gemeinsamen Wirtschaftsraum geschaffen.

László Katus: Hungary in the Dual Monarchy 1867–1914, New York 2008, S. 38–42.

Dazu gehörte das Verbot von indirekten Wettbewerbsverzerrungen, etwa durch Steuern oder Zölle, sodass die Ungarn jedweden Änderungen des Steuer- und Finanzsystems in Österreich zustimmen mussten. Ungarn als weißer Elefant im Raum machte die Fiskalabsprachen der Länder Cisleithaniens noch schwieriger.

Die von Mähren initiierten Länderkonferenzen strebten die langfristige und nicht wie bisher nur vorläufige Sanierung der Landesfinanzen an. Die teilnehmenden Vertreter der Landesausschüsse traten erstmals 1905 zusammen. Obwohl das k. k. Finanzministerium gleich zu Beginn eine eigene neue Abteilung für die Reform der Länderfinanzen zusagte, stagnierten die Verhandlungen in der Folge. Erst im Jahr 1907, nach der Intervention von Niederösterreich und Schlesien, nahmen sie wieder an Fahrt auf. In seiner Thronrede vor dem neugewählten Abgeordnetenhaus kündigte der Kaiser den Ländern 1907 an, nachdem alle Kronländer ihren Abgeordneten eine untereinander abgesprochene Resolution ausgehändigt hatten, alsbald einen Weg aus der Länderfinanzkrise zu ebnen.

Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten, Sign. Regierungsarchiv, Präsidium des Landesausschusses, Reg. I/10, Stammzahl 1138/1907, Sanierung der Landesfinanzen, Beschluss der Ländervertreter. Abgeordnetenhaus (Hg.), Stenografisches Protokoll, 18. Session, 3. Sitzung vom 25. 6. 1907, S. 62f., 4. Sitzung, S. 119–136 u. 5. Sitzung, S. 275–281.

Nach weiteren Verhandlungen fanden Ländervertreter und k. k. Finanzministerium schließlich zu einem Lösungsentwurf, der eine Mischfinanzierung der Länder aus zweckgebundenen Überweisungen und allgemeinen, nicht an einen bestimmten Zweck gebundenen Finanzmitteln vorsah. Kernpunkte dieses Entwurfs waren die anteilige Übernahme der Schullasten durch den Staat sowie erhöhte Überweisungen aus der Branntweinsteuer. Dieser Vorschlag einer Mischfinanzierung aus zweckgebundenen und zweckfreien Überweisungen vom cisleithanischen Staat an die Länder folgte der bisherigen Fiskallogik in der Habsburgermonarchie: Die ausschließliche Finanzhoheit blieb beim cisleithanischen Staat, der an die Länder Überweisungen ausschüttete. Die geplante Übernahme der Kosten für das Schulpersonal hätte die Landeshaushalte langfristig entlastet und Planungssicherheit gewährleistet. Die Personal- und Sachkosten für das Schulwesen stellten den größten Ausgabeposten für viele Länder dar, oftmals fast die Hälfte aller Landesausgaben, der aufgrund regelmäßiger Gehaltserhöhungen zudem einem dynamischen Wachstum unterlag.

Walter Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, S. 177.

Um die Schule tobte seit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 ein konfessioneller Kulturkampf zwischen österreichischen Liberalen und Klerikalen um einen laizistisch-aufgeklärten, staatlich getragenen oder einen katholischen Werten verschriebenen, kirchlich organisierten Unterricht. Mit dem Ausbau der muttersprachlichen Volksschule kam die nationale Auseinandersetzung hinzu, die in Mähren um die Gleichberechtigung des Tschechischen und des Deutschen als Schulsprache kreiste.

Überblick bei Gustav Strakosch-Grassmann: Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien 1905; Gary Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, West Lafayette 1996.

Interessanterweise war es das emotionsgeladene Politikfeld des Bildungswesens, das den finanzpolitischen, von vielen als angemessen eingeschätzten Kompromiss von Ländern und Finanzministerium scheitern ließ. Der mährische Landesausschuss fasste die Gründe in seinem Bericht an den Landtag folgendermaßen zusammen: Für die Bewilligung einer solchen Dotation habe keine Hoffnung bestanden, »weil Niederösterreich beziehungsweise dessen politischer Einfluss die Uebernahme eines perzentuellen Anteils der Lehrergehalte durch den Staat nicht wünscht und nicht will, da es möglicherweise eine Schmälerung seines Rechtes der selbständigen Lehrerernennungen befürchtet«.

Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o.fol.

Für Niederösterreich war eine zweckgebundene Staatshilfe für die Schulen gleichbedeutend mit einem Staatseinfluss auf die Landesverwaltung, welcher die »Landesautonomie ganz unvermeidlich« einschränke.

Die Note des niederösterreichischen Landesausschusses vom 10. 4. 1908 an den Landesausschuss Oberösterreich und Mähren. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.

Niederösterreichs »politischer Einfluss« war gleichbedeutend mit der Christsozialen Partei, die erst wenige Jahre zuvor gegen die Liberalen und Sozialdemokraten mit mehreren Gesetzesvorhaben den Einfluss des Klerus auf die Landesschulen gestärkt und in den Landesschulräten Wiens und Niederösterreichs obligatorische Vertreter der katholischen Kirche platziert hatte.

John W. Boyer: Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897–1918, Chicago 1995, S. 54.

Auch Länder mit einem »minder entwickelten Volksschulwesen« wie Galizien und Tirol wandten sich gegen die Zweckbindung der Staatshilfen an die Schulausgaben, sie investierten wenig in die Volksbildung und erwarteten daher weniger Geld aus gebundenen Überweisungen und mehr Prozentpunkte aus allgemeinen, das heißt zweckfreien Überweisungen.

Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.

Tatsächlich setzten sich Niederösterreich, Galizien und Tirol mit ihren Bedenken gegen die Mehrheit der anderen Länder durch.

Als das Bündnis aller Kronländer in der Folge zu bröckeln begann, wurde auch der Zusammenhalt hinter den Kulissen des mährischen Landesausschuss vorübergehend schwächer. Nach dem vorläufigen Scheitern eines neuen Länderfinanzausgleichs suchte man in Mähren nach Behelfs- und Notlösungen. In einer Aussprache über die Finanzkrise Mährens blieb der Deutschliberale Heinrich D’Elvert skeptisch, ob man ein konzertiertes Vorgehen aller mährischen Landespolitiker gegenüber Wien erreichen könne, solange die Verhältnisse zwischen beiden Nationen im Landtag und Landesausschuss angespannt seien. Andere wie Adolf Stránský, eine politische Führungsfigur der tschechischen Mährischen Volkspartei (Moravská strana lidová), mahnten an, zur Verbesserung der Finanzen müssten alle zusammenwirken, die deutsche Minderheit, aber auch die tschechische Mehrheit, die ja ebenfalls unter sich zerstritten sei.

Seit der Ethnisierung der Politik durch den Mährischen Ausgleich hatten gegenüber den nationalen Trennlinien die parteipolitische Diferenzierung an Gewicht gewonnen, vgl. Maliř: »The Moravian Diet«, S. 111.

Trotz solcher verbalen Querelen einigte sich der Landesausschuss schließlich auf ein dreiköpfiges Komitee aus Tschechen und Deutschen, um ein Papier zur Behebung der Finanzkrise auszuarbeiten. Die drei namhaften Landes- und Reichspolitiker aus Mähren, Josef Redlich, Josef Koudela und Jan Žáček, verhandelten mit dem Wiener Schul- und Finanzministerium und erhielten schließlich die besagte Kreditzusage über fünf Millionen.

Trotz dieses Geheimkredits zog sich Mähren nicht aus den Debatten über einen neuen Länderfinanzausgleich zurück. Allerdings war die eigentliche Initiative nun auf das k. k. Finanzministerium übergegangen, das in seiner Gesetzesvorlage an den Reichsrat schließlich allgemeine, nicht an einen bestimmten Zweck gebundene Überweisungen vorschlug. Diese Lösung gewährte den Kronländern kurzfristig eine größere Freiheit, wofür sie diese Mittel aufwendeten, konnte jedoch langfristig keine dynamische Anpassung der Überweisungen an die dynamisch steigenden Schulpersonalkosten gewährleisten. Ihren Abschluss fanden die Verhandlungen zwischen Ländern und cisleithanischem Staat mit einem Gesetz von 1914, das die Länderquoten am Aufkommen der Bier-, Branntwein- und Personaleinkommenssteuer erheblich aufstockte.

Gesetz RGBl. Nr. 14/1914 über die Neuregelung der Überweisungen aus Staatsmitteln an die Landesfonds der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder und die Herabsetzung des Ausmaßes der Realsteuern.

Fazit

Die Fallstudie zur mährischen Landesverwaltung, Landesfinanzkrise und dem von Mähren initiierten Kompromiss eines neuen Reichs-Länder-Finanzausgleichs zeigt den Wandel im Gefühlshaushalt von Repräsentanten der Landesverwaltung, je nachdem, in welcher Rolle und auf welcher politischen Ebene sie handelten. Emotional aufgeladene, beziehungsweise emotional inszenierte Rollen wechselten, je nachdem, ob der Zusammenhang von nationalpolitischer Leistungsverwaltung und den dafür unerlässlichen Finanzgrundlagen innerhalb einer nationalen Volksgruppe, innerhalb Mährens, gegenüber der königlich-kaiserlichen Regierung oder gegenüber den anderen Kronländern Österreichs angesprochen wurde.

Die sprunghafte Zunahme der Leistungsverwaltung – auch als ein Projekt der nationalen Selbstverwirklichung – auf kommunaler und Landesebene nahm der mährische Landesausschuss zum Anlass, mit Vertretern aus den Landesausschüssen aller anderen Kronländer Cisleithaniens über einen Finanzausgleich zu beraten. Diese Verhandlungen gingen über nationale Eigeninteressen hinaus, in ihnen klingt verschiedentlich ein Einstehenwollen der Ländergemeinschaft untereinander an. Diese vielfältigen Bezüge lassen sich als mehrstufige Loyalität beschreiben.

Den komplexen Zusammenhang von Leistungsverwaltung und mehrstufigen Loyalitäten zeigt das Beispiel der Schulverwaltung. In den Kronländern Böhmen, Schlesien, Mähren und Niederösterreich gehörte das Schulwesen zu den Prestigeprojekten der Landesverwaltung und war emotional heiß umkämpft. Nationale, beziehungsweise konfessionell-weltanschauliche Loyalitäten standen in einer unüberbrückbar scheinenden Konkurrenz zueinander und wurden in einer konfrontativen Rhetorik des Kulturkampfes ausgetragen. In den böhmischen Ländern waren die Ausstattung von Schulen, die Curricula, das Schulgeld und die Lehrerbesoldung eng mit nationalpolitischen Gefühlen und Agenden verbunden: »There can be no doubt that students and professors in Czech secondary schools and higher education articulated Czech national allegiances and helped propagate nationalist political beliefs. German-speaking students and professors did much the same, particularly in Bohemia, Moravia, and Styria«.

Cohen: Education and middle-class society, S. 241; Ernst Bruckmüller: Patriotic and National Myths, S. 18–20, S. 22; Peter Urbanitsch: »Das Schulwesen in Cisleithanien – Element eines kooperativen Imperiums?«, S. 112.

Der Unterschied zum Gefühlshaushalt eines fast ausschließlich deutschsprachigen Kronlands wie Niederösterreich war nur graduell: Das Schulwesen war hier Austragungsort eines weltanschaulichen Kulturkampfes zwischen Sozialdemokraten und Christsozialen um die Säkularisierung, beziehungsweise Re-Konfessionalisierung der Schule.

Boyer: Culture and Political Crisis in Vienna, S. 46–54.

In den Verhandlungen der Ländervertreter über die Sanierung der Landesfinanzen traten diese nationalen und konfessionell-weltanschaulichen Loyalitäten argumentativ zunächst hinter die auf das jeweilige Land und die Ländergemeinschaft bezogenen Loyalitäten zurück. Die konfrontative Konkurrenz, die die Landespolitiker zu Hause pflegten, machte hierbei einer Bereitschaft zur Kooperation Platz, die von der Hoffnung auf staatliche Zuschüsse und eine langfristige Lösung für die Landesverschuldung genährt wurde.

Die »heißen« Emotionen des Kulturkampfes um das Bildungswesen wurden auf der gemeinsamen Ebene aller Länder und des Reichs in den Verhandlungen zunächst argumentativ versachlicht. In der Sache scheiterte der zunächst vom Finanzministerium vorgeschlagene Kompromiss über einen neuen Reich-Länder-Finanzausgleich gleichwohl auch an der emotionalen Aufladung dieses Politikfeldes. Die vom Ministerium vorgeschlagene Finanz- und Steuerreform, die Zweckdotationen für das Schulwesen vorsah, nahm auf diese national-, sozial-, partei- und konfessionspolitischen Emotionen inhaltlich Rücksicht, konnte sie jedoch letztlich nicht zum Ausgleich bringen. Die Furcht in Ländern wie Niederösterreich, einmal errungene Gestaltungsspielräume im Schulwesen zu verlieren, weil die königlich-kaiserliche Regierung über die Finanzströme indirekten Einfluss darauf nehmen könne, erwies sich als unüberwindlich. Die legislative Umsetzung einer alternativen Lösung nahm nochmals einige Jahre in Anspruch. Während dieser Zeit blieb die finanzielle Lage vieler Länder wie Mähren prekär, sodass nur Einzelmaßnahmen, wie der Geheimkredit von 1910, Abhilfe schufen. Weder die Ablehnung des Reformkompromisses durch Niederösterreich, noch fiskalische Geheimabsprachen zwischen der Regierung und einzelnen Ländern stellten jedoch den Zusammenhalt in der Ländergemeinschaft grundsätzlich infrage. Die Länder zeigten sich weiterhin an einer allgemeinen Lösung interessiert und einigten sich auf ein Finanzausgleichsmodell der allgemeinen Überweisungen an die Länder. In der damaligen Finanzliteratur wurde dieser schließlich Gesetz gewordene Kompromiss nicht ohne Übertreibung als geeignet erachtet, »hierdurch den Staatsgedanken, das Solidaritätsbewusstsein zwischen reichen und armen Kronländern zu fördern«.

Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, S. 180.

eISSN:
2519-1187
Sprache:
Englisch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Geschichte, Themen der Geschichte, Verfassungs- u. Rechtsgeschichte, Andere Themen der Geschichte, Rechtswissenschaften, Öffentliches Recht, andere, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Kommunale Politik und Verwaltung