Im Frühsommer 1910 genehmigte der österreichische Ministerpräsident einen Geheimkredit für das Land Mähren. Nationalpolitisch motivierte Mehrausgaben hatten den Landeshaushalt seit der Jahrhundertwende ins Minus gebracht. Übersicht über den Landeshaushalt in Memorandum des Landesausschusses vom 13. 7. 1910 an die k. k. Regierung zu deren Finanzplan, In: Mährisches Landesarchiv Brünn (Moravský zemský archiv v Brně [Brno]), A 9 Zemský výbor (im Folgenden MZA ZV) K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí [Sanierung des Landesfinanzen]« o. fol. Zur volkswirtschaftlichen Bedeutung; Mährens Andrea Komlosy: Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003, S. 194. Ein Memorandum über die Gespräche eines dreiköpfigen Komitees des Mährischen Landesausschusses mit dem Ministerpräsidenten am 3. Juni 1910 findet sich in einem Vermerk vom 21. 6. 1910 in MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol. Ferdinand Schmid: »Finanzreform in Österreich«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Ergänzungsheft 67 (1911), S. 1–149, hier S. 129, 147. Zur Verschuldung Walter Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, in: Finanzarchiv 25/2 (1908), S. 176–181, hier S. 178.
Eine Neuverteilung der öffentlichen Finanzen zwischen Staat und Kronländern in Cisleithanien debattierten Finanzexperten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Finanzwissenschaftlicher Überblick bei Richard Pfaundler: Der Finanzausgleich in Österreich. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der finanziellen Beziehungen zwischen Staat, Ländern und Gemeinden in den Jahren 1896 bis 1927, Wien 1927. Das allgemeine Männerwahlrecht war im Jahr 1907 zwar zum Abgeordnetenhaus des Reichsrats, nicht aber zu den Landtagen eingeführt worden, die vielfach noch einen ständischen Charakter hatten, Karl Ucakar: Demokratie und Wahlrecht in Österreich. Zur Entwicklung von politischer Partizipation und staatlicher Legitimationspolitik, Wien 1985, S. 277–281. Michael Mann: »The Autonomous Power of the State. Its Origins, Mechanisms and Results«, in: European Journal of Sociology/Archives Européennes de Sociologie/Europäisches Archiv für Soziologie 25/2 (1984), S. 185–213. Memorandum des mährischen Statthalters vom 22. 6. 1910. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.; Paul Kompert: »Die Reform der Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften«, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 34 (1910), S. 139–150, hier S. 148.
Finanzverhandlungen und -ausgaben indizieren Prioritäten auf den unterschiedlichen politischen Entscheidungsebenen. Die Finanzhoheitsrechte in der Habsburgermonarchie waren so mehrstufig angelegt wie das politische System. Die Habsburgermonarchie setzte sich nach 1867 politisch aus den Ebenen des Gesamtstaats Österreich-Ungarn, der beiden Reichshälften Österreich und Ungarn sowie den einzelnen Ländern und Kommunen zusammen, die in der österreichischen Reichshälfte weitgehende autonome Rechte innehatten. Für die gemeinsamen Angelegenheiten des Gesamtstaats Äußeres, Armee und Finanzen standen dem Gesamtstaat die Zolleinnahmen und ein Anteil am Steueraufkommen der beiden Reichshälften zu (sogenannte Quote). Die eigentliche Steuerhoheit lag bei den Regierungen und Parlamenten der beiden Reichshälften. Gerade die österreichische Reichshälfte (das sogenannte Cisleithanien) vollzog seit dem Ende des 19. Jahrhunderts den Übergang zu einem Leistungsstaat und in Ansätzen bereits zur Sozialstaatlichkeit. Die Kronländer, aber auch die Gemeinden hatten daran im Rahmen ihrer Autonomierechte für Schule, Fürsorge und Landwirtschaft einen wichtigen Anteil. Finanziell waren diese beiden Ebenen unterausgestattet und weitgehend vom cisleithanischen Staat abhängig, auf bestehende Staatssteuern konnten die Länder und Gemeinden Zuschläge sowie zusätzlich andere Abgaben und Gebühren erheben.
Den öffentlichen Finanzen kommt regelmäßig eine »Prisma- und Prägefunktion« zu, weil sich die politisch entscheidenden Dynamiken einer Gesellschaft darin bündeln. Hans–Peter Ullmann: »›Alles hängt an den Finanzen‹. Überlegungen zu einer deutschen Finanzgeschichte von 1790 bis 1990«, in: Hartmut Berghoff/Till van Rahden (Hg.): Staat und Schulden. Öffentliche Finanzen in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 37–49, hier S. 45. Vertiefend Jana Osterkamp/Martin Schulze Wessel: »Texturen von Loyalität. Überlegungen zu einem analytischen Begriff«, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 553–573. Zu anderen Emotionen mit handlungsleitender Funktion wie Treue, Vertrauen und Solidarität vgl. die Beiträge in Ute Frevert u. a. (Hg.): Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014; Nikolaus Buschmann/Karl Borromäus Murr (Hg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne. Göttingen 2008 sowie Alain Blum: »Emotions, Trust, and Loyalty. The Fabric and Expression of Immaterial Relationships in History«, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 15 (2014), S. 853–872.
Die Frage nach Emotionalität und Gefühlshaushalt lenkt den Blick zunächst auf die Auseinandersetzungen über das »Wofür« öffentlicher Lasten und Schulden. Die finanzpolitischen Debatten in Mähren waren zwischen den beiden nationalen Bevölkerungsgruppen, aber auch innerhalb der Parteienlandschaft emotional hoch aufgeladen. Im Wahlkampf warfen sich die Parteien gegenseitig finanzpolitischen »Schwindel« oder gar die Zerstörung des mährischen Landtags vor. Parteipolitische Pamphlete strotzen vor persönlichen, antiklerikalen bzw. teilweise antisemitischen Invektiven. Ein Beispiel sind die Veröffentlichungen der mährischen Agrarier, etwa Jaroslav Marcha [D. Nejezchleb]: Klerikální strana ve světle pravdy. Předvolební brožura [Die klerikale Partei im Licht der Wahrheit. Wahlbroschüre], Brno 1913, S. 52–56; aber auch der Klerikalen, etwa J. Šamalík: Bič na agrární lež a klam [Die Peitsche für die agrarische Lüge und Täuschung], Brno 1913, S. 14. Josef Kaizl: Finanzwissenschaft, Bd. 2, Wien 1901, S. 201. Anton Schubert: Das Deutschtum im Wirtschaftshaushalte Österreichs (ein Ausbauversuch der Schrift »Deutschböhmen als Wirtschaftsgrossmacht« für ganz Österreich.), 2 Bde., Reichenberg 1905 und 1906. Deutschnationale Geschäftsstelle (Hg.): Zu den politischen Tagesfragen 1910, Wien 1910, S. 9.
Der nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen in Mähren hatte sich seit dem 19. Jahrhundert allmählich herausgebildet und wurde mit dem Mährischen Ausgleich von 1905 institutionalisiert. Der Mährische Ausgleich vom 27. November 1905 sicherte den Tschechen und Deutschen in Mähren eine ihrer Bevölkerungszahl angemessene Repräsentanz im Landtag und den Landtagsausschüssen zu. Dazu Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Maliř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě/Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa, Brno 2006; Jiří Maliř: »The Moravian Diet and Political Elites in Moravia 1848–1918«, in: Judit Pál/Vlad Popovici (Hg.): Elites and politics in central and eastern Europe (1848 – 1918), Frankfurt am Main 2014, S. 101–127, hier S. 122. Allgemein zur Personalautonomie Börries Kuzmany: »Habsburg Austria. Experiments in Non-Territorial Autonomy«, in: Ethnopolitics 15 (2016), S. 43–65. Allerdings bestanden die fast 30 jüdischen politischen Dorf- und Ortsgemeinden fort und wurden erst in den 1920er-Jahren aufgelöst, Michael L. Miller: Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011, S. 322–343.
Eine unmittelbare Folge dieses Ausgleichs war eine Ethnisierung beziehungsweise Nationalisierung der mährischen Gesellschaft. Gerald Stourzh: »Ethnic Attribution in Late Imperial Austria. Good Intentions, Evil Consequences«, in: Gerald Stourzh (Hg.): From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago 2007, S. 157–176; Gerald Stourzh: »The Ethnicizing of Politics and ›National Indifference‹ in Late Imperial Austria«, in: Gerald Stourzh (Hg.): Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien 2011, S. 283–323. Zur Erlernbarkeit und Steuerung von emotionaler Vergemeinschaftung vgl. Birgit Aschmann: »Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung«, in: Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32, hier S. 17 und 29f.; zur kommunikativen Vermittlung von Emotionen siehe Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Claudia Benthien/Anne Flaig/Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 178–197, hier S. 182. Barbara H. Rosenwein: »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), S. 1–32, hier S. 11f. Tara Zahra: Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900–1948, Ithaca 2008, S. 33; vgl. auch Tara Zahra: »Imagined Non-Communities. National Indifference as a Category of Analysis«, in: Slavic Review 69 (2010), S. 93–119. Vgl. zu einem böhmischen Fall Jeremy King: Budweisers into Czechs and Germans. A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002.
So wie der Mährische Ausgleich eine Teilung der Bewohnerschaft in national exklusive Gemeinschaften und damit » Jan Janák: Morava v národním ruchu 19. století, Brno 2007, S. 452–460. Barbara H. Rosenwein, »Problems and Methods in the History of Emotions«, in: Passions in Context. Journal of the History and Philosophy of the Emotions 1 (2010), S.1–32, hier S. 13.
Die finanzpolitische Folge des Mährischen Ausgleichs, der versprochenen Nationalitätengleichberechtigung und einer praktizierten nationalen Segregation in der Verwaltung war ein »nationaler Ausgabendualismus«, der Ausgaben »für deutsche Zwecke« und »für tschechische Zwecke« unterschied und diese gegeneinander aufrechnete – jede ausgegebene Krone für die eine Volksgruppe musste mindestens einer Krone für die andere entsprechen, so kritisch der Finanzexperte Friedrich Kleinwächter. Friedrich Kleinwächter: »Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (1908)«, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 93 (1909), S. 43–63, hier S. 52.
Für den Gefühlshaushalt von tschechischen Landespolitikern und Wählern in Mähren war es dabei alles andere als gleichgültig, ob Finanzmittel für die Kernfelder der »nationalen Wiedergeburt« bereitstanden oder nicht. Dazu zählte ein muttersprachliches Volks- und insbesondere Mittelschulwesen, das in der Habsburgermonarchie in besonderer Weise nationale Zugehörigkeiten und Loyalitäten vermittelte. Ernst Bruckmüller: »Patriotic and National Myths. National Consciousness and Elementary School Education in Imperial Austria«, in: Laurence Cole/Daniel Unowsky (Hg.): The Limits of Loyalty. Imperial Symbolism, Popular Allegiances, and State Patriotism in the Late Habsburg Monarchy, New York 2007, S. 11–35. Gary B. Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, West Lafayette 1996, S. 240. Hierzu und zum Folgenden, Vermerk des mährischen Landesausschusses vom 7. 6. 1910 über die Verhandlungen zwischen mährischen Mitgliedern des Landesausschusses und des Reichsrats in Wien zur Sanierung der Landesfinanzen, in: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol. Zum Problem der Budgetkontrolle vgl. Michael Pammer, »Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913«, in: José Luís Cardoso/Pedro Lains (Hg.): Paying for the Liberal State. The Rise of Public Finance in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2010, S. 132–161, hier S. 140–157.
Politisch ließ sich die als » Vergleichend für Mähren: Tomáš Jiránek: »Česko-německé vztahy v Obchodních a živnostenských komorách v Brně a v Olomouci v době moravského vyrovnání [Die tschechisch-deutschen Beziehungen in den Handels- und Gewerbekammern in Brünn und Olmütz zur Zeit des Mährischen Ausgleichs]«, in: Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Malíř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě [Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa], Brno 2006, S. 333–346. Die paritätische Zusammensetzung ermöglichte hier eine erfolgreiche Vertretung von Standesinteressen, Stanislav Balík: »Česko-něměcké uspořádání v orgánech Advokátní komory v království Českém od počátku 20. století do r. 1918 [Die tschechisch-deutsche Ordnung in den Organen der Anwaltskammer im Königreich Böhmen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1918]«, in: Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Malíř (Hg.): Moravské vyrovnání z roku 1905. Možnosti a limity národnostního smíru ve střední Evropě [Der mährische Ausgleich von 1905. Möglichkeiten und Grenzen für einen nationalen Ausgleich in Mitteleuropa], Brno 2006, S. 325–332. Otto Urban: Die tschechische Gesellschaft 1848–1918, Bd. 1, Wien 1994, S. 382.
Der Ausbau einer öffentlichen Leistungsverwaltung in den Kronländern der Habsburgermonarchie nach der Jahrhundertwende folgte einem europaweiten Trend. Zum Begriff von Daseinsvorsorge und Leistungsverwaltung vgl. Ernst Rudolf Huber: »Vorsorge für das Dasein. Ein Grundbegriff der Staatslehre Hegels und Lorenz v. Steins«, in: Ernst Rudolf Huber: Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Berlin 1975, S. 319–342, hier S. 320f. Horst Matzerath: »›Kommunale Leistungsverwaltung‹. Zu Bedeutung und politischer Funktion des Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Hans Heinrich Blotevogel (Hg.): Kommunale Leistungsverwaltung und Stadtentwicklung vom Vormärz bis zur Weimarer Republik, Köln 1990, S. 3–24. Zur Leistungsverwaltung mährischer Kommunen vgl. Pavel Kladiwa/Andrea Pokludová/Renata Kafková: Lesk a bída obecních samospráv Moravy a Slezska 1850–1914 [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung in Mähren und Schlesien 1850–1914], Bd. 2 Teilbd. 2: Finance a infrastruktura [Finanzen und Infrastruktur], Ostrava 2009. Peter Becker: »Stolpersteine auf dem Weg zum kooperativen Imperium. Bürokratische Praxis, gesellschaftliche Erwartungen und sozialpolitische Strategien«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie. Göttingen 2018, S. 23–53; Monika Senghaas: Die Territorialisierung sozialer Sicherung. Raum, Identität und Sozialpolitik in der Habsburgermonarchie, Wiesbaden 2015, S. 95–98.
Versteht man für Mähren die Leistungsverwaltung als Nationsermöglichung, wird deutlich, warum und dass sich der Zusammenhang von kollektivem Nationsgefühl und Verwaltungsaufgaben in Zeiten der Landesfinanzkrise verstärkte. Die finanzielle Absicherung der Leistungsverwaltung wurde in Zeiten knapper Kassen prekär. Damit geriet jedoch auch das jeweilige nationale Projekt in Gefahr. Der Kampf der mährischen Gemeinden für eine höhere finanzielle Ausstattung spiegelt diese national konnotierten Emotionen beispielhaft wider. Während der cisleithanische Staat über den Reichsrat für zentrale Politikfelder der Leistungsverwaltung wie Fürsorge, Schule und Infrastruktur einen gesetzlichen Rahmen schuf, wurde deren administrative Durchführung von den Kronländern, Bezirken und Gemeinden übernommen. Trotz eines hohen Grads an Politikverflechtung kam den Gemeinden hierbei ein eigener autonomer Handlungsbereich zu. Jiří Klabouch: Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, München 1968; Milan Hlavačka: Zlatý věk české samosprávy. Samospráva a její vliv na hospodářský, sociální a intelektuální rozvoj Čech 1862–1913 [Das goldene Zeitalter der tschechischen Selbstverwaltung. Selbstverwaltung und ihr Einfluss auf die wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Entwicklung Böhmens 1862–1913], Prag 2006. Zu Mähren vgl. nun Pavel Kladiwa/Andrea Pokludová/Renata Kafková: Lesk a bída obecních samospráv Moravy a Slezska 1850–1914 [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung in Mähren und Schlesien 1850–1914], 2 Bde, Ostrava 2007–2009.
Die Gemeinden in den drei böhmischen Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien (und in anderen Kronländern) galten als die administrativen Arenen, in denen Nationalpolitiker eine relativ freie Tätigkeit entfalten konnten und zwar sowohl die Führungsgruppen eines Landes als auch jene der auf Landes- oder Reichsebene minder bevorzugten Volksgruppen. Jiří Maliř: »The Moravian Diet«, S. 105; Lukáš Fasora/Jiří Hanuš/Jiří Maliř (Hg.): Občanské elity a obecní samospráva 1848–1948 [Bürgerliche Eliten und Gemeindeselbstverwaltung 1848–1948], Brno 2006; Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 223–277.
Ein Vortrag des Sekretärs der mährischen Landeshypothekenbank, Stanislav Bublík, zur Sanierung der Gemeindefinanzen, den er 1909 für den mährischen Gemeindebürgermeistertag zur Finanzkrise geschrieben hatte, macht dies aus tschechischer Perspektive deutlich, darin heißt es:
Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908 a 1909« [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], Brno 1909, S. 51.
Die Gemeindeselbstverwaltung als Arena der Nationsermöglichung wird hierbei deutlich angesprochen. Selbstverständlich sicherte die Gemeindeautonomie auf gleiche Weise die Interessen auch der Deutschen in Mähren ab, nicht nur in den vielen gemischtsprachigen Munizipalitäten. Die deutschsprachigen Bürgermeister vieler mährischer Städte nutzten die Spielräume der Gemeindeselbstverwaltung bis ins Letzte aus. Lukáš Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational. Continuity and Discontinuity in Local Politics and the Diet of Moravia 1880–1914«, in: Judit Pál/Vlad Popovici (Hg.): Elites and Politics in Central and Eastern Europe: (1848–1918), Frankfurt am Main 2014, S. 128–144, hier S. 140. Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 274. Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 47.
Eine Analyse des Gemeindehaushalts für die Stadt Brünn aus dem Jahr 1904 zeigt, welche Investitionen größere Industriestädte – Brünn war die sechstgrößte unter den österreichischen Städten und ein bedeutendes Zentrum der Textilindustrie – für die allgemeine Städteentwicklung typischerweise aufbringen mussten. Dazu und zum Folgenden Ferdinand Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, in: Volkswirtschaftliche Wochenschrift 41 (1904), S. 322–325, 340–344, 359–363. Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, S. 341f. Zu Budapest und Wien vgl. Susan Zimmermann: Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. Das »sozialpolitische Laboratorium« der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien 1873–1914, Sigmaringen 1997.
Der weite Handlungsspielraum von Brünn war nicht allein darauf zurückzuführen, dass Brünn eine Stadt mit eigenem Statut war und sich auch fiskalisch große Spielräume geschaffen hatte. Schnitzler, »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«. Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 44–77, hier S. 51. Zur Berechnung des Defizits in Mähren, das zwischen 1903 und 1905 noch Überschüsse erzielt hatte, vgl. die Zusammenstellung in Jana Osterkamp: »›Kooperatives Imperium‹. Loyalitätsgefüge und Reich-Länder-Finanzausgleich in der späten Habsburgermonarchie«, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 592–620, hier S. 605. Paul Grünwald: »Zur Finanzstatistik der autonomen Selbstverwaltung in Österreich«, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 19 (1910), S. 68–119, hier S. 68. Schnitzler: »Der Gemeindehaushalt der Stadt Brünn«, S. 323.
Die Tätigkeit der Gemeinden sollte auch nach Vorstellungen anderer tschechischer Politiker und Rechtspolitiker auf weitere nationalpolitisch bedeutsame Arenen erweitert werden, so der Tenor des ersten tschechischen Juristentags von 1904. Dazu Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 44–77, hier S. 51. Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 140.
Eine wichtige Rolle bei der engen Verzahnung von Gemeinde- und Nationalpolitik spielten der Tschechische Nationalrat und nationale Schutzvereine. Zu Schutzvereinen und Schulwesen vgl. Pieter M. Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge MA 2006; Miloš Horejš: »Die nationalen ›Schutzvereine‹ in Böhmen, Mähren und Schlesien 1900–1938. Mitgliedschaft, finanzielle Einnahmen und Wirkung«, in: Eduard Kubů/Helga Schultz (Hg.): Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten. Die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei in vergleichender Perspektive, Prag 2004, S. 197–220, hier S. 199–202. Jaroslav Kučera: Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938, München 1999, S. 49f. Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908 und 1909], S. 11. Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 140. Vgl. dazu die Beiträge zu mährischen Städten, leider ohne Brünn, in: Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 1; Muži z radnice [Die Männer aus dem Rathaus], Ostrava 2008. Siehe auch Uwe Müller: »Der cisleithanische Industrierat. Wirtschaftliche Interessenvertretung in einem ›kooperativen Imperium‹?«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen 2018, S. 55–74, hier S. 71. Hlavačka: Zlatý věk české samosprávy [Das goldene Zeitalter der tschechischen Selbstverwaltung], S. 30; Schmid: »Finanzreform in Österreich«, S. 32.
Ein sprechendes Beispiel für eine von nationalen Emotionen affizierte Leistungsverwaltung boten Schulwesen und Sozialfürsorge. Nach der Jahrhundertwende startete der Tschechische Nationalrat eine Kampagne »Tschechische Schulen für tschechische Kinder!«, die eine größere Anzahl an tschechischsprachigen Schulen schaffen sollte. Hierbei erreichten die tschechischsprachigen Mährer Erfolge: Im Zeitraum von 1890 bis 1913 waren von 14 neu errichteten Realschulen in Mähren zehn tschechischsprachig, von 13 neu errichteten Gymnasien lediglich zwei deutschsprachig, sodass es in Mähren vor dem Ersten Weltkrieg mehr tschechische als deutsche Schulen gab. Petr Kadlec: Střední školy a jejich studenti. (k formování inteligence na severní Moravě a ve Slezsku ve druhé polovině 19. a na počátku 20. století) [Die Mittelschulen und ihre Absolventen (zur Ausbildung der Intelligenz in Nordmähren und Schlesien in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts)], Ostrava 2013, S. 104. Kadlec: Střední školy a jejich studenti [Die Mittelschulen und ihre Absolventen], S. 188–196. Michael L. Miller: Rabbis and Revolution. The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011, S. 336; zu jüdischen Kindern in deutschsprachigen Schulen instruktiv zu den Debatten um Zugehörigkeit Judson: Guardians of the Nation, S. 48–52.
Die Kampagne des Tschechischen Nationalrats richtete sich damit nicht nur gegen die bisherige Bevorzugung des Deutschen als Schulsprache, sondern auch gegen den von den tschechischen Nationalpolitikern als »nationalen Indifferentismus« wahrgenommenen, in der böhmischen Gesellschaft üblichen Bilingualismus. Zahra: Kidnapped Souls, S. 19–23. Fasora: »Deutschliberal und Deutschnational«, S. 135f. Hannelore Burger: Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, Wien 1995, S. 25–31. Zu Václav Perek und Lex Perek nun ausführlich Pavel Marek: Setkání. Osobnost v politickém veřejném životě na přelomu 19. a 20. století [Zusammentreffen. Die Persönlichkeit im politischen öffentlichen Leben an der Schwelle des 19. und 20. Jahrhunderts], Olomouc 2010, S. 48–68. Gerald Stourzh: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs, 1848–1918, Wien 1985, S. 216; Zahra: Kidnapped Souls, S. 33.
Zur zunehmenden nationalen Segregation im Schulwesen trat die nationale Trennung anderer Felder der Leistungsverwaltung. Dies betraf etwa das Fürsorgesystem für Kinder wie Kindergärten oder Waisenhäuser. Zahra: Kidnapped Souls, S. 65–78. Pavel Cibulka: Německé politické strany na Moravě 1890 –1918. Ideje, programy, osobnosti [Deutsche politische Parteien in Mähren 1890–1918], Prag 2012, S. 353. William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 129.
Der Konflikt und der Überbietungswettbewerb zwischen den mährischen Nationalitäten in der Gemeinde- und Landesverwaltung weckten und wecken das Interesse vieler Historikerinnen und Historiker. Die Handlungsräume der mährischen Landespolitiker erstreckten sich jedoch nicht nur auf die Landes- und Kommunalebene, sondern bezogen sich auf das mehrstufige politische System der Habsburgermonarchie insgesamt. Wichtige Arenen der Landespolitik bildeten der Landtag und dessen geschäftsführendes Organ, der Landesausschuss. Beide waren Institutionen der Länderselbstbestimmung, anders als die Statthaltereien, die als Organ des cisleithanischen Staats in der berühmten »Doppelgleisigkeit« der Verwaltung ebenfalls die Geschicke des Lands bestimmten. Viele Landespolitiker waren zudem nicht nur Abgeordnete im Landtag, sondern auch im Wiener Reichsrat. Ein institutioneller Aushandlungsort ausschließlich für die Interessen der Länder fehlte allerdings auf cisleithanischer Ebene, der Reichsrat erfüllte diese Funktion nur bedingt. Im Jahr 1905 regte das Land Mähren für Cisleithanien gemeinsame Länderkonferenzen an und hatte damit einigen Erfolg. Diese gemeinschaftlichen Aktionen mährischer Landespolitiker auf Reichsebene wurden zu ihrem Verhalten auf Landesebene selten in Beziehung gesetzt. Auch wenn in Mähren die nationalpolitischen Gräben und Trennlinien scharf gezogen wurden, fanden mährische Repräsentanten in der Kooperation über parteipolitische und nationale Grenzen auf Reichsebene zusammen.
Ziel der mährischen Initiative für gemeinsame Länderkonferenzen war es, ein neues Länderfinanzsystem zu erarbeiten. Mit dem Wechsel auf eine andere politische Ebene wechselten auch die politische Argumentation und die politisch artikulierten Emotionen. Die Initiative Mährens für einen neuartigen Länderfinanzausgleich wurde vom landeseigenen Nationalitätenkonflikt und den damit einhergehenden nationalpolitischen Emotionen angestoßen und forciert, im Dialog mit Vertretern anderer Länder aber in die Rhetorik einer gemeinsamen Solidarität überführt und versachlicht. An den von Mähren initiierten Zusammenkünften im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse nahmen Vertreter der Landesausschüsse aus fast allen nicht-ungarischen Kronländern teil, sie diskutierten gemeinsame Grundsätze über die Sanierung der Länderfinanzen und erzielten schließlich mit der Rückendeckung des Abgeordnetenhauses einen Kompromiss mit der Regierung, die nach mehrjährigem zähen Ringen einem neuen Reichs-Länder-Finanzausgleich zustimmte. Hans Peter Hye: »Strukturen und Probleme der Landeshaushalte«, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/2: Verfassung und Parlamentarismus. Die regionalen Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, S. 1545–1592; Osterkamp: »›Kooperatives Imperium‹«, S. 592–620. Vorschlag der Vertreter des salzburgischen Landesausschusses betreffend die Schaffung eines Ländervorschussfonds. In: MZA ZV K. 2772 Konference sanace 1905, fol. 303–311. Stenografisches Protokoll über die am 16., 17. und 18. Februar 1905 im niederösterreichischen Landhause zu Wien abgehaltene Konferenz der Landesausschüsse der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder betreffend die Regelung der Landesfinanzen, Wien 1905, S. 72.
Die im Landesinneren hoch schlagenden Emotionen in Hinblick auf nationalpolitische Projekte wurden mit Blick auf die Reichsebene pluralisiert und damit versachlicht. Bublík, der die Gemeinden als »antigermanisches« Projekt national überhöht hatte, räumte in einer anderen Rolle – als tschechischnationaler Vertreter in der Landeshypothekenbank – in Hinblick auf eine Neuverteilung der öffentlichen Lasten auf Staat, Land und Kommunen ein: »Aus taktischen Gründen ist es sinnvoll, dass die Forderungen der Gemeinden ohne Rücksicht auf die Nationalität so weit als möglich übereinstimmten.« Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908–1909], S. 44–77, hier S. 62. Heinrich Oberleithner: Bericht über die Verhandlung des mährischen Landesausschusses über die Sanierung der Landesfinanzen am 31. 5. 1910, in: MZA ZV K. K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí«, o. fol.
Die Gründe für das zu lösende Problem, die hohe Länderverschuldung, waren nicht nur in der Nationalisierung und parteipolitischen Durchdringung der Landesadministration zu suchen, sie waren ebenso strukturell bedingt. Nach einhelliger Auffassung von Finanzexperten der Habsburgermonarchie bestand ein Missverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Umfang der Landesverwaltungsaufgaben und einer nur unzureichenden finanziellen Ausstattung. Die Staatsgrundgesetze von 1867 für die nicht-ungarischen Kronländer, die im Zuge des Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs erlassen wurden, wiesen die Verwaltungsdurchführung und die Verwaltungskosten für Polizei, Gesundheitswesen, Humanitätsanstalten, Armenpflege, Landwirtschaft und Volksschulwesen den Ländern und Gemeinden zu. Wichtige legislative Regelungskompetenzen lagen jedoch nach wie vor beim cisleithanischen Staat. Ein Beispiel für ein solches »Rahmengesetz« ist das Reichsvolksschulgesetz. Peter Urbanitsch: »Das Schulwesen in Cisleithanien. Element eines kooperativen Imperiums?«, in: Jana Osterkamp (Hg.): Kooperatives Imperium. Politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie, Göttingen 2018, S. 95–116, hier S. 98. Stefan Korioth: Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, S. 309–324; Albert Hensel: Finanzausgleich im Bundesstaat, Berlin 1922, S. 127; Hans Stumpp: Die Entwicklung des Finanzausgleichs in Deutschland von 1871 bis zur Gegenwart, Würzburg 1965, S. 23.
Die Finanzordnung für die Länder in der Habsburgermonarchie beruhte noch weitgehend auf dem sog. Zuschlagssystem. Ihre fiskalische Haupteinnahmequelle waren Zuschläge auf bestimmte staatliche Steuern und die Landesbesteuerung von bestimmten Verbrauchs- und Genussgütern, insbesondere von Bier, Branntwein oder Spiritus. Das Zuschlagssystem entstammte einer Zeit, in der der Tätigkeitskreis von Land und Gemeinden noch weitaus schmaler gewesen war. Mit der Zunahme der Leistungsverwaltung wurde es veraltet, bedrohte die Kommunen mit einem »wirtschaftlichen Bankrott« Vortrag des Sekretärs der Mährischen Landeshypothekenbank, St. Bublík, abgedruckt in: Vyroční zpráva »Ústředí starostenských sborů na Moravě« za rok 1908–1909 [Jahresbericht des »Zentrums der Bürgermeistervereinigung in Mähren« für das Jahr 1908–1909], S. 44–77, hier S. 53; nach einzelnen mährischen Städten differenzierend Kladiwa/Pokludová/Kafková: Lesk a bída obecních samospráv [Glanz und Elend der Gemeindeselbstverwaltung], Bd. 2, S. 275. Friedrich Kleinwächter: »Die österreichische Enquete über die Landesfinanzen (März 1908)«, S. 46; Stumpp: Die Entwicklung des Finanzausgleichs, S. 37. Albert Bervid: Zemské finance Markrabství moravského [Die Landesfinanzen der Markgrafschaft Mähren], Brno 1901.
Den ersten Versuch zu einer systematischen Finanzreform und einer Modifikation des Zuschlagssystems unternahm die Wiener Regierung im Jahr 1898. Die Kronländer in Österreich verzichteten dabei auf ihr Recht, auf die neu eingeführte Personeneinkommenssteuer sowie auf den Branntweinkonsum Zuschläge zu erheben und erhielten im Gegenzug eine feste Quote an den Einnahmen. Pammer: »Public Finance in Austria-Hungary, 1820–1913«, S. 146f. Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol. László Katus: Hungary in the Dual Monarchy 1867–1914, New York 2008, S. 38–42.
Die von Mähren initiierten Länderkonferenzen strebten die langfristige und nicht wie bisher nur vorläufige Sanierung der Landesfinanzen an. Die teilnehmenden Vertreter der Landesausschüsse traten erstmals 1905 zusammen. Obwohl das k. k. Finanzministerium gleich zu Beginn eine eigene neue Abteilung für die Reform der Länderfinanzen zusagte, stagnierten die Verhandlungen in der Folge. Erst im Jahr 1907, nach der Intervention von Niederösterreich und Schlesien, nahmen sie wieder an Fahrt auf. In seiner Thronrede vor dem neugewählten Abgeordnetenhaus kündigte der Kaiser den Ländern 1907 an, nachdem alle Kronländer ihren Abgeordneten eine untereinander abgesprochene Resolution ausgehändigt hatten, alsbald einen Weg aus der Länderfinanzkrise zu ebnen. Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten, Sign. Regierungsarchiv, Präsidium des Landesausschusses, Reg. I/10, Stammzahl 1138/1907, Sanierung der Landesfinanzen, Beschluss der Ländervertreter. Abgeordnetenhaus (Hg.), Stenografisches Protokoll, 18. Session, 3. Sitzung vom 25. 6. 1907, S. 62f., 4. Sitzung, S. 119–136 u. 5. Sitzung, S. 275–281. Walter Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, S. 177.
Um die Schule tobte seit dem Reichsvolksschulgesetz von 1869 ein konfessioneller Kulturkampf zwischen österreichischen Liberalen und Klerikalen um einen laizistisch-aufgeklärten, staatlich getragenen oder einen katholischen Werten verschriebenen, kirchlich organisierten Unterricht. Mit dem Ausbau der muttersprachlichen Volksschule kam die nationale Auseinandersetzung hinzu, die in Mähren um die Gleichberechtigung des Tschechischen und des Deutschen als Schulsprache kreiste. Überblick bei Gustav Strakosch-Grassmann: Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens, Wien 1905; Gary Cohen: Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, West Lafayette 1996. Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o.fol. Die Note des niederösterreichischen Landesausschusses vom 10. 4. 1908 an den Landesausschuss Oberösterreich und Mähren. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol. John W. Boyer: Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897–1918, Chicago 1995, S. 54. Bericht des mährischen Landesausschusses über die Regelung der Länderfinanzen vom 4. 7. 1908, Drs. 503/II. In: MZA ZV K. 2639 Sign. M 1 »Sanování zemských financí« o. fol.
Als das Bündnis aller Kronländer in der Folge zu bröckeln begann, wurde auch der Zusammenhalt hinter den Kulissen des mährischen Landesausschuss vorübergehend schwächer. Nach dem vorläufigen Scheitern eines neuen Länderfinanzausgleichs suchte man in Mähren nach Behelfs- und Notlösungen. In einer Aussprache über die Finanzkrise Mährens blieb der Deutschliberale Heinrich D’Elvert skeptisch, ob man ein konzertiertes Vorgehen aller mährischen Landespolitiker gegenüber Wien erreichen könne, solange die Verhältnisse zwischen beiden Nationen im Landtag und Landesausschuss angespannt seien. Andere wie Adolf Stránský, eine politische Führungsfigur der tschechischen Mährischen Volkspartei (Moravská strana lidová), mahnten an, zur Verbesserung der Finanzen müssten alle zusammenwirken, die deutsche Minderheit, aber auch die tschechische Mehrheit, die ja ebenfalls unter sich zerstritten sei. Seit der Ethnisierung der Politik durch den Mährischen Ausgleich hatten gegenüber den nationalen Trennlinien die parteipolitische Diferenzierung an Gewicht gewonnen, vgl. Maliř: »The Moravian Diet«, S. 111.
Trotz dieses Geheimkredits zog sich Mähren nicht aus den Debatten über einen neuen Länderfinanzausgleich zurück. Allerdings war die eigentliche Initiative nun auf das k. k. Finanzministerium übergegangen, das in seiner Gesetzesvorlage an den Reichsrat schließlich allgemeine, nicht an einen bestimmten Zweck gebundene Überweisungen vorschlug. Diese Lösung gewährte den Kronländern kurzfristig eine größere Freiheit, wofür sie diese Mittel aufwendeten, konnte jedoch langfristig keine dynamische Anpassung der Überweisungen an die dynamisch steigenden Schulpersonalkosten gewährleisten. Ihren Abschluss fanden die Verhandlungen zwischen Ländern und cisleithanischem Staat mit einem Gesetz von 1914, das die Länderquoten am Aufkommen der Bier-, Branntwein- und Personaleinkommenssteuer erheblich aufstockte. Gesetz RGBl. Nr. 14/1914 über die Neuregelung der Überweisungen aus Staatsmitteln an die Landesfonds der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder und die Herabsetzung des Ausmaßes der Realsteuern.
Die Fallstudie zur mährischen Landesverwaltung, Landesfinanzkrise und dem von Mähren initiierten Kompromiss eines neuen Reichs-Länder-Finanzausgleichs zeigt den Wandel im Gefühlshaushalt von Repräsentanten der Landesverwaltung, je nachdem, in welcher Rolle und auf welcher politischen Ebene sie handelten. Emotional aufgeladene, beziehungsweise emotional inszenierte Rollen wechselten, je nachdem, ob der Zusammenhang von nationalpolitischer Leistungsverwaltung und den dafür unerlässlichen Finanzgrundlagen innerhalb einer nationalen Volksgruppe, innerhalb Mährens, gegenüber der königlich-kaiserlichen Regierung oder gegenüber den anderen Kronländern Österreichs angesprochen wurde.
Die sprunghafte Zunahme der Leistungsverwaltung – auch als ein Projekt der nationalen Selbstverwirklichung – auf kommunaler und Landesebene nahm der mährische Landesausschuss zum Anlass, mit Vertretern aus den Landesausschüssen aller anderen Kronländer Cisleithaniens über einen Finanzausgleich zu beraten. Diese Verhandlungen gingen über nationale Eigeninteressen hinaus, in ihnen klingt verschiedentlich ein Einstehenwollen der Ländergemeinschaft untereinander an. Diese vielfältigen Bezüge lassen sich als mehrstufige Loyalität beschreiben.
Den komplexen Zusammenhang von Leistungsverwaltung und mehrstufigen Loyalitäten zeigt das Beispiel der Schulverwaltung. In den Kronländern Böhmen, Schlesien, Mähren und Niederösterreich gehörte das Schulwesen zu den Prestigeprojekten der Landesverwaltung und war emotional heiß umkämpft. Nationale, beziehungsweise konfessionell-weltanschauliche Loyalitäten standen in einer unüberbrückbar scheinenden Konkurrenz zueinander und wurden in einer konfrontativen Rhetorik des Kulturkampfes ausgetragen. In den böhmischen Ländern waren die Ausstattung von Schulen, die Curricula, das Schulgeld und die Lehrerbesoldung eng mit nationalpolitischen Gefühlen und Agenden verbunden: » Cohen: Education and middle-class society, S. 241; Ernst Bruckmüller: Patriotic and National Myths, S. 18–20, S. 22; Peter Urbanitsch: »Das Schulwesen in Cisleithanien – Element eines kooperativen Imperiums?«, S. 112. Boyer: Culture and Political Crisis in Vienna, S. 46–54.
In den Verhandlungen der Ländervertreter über die Sanierung der Landesfinanzen traten diese nationalen und konfessionell-weltanschaulichen Loyalitäten argumentativ zunächst hinter die auf das jeweilige Land und die Ländergemeinschaft bezogenen Loyalitäten zurück. Die konfrontative Konkurrenz, die die Landespolitiker zu Hause pflegten, machte hierbei einer Bereitschaft zur Kooperation Platz, die von der Hoffnung auf staatliche Zuschüsse und eine langfristige Lösung für die Landesverschuldung genährt wurde.
Die »heißen« Emotionen des Kulturkampfes um das Bildungswesen wurden auf der gemeinsamen Ebene aller Länder und des Reichs in den Verhandlungen zunächst argumentativ versachlicht. In der Sache scheiterte der zunächst vom Finanzministerium vorgeschlagene Kompromiss über einen neuen Reich-Länder-Finanzausgleich gleichwohl auch an der emotionalen Aufladung dieses Politikfeldes. Die vom Ministerium vorgeschlagene Finanz- und Steuerreform, die Zweckdotationen für das Schulwesen vorsah, nahm auf diese national-, sozial-, partei- und konfessionspolitischen Emotionen inhaltlich Rücksicht, konnte sie jedoch letztlich nicht zum Ausgleich bringen. Die Furcht in Ländern wie Niederösterreich, einmal errungene Gestaltungsspielräume im Schulwesen zu verlieren, weil die königlich-kaiserliche Regierung über die Finanzströme indirekten Einfluss darauf nehmen könne, erwies sich als unüberwindlich. Die legislative Umsetzung einer alternativen Lösung nahm nochmals einige Jahre in Anspruch. Während dieser Zeit blieb die finanzielle Lage vieler Länder wie Mähren prekär, sodass nur Einzelmaßnahmen, wie der Geheimkredit von 1910, Abhilfe schufen. Weder die Ablehnung des Reformkompromisses durch Niederösterreich, noch fiskalische Geheimabsprachen zwischen der Regierung und einzelnen Ländern stellten jedoch den Zusammenhalt in der Ländergemeinschaft grundsätzlich infrage. Die Länder zeigten sich weiterhin an einer allgemeinen Lösung interessiert und einigten sich auf ein Finanzausgleichsmodell der allgemeinen Überweisungen an die Länder. In der damaligen Finanzliteratur wurde dieser schließlich Gesetz gewordene Kompromiss nicht ohne Übertreibung als geeignet erachtet, »hierdurch den Staatsgedanken, das Solidaritätsbewusstsein zwischen reichen und armen Kronländern zu fördern«. Loewenfeld: »Die Finanzen der Österreichischen Kronländer«, S. 180.