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Bürgeremotionen versus Verwaltungsrationalität?

   | 31. Dez. 2018

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Einleitung: Emotionale Politik?

»Solange politische Kommunikation Grundfragen unseres Zusammenlebens verhandelt und zur Entscheidung bringt, erzeugt sie in demokratischen, auf Bürgerpartizipation beruhenden Gesellschaften starke Gefühle: Gefühle der Zugehörigkeit und des Ausgeschlossen-Seins, Gefühle des Neides, des Zorns und des Ressentiments, Gefühle des Stolzes, der Solidarität und der Empathie. Solche und andere Gefühle sind eine wichtige Ressource für unsere Demokratie: Sie verbürgen die Lebendigkeit des Politischen, kanalisieren Interesse und Aufmerksamkeit, sichern moralische Vorstellungen und Urteile.«

Ute Frevert: »Politische Bildung – mit Gefühl?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018), Nr. 13/14, S. 18–24, hier S. 23.

Mit diesen Worten unterstreicht Ute Frevert jüngst noch einmal, dass Politik nicht ohne Emotionen funktioniert. Die Emotionsforschung hat gezeigt, dass politische Entscheidungen »auf die eine oder andere Weise emotional durch Rahmungen aller Art« mitbestimmt werden.

Gary S. Schaal / Felix Heidenreich: »Politik der Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), Nr. 32/33, S. 3–11, hier S. 8. Siehe weiter Christian Koller: »Soziale Bewegungen, Soziale Bewegungen. Emotion und Solidarität«, in: Heike Stadtland / Jürgen Mittag (Hg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft, Essen 2014, S. 403–422; Birgit Aschmann: Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung, in: Birgit Aschmann (Hg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 9–32.

Gefühle werden konstruiert und instrumentalisiert, es lassen sich unterschiedliche Emotionalisierungsstrategien ausmachen. Die konstruierte Dichotomie zwischen Ratio und Emotionen büßt somit ihre strukturierende Kraft ein. Gleichwohl ist das Zeigen von Gefühlen in der Politik zwar in unterschiedlicher Art und Intensität allgegenwärtig, aber nicht unumstritten und häufig mit Zuschreibungen belegt. Es lassen sich in politischen Diskussionen und Aushandlungsprozessen vielfach wertende Einordnung hinsichtlich eines rationalen oder emotionalen Verhaltens finden, die der Aufwertung des eigenen und der Abwertung des anderen Handelns dienen. Insbesondere ein bewusst erzeugter Gegensatz von Gefühlen und Rationalität scheint geeignet zu sein, eine zugeschriebene emotionale Neutralität des Staates und seiner Repräsentanten zu unterstreichen. Protest- und Bürgerinitiativen sind wiederum – anders als staatliche Entscheidungsträger und Institutionen – darauf angewiesen, kreativ zu handeln und stärker an Emotionen zu appellieren, um ihre Anhänger stets neu zu motivieren, wie exemplarisch am neuen Aushandlungsprozess zwischen verfasster Politik und bürgerschaftlichen Initiativen in den frühen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik dargelegt werden soll.

In dieser Zeit unterstützten zwischen drei und zwölf Prozent aller Bundesbürger und -bürgerinnen Protest- und Bürgerinitiativen.

Dieter Rucht: Planung und Partizipation. Bürgerinitiativen als Reaktion und Herausforderung politisch-administrativer Planung, München 1982, S. 209–227 (Bezugsjahr 1973); vgl. auch Peter Cornelius Mayer-Tasch: Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts- und politikwissenschaftliches Problem, 5. Aufl., Reinbeck 1985 [Erstdruck 1976], S. 10. Siehe aber zum Beispiel niedrigere Zahlen bei Roland Roth: »Das Ende des politischen Biedermeier? Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik«, in: Volkhard Brandes / Joachim Hirsch / Roland Roth (Hg.): Leben in der Bundesrepublik. Die alltägliche Krise, Berlin 1980, S. 203–235, hier S. 211. Einen Vergleich verschiedener zeitgenössischer empirischer Untersuchungen zwischen 1972 bis 1976 liefert Udo Kempf: »Bürgerinitiativen. Der empirische Befund«, in: Bernd Guggenberger / Udo Kempf (Hg.): Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1978, S. 358–374.

In den folgenden Jahren lässt sich eine zunehmende Tendenz konstatieren.

Vgl. Udo Bermbach: »Bürgerinitiativen gegen den Parteienstaat?«, iin: Guggenberger / Kempf: Bürgerinitiativen, S. 92–111, hier S. 92. Siehe ferner Roland Roth: »Lokale Demokratie ›von unten‹. Bürgerinitiativen, städtischer Protest, Bürgerbewegungen und neue soziale Bewegungen in der Kommunalpolitik«, in: Hellmut Wollmann / Roland Roth (Hg.): Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden, Bonn 1999, S. 2–22, hier S. 6–9.

Insbesondere Angehörige der sogenannten Mittelschicht meldeten sich immer häufiger beunruhigt, empört oder wütend in Bürgerinitiativen im öffentlichen Raum zu Wort, um auf empfundene Missstände aufmerksam zu machen. Sie kritisierten politische Entscheidungen und Maßnahmen oder auch die Tatenlosigkeit der politischen und administrativen Repräsentanten des Staates.

Vgl. Roland Roth / Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt Main 2008; Adelheid von Saldern: »Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas«, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 3–60, hier S. 15–17.

Zunächst bildeten vor allem die größeren Städte den sichtbaren Aktionsraum dieser Initiativen. Größere Teile der Bevölkerung waren nun auch immer häufiger bereit, das politische Gehör leidenschaftlich einzufordern und bedienten sich dabei neuer, unkonventioneller Protestformen. Der nachdrückliche Wunsch nach erweiterten Teilhabemöglichkeiten bestimmte bald das gesellschaftliche Klima.

Vgl. Margit Mayer: »Städtische soziale Bewegungen«, in: Roth / Rucht: Die sozialen Bewegungen, S. 293–318; ferner Oscar W. Gabriel: »Von der Ein-Punkt-Aktion zur sozialen Bewegung? Bürgerinitiativen in der Kommunalpolitik«, in: Oskar W. Gabriel: (Hg.): Bürgerbeteiligung und kommunale Demokratie, München 1983, S. 271–304.

Ein beträchtlicher Teil des politischen Establishments zeigte sich jedoch zu dieser Zeit skeptisch bis kritisch gegenüber diesen basisdemokratischen Mitsprachemöglichkeiten. Prosperitätserwartungen und Fortschrittsoptimismus waren vielmehr mit einer Planungs- und Expertengläubigkeit verbunden, die in engem Zusammenhang mit einer Verwissenschaftlichung von Politik und Verwaltung stand. Sachverständigengremien und -voten kam angesichts der gestiegenen Komplexität der Folgenabschätzung von technischen Innovationen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine besondere Bedeutung in der politischen Entscheidungsfindung zu.

Vgl. Stefan Grüner / Sabine Mecking (Hg.): Wirtschaftsräume und Lebenschancen. Wahrnehmung und Steuerung von sozialökonomischem Wandel in Deutschland 1945–2000, Berlin/Boston 2017; Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, 2. Aufl., Paderborn 2005; Jörg Requate / Heinz–Gerhard Haupt (Hg.): Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Göttingen 2004; Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, 2. Aufl., Hamburg 2003.

In diesem Beitrag steht das Aufeinanderprallen von staatlicher Planungseuphorie und bürgerschaftlichen Protesten im Zuge der großen Verwaltungsreformen der 1960er- und 1970er-Jahre im Mittelpunkt.

Der Beitrag beruht auf der Studie Sabine Mecking: Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000, München 2012; und den daran anknüpfenden Veröffentlichungen, zuletzt Sabine Mecking: »State – Municipality – Citizen. Rational Territorial Reform against Emotional Will of the Citizenry in West Germany?«, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 42/2 (2017), S. 295–317.

Es handelt sich sowohl bei der Unterstützung der Reformen als und auch bei der Kritik an diesen um hochkomplexe emotionale Prozesse, die sich in der Argumentation und den Handlungen der Akteure widerspiegelten.

Siehe hierzu allgemein Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, bes. S. 328–332; siehe weiter Birgit Aschmann: »Heterogene Gefühle. Beiträge zur Geschichte der Emotionen«, in: Neue Politische Literatur 61 (2016), S. 225–249; Bettina Hitzer: »Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen«, in: H–Soz–Kult 23. 11. 2011, <http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte–1221> (16. 4. 2018); Nina Verheyen: »Geschichte der Gefühle, Version: 1.0«, in: Docupedia– Zeitgeschichte, 18. 6. 2010 <http://docupedia.de/zg/Geschichte_der_Gef%C3%BChle> (16. 4. 2018); Barbara H. Rosenwein: Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions and Context 1 (2010), S. 1–32, <http://www.passionsincontext.de/uploads/media/01_Rosenwein.pdf> (16. 4. 2018); Daniela Saxer: »Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte«, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 14/2 (2007), S. 15–29.

Die mit der Auseinandersetzung einhergehenden Emotionen werden auf verschiedenen Ebenen analysiert: als Strategie der Bürgerinitiativen, als mediale Strategie, als Faktor des gemeinschaftlichen Engagements beziehungsweise der emotional community

Vgl. hierzu Barbara H. Rosenwein: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006.

und als Zuschreibung. Hierfür sind die zeitgenössischen Vorstellungen und Deutungen eines rationalen und emotionalen Verhaltens in der politischen Diskussion darzulegen. Das Aufzeigen der pragmatischen Interessen der Befürworter und Kritiker der Reform tritt demgegenüber zurück. Es geht auch weniger um das individuelle emotionale Erleben einzelner Akteure, sondern um kollektiv gezeigte Emotionen und deren gesellschaftliche Rahmung im Sinne politischer Interpretationen und Bewertungen.

Siehe auch Hilde Haider: »Emotionen als Steuerungselemente menschlichen Handelns«, in: Aschmann: Gefühl und Kalkül, S. 33–47; Monique Scheer: »Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion«, in: History and Theory 51 (2012), S. 193–220.

Im Folgenden sollen zunächst prominente Repräsentanten der Bundespolitik zu Wort kommen, um einen Einblick in die zeitgenössische Beurteilung der Funktion und Bedeutung von Bürgerinitiativen zu erhalten. Anschließend wird der neue, nicht selten stark emotionsbasierte Aushandlungsprozess zwischen den verfassten Entscheidungsträgern und der mobilisierten Bürgerschaft konkret am Beispiel der kommunalen Neugliederung erörtert. Der Blick richtet sich dabei auf die »verplante« Bevölkerung, auf die berichtenden Medien und auf die reformverantwortende Landespolitik und Ministerialbürokratie. Vor dem Hintergrund der Gebiets- und Funktionalreformen werden sowohl Abwehr- und Einhegungsbemühungen seitens der verfassten Politik, Verwaltung und Gesellschaft analysiert als auch die Deutungen der im politischen Diskurs öffentlich gezeigten Gefühle.

Konstruktive »mündige Bürger« oder egoistische Ein-Punkt-Initiativen?

Seit den ausgehenden 1960er-Jahren wurden Autorität und hierarchische Entscheidungsfindungen zunehmend begründungspflichtig.

Vgl. Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002.

Entsprechend stellte Bundeskanzler Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung heraus: »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Er forderte damit den politischen Bürger und nicht den überkommenen »Bourgeois«.

Erstes Zitat: Bundeskanzler Willy Brandt, Regierungserklärung vom 28. 10. 1969, abgedruckt in: Die großen Regierungserklärungen der deutschen Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt, eingeleitet und kommentiert von Klaus von Beyme, München 1979, S. 252; zweites Zitat: Bundeskanzler Willy Brandt, Regierungserklärung vom 18. 1. 1973, abgedruckt in: ebd., S. 283–312, hier S. 310f.

Auch Bundespräsident Gustav Heinemann folgte diesem Kurs und sprach Anfang der 1970er-Jahre vom »mündigen Bürger«, der mitbestimmen und mithandeln wolle. Die mit »wachem Bürgersinn« und neuer »Bürgermündigkeit« einhergehenden Bürgerinitiativen betrachtete man in diesem Sinne als Ausdruck einer lebendigen Demokratie. Für Heinemann gehörte es »zum guten Ton zeitgemäßer Politik«, dass »Planungen, die andere angehen, nicht über sie hinweg« betrieben würden. Keine Planungsstelle dürfe »verärgert sein, wenn Bürger unbequem werden mit der Forderung, dass sie gehört sein wollen«.

Gustav W. Heinemann: Der mündige Bürger in Staat und Gesellschaft. Rede in der Akademie der Wissenschaften in München vom 11. 2. 1973, in: Gustav W. Heinemann: Reden und Interviews (VI), 1. Juli 1972–30. Juni 1973, hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn 1973, S. 106–114, Zitate S. 106, 110f.

Doch werteten die einen das unmittelbare politische Bürgerengagement als ein Zeichen von Demokratisierung, sahen andere wiederum wichtige Grundlagen des Zusammenlebens gefährdet.

Siehe weiter Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), Themenschwerpunkt »Bürgerproteste in der Geschichte«; Geschichte im Westen 22 (2007), Themenschwerpunkt »Protest und Gewalt in der Region«.

Wie ambivalent die Relevanz von Bürgerinitiativen beurteilt werden konnte, zeigen die Aussagen hochrangiger Politiker und Repräsentanten des Staates. Auf der Mitgliederversammlung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes am 27. Oktober 1977 in Bonn-Bad Godesberg erläuterte Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Sicht zur Rolle der Bürgerinitiativen:

Helmut Schmidt: »Mitbestimmung des Bürgers als Garant freiheitlicher Ordnung«, in: Städte- und Gemeindebund 32/1 (1977), S. 348–355, die nachfolgenden Zitate S. 349, 352; »Presseecho zur 3. Mitgliederversammlung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes vom 27. 10. 1977 in Bonn-Bad Godesberg, zusammengestellt von Walther Keim«, in: Städte- und Gemeindebund 32/1 (1977), S. 372–374, hier S. 373. Helmut Schmidt war das Ausbalancieren von kommunalen und Landesinteressen aus seiner Tätigkeit als Hamburger Innensenator noch sehr präsent.

Er bewertete es als Missstand, dass staatliche Stellen das Gespräch und die Auseinandersetzung mit diesen Bürgergruppen mieden. Um sich Gehör zu verschaffen, seien Bürgerinitiativen zu häufig auf den Klageweg angewiesen. Mit diesem Abschieben an die Gerichte werde die Exekutive der Stellung der Bürgerinitiativen als Gesprächspartner nicht gerecht. Doch obwohl Schmidt die Gruppen und Initiativen auch »im Grunde [als] etwas Positives« bewertete, so konnte dennoch in seinem Statement eine große Skepsis ihnen gegenüber nicht überhört werden: »Da regen sich Menschen, sind in Bewegung und wollen etwas, und das ist ein Punkt, wo man mit ihnen reden kann. Sie haben ja auch manchmal recht. Manchmal sind ja die amtlichen Pläne verfehlt.« Bürgerinitiativen böten einen guten »Ansatzpunkt« für den Austausch mit den Menschen und zur Abwägung der »Güter, der privaten Interessen auf der einen und der öffentlichen Interessen, des öffentlichen Wohls auf der anderen Seite«. Hob der Bundeskanzler dabei zwar die Bedeutung von Bürgerinitiativen als eine von mehreren Hilfen im Prozess der Entscheidungsfindung und als Korrektiv für staatliches Handeln hervor, so lassen Wörter wie »im Grunde«, »manchmal« oder »Ansatzpunkt« aber auf Unsicherheit und Vorbehalte beziehungsweise sogar Ablehnung gegenüber diesen Gruppen und Initiativen schließen.

Deutlich zu erkennen ist, dass das in den freien Initiativen gezeigte bürgerschaftliche Engagement im Vergleich zu den vermeintlich rationalen, verfahrensgeregelten Partizipationsmöglichkeiten keinesfalls als gleichwertige oder gar präferierte Form der Entscheidungsfindung betrachtet wurde. Dass letztlich doch der gewählte Politiker am besten die Interessen der Bevölkerung vertreten könne, da dieser im Gegensatz zu den Bürgerinitiativen mit ihren speziellen Interessen und emotional geprägten Anliegen das Gesamte im Blick habe, wird aus den weiteren, bisweilen paternalistisch anmutenden Erläuterungen Schmidts deutlich: »Es ist auch ganz gut, wenn bei dieser Gelegenheit von uns, den Politikern, auch den Kommunalpolitikern, den Bürgern gezeigt wird, was an ihrer Initiative wirklicher Bürgersinn ist und was […] nur Berufsprotestlertum ist«. So sei in den Initiativen auch immer wieder »verkappte parteiliche Tätigkeit« anzutreffen, die sich lediglich als Initiative der Bürger ausgebe, da sie »unter ihrem wirklichen Namen […] keine Resonanz finden würde«.

Schmidt: »Mitbestimmung«, S. 352.

Dass dieses Misstrauen beziehungsweise die Ablehnung der Bürgerinitiativen keine isolierte Meinungsäußerung war, sondern ein allgemein verbreitetes Stimmungsbild innerhalb der etablierten Politik und Verwaltung widerspiegelte, belegen auch die Ausführungen von Politikern und Funktionsträgern anderer Couleur. Auf derselben Versammlung, auf der der Bundeskanzler 1977 gesprochen hatte, erläuterte auch Helmut Kohl als Oppositionsführer und Bundesvorsitzender der CDU vor den Mitgliedern des Deutschen Städte- und Gemeindebundes seine Einschätzung zur Bedeutung der Bürgerinitiativen: Wo Helmut Schmidt jedoch gemahnt hatte, stets Gemeinwohl vor Eigeninteressen zu stellen, gestand Helmut Kohl den Bürgerinitiativen von vornherein nur eine sehr »eingeschränkte Verantwortung« zu, da sie – so seine Erfahrung – persönliche Interessen mit allgemeinen Interessen gleichsetzten oder diesen sogar überordneten. Kohl attestierte einem unmittelbar artikulierten Bürgerwillen daher auch keine besondere Legitimität oder Bindekraft. Der Anspruch, als Initiative direkten Bürgerwillen zu repräsentieren, bedeute »nicht automatisch, die Moral für alle Anliegen auf seiner Seite zu haben«. Bei der Suche nach den Ursachen für die zunehmende Attraktivität von Bürgerinitiativen (gemessen an ihrer wachsenden Zahl) schien jedoch auch er Verständnis für diese aufzubringen, indem er fragte, ob es sich um eine Reaktion der Bevölkerung auf mehr Bürokratisierung und Zentralisierung handele. Diese »Entwicklung des nicht Durchschaubaren, die im Computerzeitalter gar nicht vermeidbar« sei, lasse »die Bürger immer reservierter werden [...] gegenüber ihrem Staat, auch oft genug gegenüber der eigenen Gemeinde«.

Helmut Kohl: »Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung«, in: Städte- und Gemeindebund 32/1 (1977), S. 355–362, dieses und die folgenden Zitate S. 361.

Er wandte sich jedoch entschieden gegen »jenen Ruf der Demokratisierung, der alles Allgemeinabstimmungen« unterwarf. Wie sehr Kohl dabei von amtsautoritären Vorstellungen geprägt war, lassen seine weiteren Ausführungen erkennen. Am Beispiel des Bürgermeisters machte er deutlich, dass ein Funktionsträger aus Politik und Verwaltung im Rahmen seiner Vollmachten tatkräftig agieren müsse, selbst wenn die allgemeine Meinung gegen ihn sei. Würdigte er dabei auch die Bedeutung des »kritischen Bürgers« für das Funktionieren einer Demokratie, so forderte er gleichzeitig den »loyalen Bürger«. Eine Demokratie könne »nicht leben ohne die Loyalität ihrer Bürger«. Gleichzeitig gelte, dass ein demokratischer Staat trotz einer gewünschten kritischen Distanz seiner Bürger nicht auf die »Autorität seiner Institutionen und seiner Funktionsträger« verzichten könne. Habe auch »manche beobachtbare Praxisferne der Politik« die Entwicklung von Bürgerinitiativen begünstigt, so könne man nicht zulassen, dass »die repräsentative Demokratie auf diesem Wege außer Kraft gesetzt« werde.

Ebd., S. 362.

Die in den Reden hervorgehobene zunehmende Komplexität gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen und die Betonung der Kompetenz und Entscheidungskraft offizieller Gremien und Amtsträger verweisen letztlich auf die Überzeugung, dass der demokratische Rechtsstaat von seinen Bürgern und Bürgerinnen zwar »keine emotionale Verbundenheit«, aber »die rationale Akzeptanz der Rechtsnormen und deren Befolgung« erwarten könne.

Schaal / Heidenreich: »Politik«, S. 5.

So unterschieden Parteipolitiker und Verwaltungsbeamte schon bald zwischen »positiven« und »negativen« Bürgerinitiativen. Die Bürgervereinigungen, die vermeintlich rational und konstruktiv die Arbeit der etablierten Politik begleiteten und mit ihrem Wirken gewissermaßen zur Verbesserung der Entscheidungsfindung beitrugen, wurden begrüßt. Die Gruppen, die sich dem verfassten System emotional verweigerten und die Arbeit der politischen Entscheidungsträger blockierten, wurden hingegen als egoistische »Ein-Punkt-Initiativen« abgelehnt.

Emotionaler Bürgerwille?

Blickt man jetzt auf die Landes- und kommunale Ebene in jenen Jahren, war es vor allem die im Rahmen der Verwaltungsreform durchgeführte Neuordnung der kommunalen Landkarte, die mehr als zehn Jahre die innenpolitische Diskussion bewegte. Im Zuge dieser Gebietsreform, die Mitte der 1960er-Jahre in allen Flächenländern der Bundesrepublik einsetzte und zehn Jahre später ihren parlamentarischen Abschluss fand, lässt sich »Bürgerwut« und Protest gegen staatliche Planung von oben konstatieren.

Hintergrund der Neuordnungsmaßnahmen war die Ansicht, dass die Gemeinde- und Kreisgrößen gemeinhin zu klein seien, sie schienen angesichts der strukturellen, wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Entwicklungen nicht mehr zukunftsfähig zu sein. Mit weitreichenden kommunalen Neugliederungen, die durch systematische Eingliederungen und Zusammenschlüsse in allen Flächenländern zu einer Vergrößerung der kommunalen Einheiten führen sollten, wollten sowohl Landes- als auch Bundespolitik zukunftsweisende Grundlagen für günstigere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen schaffen. Mit einem möglichst gleichmäßig über das Land gespannten kommunalen Netz aus Ober- Mittel- und Nebenzentren, die über Verkehrsachsen miteinander verbunden sein sollten, hofften die Reformer in Politik und Verwaltung, den Grundbedürfnissen der Bevölkerung nach Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung und Freizeit bestmöglich gerecht zu werden und die Grundlagen für dauerhafte wirtschaftliche Prosperität zu legen.

Vgl. Sabine Mecking / Janbernd Oebbecke (Hg.): Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebiets- und Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive, Paderborn 2009; Gerhard Isbary: Orte und Versorgungsnahbereiche. Zur Quantifizierung der Zentralen Orte in der Bundesrepublik Deutschland, Bad Godesberg 1965; Karl R. Kegler, Deutsche Raumplanung. Das Modell der »Zentralen Orte« zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, Paderborn 2015.

Die Idee der Plan- und Gestaltbarkeit der Gesellschaft übte eine große Faszination aus. Gewissermaßen im reformoptimistischen Rausch wurde sowohl in Wissenschaft und Politik als auch in der Verwaltung und in weiten Kreisen der Gesellschaft eine stärkere politische Steuerung sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen gefordert. Das Planungsdenken gekoppelt mit technokratischen Steuerungsansätzen schien Antworten auf die Probleme der Zeit zu bieten. Eine Neuordnung der kommunalen Landschaft wurde daher auch in der Bevölkerung grundsätzlich begrüßt. Kritik entzündete sich dann allerdings häufig an einzelnen, konkreten Neuordnungsmaßnahmen.

Existieren auch bundesweit keine Erhebungen über Anzahl und Teilnehmerzahlen der Initiativen gegen die kommunale Neugliederung in der Bundesrepublik, so ist es durchaus möglich, dass ihr Teilnehmerkreis den von Massenbewegungen zum Beispiel gegen die militärische oder friedliche Nutzung der Atomenergie sogar überstieg.

Vgl. Klaus Dammann: »Gebietsreformen in der BRD: Ursachen und Folgen (1)«, in: Volkhard Brandes / Joachim Hirsch / Roland Roth (Hg.): Leben in der Bundesrepublik. Die alltägliche Krise, Berlin 1980, S. 193–202, hier S. 198.

Überall artikulierten reformkritische Bürger und Bürgerinnen emotional grundierte Einwände gegen die Neuordnung ihrer »Heimat«, die hier sowohl als individuelle als auch als kollektive (Selbst-)Verortung von Menschen in ihren Räumen und Zeiten zu verstehen ist. Mit ihrer Einbeziehung und Betonung von Gefühlen wie Misstrauen gegenüber einer allzu reformoptimistischen Landespolitik, Wut angesichts konkreter Neuordnungsentscheidungen und Solidarität innerhalb der betroffenen Kommunen schufen sie in der Reformdiskussion ein Gegengewicht zu den landes- und raumplanerischen Argumenten der Reformbefürworter.

Mecking: Bürgerwille, S. 133–219.

Die Verhältnisse im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen mit seinen mehr als 17 Millionen Einwohnern können hier exemplarisch den nachhaltigen Widerstand in der Bevölkerung gegen einzelne Neuordnungsmaßnahmen verdeutlichen. In den von Auflösung und Zusammenschlüssen bedrohten Gemeinden und Gemeindeverbänden bildeten sich Bürger- und Aktionsinitiativen, um sich gegen die Gebietsforderungen der kommunalen Nachbarn und die Eingemeindungspläne des Landes zu wehren. Die Leistungen und Besonderheiten der jeweiligen Kommune wurden stolz hervorgehoben und den Eingemeindungsplänen beinahe trotzig entgegengehalten.

Vgl. zur Verbundenheit mit dem Wohnort etwa Heribert Mefert / Christian Ebert: Marke Westfalen. Grundlagen des identitätsorientierten Regionenmarketing und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Ibbenbüren 2003, S. 16–19; siehe auch Adelheid von Saldern: »Symbolische Stadtpolitik – Stadtpolitik der Symbole. Repräsentationen in drei politischen Systemen«, in: Adelheid von Saldern (Hg.): Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), Stuttgart 2005, S. 29–80, S. 30f., insbes. Anm. 6.

»Ich bin für CAS« hieß die Devise, mit der man etwa in Castrop-Rauxel einer möglichen Vereinnahmung durch Dortmund entgegentrat. Das »grüne Kettwig« dürfe kein »grauer Vorort« werden, meinte die »Aktion Selbstbestimmung gegen die Eingemeindung Kettwigs durch Essen«. Eine Bürgerinitiative im Kreis Moers befürchtete, dass bei einer Zerschlagung des Kreises und der Eingliederung seiner südlichen Kommunen in die benachbarte Großstadt »blühende Gemeinwesen aufhören würden zu existieren und zu öden Vorstädten« verkämen. Mit dem Slogan »Glabotki is nich« wandten sich Bürger aus Gladbeck und Kirchhellen gegen einen Zusammenschluss mit Bottrop.

Rainer Weichelt: »›Glabotki is nich‹ – Das Fallbeispiel Gladbeck. Kommunale Neugliederung im Ruhrgebiet am Beispiel des Raums Gladbeck/Bottrop/Kirchhellen – Verlauf und Ergebnisse«, in: Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen / Hans Zinnkann (Hg.): Der Kraftakt. Kommunale Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2005, S. 149–202; Dieter Lück: »›Ich bin für CAS‹. Die kommunale Neugliederung«, in: Christian Reinicke / Horst Romeyk (Hg.): Nordrhein-Westfalen. Ein Land in seiner Geschichte. Aspekte und Konturen 1946–1996, Münster 1996, S. 447–450, hier S. 448f.; o. A.: »Hände weg von Castrop-Rauxel«, in: Kölnische Rundschau 4. 1. 1973; Plakat der Stadt Kettwig »Es geht um die Zukunft Ihrer Stadt«; Flugblatt der Bürgerinitiative zur Erhaltung des Kreises Moers [März 1972], alles in: Archiv des Heimat- und Bürgervereins Wattenscheid e. V., Bochum-Wattenscheid (HBV WAT).

Die verächtlich gemeinte Aneinanderreihung der Anfangsbuchstaben der Städte Gladbeck, Bottrop und Kirchhellen, deren Zusammenschluss zur Diskussion stand, sollte die technokratische Künstlichkeit der geplanten Kommune unterstreichen. Die Bevölkerung begegnete den weitreichenden Neuordnungsmaßnahmen mit Schlagworten wie »Bürgerwille vergewaltigt«, »Biafra im Ruhrgebiet« oder »Das ist Diktatur«.

Mecking: Bürgerwille, S. 148–156.

Diese drastischen Zuschreibungen rüttelten auf, machten betroffen und evozierten die Erfahrung eines unmittelbaren Involviertseins. Die Bürgerinitiativen konstruierten und nutzten Gefühle wie Sorge, Angst und Wut, um einen Empörungsraum zu schaffen und zum kollektiven Handeln zu mobilisieren.

Als sich die Reformpläne für das Ruhrgebiet konkretisierten und zahlreiche Eingliederungen und Städtefusionen im Raum standen, wurde im September 1973 in Wattenscheid die »Aktion Bürgerwille e. V.« ins Leben gerufen. Der Name der »Aktion« war Programm: Dem Willen der Bürger sollte im Neuordnungsverfahren stärker Rechnung getragen werden. Die Initiative unter dem Vorsitz des Textilfabrikanten Klaus Steilmann verstand sich als eine Vereinigung verschiedener, über das ganze Bundesland verstreuter Protestgruppen gegen die Neugliederung. Sie einte das Ziel, die Bildung von »Superstädten« zu verhindern, um die einzugemeindenden Kommunen nicht zu trostlosen »Randexistenzen« zu degradieren.

Vgl. Protokoll über die Sitzung der Aktion Bürgerwille am 25. 9. 1973, in: HBV WAT, St. 22; Informationsschrift der Aktion Bürgerwille, undat., »7 Thesen der Aktion Bürgerwille«, in: Privatarchiv Franz-Werner Bröker, Bochum-Wattenscheid.

Die »Aktion Bürgerwille« zielte darauf ab, durch ein erfolgreiches Volksbegehren einen Volksentscheid herbeizuführen. Dies war ein Novum in Nordrhein-Westfalen. Neben der Forderung nach stärkerer, unmittelbarer Beteiligung der Kommunen und ihrer Bürger an dem Verfahren zur Änderung der Gemeinde- und Kreisgebiete wurde die Gründung eines Kommunalverbandes für das Ruhrgebiet gefordert.

Vgl. Aktion Bürgerwille: »Der 3. Weg – Volksbegehren«, Entwurf der Aktion Bürgerwille zum Gesetz betreffend die Änderung der §§ 14 und 16 der GO NRW und zum Gesetz betreffend die Gründung des Kommunalverbandes Ruhr; Politisches Arbeitspapier der Aktion Bürgerwille e. V., in: Privatarchiv Franz-Werner Bröker, Bochum-Wattenscheid; Entwurf des Gesetzes betreffend Kommunalverband Ruhr auf Grund des Volksbegehrens der Aktion Bürgerwille, in: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster (LA NRW W), Regierung Arnsberg, Nr. 26498.

Der Verband sollte umfassende Eingemeindungen überflüssig machen. Mit diesem Vorschlag, der auch als »dritter Weg« bezeichnet wurde, wandte sich die Protestinitiative explizit gegen zwei vom Innenminister vorgeschlagene Neugliederungsmodelle für den Neuordnungsraum Ruhr.

Mit Ansteckern, Aufklebern, Plakaten und Fähnchen machte die Aktionsgemeinschaft auf sich aufmerksam und emotionalisierte den öffentlichen Raum, indem sie Empörung und vor allem Angst evozierte und visualisierte, wenn etwa die eingemeindete Kommune als Schaf und die aufnehmende Kommune als Wolf stilisiert wurde. Sie warb über Rundschreiben, Flugblätter, Informationsstände in Fußgängerzonen, leidenschaftliche Appelle und spektakuläre Aktionen, wie etwa Lautsprecherdurchsagen bei Fußballspielen, für ihr Anliegen. Sie informierte die Bevölkerung durch Vorträge, Demonstrationen und Stellungnahmen, die in der Tagespresse abgedruckt wurden, über ihre Neuordnungspositionen und Ziele. Gleichzeitig leistete sie durch Gesprächstermine und Positionspapiere Überzeugungsarbeit bei Politikern und Verwaltungsbeamten.

Mecking: Bürgerwille, S. 156–181. Zu »Inszenierung« als analytischem Schlüsselbegriff vgl. Dorothee Liehr: »Ereignisinszenierung im Medienformat. Proteststrategien und Öffentlichkeit – eine Typologie«, in: Martin Klimke / Joachim Scharloth (Hg.): 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956–77, New York 2008, S. 23–36.

Die »Aktion Bürgerwille« verbreiterte ihre Trägerschaft und Aktionsbasis rasch und dies auch zunehmend durch offizielle Unterstützung von zahlreichen Städten und Gemeinden. Stellte sie auch nach außen gerne ihren Charakter als Bürgervereinigung in den Vordergrund, so erhielt sie zum Teil erhebliche Förderung durch die Amts- und Mandatsträger einzelner, durch die Reform in ihrer Selbstständigkeit bedrohten Städte. Bis zur ersten Februarwoche 1974 waren mehr als hundert Kommunen in der Aktion vertreten.

Neben der Kritik an der Art und Weise der Entscheidungsfindung seitens der Landesregierung und des Landtags richtete sich der Bürgerunmut insbesondere auch gegen einen technokratisch arbeitenden Verwaltungsapparat. So sei das Mittel der Eingemeindung eine »herkömmlich-konservative Methode preußischer Bürokratie«, die mit Blick auf frühere Eingemeindungen weder der Bevölkerung der betroffenen Gebiete Vorteile gebracht noch die Probleme der Region gelöst hätte. Die »Aktion Bürgerwille« appellierte an die Ministerialbürokratie, dieses alte »untaugliche Mittel« nun nicht unter dem Schlagwort »Steigerung der Verwaltungseffizienz« wieder hervorzukehren. Nach dem Motto »Bürokratie entmachtet Demokratie« würde – so der Vorwurf – ausschließlich im Interesse der Verwaltungen und Verwaltungsfachleute reformiert, die mit Begriffen wie »Verwaltungseffizienz«, »Maßstabsvergrößerung« oder »großstädtische Strukturen« »rein quantitative Ziele für die Neuordnung gesteckt« hätten. Indem die von der Landesadministration abhängigen Minister und Landtagsparlamentarier diese Ziele aufgriffen und mit ihrer Politik umsetzten, würden sie zum Werkzeug der Bürokratie.

Aktionspapier der Aktion Bürgerwille (F&F): »Aktion Bürgerwille für die Rechte der Bürger! Jeder Bürger für die Ziele der Aktion Bürgerwille!«, Dortmund, 7. 2. 1974, Politische Arbeitspapiere der Aktion Bürgerwille e. V. [1974], beides in: HBV WAT, St. 23; Handschriftliche Notiz: Reaktionen der Aktion Bürgerwille auf Solidarisierungsaktionen der DKP, undat., in: HBV WAT, WDR Penner.

Einzelne beunruhigte Bürger und Bürgerinnen wandten sich mit ihren Gefühlen auch direkt an den für die Reform zuständigen Innenminister Willi Weyer und den Chef-Planer der Landesregierung Friedrich Halstenberg sowie an Ministerpräsident Heinz Kühn. Artikulierten sie dabei auch vorwiegend ihre Sorgen und Ängste sowie ihre Fragen, nutzten nicht wenige diese Schreiben auch dazu, um Bürgerwut nach außen zu dokumentieren beziehungsweise zu repräsentieren. Die damit forcierte Emotionalisierung war Teil der politischen Strategie der Bürgeraktion. So wurden diese Briefe unter anderem in der Tagespresse abgedruckt, was die Sichtbarkeit der Enttäuschung, Angst und Empörung der Bürger erhöhte und den öffentlichen Druck verstärkte, vor allem aber erzeugte es Solidarität in der Bevölkerung. Eine Bürgerin bat sogar den Bundeskanzler, ein »Machtwort« im Sinne ihrer Heimatstadt gegenüber den »führenden Persönlichkeiten der Landesregierung« zu sprechen. Die ministeriellen Antwortschreiben, die in der Regel nicht persönlich, sondern von Mitarbeitern des Innenministeriums oder der Staatskanzlei verfasst und unterzeichnet wurden, enthielten dann lediglich allgemeine Ausführungen zum gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren der Neuordnung und zu einzelnen Reformkriterien.

Schreiben M. C. an den Bundeskanzler zur Eingemeindung Wattenscheids, Wattenscheid, 1. 11. 1973, in: LA NRW R, NW 484–101; siehe weitere Schreiben von Privatpersonen sowie Antwortschreiben des Innenministers in: LA NRW R, NW 484–100, NW 264–107, NW 484–101, NW 484–168; sowie o. A.: »Bürgerinitiative. Von Kühn nichts Neues. Enttäuschung über Schreiben aus der Staatskanzlei«, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung [WAZ] 19. 7. 1972.

Die Vertreter der »Aktion Bürgerwille« erwiesen sich in der Diskussion der Neuordnungspläne nicht nur als leidenschaftliche und engagierte, sondern auch als fachkundige Gesprächspartner. Um über aktuelle praktische wie theoretische Fragen informiert zu sein, wurden Fachaufsätze in den einschlägigen Zeitschriften gelesen, Fachvorträge und Podiumsdiskussionen organisiert und das persönliche Expertengespräch zum Thema gesucht. Des Weiteren unterrichteten die Aktivisten die Bevölkerung über die Rechts- und Sachlage.

Rundschreiben der Bürgerinitiative »Selbständiges Wattenscheid« vom 31. 8. 1973, in: LA NRW R, NW 484–101.

Indem Bürger sich fachlich gut informierten und kompetent in die Reformdiskussion einbrachten, begegneten sie dem offen oder verdeckt erhobenen Vorwurf, irrational zu handeln und sentimental beziehungsweise unsachlich zu argumentieren. Dabei machte die »Aktion Bürgerwille« grundsätzlich deutlich, dass sie mit ihrer Arbeit und den Protestaktionen ein gleichsam legitimes wie legales Anliegen verfolgte und ihre Anhänger »keine Extremisten« waren.

Jost Benfer: Der Kampf der Wattenscheider gegen die Eingemeindung (1972 bis 1974). Erlebnisse und Erinnerungen eines Mitstreiters, Wattenscheid 2007, S. 60.

Auf diese Weise hoffte man, nicht nur die Reformer in Politik und Verwaltung zu überzeugen, sondern überhaupt die Unkenntnis, die bestehenden Vorbehalte und Ängste gegenüber dem neuen direktdemokratischen Engagement auszuräumen.

Von der im Februar 1973 in der Akademie der Wissenschaften in München gehaltenen Rede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann fühlten sich die Aktivisten in besonderer Weise angesprochen. Der Bundespräsident schien mit seinen Ausführungen zum Thema »Der mündige Bürger in Staat und Gesellschaft« die Situation der reformkritischen Bürgerinitiativen im Land treffend zu charakterisieren.

Heinemann: »Der mündige Bürger«, in: Heinemann: Reden und Interviews, S. 106–114.

Bürgeraktionen sollten demnach von Parteien und Behörden immer dort ermutigt und unterstützt werden, »wo das Ziel verfolgt wird, die bestehende Rechtsordnung durch Initiative von unten zu verbessern, sie gerechter zu machen oder an veränderte Gegebenheiten anzupassen«. Der Vorstand der Bürgerinitiative in Wattenscheid bat daraufhin Bundespräsident Heinemann aus »Sorge, dass durch eine Eingemeindung das Engagement der Bürger sich verringern« werde, um ein persönliches Gespräch.

Schreiben der Bürgerinitiative »Selbständiges Wattenscheid« an Bundespräsident Gustav Heinemann, Wattenscheid, 15. 2. 1973, in: Privatarchiv Franz-Werner Bröker, Bochum-Wattenscheid; Abdruck des Schreibens in: o. A.: »Jetzt Schreiben an den Bundespräsidenten«, in: WAZ 16. 2. 1973.

Über einen Mitarbeiter ließ Heinemann jedoch ausrichten, dass er »von einem Gespräch […] absehen möchte«.

Antwortschreiben des Bundespräsidialamtes (Hg.) an die Bürgerinitiative »Selbständiges Wattenscheid«, Bonn, 27. 2. 1973, in: Privatarchiv Franz-Werner Bröker, Bochum-Wattenscheid.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen sei es ihm nicht möglich, auf einzelne Neuordnungsmaßnahmen Einfluss zu nehmen, da es sich um eine reine Länderangelegenheit handele.

Das Anfang 1974 durchgeführte Volksbegehren brachte dann auch nicht das von den Initiatoren gewünschte Ergebnis. Landesweit trugen sich »nur« 720.000 Personen in die im Februar ausgelegten Listen ein. Dies waren sechs Prozent der Wahlberechtigten, für einen Erfolg hätten es jedoch zwanzig Prozent sein müssen. In einzelnen, durch den größeren kommunalen Nachbarn in ihrer Existenz bedrohten Städten trugen zwar sogar bis zu achtzig Prozent der Wahlberechtigten das Begehren mit, in den von der Reform profitierenden Großstädten und in ländlichen Regionen fand dieses aber häufig nur wenig Unterstützung.

Vgl. Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen (Hg.): Volksbegehren der Aktion Bürgerwille e. V. Wattenscheid 1974. Ergebnisse nach Gemeinden, Düsseldorf 1974.

Im Weiteren konnte die Neuordnung ohne größere Verzögerung nach den bewährten Plänen und Verfahren in der vorgesehenen Zeit umgesetzt werden. Bei den Neugliederungsgesetzen handelte es sich um Entscheidungen, die von der Mehrheit des Parlaments getragen worden waren. Diesen Mehrheitsentscheidungen habe sich – so der Ministerpräsident – in einer Demokratie »jeder zu beugen«.

So Ministerpräsident Kühn, in: Westdeutscher Rundfunk [WDR], Landesforum, 1. 3. 1974, in: LA NRW R, NW 370–602.

Enttäuscht, aber nicht entmutigt, schloss die durch die »Aktion Bürgerwille« geschaffene emotional community allerdings ein weiteres Volksbegehren gegen die Neuordnung nicht aus. Zwar habe das erste Plebiszit die Erwartungen der Initiatoren nicht erfüllen können, man habe aber aus diesem Verfahren für die Zukunft gelernt. Ein zweites Volksbegehren nach Abschluss der Gebietsreform könne sich auf die Revision der gesamten Gesetzgebung im Neuordnungsverfahren beziehen: »Wir haben zum Teil sehr dilettantisch in der Organisation handeln müssen«, so Klaus Steilmann als Sprecher der »Aktion Bürgerwille«, weil »alles sehr kurzfristig geplant war«. Man habe aber viel gelernt und würde die Sache beim nächsten Mal »wesentlich sorgfältiger und vor allen Dingen auch wesentlich kontrollierter« angehen.

Klaus Steilmann in: WDR, Landesforum, 1. 3. 1974, in: LA NRW R, NW 370–602, hier auch alle Zitate. Die kritische Selbsteinschätzung kann allerdings kaum über das professionelle Vorgehen der »Aktion Bürgerwille« hinwegtäuschen.

Vor Ort in den »Hochburgen« der Protestinitiativen fühlten sich Bürger als Parteimitglieder oder Wähler in der Neuordnungsfrage nicht nur unzureichend von der Landespolitik samt Landesregierung und Landtag vertreten, sondern sie hatten das Vertrauen in diese verloren und sahen sich bisweilen von diesen verraten und getäuscht.

Vgl. Ute Frevert: »Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung«, in: Claudia Benthien / Anne Fleig / Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000, S. 178–197; Mecking: Bürgerwille, S. 133–219, 343–420.

In einzelnen Städten hielt die Unzufriedenheit über die Neuordnung auch nach dem parlamentarischen Abschluss der Gebietsreform an und Bürger aus vermeintlich »reformgeschädigten Städten« schlossen sich in einer »Notgemeinschaft« im sogenannten Kettwiger Kreis zusammen.

Vgl. Jost Benfer: Rückgemeindung. Sechs Städte begehren auf. Dokumentation der Bemühungen des Kettwiger Kreises zwischen 1983 und 1990, Wattenscheid 2009.

Zu einem neuordnungsbezogenen zweiten Plebiszit kam es jedoch nicht mehr.

Tagespresse als Träger der öffentlichen Meinung?

Ein wichtiger Akteur im Neuordnungskonflikt waren die Medien. Die lokale und überregionale Tagespresse kann mit ihrer Berichterstattung als einer der Hauptträger der öffentlichen Meinung in den 1960er- und 1970er-Jahren gelten.

Bernd Weisbrod: »Öffentlichkeit als politischer Prozeß. Dimensionen der politischen Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik«, in: ders. (Hg.): Die Politik der Öffentlichkeit – Die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 11–25, hier S. 19; siehe auch Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973, Göttingen 2006; Jörg Requate: »Medien und Öffentlichkeit als Gegenstände historischer Analyse«, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5–32.

Die Argumente und Vorschläge der Reformbefürworter und -kritiker wurden in programmatischen Aufsätzen und Schriften zur Verwaltungsreform dargelegt. Diese publizistischen Äußerungen waren Teil der politischen Auseinandersetzung. So wurden unter anderem die Zeitschriftenbeiträge und Presseartikel an Entscheidungsträger, Diskussionsteilnehmer und interessierte Kreise versandt. In schneller Abfolge protokollierten und kommentierten die örtlichen Printmedien auch den Schlagabtausch zwischen einzugemeindenden Kommunen und den zu stärkenden »Oberzentren«.

Vgl. Andrea Nowak: Der Weg der Stadt Bochum zur kommunalen Gebietsreform vom 1. Januar 1975 im Spiegel der Presse, Staatsexamensarbeit, Bochum 1990; siehe weiter Hans-Christof Kraus: »Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Pamphlete«, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Stuttgart 2002, S. 373–401; Rüdiger Schulz: »Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften«, in: Jürgen Wilke (Hg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 401–425.

Doch auch überregionale Zeitungen, Wochenzeitschriften und Magazine sowie Rundfunk und Fernsehen berichteten über Stand und Fortgang der Gebietsreform. In der Berichterstattung spiegelte sich die hochexplosive Stimmung insbesondere während der Endphase der Neuordnung wider. Ein entsprechend militärisch bis martialisch klingender Tonfall prägte die Nachrichten, Reportagen und Kommentare in den Medien. Dort war im Zuge der Neuordnungsdiskussionen vom »Kampf ums Überleben«, vom »heftigen Gefecht um die Zukunft«, vom »Beute machen« oder vom »Sturm auf Bastionen« zu lesen.

Zum Beispiel o. A.: »Kreis kämpft verbissen ums Überleben«, in: Leverkusener Anzeiger 24. 2. 1972; o. A.: »Auf zum Gefecht!«, in: ebd., 25. 6. 1974; o. A.: »Gefecht um die Zukunft der Stadt geht in die letzte Runde«, in: ebd., 13. 7. 1974; o. A.: »Sturm auf drei Bastionen«, in: Kölner Stadt-Anzeiger 8. 3. 1972; o. A.: »Kreisstadt eine Beute Leverkusens«, in: ebd., 19. 5. 1972; o. A.: »Der Kampf tobt an allen Fronten«, in: ebd., 29. 6. 1974.

Die Tageszeitungen knüpften damit an die von den Bürgerinitiativen artikulierten Emotionen wie Trauer, Misstrauen, Furcht und Zorn an und trugen mit ihrer gefühlsbetonten und martialischen Sprache zu einer weiteren emotionalen Mobilisierung bei – etwa wenn düstere Zukunftsvisionen skizziert wurden. Vor allem die lokale Presse zeigte immer wieder Verständnis oder gar offene Sympathie für den neuen Bürgerzorn. Dies geschah insbesondere dann, wenn sich die Lokalredaktion in einer von Eingemeindung bedrohten Stadt befand und ihre Reporter und Redakteure als Bürger selbst von einer Neuordnungsmaßnahme betroffen waren. Sie rechtfertigten den Protest und forderten weitere Kreise dazu auf, wenn sie schrieben, dass sich selbst die »gutbürgerliche« Bevölkerung – so die Westdeutsche Allgemeine Zeitung mit einer Anspielung auf die »Internationale« und die sozialistische Arbeiterbewegung – gegen ihre Bevormundung durch Landesregierung und Ministerialbürokratie wehre.

Zeitgenössische Karikatur zum Neuordnungsprotest der Bevölkerung in der WAZ, undat., abgedruckt in: Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Neue Städte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen. Kommunale Gebietsreform von 1967 bis 1975, Düsseldorf 1975, S. 21.

Vor allem die lokalen Tageszeitungen waren damit nicht nur Berichterstatter, sondern auch Stimmungsmacher.

Vgl. Otfried Jarren: »Lokale Medien und kommunale Politik«, in: Wollmann / Roth: Kommunalpolitik, S. 274–289.

Es bildete sich eine wechselseitige Abhängigkeit von Aktions- und Protestinitiativen und Massenmedien heraus.

Siehe hierzu Volkhard Wrage: Taktik der Territorialreform. Eine Studie zum Prozeß der Meinungs- und Willensbildung bei Maßnahmen der territorialen Reform, dargestellt am Beispiel der Neuordnung des Kreises Unna, Köln 1973.

Bedienten sich Politiker und Parteien spätestens seit dem Bundestagswahlkampf Willy Brandts 1969 immer stärker der Techniken moderner Öffentlichkeitsarbeit und Werbung,

Vgl. Thomas Mergel: »Verkaufen wie Zahnpasta? Politisches Marketing in den bundesdeutschen Wahlkämpfen, 1949–1990«, in: Hartmut Berghof (Hg.): Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt Main 2007, S. 371–397; Frank Bösch: »Werbefirmen, Meinungsforscher, Professoren. Die Professionalisierung der Politikberatung im Wahlkampf (1949–1972)«, in: Stefan Fisch / Wilfried Rudlof (Hg.): Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 309–327.

so griffen bald auch Protestinitiativen auf die professionelle Hilfe von Werbeagenturen zurück. Einzelne Bürgerinitiativen und insbesondere die landesweite Protestinitiative »Aktion Bürgerwille« unterrichteten gezielt Presse- und Medienstellen über die geplanten oder durchgeführten Aktionen. Sitzungen und Arbeitstreffen wurden von Presseterminen und -mitteilungen begleitet.

Vgl. Mecking: Bürgerwille, S. 133–219.

Neuordnungskritiker richteten sich mit offenen Briefen an Landespolitiker und Regierungsmitglieder und auch die entsprechenden Antwortschreiben wurden der Presse zum Abdruck zugeleitet. Die Protestinitiativen suchten über die Medien die Kommunikation mit der Landesregierung und Ministerialbürokratie, um über die wenigen face-to-face-Situationen mit den verfassten Entscheidungsträgern hinaus eine emotionale Interaktion herzustellen. Sie konnten über die Massenmedien die öffentliche Wirkung ihrer Aktionen potenzieren, gleichzeitig erhielten die Medienvertreter unmittelbaren Zugang zu Ereignissen mit hohem Nachrichtenwert.

Vgl. Dieter Rucht: »Öffentlichkeit als Mobilisierungsfaktor für soziale Bewegungen«, in: Friedhelm Neidhardt: (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 337–358.

Als etwa der Zusammenschluss der beiden kreisfreien Städte Bochum und Wattenscheid feststand, richtete die Westdeutsche Allgemeine Zeitung ein Diskussionsforum ein, in dem Lesern und Bürgern die Möglichkeit geboten wurde, »bei Entscheidungen über die Details des Zusammenschlusses kräftig mitzumischen«. Insbesondere in Wattenscheid, das sich in das viermal größere Bochum einverleibt sah, war die Enttäuschung über die »kommunale Zwangsehe« groß. In der Artikelserie der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung »Was ist neu in der neuen Stadt?« wurde die Bevölkerung aufgefordert, sich an den aktuellen Überlegungen und Diskussionen zu den praktischen Konsequenzen des Städtezusammenschlusses zu beteiligen, um nicht »sang- und klanglos unter[zu] gehen«.

Zitate: WAZ vom 25. 5. 1974, WAZ-Serie: »Was ist neu in der neuen Stadt? WAT bleibt WAT«; siehe auch WAZ vom 27. 7. 1974, WAZ-Serie: »Was ist neu in der neuen Stadt? Für das Fernmeldeamt bleibt Wattenscheid selbständig«.

Für die betroffenen Bürger beziehungsweise die Bürgerinitiativen waren die lokalen Tageszeitungen damit häufig ein wichtiges Mittel, um ihrem Unmut, ihren Sorgen und Ängsten, aber auch Wünschen und Hoffnungen Ausdruck zu verleihen.

So die beiden Vorstandsvorsitzenden des Heimat- und Bürgervereins Wattenscheid e. V. Carl–Friedrich Beckmann und Franz-Werner Bröker, zit. nach Ruhr-Nachrichten vom 7. 6. 1974: Helfs Hof wird nach Eingemeindung von Bochum weitergeführt; Gespräch der Autorin mit Franz-Werner Bröker, Bochum-Wattenscheid, 17. 5. 2002.

Die Presse bündelte und schürte diese Emotionen. Indem sie Gefühle wie Sorge, Angst oder Wut in die Öffentlichkeit trug und verstärkte und den Protest als Bürgerzorn präsentierte,

Siehe weiter Kurt Imhof: »›Öffentlichkeit‹ als historische Kategorie und Kategorie der Historie«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 46 (1996), S. 3–25; Requate: Öffentlichkeit, S. 5–32; Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Öffentlichkeit. Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart/Weimar 2000.

richtete sie sich sowohl an die Bevölkerung als auch an die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung und avancierte damit zu einem zentralen Akteur in der Auseinandersetzung.

Rationales Establishment in Politik und Verwaltung?

Die Landesregierung zeigte kaum Verständnis für das neue basisdemokratische Engagement in der Bevölkerung. Ministerpräsident Heinz Kühn gab sich entsprechend auch wenig beeindruckt von der zweiten Plebiszitankündigung der Reformkritiker. Das erste Volksbegehren hatte nicht die nötige Mehrheit in der Bevölkerung gefunden, sodass sich Landesregierung und Landtag in ihrem Vorgehen bestätigt fühlen konnten. Es belegte, dass ein Großteil der Bevölkerung die von der Ministerialbürokratie ausgearbeiteten und vom Parlament beschlossenen Reformpläne und Gesetze akzeptierte und die bisweilen leidenschaftlich vorgebrachte Kritik nicht mittrug. Lässt sich Planung und der Glaube an die Planbarkeit zukünftiger Entwicklung auch durchaus als Strategie einer Angstbewältigung im Zuge einer zunehmend komplexer werdenden Welt beziehungsweise Umgebung deuten,

Vgl. Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013.

beriefen sich die Reformer in Politik und Verwaltung stets auf formelle Sachlichkeit und juristisch-administrative Nüchternheit. Sie unterstrichen das an verwaltungsplanerischen Vorgaben und abstrakten Gliederungsmodellen ausgerichtete zweck- und zielorientierte Handeln und verwiesen auf statistische Erhebungen und wissenschaftliche Analysen. Die sich hieraus abgeleiteten sachlichen Notwendigkeiten manifestierten Rationalität in der Entscheidungsfindung.

Mecking: »State«, S. 295–317.

Diese Verweise können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Landespolitik und Ministerialbürokratie im Vorfeld des ersten Volksbegehrens durchaus nervös hinsichtlich des Ausgangs gezeigt hatten und dessen Bedeutung herunterspielten. Schwierige Sachzusammenhänge wie etwa die kommunale Gebietsreform eigneten sich aus Sicht des Ministerpräsidenten aufgrund ihrer Komplexität und der möglichen Gefahr einer Emotionalisierung überhaupt nicht für eine Fragestellung im Volksbegehren.

Ministerpräsident Kühn, in: WDR, Landesforum, 1. 3. 1974, in: LA NRW R, NW 370–602.

Auch der Innenminister hielt die Neuordnungsfrage für zu umfassend und schwierig, als dass sie durch ein Plebiszit gelöst werden könne. Innenminister Willi Weyer, der bei den parlamentarischen Beratungen des Ruhrgebiet-Gesetzes reformkritische Verlautbarungen der »Aktion Bürgerwille« als »Pamphlete« abqualifiziert hatte, fragte polemisch, wie viele Anhänger der »Aktion Bürgerwille« tatsächlich die Gesetzesvorlage des Innenministeriums eingesehen hätten.

Relativierend fügte Weyer allerdings hinzu, dass wohl auch nicht alle Abgeordneten diese Vorlage kannten. Innenminister Weyer in der 2. Lesung des Ruhrgebiet-Gesetzes vom 13. 2. 1974, in: Archiv-Bibliothek-Dokumentation des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (Archiv Landtag NRW), 7. WP, Plenarprotokoll 7/94, S. 3742–3786, hier S. 3766.

Ministerpräsident Kühn kritisierte die »Aktion Bürgerwille« öffentlich in seiner Regierungserklärung zur Verwaltungsreform. Er warf den Initiatoren vor, dass sie »zur Durchsetzung begrenzter lokaler Interessen eine landesweite Opposition gegen die kommunale Neuordnung« organisierten.

Ministerpräsident Heinz Kühn in seiner Regierungserklärung zur Verwaltungsreform am 13. 2. 1973, in: Archiv Landtag NRW, 7. WP, Plenarprotokoll 7/94, S. 3727f.; vgl. auch Landtag intern 5 (15. 2. 1974): Neuordnungsdebatte: Ministerpräsident Kühn und die Fraktionen kritisieren Aktion Bürgerwille, S. 3, 6.

Damit wurde ein das Gesamtkonzept störender, egoistischer Charakter der bürgerschaftlich vorgebrachten Neuordnungsvariationen herausgestellt. Die mit Leidenschaft vertretenen und als unsachlich abqualifizierten Änderungspläne standen aus Sicht der hauptamtlichen Reformer einer rationalen Ordnung und »objektiven« Neuvermessung der kommunalen Landkarte entgegen.

Die Landesregierung und -verwaltung sowie die Mehrheit der Landtagsabgeordneten hatten kein tiefergehendes Verständnis dafür, dass es grundlegend für die Arbeit der Protest- und Bürgerinitiativen war, unkonventionell und kreativ zu agieren und dabei an Emotionen wie Misstrauen oder Wut zu appellieren, um ihre Anhänger an sich zu binden und zum Handeln anzutreiben. Die Reformplaner werteten die Gefühlsrhetorik lediglich als Mittel, egoistische Interessen und Ziele zu verschleiern. Den sogenannten Ein-Punkt-Bewegungen wurde vorgeworfen, dass sie zu einer Emotionalisierung der Diskussion und Unsachlichkeit des vermeintlich rationalen Planungs- und Umsetzungsprozesses führten. Eine moderne Politik im zeitgenössischen Sinne sollte allerdings – so der Anspruch – rational und wissenschaftlich orientiert und damit ideologiefrei sein. Sie war eben nicht punktuell und kurzfristig, wie das neue, emotionsbasierte Engagement der Bevölkerung hier eingestuft wurde, sondern möglichst umfassend an der gesamtgesellschaftlichen Dynamik und damit an der Zukunft ausgerichtet.

Vgl. Dirk van Laak: »Planung, Planbarkeit und Planungseuphorie, Version 1.0.«, in: Docupedia-Zeitgeschichte 16. 2. 2010, <https://docupedia.de/zg/Planung> (16. 4. 2018); Michael Ruck: »Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie. Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre«, in: Schildt / Siegfried / Lammers: Dynamische Zeiten, S. 362–401; Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2004.

Die Anlehnung an die Reformkonzepte der modernen Verwaltungs- und Planungswissenschaft, die systematische Datenerhebung und -auswertung sowie die verfahrensgeregelte Mitbestimmung von Gemeinderäten, Kreistagen etc. schienen zumindest aus Sicht der Neuordnungsplaner und verfassten Entscheidungsträger zu bestmöglichen, »objektiven« Ergebnissen zu führen. Für sie gab es kein sachgerechteres (Entscheidungsfindungs-)Verfahren als das von und in den Expertengremien mit Fachgutachten, Gebietsbereisungen und Anhörungen praktizierte. Die Neuordnungsentwürfe der Landesregierung seien intensiv diskutiert und geprüft worden und hätten den Landtag bisher nicht ohne zahlreiche Abänderungen passieren können. Die Reformer auf Landesebene präsentierten beziehungsweise inszenierten sich damit in dieser Auseinandersetzung als fachlich kompetenter und rational agierender Gegenpol zur gefühlsdominierten Bevölkerung, die ihre Emotionen nicht kontrollieren könne.

Diese Zuschreibungen schienen sich in den unterschiedlichen Argumentationsweisen widerzuspiegeln: Die mobilisierte Bürgerschaft wies in ihrem Protest auf gewachsene Strukturen und historische Zugehörigkeiten hin. Die Argumente mussten sich jedoch an »rationalen«, zukunftsorientierten Zielen messen lassen. Nicht berechenbare oder nicht quantifizierbare Gesichtspunkte gingen in der politischen Diskussion schnell unter. Aspekte des »Wohlbefindens«, lokale Eigenarten und emotionale Bindungen galten als sentimental, rückwärtsbezogen und damit als nicht zeitgemäß. Sie hatten es schwer, sich bei einem weitgehend auf Effizienz ausgerichteten Verwaltungshandeln durchzusetzen. Emotionale Faktoren (insbesondere wenn sie sich an historischen Zugehörigkeiten orientierten) hatten in der Regel sowohl bei den vorbereitenden Planungen als auch in den politischen und behördlichen Diskussionen nur eine schmückende und keine explorative Funktion. Unter den verfassten Entscheidern in Politik und Verwaltung wurde die Konfrontation beziehungsweise das Handeln gegen den Bürgerwillen (zum Beispiel ein Auseinanderreißen von traditionellen Einheiten) zwar nicht angestrebt, aber häufig doch billigend in Kauf genommen, wenn es für die Umsetzung des landesweiten Gesamtkonzeptes erforderlich schien. Letztlich ausschlaggebend waren quantifizierbare Maßstäbe wie zum Beispiel die Steuer- und Wirtschaftskraft, Verkehrs- und Pendlerströme.

Siehe hierzu im Einzelnen Mecking: Bürgerwille, S. 51–131.

Zudem waren die politischen Repräsentanten im Landtag und in den Kommunalparlamenten durch Wahlen demokratisch dazu legitimiert, für die Bevölkerung zu entscheiden. Der Gedanke an eine stärkere Berücksichtigung des direktdemokratisch artikulierten Bürgerwillens weckte hingegen bisweilen Ängste vor den Folgen einer Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Die zeitgenössischen Vorbehalte und Einwände gegen Bürgerinitiativen lassen sich im Wesentlichen wie folgt bündeln: Bürgerinitiativen stehen quer zu den Parteien und dem Modell der repräsentativen Demokratie, sie verschleiern die bestehenden Herrschafts- beziehungsweise Regierungsverhältnisse und dienen letztlich lediglich der Durchsetzung individueller, persönlicher Interessen. Es lässt sich zwar nicht grundsätzlich ausschließen, dass einzelne Initiativen Angst und Zorn erzeugten, verstärkten und einsetzten, um gerade die materiellen Grundlagen ihrer Motive (zum Beispiel die Furcht vor dem Wertverlust von Grundstücken etc.) zu verschleiern. Doch deutet der in der Regel breite Rückhalt der Protestinitiativen in der (Stadt-)Gesellschaft und die über Monate und Jahre – und eben nicht nur punktuell – artikulierte Ablehnung der Neuordnungsmaßnahmen auf ein »echtes« bürgerschaftliches Anliegen hin. Der allgemein erhobene und latent vorhandene grundsätzliche Vorwurf, dass es sich bei den Bürgerinitiativen überhaupt nicht um Initiativen aus der Bevölkerung heraus handele, sondern sie etwa von Wirtschaftsunternehmen oder politischen Parteien initiiert würden, sodass sie im eigentlichen Sinne Wirtschafts- oder Parteiinitiativen seien, die egoistisch Einzelinteressen vor das Gemeinwohl stellten, ist damit pauschal kaum gerechtfertigt.

Politische Kultur und Emotionen

Die Gründe für die Skepsis und sogar Ablehnung gegenüber direktdemokratischer Mitwirkung auf Seiten der etablierten Entscheidungsträger in jenen Jahren sind gewiss vielfältig. Neben dem mangelnden Vertrauen in die Befähigung der Bevölkerung nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus dürften sie aber wohl auch in der Unberechenbarkeit dieses unmittelbaren Bürgerengagements und letztlich in der Angst der politischen Parteien und ihrer Vertreter vor einem Verlust an Einfluss und Macht zu suchen sein. Inwieweit bei den Vertretern von Politik und Verwaltung – selbst wenn nicht bewusst, so doch unbewusst – auch Denkweisen obrigkeitsstaatlicher oder autoritärer Zeiten nachwirkten, ist sicherlich schwer zu beurteilen.

Die Bevölkerung musste die Skepsis ihrer gewählten Vertreter gegenüber basisdemokratischen Entscheidungsfindungsprozessen und den Verweis auf rationales Verwaltungshandeln allerdings zunehmend als elitär und autoritär empfinden. Über gefühlsbetonte Appelle, die Verbreitung von Protestsymbolen und die Durchführung von Protestaktionen wurden die Anliegen und Forderungen in die Öffentlichkeit getragen. Dies erzeugte Empörung und Wut und stärkte den emotionalen Rückhalt in und für die Aktionsgemeinschaft, beförderte die Solidarität innerhalb der Bevölkerung und formte eine kollektive »kritische Bürger«-Identität. Die Bürger in einer neuordnungsbedrohten Stadt fanden zu einer emotionalen Gemeinschaft zusammen, versicherten sich ihrer Gefühle wie Enttäuschung, Angst und Wut im Kollektiv und formten einen gemeinsamen Emotionsstil. Diese Emotionalisierung des Aushandlungsprozesses avancierte zur politischen Strategie. Die Informierung und Mobilisierung der Bevölkerung sowie die Zusammenarbeit mit den Medien stellten neben der Überzeugungsarbeit bei Politikern und Verwaltungsbeamten als emotional work unverzichtbare Elemente der Vorgehens- und Arbeitsweise der Protest- und Bürgerinitiativen dar. Denn erst wenn sich die allgemeine Unzufriedenheit über politische oder administrative Entscheidungen in konkrete Wut wandelte, waren Bürger bereit, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen. Die mobilisierende Emotionalität der Bürgerinitiativen und die politische Planungsrationalität waren damit insofern aufeinander bezogen, als die Emotionalisierung ihre subversive und mobilisierende Kraft aus der »kühlen« technokratischen Legitimierung der Reform schöpfte. Doch die Gefühle prägten nicht nur den Anfang dieses auf Identität und Solidarität beruhenden Prozesses, sondern sie wurden »ihrerseits durch solidarisches Handeln […] transformiert«.

Koller: »Soziale Bewegungen«, S. 366.

Es entwickelte sich das gute Gefühl, aktiv zu handeln, statt passiv zu erdulden. Die empfundene Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Neuordnung wandelte sich innerhalb der emotional community in ein Gefühl der Stärke.

Die städtischen Planungen und Maßnahmen betrafen die Menschen unmittelbar in ihrer Lebenswelt. Diese Eingriffe beunruhigten und machten letztlich zornig und widerspenstig, was die Handlungsbereitschaft beförderte, im politischen Diskurs Forderungen beziehungsweise Interessen durchzusetzen. Gewiss konnte die Furcht vor individuellen wirtschaftlichen oder politischen Einbußen dabei auch ein wichtiges Motiv für das direktdemokratische Engagement eines Grundstückbesitzers, Gewerbetreibenden, Fabrikanten etc. sein. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Akzeptanz einer kommunalen Neuordnung rief die Unzufriedenheit mit staatlichem Handeln in weiten Teilen der Bevölkerung häufig jedoch erst dann unkonventionelles Engagement und Protestverhalten hervor, wenn eine situationsbedingte emotionale Betroffenheit vorlag. Es bestand bei den gegen die Neuordnung aufgebrachten Bürgern damit weniger ein genereller abstrakter Wertekonflikt zwischen Bürger und Staat, stattdessen sollte vielmehr lediglich ein konkreter »obrigkeitlicher« Eingriff in traditionelle oder sozialgebundene Lebenswelten abgewendet werden. Doch dieses späte und zumeist lediglich auf einzelne Neuordnungsmaßnahmen bezogene bürgerschaftliche Engagement stieß auf Unverständnis und rechtfertigte aus Sicht der Reformer den Vorwurf der emotionalen Subjektivität. Die Verfechter der Reform hatten wenig Empathie dafür, dass die Identifikation und Verbundenheit der Menschen mit ihrem Wohnort höher war als die mit der Region oder dem Bundesland. Die lokalen Interessen und die Sorge um das Wohl der jeweils eigenen Stadt waren für die Bürger und Bürgerinnen emotional prägend und damit handlungsleitend. Die von den Reformern vorgebrachte, auf den größeren Raum, auf die Region bezogene Argumentation und Verteidigung der Neuordnung musste hier ins Leere laufen, sofern Vorteile für die einzelne Stadt nicht sichtbar wurden oder überhaupt nicht bestanden.

Einzelne (Bundes-)Politiker und höchste Repräsentanten der Bundesrepublik zeigten zwar mit ihrer allgemeinen Wertschätzung der Arbeit von Bürgerinitiativen gewisse Empathie, sie standen aber zumeist außerhalb der direkten Verantwortung für die Neuordnung. Der Aushandlungsprozess zwischen den verfassten Entscheidungsträgern und der Bevölkerung musste erlernt werden. Erst im Laufe der Zeit merkten Politiker und Verwaltungsbeamte, aber auch die Bürger selbst, dass dem nach außen getragenen Bürgerwillen ein Eigenwert in der politischen Auseinandersetzung zukam, der als notwendige Grundlage einer menschlichen Politik galt. Blieb »expressive Emotionalität« in der Politik auch weiterhin negativ konnotiert, so konnten »moderat und moderiert« präsentierte Gefühle »durchaus positive Wirkungen entfalten« und die Argumentation stärken statt schwächen.

Frevert: »Politische Bildung«, S. 22.

Die Medien spielen in diesem Aushandlungsprozess eine zentrale Rolle. Sie, vor allem die lokalen Tageszeitungen, thematisierten nicht nur gesellschaftlichen und politischen Wandel, sondern sie waren als Akteure an dessen Zustandekommen beteiligt. Die Berichterstattung war eine zentrale Voraussetzung und Rahmenbedingung dafür, wie und welche Emotionen kommuniziert wurden. Öffentlichkeit wurde in diesen Jahren »zu einer dauerhaft bestimmenden gesellschaftlichen und politischen Größe«

Friedhelm Neidhardt: »Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegung«, in: Neidhardt: Öffentlichkeit, S. 7–41, hier S. 10.

in der politischen Kommunikation. Langsam und gewiss nicht linear bildete sich damit eine politische Kultur des öffentlichen Aushandelns heraus. Zwar wurde häufig noch – trotz anderslautender Äußerungen hoher Repräsentanten des verfassten politischen Systems – nicht der kritische oder emotionale Bürger, sondern vor allem – und dies hat die Diskussion um die Verwaltungsreformen gezeigt – der loyale und demnach rationale Bürger gewünscht. Indem Bürger aber nicht nur die Legitimität ihrer Gefühle wie Sorge, Angst oder auch Wut als Ausgangpunkt ihrer Interessenartikulation, sondern auch die Legalität ihres gefühlsgrundierten Engagements hervorhoben, grenzten sie sich nicht zuletzt von den Protesten der Radikalen beziehungsweise Extremisten ab. Dieser Wandel in der Deutung der in der Öffentlichkeit kollektiv gezeigten Emotionen ist sowohl in der zeitgenössischen Wahrnehmung als auch rückblickend analytisch ein Indikator für Veränderungen in der politischen Kultur.

eISSN:
2519-1187
Sprache:
Englisch
Zeitrahmen der Veröffentlichung:
Volume Open
Fachgebiete der Zeitschrift:
Geschichte, Themen der Geschichte, Verfassungs- u. Rechtsgeschichte, Andere Themen der Geschichte, Rechtswissenschaften, Öffentliches Recht, andere, Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften, Kommunale Politik und Verwaltung