Im Zuge der Staatsbildung erlangte Baden, das im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vom Status einer Markgrafschaft zu einem Kurfürstentum (1806) und schließlich zum Großherzogtum (seit 1809) aufstieg, neben seiner Souveränität auch ein geschlossenes Staatsgebiet. Ich danke dem Gutachter, Stefan Nellen und Thomas Stockinger für ihre Kritik und Anregungen! Hans-Peter Ullmann: »Baden 1800 bis 1830«, in: Hansmartin Schwarzmaler et al. (Hg.): Handbuch der badenwürttembergischen Geschichte, Bd. 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, Stuttgart 1992, S. 25–77, hier S. 26–30; weiterhin Willy Andreas: Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in den Jahren 1802–1818, Bd. 1: Der Aufbau des Staates im Zusammenhang der allgemeinen Politik, Leipzig 1913. Organisationsedikt, 26. 11. 1809, in: Grosherzoglich Badisches Regierungsblatt (1809), Nr. 49, S. 395–494 [OrgE 1809], hier S. 395.
Die Bezirke bildeten in der neuen Verwaltungsordnung von 1809 die unterste Ebene der staatlichen Verwaltung. Die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts voranschreitende Verdichtung und Vereinheitlichung des staatlichen Zugriffs auf die lokale (Gemeinde-)verwaltung war konflikt- und spannungsgeladen. Zum Aspekt von Kooperation und Konflikt im Zusammenhang mit dem »administrativen Vorrücken in die Fläche« siehe in konzeptioneller Hinsicht Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer: »Einleitung: Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts«, in: Jörg Ganzenmüller / Tatjana Tönsmeyer (Hg.): Vom Vorrücken des Staates in die Fläche. Ein europäisches Phänomen des langen 19. Jahrhunderts, Köln 2016, S. 7–31, hier S. 8, 10, 12. Weiterhin die einzelnen Beiträge im ersten Abschnitt. Jürgen Maciejewski: Amtmannsvertreibungen in Baden im März und April 1848. Bürokratiekritik, bürokratiekritischer Protest und Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main 2010; Joachim Eibach: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt am Main 1994; Paul Nolte: Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800–1850. Tradition – Radikalismus – Republik, Göttingen 1994. Zur Politik der »Policey« im Sinne einer »absichtsvollen, zweckgerichteten Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse« im 18. Jahrhundert in Baden vgl. André Holenstein: ›Gute Policey‹ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003, Bd. 1, S. 434–518; Bd. 2, S. 827–832, Zitat S. 827.
Als Vertreter der Staatsverwaltung ›vor Ort‹ Der Begriff ›vor Ort‹ nimmt Bezug auf den Bezirk als unterste staatliche Verwaltungsebene und bezieht sich insbesondere auch auf die Gemeindeverwaltungen, Bewohner sowie lokalen Verhältnisse des Bezirks. Der Begriff wurde in diesem Kontext verwendet von Eibach: Staat vor Ort, S. 11–12. OrgE 1809, Beilage C, S. 433.
Als gut ein halbes Jahrhundert später mit der Verwaltungsreform von 1863/1865 eine partizipative Verwaltungspraxis eingeführt wurde, veränderte sich das Verhältnis zwischen dem Bezirksamt als Verwaltungszentrum und der lokalen Gesellschaft grundlegend. Zu Kommunikations- und Aushandlungsprozessen zwischen lokaler Verwaltung und Bürgern vgl. Peter Becker: »Sprachvollzug: Kommunikation und Verwaltung«, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 9–42, hier S. 13–14; Rüdiger von Krosigk: Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2010, S. 15; Stefan Haas / Mark Hengerer: »Zur Einführung. Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne«, in: Stefan Haas / Mark Hengerer (Hg.): Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, Frankfurt am Main 2008, S. 9–22, hier S. 10; Eibach: Staat vor Ort, S. 16–17. Weiterhin Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005; Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005.
Dieser Beitrag geht der Frage nach, in welcher Weise die Praxis der Ortsbereisungen, bei der zwar die Untersuchung mündlich vor Ort durchgeführt wurde, jedoch die gesammelten Informationen in einem Protokoll oder Tagebuch schriftlich festgehalten wurden, die Erzeugung und Wahrnehmung des Bezirks als Verwaltungsraum – vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Bezirksamt als Verwaltungszentrum sowie den Bewohnern und Gemeinden des Bezirks als Teil der lokalen Gesellschaft – beeinflusste. Hierzu wird die Verwaltungspraxis der Ortsbereisungen im Großherzogtum Baden zunächst im Rahmen des stark zentralisierten Verwaltungssystems von 1809 und sodann im Rahmen der partizipativen Verwaltungsorganisation von 1863/1865 bis in die 1870er Jahre untersucht.
Im Hinblick auf die 1863/1865 neu geschaffene ›volkstümliche‹ Einrichtung des Bezirksrats als kollegiales Organ der Bezirksverwaltung rückt die Mittlerrolle der ehrenamtlichen Bezirksräte stärker in den Mittelpunkt des Interesses dieses Beitrags. Für die Besetzung der Bezirksräte ernannte die Regierung jeweils sechs bis neun Bewohner eines Bezirks aus einer von der Kreisversammlung aufgestellten dreifachen Kandidatenliste zu Bezirksräten. Der Bezirksrat als Kollegialorgan wurde vom Amtsvorstand des jeweiligen Bezirks geleitet. Neben der Teilnahme an den monatlichen Sitzungen des Bezirksrats waren die Bezirksräte auch beauftragt, »als Einzelne« »Gesetz, die Organisation der innern Verwaltung betreffend«, 5. 10. 1863, in: Großherzoglich Badisches Regierungs-Blatt (1863), Nr. 44, S. 399–414 [VerwG 1863], hier § 9, S. 402f.
Einem kultur- und medienwissenschaftlichen Raumverständnis folgend ist »nicht der Raum als Begriff einer physikalischen Entität, sondern die Möglichkeit einer Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte« Stephan Günzel: »Raum – Topographie – Topologie«, in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 13–29, hier S. 13. Zum Verwaltungsraum als funktionaler Zusammenhang administrativer Zuständigkeiten vgl. Pascale Cancik: »Verwaltung, Raum, Verwaltungsraum – eine historische Annäherung«, in: Hermann Hill / Utz Schliesky (Hg.): Die Vermessung des virtuellen Raums. E-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems III, Baden-Baden 2012, S. 29–54.
Den von der Verwaltung eingesetzten Medien kommt dabei eine große Bedeutung zu. Als Medien – im Sinne von Mitteln zur Erfüllung eines Zweckes – einer kommunikativen Verwaltungspraxis können beispielsweise Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, eine partizipative Verwaltung – zu der auch das Aushandeln und Vermitteln gehören – sowie die amtliche Öffentlichkeitsarbeit betrachtet werden. Zum Aspekt von »Medien« als »Mittel« vgl. Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, hg. von Alexandra Kemmerer / Markus Krajewski, Frankfurt am Main 2011, S. 115. Vgl. Jörg Döring / Tristan Thielmann: »Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der
Das Medium der schriftlichen Kommunikation in Form von Schriftwechseln, Anordnungen, Berichten und Ähnlichem unterstreicht eine größere Distanz zwischen dem Bezirksamt als Verwaltungszentrum und der lokalen Gesellschaft – hier insbesondere im Hinblick auf entlegenere Gemeinden – im Bezirk. Die räumliche Distanz kommt etwa in der Dauer der Zustellung eines Briefes – im Falle eines Schriftwechsels zwischen dem Bezirksamt und Bezirksangehörigen oder Gemeinden – oder in der Geschwindigkeit, in der Nachrichten im Bezirk zirkulieren, zum Ausdruck. Zu einer auf Schriftlichkeit basierenden Normkommunikation der Zentralverwaltung mit der lokalen Gesellschaft über eine größere Distanz hinweg vgl. Bernd Wunder: »Vom Intelligenzblatt zum Gesetzblatt. Zur Zentralisierung inner- und außeradministrativer Normkommunikation in Deutschland (18./19. Jahrhundert)«, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 9 (1997), S. 29–82; Joachim Eibach: »Die Bekanntmachung der Gesetze und Verordnungen in den badischen Gemeinden ab 1803«, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 142 (1994), S. 431–440; Veronika Duma: »›Worauf die Völker schon lange so sehnsüchtig gewartet haben …‹. Zur Kommunikation der neuen Gemeindeordnung«, in: Peter Becker (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2011, S. 131–153.
Zwei Sichtweisen lassen sich bei einer auf Schriftlichkeit basierten Verwaltungspraxis zwischen Verwaltungszentrum – hier dem Bezirksamt – und lokaler Gesellschaft in Bezug auf die Wahrnehmung des Raumes ausmachen: Für den Amtmann – als die zentrale Figur des Verwaltungszentrums – war die lokale Gesellschaft außerhalb der Gemäuer seines Amtssitzes mittelbar gegeben. Aus der Perspektive der Bewohner des Bezirks wiederum stellte sich das Bezirksamt als Verwaltungszentrum als etwas Entferntes und in einem Gebäude Abgeschlossenes dar. Schriftlichkeit erzeugt Distanz.
Eine andere Wirkung entfaltet eine kommunikative Verwaltungspraxis auf der Grundlage von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit. Das Begriffspaar ›Mündlichkeit‹ und ›Unmittelbarkeit‹ war noch im 19. Jahrhundert – insbesondere in der Rechtsprechung – nur sehr schwer zu trennen. Zu Mündlichkeit und Unmittelbarkeit als Medien der Rechtsprechung, insbesondere mit Blick auf ihre Auslegung bei Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach und seinem Schüler Carl Joseph Anton Mittermaier in den 1820er und 1840er Jahren, vgl. Vismann: Medien der Rechtsprechung, S. 112–129. Zur historischen Entwicklung des Mündlichkeitsprinzips im Zivilprozess im 19. Jahrhundert vgl. Hans-Gerhard Kip: Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip. Geschichte einer Episode des Deutschen Zivilprozesses, Köln 1952. »Präsidialschreiben« vom 17. 9. 1849 des Innenministers Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein (1806–1891), abgedruckt bei Gideon Weizel: Das Badische Gesetz vom 5. October 1863 über die Organisation der innern Verwaltung mit den dazu gehörigen Verordnungen, sammt geschichtlicher Einleitung und Erläuterungen. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Karlsruhe 1864, S. 55. Siehe auch weiter unten in diesem Beitrag. Siehe dazu den Vortrag des badischen Ministerialrats Gideon Weizel von 1847 zur Konzeption einer guten Verwaltungspraxis: Generallandesarchiv Karlsruhe [GLA], 236/3570, Vortrag Weizel, Erste Abteilung, fol. 15. Zu diesem Vortrag ausführlicher Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 82–86. Zur Bedeutung kommunikativer Prozesse für die Wahrnehmung und Erzeugung von Räumen vgl. Gabriela B. Christmann: »Das theoretische Konzept der kommunikativen Raum(re)konstruktion«, in: Gabriela B. Christmann (Hg.): Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen, Wiesbaden 2016, S. 89–117; Becker: »Sprachvollzug«, S. 18–28; Alexander C. T. Geppert / Uffa Jensen / Jörn Weinhold: »Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840–1930«, in: Alexander C. T. Geppert / Uffa Jensen / Jörn Weinhold (Hg.): Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 15–49.
Zu einer partizipativen Verwaltungspraxis gehörte auch die Darstellung der Bezirke in den amtlichen »Jahresberichten der Landeskommissäre«, die vor allen Dingen auf den Informationen der Ortsbereisungen aufbauten und seit Mitte der 1860er Jahre veröffentlicht wurden. Durch die Beschreibung und den Vergleich der Verwaltungsverhältnisse in den einzelnen Bezirken beeinflussten die Jahresberichte die Erzeugung und Wahrnehmung des Bezirks als Verwaltungsraum. Zur Erzeugung von Räumen durch Beschreibung vgl. Günzel: »Raum«, S. 13; Lars Behrisch: »Vermessen, Zählen, Berechnen des Raums im 18. Jahrhundert«, in: Lars Behrisch (Hg.): Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raumes im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006, S. 7–25, hier S. 16; weiterhin Döring / Thielmann: »Einleitung«, S. 13.
Die Medien, die die badische Verwaltung mit ihrer partizipativen Verwaltungspraxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbaute und einführte, zielten darauf ab, räumliche Distanz zwischen Zentralverwaltung und Bezirksverwaltung sowie zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft zu verkleinern – und damit in einem gewissen Sinne auch die Verwaltungsräume zu minimieren. Hierzu wurde eine Beteiligung von Bürgern auf der Ebene der Bezirksverwaltung eingeführt: Die Bürger wurden der Verwaltung näher gebracht, indem die Verwaltung sich selbst den Bürgern näher brachte.
Die zentrale These von der Wirkung der Verwaltungspraxis – hier insbesondere der Ortsbereisungen – auf die Erzeugung und Wahrnehmung des Verwaltungsraumes wird folgendermaßen entwickelt: Zunächst werden die Ortsbereisungen im Kontext des Reitzenstein’schen Verwaltungssystems von 1809 untersucht. Hierbei wird die Entwicklung der Ortsbereisungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt und gezeigt, welche Wirkung ihre Praxis auf die räumliche Distanz zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft hatte. Im zweiten Abschnitt werden zunächst die mit der Verwaltungsreform von 1863/1865 neu eingeführten Landeskommissäre und Bezirksräte im Hinblick auf ihre Mittlerrolle zwischen Verwaltungszentrum und Bezirksverwaltung sowie lokaler Gesellschaft im Zeichen einer unmittelbaren Verwaltungspraxis vorgestellt. Sodann geht es um die Rolle der Bezirksräte als Mittler zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft im Kontext einer partizipativen Verwaltungspraxis. Auch wird der Frage nach der Wirkung der Bezirksräte auf die räumliche Verfassung des Bezirks als Verwaltungsraum nachgegangen. Abschließend wird ein Blick vornehmlich auf die »Jahresberichte der Landeskommissäre« geworfen, die auf den Informationen der Ortsbereisungen beruhten und seit Mitte der 1860er Jahre die Vorstellung des Bezirks als Verwaltungsraum mittelbar mitprägten.
Das Reitzenstein’sche Organisationsedikt von 1809 prägte die Verwaltung im Großherzogtum Baden bis zur liberalen Reform von 1863/1865. Ein wesentliches Merkmal der Verwaltung von 1809 war der stark ausgeprägte Zentralismus, der seinen Mittelpunkt im Innenministerium fand und eine gleichförmige Tätigkeit der Bezirksverwaltung sicherstellen sollte: »Von einem obersten Punkte aus sollte sich der staatliche Wille in immer weiteren Kreisen gleichmäßig über das Land ausdehnen«. Andreas: Verwaltungsorganisation, Bd. 1, S. 265; zur Entstehung der Bezirke auch Walter Grube: Vogteien, Ämter, Landkreise in Baden-Württemberg, Bd. 1: Geschichtliche Grundlagen, Stuttgart 1975, S. 100–104. Zur Einteilung der Ämter und der Kreisdirektorien infolge des Organisationsedikts von 1809 vgl. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 32–36; auch Berthold Krapp: Die badische Ämterorganisation vom Reichsdeputationshauptschluß bis zum Ende der Rheinbundzeit, Karlsruhe 1931, S. 36, 40–45.
Aus der Perspektive der 1860er Jahre äußerte sich Ministerialrat Gideon Weizel in seinem Kommentar zum liberalen Verwaltungsgesetz von 1863 – gewissermaßen aus einer Innenperspektive der Verwaltung – kritisch über die Reitzenstein’sche Verwaltungsorganisation von 1809. Das Reitzenstein’sche Organisationsedikt wird allgemein als eine besonders bürokratische und hierarchische Verwaltungsorganisation betrachtet. So Eibach: Staat vor Ort, S. 31–34; Ludwig Seiterich: »Kreisdirektorium und Kreisregierung im ehemaligen Grossherzogtum Baden und die historische Entwicklung ihrer Zuständigkeiten«, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 42 (1929), S. 493–556, hier S. 497–500. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 41. Zur verwaltungsinternen Bürokratiekritik und Reformdiskussion Mitte der 1840er Jahre vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 73–77. Die Zahl der Kreise wurde von zunächst zehn auf neun (1809), dann auf acht (1815) und sechs (1819) herabgesetzt. Die Reformen dienten insbesondere einer Vereinfachung und Beschleunigung des Geschäftsgangs; vgl. Seiterich: »Kreisdirektorium und Kreisregierung«, S. 533–534.
Eine weitreichende Reform der Mittelstellen erfolgte durch die landesherrliche Verordnung vom 26. Januar 1832. Die sechs Kreisdirektorien wurden aufgehoben und an ihrer Stelle vier Kreisregierungen eingesetzt. Die neuen Kreise wurden »unter Berücksichtigung seiner [des Großherzogtums] geographischen Lage und des Handelszugs einzelner Distrikte« eingeteilt, wie sich auch in den Namen widerspiegelte: Seekreis (mit Sitz in Konstanz), Oberrheinkreis (Freiburg), Mittelrheinkreis (Rastatt, seit 1847 Karlsruhe) und Unterrheinkreis (Mannheim). »Eintheilung des Großherzogthums in vier Kreise und Aufstellung von Regierungen betreffend«, 26. 1. 1832, in: Großherzoglich Badisches Staats- und Regierungs-Blatt (1832), Nr. 9, S. 133–134; vgl. Seiterich: »Kreisdirektorium und Kreisregierung«, S. 538. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 61; vgl. Seiterich: »Kreisdirektorium und Kreisregierung«, S. 540–541. Zu den Kompetenzen der Kreisregierungen gehörten wichtige Fragen des Gemeindewesens: »Verordnung über die Competenz in Gemeindesachen und über die Zahl der Instanzen dabei«, 17. 7. 1833, in: Großherzoglich Badisches Staats- und Regierungs-Blatt (1833), Nr. 32, S. 183–186, hier S. 183–184; außerdem frühere Geschäfte des Innenministeriums: »Verordnung, die Vereinfachung der Geschäftsbehandlung bei den Verwaltungsstellen, insbesondere die Competenzbestimmung derselben betreffend«, 21. 6. 1850, in: Großherzoglich Badisches Regierungsblatt (1850), Nr. 31, S. 230–232 [VereinfVO], hier S. 232.
Ministerialrat Weizel – noch immer aus der Perspektive der partizipativen Verwaltungsreform von 1863 – sah mit Blick auf die Verwaltungsorganisation von 1809 in den geringen Kompetenzen der unteren Verwaltungsstellen – also vor allem der Bezirksämter – eine wesentliche Ursache für das »so viel besprochene und beklagte Vielregieren und in seinem Gefolge die Vielschreiberei«. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 45.
Weizel: Das Badische Gesetz, S. 45.
Zwar trafen die Kreisregierungen ihre Entscheidungen auf der Grundlage der Berichte der Bezirksämter, doch ob diese immer auch auf »eigener Anschauung« Weizel: Das Badische Gesetz, S. 45.
Weizel: Das Badische Gesetz, S. 45–46.
Zwar folgte die Erweiterung der Kompetenzen der Bezirksämter infolge der Verordnung vom 21. Juni 1850 »zur Vereinfachung der Geschäftsbehandlung bei den Verwaltungsstellen« VereinfVO. Zitat nach Weizel: Das Badische Gesetz, S. 54; vgl. Seiterich: »Kreisdirektorium und Kreisregierung«, S. 549–550.
Mit dem Reitzenstein’schen Organisationsedikt von 1809 wurden auch Rüge- und Vogtgerichte eingeführt, die die Amtmänner periodisch spätestens alle drei Jahre in jedem Ort des Bezirks durchführen sollten. Dabei ging es jedoch nicht mehr um Gerichtstage, sondern um »alle Gegenstände der amtlichen Verwaltung«, die entweder an »Ort und Stelle« zu erledigen oder deren Erledigung einzuleiten war. OrgE 1809, Beilage C, S. 433. Im Organisationsedikt bezeichnete man die Ortsbereisungen noch als »Rug- oder Vogt-Gerichte«; OrgE 1809, Beilage C, S. 433. In der diesbezüglichen Vollzugsverordnung hießen sie nur »Vogtgerichte«; »Die Vogtgerichte betreffend«, 3. 10. 1811, in: Großherzoglich-Badisches Regierungsblatt (1811), Nr. 27, S. 127–133 [VogtGerVO 1811]. In den folgenden Jahrzehnten verwandte man dann allerdings meist die Bezeichnung ›Rügegerichte‹; vgl. »Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden«, 31. 12. 1831, in: Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungs-Blatt (1832), Nr. 8, S. 81–115 [GemeindeG 1831], hier § 151, S. 113; Erlass vom 11. 12. 1849 gemäß Friedrich Fröhlich: Die badischen Gemeindegesetze sammt den dazu gehörigen Verordnungen und Ministerial-Verfügungen, mit geschichtlichen und erläuternden Einleitungen und Anmerkungen. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, Karlsruhe 21861, S. 250. Als das Innenministerium 1858 die vielzähligen Veränderungen, die das GemeindeG 1831 im Laufe der Jahrzehnte erfahren hatte, noch einmal zusammenfassend veröffentlichte, wurde der Terminus ›Rügegericht‹ beibehalten; »Die Zusammenstellung der Gemeindegesetze vom 31. Dezember 1831 mit ihren bisher erschienen Abänderungen betreffend«, 5. 11. 1858, in: Großherzoglich Badisches Regierungsblatt (1858), Nr. 57, S. 511–574, hier § 172, S. 552. Im Erlass des Innenministeriums, »die Vornahme der Ortsbereisungen durch die Amtsvorstände betreffend«, vom 22. 5. 1858, Nr. 5887, in: Großherzoglich Badisches Central Verordnungsblatt (1858), Nr. 8, S. 39–41 [OrtsberE 1858], wird schließlich der Terminus ›Ortsbereisungen‹ verwendet. Zum Wandel des Informationsinteresses am Beispiels Badens im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vgl. André Holenstein: » Siehe dazu auch den Beitrag von Birgit Näther in diesem Band. Zum Bedarf an spezifischen Informationen als Voraussetzung
Praxis und Gegenstände des »Vogtgerichts« wurden auf dem Wege der Verordnung vom 3. Oktober 1811 konkretisiert. VogtGerVO 1811, S. 127–133. VogtGerVO 1811, S. 128. VogtGerVO 1811, S. 132, Punkt 27. VogtGerVO 1811, S. 130, Punkt 14. VogtGerVO 1811, S. 129–130. VogtGerVO 1811, S. 132, Punkt 28. Zu administrativen Techniken und Verfahren der InformationsbeSchaffung und -übermittlung wie Protokollen, Fragebögen, Formularen vgl. Becker: »Beschreiben«, S. 397–400; Holenstein: »Gute Policey und Information des Staates«, S. 205–206; Peter Becker / William Clark: »Introduction«, in: Peter Becker / William Clark (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices, Ann Arbor 2001, S. 1–34. Zur Information als Kategorie historischer Forschung vgl. Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich: »Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff«, in: Arndt Brendecke / Markus Friedrich / Susanne Friedrich (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008, S. 11–44. Aus dem spanisch-lateinamerikanischen Kontext vgl. Arndt Brendecke: »Tabellen und Formulare als Regulative der Wissenserfassung und Wissenspräsentation«, in: Wulf Oesterreicher / Gerhard Regn / Winfried Schulze (Hg.): Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität, Münster 2003, S. 37–53.
Die zu begutachtenden Angelegenheiten wurden in der Verordnung zur Durchführung von »Vogtgerichten« vom 3. Oktober 1811 einzeln aufgelistet und bezogen sich auf Gegenstände, die das »allgemeine Staatswohl oder das Wohl des Orts betrafen«. VogtGerVO 1811, S. 128. VogtGerVO 1811, S. 129. Im Bereich der Gemeindeverwaltung sollten untersucht werden: Verwaltungsunterlagen: Gemeindeschriften, Verordnungen sowie deren Verzeichnis (Punkt 8); Finanz- und Besitzverhältnisse: Grundbücher, Unterpfandbücher, Kontraktenprotokolle (Punkt 8); Eignung der Personen mit Gemeindeämtern (Punkt 9). VogtGerVO 1811, S. 129, Punkte 11 und 12. VogtGerVO 1811, S. 130, Punkt 14: »Allmend-Stücke, Waiden, und öde Plätze«. VogtGerVO 1811, S. 130, Punkt 15: Zustand öffentlicher Bauten (Kirche, Pfarrhaus, Schule, Rathaus, Hirtenhaus, Bürgerturm) sowie Gebäude mit Feuergewerbe, gemeinwirtschaftliche Ortsbacköfen und Waschhäuser; Punkt 16: Feuerspritzen und Löschwerkzeuge. VogtGerVO 1811, S. 130–131, Punkt 17: zur Vermeidung von Überschwemmungen Zustand von Dämmen und Schleusen, Pflanzungen zum Anbau von Faschinen; Nutzung der Gewässer für Wasserwerke (Mühlen u. a.); Punkt 18: Zustand von Land- oder Vicinalstraßen und Brücken. VogtGerVO 1811, S. 131, Punkt 20: Zustand von Trinkwasser und Brunnenstuben und in Verbindung damit Umwandlung von Schöpfin Pumpbrunnen, Vorsorge von Ausfluss bei stehenden Gewässern sowie Kontrolle der Lage des Friedhofs im Hinblick auf Hygiene. VogtGerVO 1811, S. 131, Punkt 22: Vorkommen von Mineralien (Heilquellen, Salzquellen, Torf, Steinkohle, Gips und Steingruben). VogtGerVO 1811, S. 131–132, Punkte 23, 24 und 25.
Die Ortsbereisungen stellten zunächst einmal eine wichtige Form einer kommunikativen Verwaltungspraxis dar, die der (Zentral-)Verwaltung die entsprechenden Informationen über die lokalen Verhältnisse und wichtige örtliche Kenntnisse erschließen sollte. Allerdings war die Praxis periodischer Ortsbereisungen zunächst noch von den normativen Vorgaben weit entfernt. Waren die Landgemeinden noch zu Beginn des Jahrhunderts für die Zentralverwaltung weitgehend »terra incognita«, Eibach: Staat vor Ort, S. 79. Holenstein: Gute Policey und lokale Gesellschaft, Bd. 2, S. 529–530; Eibach: Staat vor Ort, S. 78–79. Eibach: Staat vor Ort, S. 142. Eibach: Staat vor Ort, S. 63, 78–79, 142. Eibach: Staat vor Ort, S. 142. Eibach: Staat vor Ort, S. 92, 111. Eibach: Staat vor Ort, S. 142.
Erst nach der Revolution von 1848/1849 wurden die Ortsbereisungen regelmäßig durchgeführt. Dabei lässt sich am Beispiel der beiden Erlasse vom 11. Dezember 1849 und 22. Juni 1858 zeigen, dass sich die Herangehensweise der Bezirksverwaltung hinsichtlich der Kommunikation mit der lokalen Gesellschaft im Allgemeinen und im Rahmen der Ortsbereisungen im Besonderen unter dem Eindruck der Revolution grundlegend gewandelt hat.
Mit der Revolution von 1848/1849 veränderten Regierung und Verwaltung den Blick auf das Verhältnis zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft. Man erkannte die Bedeutung einer formellen wie informellen kommunikativen Verwaltungspraxis für die Akzeptanz der staatlichen Verwaltung. Durch den persönlichen Kontakt mit den führenden Persönlichkeiten und ehrenamtlichen Amtsträgern in den Gemeinden sollten die Amtsvorstände dabei helfen, die Akzeptanz der Verwaltung bei der lokalen Gesellschaft zu verbessern. Letztlich sollte dadurch die räumliche Distanz zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft verringert werden. Zur Politisierung der Wahrnehmung der bürokratischen Verwaltung im Vormärz vgl. Bernd Wunder: »Bürokratie. Die Geschichte eines politischen Schlagwortes«, in: Adrienne Héritier (Hg.): Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein, Opladen 1987, S. 277301.
Mit seinem »Präsidialschreiben« vom 17. September 1849 unternahm Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein (1806–1891), der nach der Niederschlagung der Revolution von Großherzog Leopold im Juni 1849 als Nachfolger Johann Baptist Bekks zum Innenminister ernannt worden war, einen ersten Ansatz zur Stärkung der Kommunikation und Kooperation zwischen den Amtsvorständen sowie einflussreichen Persönlichkeiten und Amtspersonen. Zur Umsetzung der neuen Verwaltungsführung gab er den Amtsvorständen detaillierte Anweisungen. Ein Entwurf des Präsidialschreibens des Innenministers Marschall von Bieberstein vom 17. 9. 1849 findet sich in GLA 236/8212, fol. 47–48, hier allerdings
Die Amtsvorstände wurden beauftragt, unter Rücksichtnahme auf die »Bedürfnisse der Amtsangehörigen« die Entwicklung im Amtsbezirk zu fördern, Weizel: Das Badische Gesetz, S. 55. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 55. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 55.
Die Verwaltung öffnete sich aber nicht einfach nur gegenüber lokalen Interessen und Bedürfnissen als legitimen Einflussfaktoren auf die Meinungsbildung des Amtsvorstandes, sondern nutzte die Kommunikation mit der lokalen Gesellschaft umgekehrt auch dazu, Einfluss auf den Willensbildungsprozess auszuüben, indem »richtigere Begriffe über Zweck und Motive der Regierungsmaßregeln verbreitet« wurden. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 55. Weizel: Das Badische Gesetz, S. 56.
Mit dem Erlass vom 11. Dezember 1849 erteilte das Innenministerium die Ermächtigung, die »Rügegerichte« einstweilen auszusetzen. Auf Verlangen einer Gemeinde oder Staatsbehörde musste jedoch ein Rügegericht durchgeführt werden; Fröhlich: Gemeindegesetze, S. 250. Der Erlass vom 11. 12. 1849, Nr. 16944, wird sinngemäß wiedergegeben im OrtsberE 1858, S. 40–41; ähnlich bei Fröhlich: Gemeindegesetze, S. 250; Weizel: Das Badische Gesetz, S. 56. Fröhlich: Gemeindegesetze, S. 250. Fröhlich: Gemeindegesetze, S. 250; Weizel: Das Badische Gesetz, S. 56, mit Bezugnahme auf den Erlass des Ministeriums des Innern vom 11. 12. 1849, Nr. 16944.
Gut ein Jahrzehnt nach dem Erlass der Verordnung vom 11. Dezember 1849 zeigte sich das Innenministerium mit den Ergebnissen dieser Aufsichtspraxis über die Gemeinden zufrieden. So wies das Innenministerium eingangs im neuen Erlass vom 22. Mai 1858 zur Vornahme von »Ortsbereisungen durch die Amtsvorstände« noch einmal ausführlich auf die im Erlass vom 11. Dezember 1849 angestrebten Ziele unmittelbarer Kommunikation und Kooperation zwischen Amtsvorständen und lokalen Führungspersönlichkeiten hin:
OrtsberE 1858, S. 40–41, mit Bezugnahme auf den Erlass vom 11. 12. 1849, Nr. 16944; vgl. Fröhlich: Gemeindegesetze, S. 250; Weizel: Das Badische Gesetz, S. 56.
Vor dem Hintergrund der positiven Ergebnisse und Gewissenhaftigkeit der Ortsbereisungen seit 1849 wurde ihre Vornahme mit dem Erlass des Innenministeriums vom 22. Mai 1858 vereinfacht. Die größeren Gemeinden sollten weiterhin jährlich, die kleineren hingegen alle zwei Jahre visitiert werden. OrtsberE 1858, S. 40; vgl. Eibach: Staat vor Ort, S. 143. OrtsberE 1858, S. 40. Roland Vetter: »Die Untersuchung der Zustände der Stadt Eberbach aus dem Jahre 1855«, in: Eberbacher Geschichtsblatt 87 (1979), S. 22–44, hier S. 25.
Bezirksamtmann Guerillot erfasste im Tagebuch für die Stadt Eberbach eine ganze Reihe von lokalen Verhältnissen und Verwaltungsangelegenheiten. Hierzu gehörten: die Gemarkung der Stadt und ihrer Umgebung, klimatische Verhältnisse, Bevölkerung, Nahrungsquellen (Industrie, Handel, Schifffahrt und Fischerei, Kleingewerbe, Landwirtschaft, Wohlstand), sittliche Zustände, politisches Treiben, kirchliche Verhältnisse und Verkehr. In einem besonderen Abschnitt behandelte Guerillot weiterhin die Aspekte: Gemeindeverwaltung, Schulen, Stiftungen, Vormundschaftswesen und Polizei (Allgemein, Sittlichkeit, Sicherheit, Armenpflege, Feldpolizei, Forst- und Jagdpolizei, Straßenpolizei, Gesundheitspolizei, Gewerbepolizei, Baupolizei). Vetter: »Untersuchung«, S. 25–42.
Letztlich praktizierte der beflissene Bezirksamtmann bei der Ortsbereisung eine unmittelbare und mündliche Erhebung der Informationen. Zum einen trug er damit zur Verringerung der Distanz zwischen dem Bezirksamt als Verwaltungszentrum und der lokalen Gesellschaft der Stadt Eberbach bei. Zum anderen schuf er durch die Erfassung umfangreicher Informationen und Erkenntnisse zu den (land-)wirtschaftlichen, infrastrukturellen, sicherheits-, wohlfahrts- und gesundheitspolizeilichen Verhältnissen vor Ort die Grundlage dafür, dass die Verwaltungsverhältnisse des lokalen Raumes schriftlich abgebildet werden konnten. Hier bot die Schriftlichkeit des Tagebuchs den höheren Verwaltungsstellen einen mittelbaren Zugang zur Stadt Eberbach als Verwaltungsraum. ZU Konzepten des politischen und administrativen Raumes vgl. Becker: »Beschreiben«, S. 394; Behrisch: »Vermessen«, S. 9–17. ZU Raumkonzeptionen aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive vgl. Cancik: »Verwaltung, Raum, Verwaltungsraum«.
Mit dem Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung von 1863 reformierte die liberale Regierung unter Leitung des Innenministers August Lamey die bisherige dreigliedrige Verwaltung mit Innenministerium, Kreisregierungen und Bezirksämtern von Grund auf. Siehe VerwG 1863; Grube: Vogteien, Ämter, Landkreise, S. 109–114. Zu den konzeptionellen Grundlagen der ›volkstümlichen‹ Verwaltung von 1863 vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 140. Zum historisch-politischen Kontext der liberalen Ära vgl. Lothar Gail: Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968, S. 171–191. Zur Verwaltungsreform von 1863/1865 vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 140–143. Auf die Einführung eines Verwaltungshofes braucht an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Im Einzelnen hat man diese Reformziele folgendermaßen umgesetzt: Mit der körperschaftlichen Selbstverwaltung der Kreisverbände Auf der Ebene der Kreisverwaltung wurde eine weitreichende körperschaftliche Kreisselbstverwaltung zur Pflege »gemeinsamer öffentlicher Interessen und Angelegenheiten« mit einer Kreisversammlung und einem Kreisrat zur Konstituierung eines Verwaltungsraums eingeführt. Zur Geschichte der Kreisverbände sowie deren Funktionen vgl. Cornelius Gorka: »Das Organisationsgesetz von 1863 und die Entstehung der Kreise«, in: Bernd Breitkopf (Hg.): 140 Jahre kommunale Selbstverwaltung im Landkreis Karlsruhe. Entstehung und Entwicklung, Aufgaben und Organe, Wahlen und Abgeordnete, Ubstadt-Weiher 2003, S. 20–32. VerwG 1863, § 9. VerwG 1863, § 2.
So stellte Innenminister August Lamey in der Diskussion des Regierungsentwurfs zum Organisationsgesetz fest, »daß es das Streben unserer Zeit ist, das Staatswesen organisch mit der Gesamtbevölkerung zu verbinden und in eine Einheit zusammenzufassen«. »Rede des Präsidenten des Ministeriums des Innern, Staatsrath Dr. Lamey, in der 84. öffentlichen Sitzung der Zweiten Kammer vom 6. d. M.«, in: Karlsruher Zeitung (9. 5. 1863); vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 134–135. VerwG 1863, § 9.
Zwar führte die Regierung mit dem Gesetz eine Bürgerbeteiligung in der Kreis- und Bezirksverwaltung ein, doch stärkte sie gleichzeitig auch die Aufsicht durch das Innenministerium. Um das Verwaltungszentrum näher an die Bezirksverwaltung heranzuführen, wurde die Einrichtung von vier Landeskommissären geschaffen, die als Bevollmächtigte Sitz und Stimme im Innenministerium hatten, aber in den vier Kreisen »über die Amt- und Kreisverwaltung und deren Beamte die unmittelbare Aufsicht« führten. VerwG 1863, § 22; vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 166–170.
Die einzelnen Bestimmungen ihrer Tätigkeit machen deutlich, dass die Regierung eine möglichst unmittelbare Kontrolle und Aufsicht im weiteren Sinne über die »Dienstführung der Beamten« und die »Zustände der Verwaltung« VerwG 1863, § 22, Ziffer 1. VerwG 1863, § 22, Ziffer 2. VerwG 1863, § 22, Ziffer 1. VerwG 1863, § 22, Ziffer 3. VerwG 1863, § 22, Ziffer 2. VerwG 1863, § 22, Ziffer 5.
Die Vollzugsverordnung vom 12. Juli 1864 erweiterte noch einmal die Befugnisse der Landeskommissäre und gab ihnen die Vollmacht, in jede Verwaltungstätigkeit eingreifen zu können und beispielsweise in Bezirksratssitzungen – außer bei Gegenständen der Verwaltungsgerichtsbarkeit – den Vorsitz zu übernehmen. »Vollzugsverordnung zum Gesetze über die Organisation der inneren Verwaltung«, 12. 7. 1864, in: Großherzoglich Badisches Regierungs-Blatt (1864), S. 333–366 [VO 1864], § 18. VO 1864, § 19. VO 1864, § 19.
Die Vollzugsverordnung von 1864 stärkte noch einmal die Aufsichts- und Mittlerrolle der Landeskommissäre zwischen Innenministerium und Bezirk. So war es »vorzugsweise Aufgabe der Landeskommissäre, den Vollzug der Verwaltungsgesetze und der Verwaltungseinrichtungen im Geiste der Landesverfassung und des Gesetzes vom 5. Oktober 1863 zu überwachen«. VO 1864, § 17. VO 1864, § 17. »Badischer Landtag, Karlsruhe, 8. Mai. 86. öffentliche Sitzung der Zweiten Kammer«, in: Karlsruher Zeitung (9. 5. 1863).
Die Einführung von Landeskommissären kam einem Paradigmenwechsel gleich, da sie eine auf Unmittelbarkeit beruhende Verwaltungspraxis förderte: So erklärte August Lamey in der »Begründung zum Gesetz über die Organisation der Verwaltung«, dass die »häufige Untersuchung der öffentlichen Zustände und der Dienstführung der Executivbeamten an Ort und Stelle, die persönliche Prüfung und Beseitigung von Beschwerden und Mißständen, sowie das unmittelbar nachhelfende Eingreifen der höheren Organe […] eine so wichtige Aufgabe einer guten Verwaltung« sei, dass diese »mehrere[n] Mitgliedern des Ministeriums« in fest umgrenzten Bezirken aufgetragen werden sollte. »Begründung zum Gesetz über die Organisation der Verwaltung«, in: Verhandlungen der Stände-Versammlung des Großherzogthums Baden in den Jahren 1861/63. Enthaltend die Protokolle der zweiten Kammer, Beilagenheft 4/2, Karlsruhe 1863, S. 627–643 [Begr VerwG], hier S. 634.
»Badischer Landtag, Karlsruhe, 8. Mai. 86. öffentliche Sitzung der Zweiten Kammer«, in: Karlsruher Zeitung (9. 5. 1863).
Die Regierung maß den Landeskommissären »für die Entwicklung eines lebendigeren und volksthümlicheren Geistes in der innern Staatsverwaltung« besonderen »Werth« und »Bedeutung« bei. Begr VerwG, S. 637. Begr VerwG, S. 634–635.
Der Bezirksrat war eine eigentümliche Neuschöpfung des Verwaltungsgesetzes von 1863. Unter dem Vorsitz des Bezirksbeamten war der Bezirksrat für einen wesentlichen Teil der inneren Verwaltung zuständig und übte in der ersten Instanz die Rechtspflege in Streitigkeiten des öffentlichen Rechts aus. Besetzt war er mit sechs bis neun Bezirksräten, die von der Regierung aus einer von der Kreisversammlung aufgestellten dreifachen Kandidatenliste ernannt wurden. VerwG 1863, § 2 und § 60, Absatz 1.
Hinter der Figur des Bezirksrats stand unter anderem die Einsicht, dass die herkömmliche Form einer auf Schriftlichkeit beruhenden Verwaltungspraxis nicht ausreichte, um in der lokalen Gesellschaft Akzeptanz für Verwaltungsentscheidungen zu erzielen. So erhoffte sich die Regierung in der »Begründung« zum Gesetz über die Organisation der Verwaltung vom 9. Februar 1863, dass die »Mitwirkung der tüchtigsten und durch ihre Einsicht und ihren Gemeinsinn ausgezeichneten Männer der Bezirke unter der Leitung des ständigen angestellten Staatsbeamten bei einer Reihe von staatlichen Geschäften nicht nur eine berechtigte Forderung der Zeit, sondern auch von dem größten Nutzen für das Vertrauen in die gerechte und umsichtige Handhabung der öffentlichen Gewalt« Begr VerwG, S. 632.
Die Mitwirkung der Bezirksräte sollte sich insbesondere auf öffentliche Angelegenheiten erstrecken, bei denen besondere lokale Kenntnisse vorteilhaft waren. Von einer Mitarbeit der Bezirksräte erwartete sich die Regierung »die zur richtigen Beurtheilung der thatsächlichen Grundlagen erforderlichen Erfahrungen und Kenntnisse des öffentlichen, namentlich des Gemeindelebens«. Begr VerwG, S. 632–633.
Sie sollten ihre Kenntnisse des lokalen Raumes, zu dem die örtlichen Verwaltungsverhältnisse und die lokale Gesellschaft gehörten, in die Bezirksverwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit einbringen. Es war die Absicht, dadurch die Distanz zwischen dem Verwaltungszentrum und der lokalen Gesellschaft zu verringern. Diese vermittelnde Rolle konnten die Mitglieder des Bezirksrats als Verwaltungsorgan und Verwaltungsgericht erster Instanz sowie in ihrer Funktion ›als Einzelne‹ in ihren Distrikten ausüben. Zur Verwaltungsgerichtsbarkeit vgl. Gernot Sydow: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Eine Quellenstudie zu Baden, Württemberg und Bayern mit einem Anhang archivalischer und parlamentarischer Quellen, Heidelberg 2000; Gernot Sydow: »Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden«, in: Karl-Peter Sommermann / Bert Schaffarzik (Hg.): Handbuch der Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland und Europa, Berlin 2017 [im Druck].
Die Kompetenzen des Bezirksrats als Verwaltungsgericht erster Instanz waren insbesondere auf Bereiche ausgerichtet, bei denen die örtlichen Kenntnisse der Ehrenbeamten hilfreich sein konnten. Die Zuständigkeiten umfassten beispielsweise das Heimats- und Ortsbürgerrecht sowie den Bürgernutzen oder die Frage nach der Höhe der Beiträge und persönlichen Leistungen zu Gemeindezwecken. VerwG 1863, § 5. Weiterhin war der Bezirksrat als erste Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig für: Beiträge zu Kriegskosten; Beiträge und Leistungen Vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 149–154. Begr VerwG, S. 630.
Auch im Hinblick auf Verwaltungssachen hatte der Bezirksrat eine Reihe von Befugnissen inne, die sich – wie etwa die Erkenntnis zur Notwendigkeit öffentlicher Bauten – auf gemeindliche und lokale Verhältnisse bezogen. VerwG 1863, § 6: Der Bezirksrat beschloss unter anderem in folgenden Verwaltungssachen: Notwendigkeit öffentlicher Bauten; Erteilung der Staatsgenehmigung zu Beschlüssen der Gemeinden und ihrer Behörden; Voranschlag des Gemeindehaushalts, wenn der Bezirksbeamte Anstand nimmt; Gesuche und Anträge auf Verleihung von Wirtschaftsrechten und anderen Gewerbekonzessionen; Zulässigkeit gewerblicher Anlagen. VerwG 1863, § 7. VerwG 1863, § 8.
Neben den Kompetenzen, die ein Bezirksrat als Kollegium ausübte, hatten die Bezirksräte eine ganze Reihe von Funktionen, die sie ›als Einzelne‹ in ihrem Distrikt zugesprochen bekamen. Zur statistischen Entwicklung der ›Einzeltätigkeiten‹ der Bezirksräte vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 212–213. Zu den polizeilichen Funktionen der Bezirksräte und deren Ausübung vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 208–210.
Wie viel Bedeutung das Innenministerium den polizeilichen Funktionen beimaß, lässt sich daran erkennen, dass es noch vor Inkrafttreten des Gesetzes, nämlich am 20. August 1864, die polizeilichen Funktionen auf dem Verordnungswege regelte. PolFVO 1864. VerwG 1863, § 9, Ziffer 1, und POIFVO 1864, § 1. POIFVO 1864, § 9.
In ihren Distrikten mussten die Bezirksräte ihr »Augenmerk« »auf die allgemeinen und örtlichen polizeilichen Zustände« richten. POIFVO 1864, § 2.
POIFVO 1864, § 3.
Von ihren »Wahrnehmungen« bezüglich Sicherheit und Ordnung hatten sie dem Bezirksbeamten »Mitteilung« POIFVO 1864, § 3. POIFVO 1864, § 4. POIFVO 1864, § 4. VerwG 1863, § 9, Ziffer 1; POIFVO 1864, § 5–6.
Ein weiterer Wirkungsbereich war die öffentliche Hygiene. Hier baute man etwa ein Jahrzehnt nach der Einrichtung der Bezirksräte ihre Befugnisse mit der Verordnung zur »Sicherung der öffentlichen Gesundheit und Reinlichkeit« vom 27. Juni 1874 weiter aus. »Verordnung: Die Sicherung der öffentlichen Gesundheit und Reinlichkeit betreffend«, 27. 6. 1874, in: Gesetzes- und Verordnungs-Blatt für das Großherzogthum Baden (1874), Nr. 28, S. 353–359 [GesRein-VO 1874]. GesReinVO 1874, § 1, Ziffer 8. Zum Aspekt der Implementation – wenn auch für die Frühe Neuzeit – vgl. Achim Landwehr: Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000; Achim Landwehr: »Policey vor Ort. Die Implementation von Policeyordnungen in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit«, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 47–70. Für einen historisch-politikwissenschaftlichen Ansatz vgl. Thomas Ellwein: Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe, 2 Bde., Opladen 1993–1997. Zur politikwissenschaftlichen ›Implementationsforschung‹ vgl. Renate Mayntz (Hg.): Implementation politischer Programme II. Ansätze zur Theoriebildung, Opladen 1983; Renate Mayntz (Hg.): Implementation politischer Programme. Empirische Forschungsberichte, Königstein im Taunus 1980.
Solche ortsspezifischen Kenntnisse des Verwaltungsraumes waren insbesondere bei der Umsetzung der gesetzlichen Vorschriften zur Errichtung von Gruben in Städten in entsprechende bezirkspolizeiliche Vorschriften notwendig. GesReinVO 1874, § 1. GesReinVO 1874, § 1, Ziffer 8. VerwG 1863, § 7. GesReinVO 1874, § 1, Ziffer 9. GesReinVO 1874, § 3, Absatz 3. GesReinVO 1874, § 5, Absatz 3.
Dem Bezirksrat waren auch unmittelbar beaufsichtigende Funktionen bei der Implementierung der Verordnung zugeschrieben. Dies betraf zum Beispiel die »periodische Reinigung« von Gewässern innerhalb von Ortschaften, die die »Ortspolizeibehörde unter Aufsicht des Bezirksamts zu regeln und zu überwachen« hatte. GesReinVO 1874, § 5, Absatz 7. GesReinVO 1874, § 8. GesReinVO 1874, § 12, Absatz 2. GesReinVO 1874, § 12, Absatz 2.
Ein zentraler Aspekt der Mitarbeit der Bezirksräte in der Bezirksverwaltung war ihre Rolle als lokale Informanten, Berater und Sachverständige für eine ganze Reihe von öffentlichen Angelegenheiten. Sie waren zu »besondere[r] Aufmerksamkeit« und »persönliche[r] Kenntnißnahme« im Hinblick auf die hygienischen Zustände in ihren Distrikten aufgefordert. Über »Mißstände« sollten sie den Amtsvorstand benachrichtigen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten. GesReinVO 1874, § 15. GesReinVO 1874, § 17.
Die Bezirksräte wirkten in der Praxis jedoch nicht nur als lokale Informanten, Berater und Sachverständige im Rahmen der monatlichen Sitzungen des Bezirksrats, sondern vermittelten auch in ihrer ehrenamtlichen Funktion unmittelbar in ihrem Kreis – ganz im Sinne einer partizipativen Verwaltungspraxis. In ihrer Mittlerrolle wirkten sie im Sinne der Bezirksverwaltung direkt im lokalen Raum. So stellte Amtmann Ernst Müller etwa für den Bezirk Adelsheim fest, dass Bezirksräte Fragen, die in den Sitzungen vorgeschlagen worden waren, mit Vertretern der Gemeinden ihrer Distrikte diskutierten, was sich positiv auf die Entscheidungsfindung auswirkte. GLA, 338/1182, Jahresbericht des Bezirksamts Adelsheim 1881. GLA, 236/10280, Jahresbericht des Bezirksamts Durlach 1869. GLA, 236/10280, Jahresbericht des Bezirksamts Durlach 1869.
Darüber hinaus konnten die Bezirksräte auch auf die lokale Interessenslage einwirken und so zwischen Bezirksverwaltung und Gemeindeanliegen vermitteln. In seinem Jahresbericht für 1865 führte Oberamtmann Karl Richard den Bau im öffentlichen Interesse sowie die Beilegung von Streitigkeiten bei Feldwegzulagen und Wassernutzung als Bereiche für die Vermittlungsbemühungen an. GLA, 236/10287, Jahresbericht des Bezirksamts Engen 1865. »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs für die Kreise Baden und Karlsruhe für das Jahr 1868«, in: Jahres-Berichte der Großherzoglich Badischen Landes-Commissäre über die Zustände und Ergebnisse der innern Verwaltung, 1865–1872, Karlsruhe 1866–1873 [Jahresberichte der Landeskommissäre], hier für das Jahr 1868, Karlsruhe 1868, S. 46. Ähnlich berichtete Landeskommissär Renck von positiven Erfahrungen mit einzelnen Bezirksräten, die »Erkundigung an Ort und Stelle über das tatsächliche Verhältnis in einzelnen dem Kollegium vorliegenden Streitfällen« angestellt hatten; »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs für die Kreise Konstanz, Villingen und Waldshut für das Jahr 1866«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1866, S. 60.
Den hier angeführten positiven Beispielen mit ›Einzeltätigkeiten‹ der Bezirksräte stehen natürlich auch negative Bemerkungen von Amtmännern und Landeskommissären – insbesondere was die Ausübung der polizeilichen Funktionen anbelangt – gegenüber. Im Laufe der 1870er Jahre entwickelten sich die Mitwirkung bei den Unterstützungszahlungen für die Familien von eingezogenen Reservisten, der Bereich öffentliche Gesundheit und Reinlichkeit sowie die Kreisarmenkinderpflege als bevorzugte Bereiche der ›Einzeltätigkeit‹ der Bezirksräte. Vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 209–214. Vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 212–213. Ludwig Renck: »Das erste Jahrzehnt der badischen Verwaltungs-organisation«, in: Zeitschrift für badische Verwaltung und Verwaltungsrechtspflege 20 (1874), S. 189–194, hier S. 191–192; vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 223–224.
Durch die Einrichtung von Bezirksräten als Verwaltungsorgan und als Verwaltungsgericht erster Instanz sowie die Ausstattung der einzelnen Bezirksräte mit administrativen und polizeilichen Kompetenzen in den ihnen zugewiesenen Gebieten sollte die Distanz zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft verringert werden. Vor Ort sollte die Bezirksverwaltung institutionell in die Fläche ›vorrücken‹ und dadurch räumliche Distanz abbauen. Vgl. Ganzenmüller / Tönsmeyer: »Vorrücken des Staates«.
Auch wenn die Teilnahme der Bezirksräte an den Ortsbereisungen, welche die Amtsvorstände jährlich in größeren Städten und alle zwei Jahre in kleineren Städten ihrer Bezirke durchführten, nicht Gegenstand des Verwaltungsgesetzes von 1863 und der Vollzugsverordnung von 1864 war, machten sich Amtsvorstände und Landeskommissäre sehr früh Gedanken über die Zuziehung der jeweiligen Bezirksräte. Die Ortsbereisungen bildeten eine besondere Gelegenheit für ›unmittelbare‹ Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Amtsvorständen und den Bezirksräten sowie mit Vertretern der lokalen Gesellschaft. Der folgende Abschnitt zur Teilnahme der Bezirksräte an den Ortsbereisungen der Bezirksvorstände stützt sich in wesentlichen Teilen auf Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 205–208.
Jonathan Winter, Landeskommissär in Konstanz, empfahl 1865 den Amtsvorständen, die Mitglieder zu den Ortsbereisungen in den jeweiligen Distrikten »einzuladen«. Dabei sollten die Bezirksräte »mit allen Verhältnissen in den Gemeinden« bekannt gemacht werden und zudem so das Interesse am »Dienst« gefördert und die Bezirksräte mit der Überwachung des Vollzugs von Anordnungen beauftragt werden. »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs für die Kreise Villingen und Konstanz für das Jahr 1865«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1865, S. 45. »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs für die Kreise Lörrach, Freiburg und Offenburg für das Jahr 1866«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1866, S. 144. Vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 245, Tabelle 1: »Zusammensetzung der Bezirksräte nach Berufen und Ehrenämtern«.
In seinem Bezirk Ettenheim nutzte Oberamtmann Johann Gruber die Bereisungen der Gemeinden dazu, die Bezirksräte zu vermehrter ›Einzeltätigkeit‹ zu motivieren und ihnen Aufgaben anzuweisen. Er hatte die Bezirksräte »in die Verhältnisse eingeweiht und [ihnen] die Beaufsichtigung des Vollzugs einzelner Bescheidsauflagen […] aufgetragen, auch anderweite Aufträge wie hinsichtlich des Standes einzelner Straßen und Wege […] erteilt«. GLA, 236/10290, Jahresbericht des Bezirksamts Ettenheim 1872. GLA, 236/10290, Jahresbericht des Bezirksamts Ettenheim 1873. GLA, 236/10245, Jahresbericht des Bezirksamts Achern 1879; ähnlich GLA, 236/10244, Jahresbericht des Bezirksamts Achern 1878. Auch in seinem späteren Amt Durlach nutzte Johann Gruber wiederum die Ortsbereisungen, um eine vermehrte Einzeltätigkeit der Bezirksräte anzuregen und sie bei »andern gewichtigen Verhandlungen« heranzuziehen; GLA, 236/10458, Jahresbericht des Bezirksamts Durlach 1884/85. GLA, 236/10240, Jahresbericht des Bezirksamts Achern 1875. GLA, 236/10240, Jahresbericht des Bezirksamts Achern 1875.
Im Bezirk Müllheim hatten Oberamtmann Ludwig Sachs zufolge mehrere Bezirksräte »von der Einladung Gebrauch gemacht und dem Geschäft mit großem Interesse angewohnt«. GLA, 236/10331, Jahresbericht des Bezirksamts Müllheim 1867. GLA, 236/10331, Jahresbericht des Bezirksamts Müllheim 1867, 1868–1872. GLA, 236/10326, Jahresbericht des Bezirksamts Meßkirch 1865. GLA, 236/10326, Jahresbericht des Bezirksamts Meßkirch 1866, 1868 und 1869.
Viele Amtsvorstände und Landeskommissäre berichteten positiv über die Hinzuziehung von Bezirksräten bei Ortsbereisungen, auch wenn diese nicht unbedingt allzu weitreichende Tätigkeiten umfassten. In seinem Jahresbericht für 1869 hob Landeskommissär Camill Winter in Karlsruhe besonders die »vielseitige Verwendung« der Bezirksräte in der Bezirksverwaltung hervor und lobte dabei einige Bezirksämter besonders. Zugleich wies er auf die erfolgreiche Mitwirkung zweier Bezirksräte in Rastatt hin. »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs der Kreise Karlsruhe und Baden für das Jahr 1869«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1869, S. 48–49. GLA, 236/10347, Jahresbericht des Bezirksamts Pforzheim 1870. In seinem Jahresbericht ließ sich Landeskommissär Winter denn auch noch einmal besonders auf die in Pforzheim bestehende Praxis ein; »Jahresbericht des Großherzoglich Badischen Landescommissärs für die Kreise Karlsruhe und Baden für das Jahr 1870«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1870, S. 46. GLA, 236/10347, Jahresbericht des Bezirksamts Pforzheim 1871.
In welcher Form die Ortsbereisungen als Grundlage für die Zusammenarbeit der Amtsvorstände mit ihren Bezirksräten genutzt werden konnten, erläuterte dann einige Jahre später im Jahresbericht für 1875 etwas detaillierter Otto von Scherer, der 1874 das Amt des Stadtdirektors in Pforzheim übernommen hatte. Scherer hatte bei den 13 Ortsbereisungen die betreffenden Bezirksräte regelmäßig mitgenommen, um bei dieser Gelegenheit »durch Spezialanschauung« die bezirkspolizeilichen Vorschriften bezüglich der Verordnung über öffentliche Reinlichkeit und Gesundheit am Beispiel von Düngerstätten und Jauchebehältern »zur Ausführung zu bringen«. GLA, 236/10348, Jahresbericht des Bezirksamts Pforzheim 1875. GLA, 236/10348, Jahresbericht des Bezirksamts Pforzheim 1878. GLA, 236/10349, Jahresbericht des Bezirksamts Pforzheim 1879–1881.
Auch wenn die gemeinsamen Ortsbereisungen in einigen Bezirken nicht hinreichten, um eine verstärkte ›Einzeltätigkeit‹ der Bezirksräte anzuregen, so bildeten sie dennoch in kommunikativer Hinsicht eine wertvolle Praxis für die Zusammenarbeit von Amtsverwaltung und Bezirksräten. Sie boten dem Bezirksvorstand eine Gelegenheit, um vor Ort Sichtweisen der staatlichen Verwaltung zu vermitteln, eine geteilte Problemwahrnehmung herbeizuführen und die Unterstützung der Bezirksräte für die Maßnahmen der Verwaltung zu gewinnen. Zugleich konnten sie sich auch unmittelbar über lokale Reaktionen und Absichten informieren. Die Durchführung der Ortsbereisungen gemeinsam mit den jeweiligen Bezirksräten des Distrikts bot damit eine Möglichkeit, nicht nur Informationen zu den Verwaltungsverhältnissen zu erheben, sondern auch noch Erkenntnisse über den jeweiligen lokalen Handlungsbedarf, die Interessenslage und das Stimmungsbild innerhalb der lokalen Gesellschaft zu erlangen. Für die Bezirksverwaltung war es wichtig, über solches »administratives Orientierungswissen« zu verfügen, um aus der Distanz des Bezirksamts mögliche lokale Handlungsspielräume ausnutzen zu können. Vgl. Krosigk: Bürger in die Verwaltung, S. 225–233.
Der letzte Abschnitt dieses Beitrags untersucht die Verwendung der Ergebnisse der Ortsbereisungen in den »Jahresberichten der Landeskommissäre«. Während im Reitzenstein’schen Verwaltungssystem von 1809 diese ausschließlich verwaltungsintern verwendet wurden, leitete die Verwaltungsreform von 1863/1865 auch eine neue Phase der publizistischen Öffentlichkeitsarbeit der badischen Verwaltung ein. Eine Zusammenstellung der amtlichen Veröffentlichungen bis zum Jahre 1897 findet sich in: Badische Bibliothek. Systematische Zusammenstellung selbständiger Druckschriften über die Markgrafschaften, das Kurfürstenthum und Großherzogthum Baden, Teil I: Staats- und Rechtskunde, Bd. 1, Karlsruhe 1897, S. 108–112.
Die »Jahres-Berichte der Grossherzoglich badischen Landes-Commissäre über die Zustände und Ergebnisse der innern Verwaltung«, die für die Jahre 1865 bis 1872 veröffentlicht wurden, Jahresberichte der Landeskommissäre. »Vorwort«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1865, S. V.
Die »Jahresberichte der Landeskommissäre« stützten sich inhaltlich vornehmlich auf das Material, das die Bezirksverwaltungen in ihren jährlichen Reporten »über die Verwaltungszustände« lieferten. Die Landeskommissäre wiederum verfassten für ihren jeweiligen Kreis einen Jahresbericht, den sie an das Innenministerium weiterleiteten. VO 1864, § 27. Die Jahresberichte der Bezirksverwaltung bildeten die Grundlage für die Jahresberichte der Landeskommissäre und für die seit 1880 herausgegebenen Jahresberichte des Innenministeriums: Jahres-Bericht des Großherzoglich Badischen Ministeriums des Innern über seinen Geschäftskreis, 1880-1896, Karlsruhe 1883–1897. Statistisches Jahrbuch für das Großherzogthum Baden, 1868-1938, Bd. 1–44, Karlsruhe 1869–1938. Statistische Erhebungen zu den amtlichen Jahresberichten über die Ergebnisse der innern Verwaltung im Großherzogthum Baden, 1873–1879, Karlsruhe 1874–1881. Jahres-Bericht des Badischen Ministeriums, 1880–1896. GLA, 346/2916, Zugang 1991/49, Schreiben des Innenministeriums, 27. 10. 1882, Nr. 16872.
Die Schilderungen über die Verwaltungszustände in den »Jahresberichten der Landeskommissäre« umfassten zunächst »Allgemeine Verhältnisse der Bezirke«. Erst nach dieser Kategorie wurden die einzelnen Verwaltungszweige und -einrichtungen angeführt: Hierzu gehörten Bezirksämter und Gemeindeverwaltungen, Kirchen-, Schul- und Stiftungswesen sowie die Kreisverbände. »Jahresbericht der Großherzoglich Badischen Landescommissäre über die Zustände und Ergebnisse der innern Verwaltung für das Jahr 1872«, in: Jahresberichte der Landeskommissäre 1872, S. III–V (Inhaltsverzeichnis).
Beispielhaft können hier die »Verkehrsverhältnisse« angeführt werden. Hier geht es um Eisenbahnen, Eisenbahnverkehr, Dampfboote, Hafenverkehr, Post- und Telegrafenverwaltung sowie Straßenbauten. Den Verkehrsverhältnissen wurde nicht nur eine große Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Badens beigemessen. Eine Wirkung von Verkehrsinfrastruktur lag ebenso in der Verkürzung räumlicher Distanzen. Vgl. Günzel: »Raum«, S. 16. Zur Wirkung der Eisenbahn auf den Raum vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977. Zum Straßenbau im Großherzogtum Baden bis 1870 vgl. Adrian Ciupuliga: Straßenbau und Straßenbauverwaltung in Baden 1770–1870, unpublizierte Dissertation, Universität Konstanz 1997.
Die Statistiken, Tabellen und Berichte in den »Jahresberichten der Landeskommissäre« wiederum beschreiben die Bezirke und Kreise als homogene, vergleichbare sowie nach sachlichen Gesichtspunkten organisierbare Verwaltungsräume. Die Tätigkeit der Verwaltung, wie sie sich in diesen Abhandlungen in ihren administrativen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Verhältnissen darstellte, hatte also neben einer inhaltlichen und zeitlichen auch ganz wesentlich eine räumliche Dimension.
Während durch die partizipative Verwaltungspraxis und die Einführung von Bezirksräten die Distanz zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft abgebaut werden sollte, war es beabsichtigt, dass durch die Veröffentlichung der »Jahresberichte der Landeskommissäre« die jeweiligen Bezirke als Verwaltungsräume mittelbar in Form von Tabellen, Statistiken und Beschreibungen (ab-)gebildet werden. Durch die Auswahl der Sachpunkte, die in den Jahresberichten behandelt wurden, lässt sich verfolgen, an welchen Aspekten das Innenministerium insbesondere interessiert war.
Die räumliche Distanz zwischen Bezirksverwaltung und lokaler Gesellschaft war eine Herausforderung für die Verwaltung. Letztlich hatten die Medien, Kommunikationsformen und Verwaltungspraxis eine große Wirkung auf die Erzeugung und Wahrnehmung von Raum. Im Falle der Ortsbereisungen im Großherzogtum Baden im 19. Jahrhundert lässt sich feststellen, dass sie eine wichtige Rolle für eine unmittelbare und mündliche Verwaltungspraxis spielten. Dieser Aspekt wurde mit der Verwaltungsreform von 1863/1865 und der Einführung von Bezirksräten unterstrichen. Ein Ziel der neuen partizipativen Verwaltungspraxis war es, die Distanz zwischen dem Bezirk als Verwaltungszentrum und dem lokalen Raum – also der lokalen Gesellschaft und den örtlichen Verwaltungsverhältnissen – durch die Mittlerfigur der Bezirksräte abzubauen. Gleichzeitig sollte die Präsenz der Bezirksverwaltung vor Ort in Gestalt der Bezirksräte erhöht werden. Durch die Teilnahme der Bezirksräte an Ortsbereisungen sowie ihre Tätigkeit als Einzelne in ihren Bezirken nahm die Verflechtung zwischen der Bezirksverwaltung und der lokalen Gesellschaft zu. Damit intensivierten sich auch Kommunikations- und Aushandlungsprozesse. Die partizipative Verwaltungspraxis führte somit zu einer Verdichtung des Verwaltungsraumes – im Sinne eines Abbaus von räumlicher Distanz – durch die ehrenamtlichen Bezirksräte. Die Bezirksverwaltung wurde nun nicht mehr alleine durch das Bezirksamt vertreten, sondern auch noch durch eine Reihe von Bezirksräten.
Letztlich wirkten die Medien der Verwaltungspraxis – wie beispielsweise Schriftlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, eine partizipative Verwaltung mit dem Aushandeln und Vermitteln sowie die amtliche Öffentlichkeitsarbeit – auf die räumliche Distanz im Bezirk. Unmittelbarkeit, Mündlichkeit und Bürgerbeteiligung – auch bei den Ortsbereisungen – sollten im Zuge der Verwaltungsreform von 1863 dabei helfen, räumliche Distanz zwischen Verwaltungszentrum und lokaler Gesellschaft abzubauen.
Badische Bibliothek. Systematische Zusammenstellung selbständiger Druckschriften über die Markgrafschaften, das Kurfürstenthum und Großherzogthum Baden, Teil I: Staats- und Rechtskunde, Bd. 1, Karlsruhe 1897.