Die Verwaltungsrechtswissenschaft beschäftigt sich in erster Linie mit dem geltenden Recht und seiner Anwendungspraxis in Verwaltung und Justiz. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit steht nicht im Zentrum des Interesses – weder in der Forschung, noch in der Lehre. Rechtshistorikerinnen und -historiker wiederum beschäftigen sich traditionell mit dem Römischen Recht, dem Zivilrecht, dem Strafrecht oder dem Verfassungsrecht. Vgl. Pascale Cancik, »Verwaltungsrechtsgeschichte«, in: Rechtsgeschichte 19 (2011), S. 30–34, hier S. 30; Michael Stolleis, »Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft«, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann, Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 22012, S. 65–121, Rn. 1. Vgl. im Sinne einer Ausnahme Christoph Möllers, »Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft«, in: Eberhard SchmidtAßmann, Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 131–164. Auch für die Rechtsgeschichte Defizite der Selbstreflexion konstatierend: Pio Caroni, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers, Basel, u. a. 2005, S. 27. So die Vermutung von Möllers, »Historisches Wissen«, S. 143. Vgl. Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme: Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 22010, S. 50.
Dieser Beitrag möchte anhand verschiedener Beispiele aufzeigen, dass die Verwaltungsrechtslehre in der Geschichte durchaus mehr sah (und sieht) als bloße Ornamentik. Wissenschaftliche Erkenntnis kann ein Grund sein. Vielfach geht es jedoch (auch) darum, gegenwartsbezogene wissenschaftliche Aussagen in eine Erzählung einzubetten und sich selber als Teil einer positiv oder negativ konnotierten Entwicklungsgeschichte zu positionieren. Eine geschichtliche Darstellung kann schließlich als ›Argumentationspool‹ dienen und für das heute geltende Recht instrumentalisiert werden. Pascale Cancik, »Diskussionsvotum an der Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 2015«, in: VVDStRL 75 (2016), S. 267 f. Zu diesem methodischen Ansatz Hayden White, Metahistory: Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1991, S. 9–14. Während White mit Blick auf die Allgemeine Geschichtsschreibung seine Typologie an »archetypischen Erzählformen« der Literatur orientiert (Romanze, Komödie, Tragödie und Satire) folgt die hier vorgenommene Typologie der Verwaltungsrechtsgeschichte theologischen Motiven. Grund hierfür ist die in der älteren Verwaltungsrechtslehre oft anzutreffende Verwendung biblischer Metaphern und die Gemeinsamkeiten zwischen Rechtswissenschaft und Theologie als hermeneutische Disziplinen mit einer Tendenz zur Dogmatisierung. Vgl. die Beiträge in Georg Essen, Nils Jansen (Hg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, Tübingen 2011. White, Metahistory, S. 9 f. Vgl. auch Benjamin Schindler, Verwaltungsermessen, Zürich, u. a. 2010, Rz. 418 f. Zu diesem für die Wissenschaftsgeschichte gerechtfertigten zeitlichen Fokus Cancik, »Verwaltungsrechtsgeschichte«, S. 31.
Es entspricht kontinentaleuropäischem Rechtsverständnis, dass das Handeln von Verwaltung und Justiz seine zentralen Impulse aus dem geschriebenen Recht erhält: Normen des Völkerrechts, des Verfassungsrechts, des Gesetzesrechts und des Verordnungsrechts. Ausdruck findet dieses Denken im Legalitätsprinzip oder dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit. Die Auslegung (Exegese) von Rechtsquellen mit autoritativem Geltungsanspruch steht daher im Zentrum juristischer Tätigkeit; Rechtswissenschaft ist eine hermeneutische Disziplin. Das Verstehen des Textes ist Voraussetzung dafür, dass er durch die Verwaltung oder durch Gerichte auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden kann (sog. Subsumtion). Vgl. Philippe Mastronardi, Juristisches Denken, Bern, u. a. 22003, Rn. 101 f. Vgl. stellvertretend für die reiche Methodenliteratur Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, München, u. a. 42013, S. 121–152; Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin, u. a. 31995, S. 149–153; Hansjörg Seiler, Praktische Rechtsanwendung: Was leistet die juristische Methodenlehre?, Bern 2009, S. 43–45. Vgl. etwa den Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts (BGE) 128 I 327 E. 2.3 S. 331 ff.: Das Gericht musste mit Blick auf die Anordnung sicherheitspolizeilicher Maßnahmen eine Bestimmung der Kantonsverfassung aus dem Jahr 1892 auslegen und hierfür die damals verwendete Terminologie in den heutigen Sprachgebrauch »übersetzen«. Karl Oftinger, Vom Handwerkszeug der juristischen Schriftstellerei, Zürich 1944, S. 37 f.
Losgelöst von diesem sehr fokussierten und engen historischen Interesse der juristischen Auslegungsmethodik haben die Protagonisten der Verwaltungsrechtslehre im deutschsprachigen Raum großen Wert auf die Geschichte als Erkenntnisquelle gelegt. Otto Mayer (1846–1924) veröffentlichte in den Jahren 1895 und 1896 erstmals sein Stolleis, »Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft«, Rn. 60. Heyen bezeichnet das Werk als »Angelpunkt der wissenschaftsgeschichtlichen Periodisierung«: Erk Volkmar Heyen, »Deutschland«, in: ders. (Hg.), Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa: Stand und Probleme der Forschung, Frankfurt am Main 1982, S. 29–50, hier S. 29. Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, I. und II. Band, Berlin 2004 [unveränderter Nachdruck von 31924], Bd. I, S. 25–63.
» Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 25 f.
Auch Fritz Fleiner (1867–1937) widmete in seinen populären und 1911 erstmals erschienenen Fritz Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, Aalen 1995 [unveränderter Nachdruck von 81928], S. 28–45.
» Fleiner, Institutionen, S. 28 (Hervorhebung im Original).
Mayer und Fleiner machten in ihren Texten deutlich, dass »die rechte Erkenntnis seiner Vorstufen« zentral sei, um das heutige Verwaltungsrecht zu verstehen. Fleiner erwähnte in anderem Kontext, dass »nicht selten die Entwicklung der Rechtsinstitutionen stärker zu uns [spricht], als das Gewordene« Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Tübingen 1923, Vorwort.
Trotz vieler Gemeinsamkeiten machen die Zitate deutlich, dass Mayer und Fleiner von einem unterschiedlichen Geschichtsverständnis geprägt waren. Während Mayer die »ungemein starke[n] und tiefgehende[n] Umwälzungen« in den Vordergrund rückte, interpretierte Fleiner die Geschichte eher im Sinne eines kontinuierlichen und evolutiven »Umbildungsprozesses«. Vgl. auch Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Vorwort: »In langsamen Wandlungen ist dieses Recht entstanden; eine Schicht hat sich über die andere gelegt.« Vgl. statt vieler Dirk Ehlers, »Otto Mayer (1846–1924)«, in: Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin, u. a. 2015, S. 46–56, hier S. 48. Eingehend mit dem Herkunftsmilieu Mayers befasst hat sich Erk Volkmar Heyen, Otto Mayer: Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, Berlin 1981. Vgl. statt vieler Giovanni Biaggini, »Fritz Fleiner (1867–1937)«, in: Häberle/Kilian/Wolff, Staatsrechtslehrer, S. 110-126, hier S. 112 f.; Roger Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft: Fritz Fleiner 1867–1937, Frankfurt am Main 2006, S. 5 f. Vgl. Heyen, Otto Mayer, S. 29.
» Heinrich Zschokke, Des Schweizerlands Geschichte für das Schweizervolk, Aarau 31826, S. 3.
Vor seinem biografisch-geografischen Hintergrund sah Otto Mayer seine Aufgabe als Rechtswissenschaftler vor allem darin, »Befreiungsarbeit« für ein neues, besseres Recht zu leisten. Alfons Hueber, Otto Mayer: Die »juristische Methode« im Verwaltungsrecht, Berlin 1982, S. 154 f. Fleiner betont denn auch die Pionierrolle Otto Mayers und verweist darauf, dass dieser mit seinen Werken »die Bahn gebrochen« habe (Fleiner, Institutionen, S. 44). Zum Bemühen Fleiners, »die traditionsvermittelnde Identität eines homogenen Kontinuums zu suggerieren« Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 78. Auch bei Fleiner klingen aber teilweise fortschrittsgläubige Töne an. Vgl. etwa Fleiner, Institutionen, S. 42. Fritz Fleiner, »Tradition, Dogma, Entwicklung als aufbauende Kräfte der schweizerischen Demokratie« (1933), in: Ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 288–302, hier S. 291, S. 302.
» Fritz Fleiner, »Politik als Wissenschaft« (1917), in: Ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 181–196, hier S. 196.
Wird die Befassung mit der Geschichte vor allem als Erkenntnis- oder Erklärungshilfe für das geltende Recht verstanden, führt dies zu einer klaren Fokussierung. Nicht die Geschichte der Verwaltung im Allgemeinen interessiert, sondern allein diejenigen Fragestellungen, welche auch die heutige Rechtswissenschaft umtreiben und prägen. Exemplarisch etwa Herrmann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes, Tübingen 1921, S. 36. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 13, Fn. 2. Vgl. Martin Schulte, »Walter Jellinek (1885–1955)«, in: Häberle/Kilian/Wolff, Staatsrechtslehrer, S. 298–311. Lesenswert ist die familienbiografische Einordnung bei Klaus Kempter, Die Jellineks (1820–1955): Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998, S. 412–550.
» Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, Offenburg 1948 [unveränderter Nachdruck von 31931].
Nach 1945 knüpfte die Rechtfertigung historischer Ausführungen an der älteren Literatur an, soweit sich die Literatur überhaupt noch mit der Vergangenheit befasste. Zur nach 1945 verstärkten Tendenz der Enthistorisierung der Disziplin vgl. hinten, »Geschichte als Kontrastfolie«. Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I.: Allgemeiner Teil, München 1950, S. 15. Ebenda, S. 15, Fn. 1. Ebenda, S. 263. Hierzu Möllers, »Historisches Wissen«, S. 150.
Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die Befassung der Verwaltungsrechtslehre mit der Vergangenheit nicht alleine von Erkenntnisinteressen getrieben war. Sie diente ganz wesentlich auch dazu, rechtspolitische Positionen in eine passende Erzählung einzubetten.
Otto Mayers Geschichtsbild steht exemplarisch für die Vorstellung, dass sich die Menschheit hin zum Höheren, Besseren entwickelt oder entwickeln soll: »Mit der Menschheit soll es höher hinauf; da kann es nicht in derselben Ebene weitergehen.« Otto Mayer, Mein Bekenntnis, Halle 1927, S. 51. Ebenda, S. 51: »Bei der fortschreitenden Entwicklung von unteren zu höheren Stufen, wie sie in der Welt sich vollzieht, geht es selbstverständlich nicht ab ohne ein schmerzhaftes Sichdurchdringen des Neuen und Absterben des Alten.« Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I., S. 135. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 44. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 58. Ebenda, S.62. Vgl. Ebenda, S. 64–73 (»§ 6, Die Herrschaft des Gesetzes«), S. 92–103 (§ 9, »Der Verwaltungsakt«), S. 122–199 (»Dritter Abschnitt: Der Rechtsschutz in Verwaltungssachen«). Vgl. auch dasselbe Kernprogramm bei Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 96. Vgl. Heyen, Otto Mayer, S.165 f. Mayer, Mein Bekenntnis, S.51: »Ihre geistige Entwicklung hat sie [die Menschheit] hoch über das Tier gehoben, aber nach der einen Seite hängt sie immer noch stark mit der Art dieser geringeren Welt zusammen. Der nächste Schritt im großen Gang aufwärts führt sie nicht zu dem kindischen Zerrbild des Übermenschen, sondern richtig über das Menschenmaß hinaus: näher zu Gott.« Zu Mayers Verhältnis zur theologisch-eschatologischen Literatur, Ebenda, S. 55. Skeptisch zur Wechselwirkung zwischen Mayers religiösem Denken und seinem Geschichtsbild Heyen, Otto Mayer, S. 166. Ähnlich Herrnritt, Grundlehren, S.37. Vgl. hierzu Heyen, Otto Mayer, S. 125.
Ganz anders das Vorwort zur Neuauflage von Fleiners Dieser Wandel zeigte sich in der Auflage von 1928 etwa in der stärkeren Berücksichtigung der auf Leistungserbringung ausgerichteten Verwaltung und der damit verbundenen »Flucht ins Privatrecht« (Fleiner, Institutionen, S.326) sowie in einem konsequenten Begriffswechsel vom »Untertanen« zum »Bürger« (vgl. exemplarisch a. a. O., S.165). Fleiner, Institutionen, S.40. Fleiner hat diese Metapher in verschiedenen Schriften immer wieder verwendet. Vgl. die zahlreichen Hinweise bei Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 233 Fn. 273, S. 302 Fn. 181. Die Metapher wird in der Literatur meist auf Gustav Radbruch zurückgeführt (Einführung in die Rechtswissenschaft, Leipzig 1910, S.91), lässt sich aber bereits im 19. Jahrhundert nachweisen (vgl. mit Hinweisen Schindler, Verwaltungsermessen, Rz. 87). Zaccaria Giacometti, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, Bd. 1. (Bd. 2. nicht erschienen), Zürich I960. Giacometti, Allgemeine Lehren, S.470. Vgl. auch die Aussage auf S.490, wonach »diese Vollendung des Rechtsstaates noch nicht erreicht« sei. Fleiner äußerte sich in einer Vorlesung von 1922 dahin, dass die Schweiz in Bezug auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit »der rückständigste Staat in Europa« sei (Nachweis bei Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 298 [Anmerkung FN 169]).
Das Gegenstück zu einer heilsgeschichtlichen Betrachtung scheint prima vista der verklärende Blick zurück; die Erzählung von der ›guten alten Zeit‹. Dass sich beide Perspektiven nicht ausschließen müssen, macht das Werk Fleiners deutlich. Er identifizierte die Vergangenheit nicht nur mit dem Polizeistaat, den es zu überwinden galt. Er betonte ebenso, dass das Neue auf dem Bewährten aufbauen und »organisch« weiterführen müsse. Bei Fleiner kam das Bedürfnis, sich in eine Tradition zu stellen und die Verbindung mit der Vergangenheit zu unterstreichen, bereits im »archaisierenden« Rezension von Fritz Stier-Somlo aus dem Jahr 1912 (hier zitiert nach Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 177). Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 177. Fritz Fleiner, »Beamtenstaat und Volksstaat« (aus der Festgabe für Otto Mayer von 1916), in: Ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 138–162, hier S. 162.
Betrachtet man das hohe Maß an Konstruktion und Abstraktion, mit welchem die Verwaltungsrechtswissenschaft gestaltend wirkte, erscheint diese Aussage allerdings eher dazu zu dienen, den Mangel an Tradition und Kontinuität einer noch jungen Wissenschaftsdisziplin rhetorisch klein zu reden. Vgl. Schindler, Verwaltungsermessen, Rz. 121. Benjamin Schindler, »100 Jahre Verwaltungsrecht in der Schweiz«, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 130 (2011) II, S.331–437, hier S. 419. Fleiner, Institutionen, Vorwort zur ersten Auflage von 1911 (in allen späteren Auflagen mit abgedruckt).
Die heilsgeschichtliche Perspektive Otto Mayers musste schließlich zu dem Zeitpunkt in eine nostalgisch-verklärende Sichtweise umkippen, als der liberale Rechtsstaat in den 1930er-Jahren zunehmend unter Druck geriet. Walter Jellinek stellte in der 1931 erschienen Neuauflage seines Verwaltungsrechtslehrbuchs rhetorisch die Frage, ob »die Entwickelung [des Rechtsstaates] einen Ruhepunkt erreicht« Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 96.
» Ebenda, S.97.
Die große Mehrzahl der Verwaltungsrechtswissenschaftler war seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einem liberalen Rechtsstaatsparadigma verpflichtet Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1998, S. 308. Vgl. Schindler, Verwaltungsermessen, Rz. 83. Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S.763: »Wie sehr tut dieses rast- und ziellose ›Gesetzgebern‹ und Reglementieren der Einfachheit und Klarheit der Gesetze und der Rechtssicherheit Eintrag!«.
In diesem Kontext ist auch die Verwendung des Begriffs des ›Nachtwächterstaats‹ durch die rechtswissenschaftliche Literatur zu lesen. Der durch Ferdinand Lassalle (1825–1864) geprägte politische Kampfbegriff verlor seine negative Konnotation und mutierte zur positiv wertenden Umschreibung einer vermeintlich empirisch nachgewiesenen historischen Begebenheit. Vgl. insb. mit Blick auf die schweizerische Literatur Johannes Reich, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, Zürich 2011, Rz. 162–166, 487–490. Vgl. neuerdings für den angelsächsischen Raum Niall Ferguson, The Great Degeneration: How Institutions Decay and Economies Die, London 2012, S. 78–110. Zu dieser Metapher Reich, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, Rz. 489. Hans Huber, »Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaates« (1953), in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, hg. von Kurt Eichenberger, Richard Bäumlin, Jörg P. Müller, Bern 1971, S.27–56. Hans Huber, »Betrachtungen über die Gesamtsituation des Rechts« (Abschiedsvorlesung von 1970), in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, S. 11–26, hier S.26.
Zeitgleich mit Walter Jellineks
» Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1999 [Nachdruck von 1927].
Merkl beschränkte sich in seinem Lehrbuch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht nicht auf eine geschichtliche Einleitung, sondern durchsetzte sein gesamtes Werk mit zahlreichen historischen Hinweisen, um in nahezu bilderstürmerischer Art verbreitete Grundannahmen, Dogmen und Begriffe zu hinterfragen. Er wandte sich dezidiert gegen eine zu simple Einteilung der Geschichte in Phasen oder Entwicklungsstufen. Zwar griff auch Merkl auf Begriffe wie den ›Verwaltungsstaat‹, den ›Justizstaat‹, den ›Polizeistaat‹ oder den ›Rechtsstaat‹ zurück. Für ihn waren dies aber Idealtypen, die nur bedingt etwas mit der historischen ›Realität‹ zu tun hatten.
In der geschichtlich gelebten Staatspraxis überlagerten und vermischten sich diese Typen in graduell unterschiedlichem Ausmaß. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 66–68. Vgl. auch S. 342. Ebenda, S.63. Ebenda, Vorwort, S.XIV. Vgl. Michael Stolleis, »Das Zögern beim Blick in den Spiegel: Die deutsche Rechtswissenschaft nach 1933 und nach 1945«, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, hg. von Stefan Ruppert und Milos Vec, Frankfurt am Main 2011, S. 615–634, hier S. 629. Vgl. Horst Dreier, »Merkls Verwaltungsrechtslehre und die deutsche Dogmatik des Verwaltungsrechts«, in: Robert Walter (Hg.), Adolf J. Merkl: Werk und Wirksamkeit, Wien 1990, S. 55–88; Möllers, »Historisches Wissen«, S. 157.
Es gehört in der Rechtslehre (und nicht nur dort) zum ›guten Ton‹, verstorbene wissenschaftliche Größen zu erwähnen, auch wenn darüber hinaus kaum eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen disziplinären Vergangenheit stattfindet. Damit wird unterstrichen, was ›bewährte Lehre‹ ist, und der Schreibende kann sich in eine Traditionslinie illustrer Namen stellen. Das Denken in wissenschaftlichen ›Schulen‹ beziehungsweise in personellen Kontinuitätslinien zwischen ›Lehrern‹ und ›Schülern‹ ist gerade bei den deutschen Staatsrechtslehrern – zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer gehören auch die Verwaltungsrechtswissenschaftler – besonders ausgeprägt. Vgl. Frieder Günther, Denken vom Staat her: Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949–1970, München 2004, S.112–191; Michael Stolleis, »Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer: Bemerkungen zu ihrer Geschichte«, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze und Beiträge, S. 591–613, hier S. 612 f.
Diese familien- oder zunftähnliche Formierung von Denkkollektiven führte so weit, dass sich ein juristischer Fachverlag 1999 veranlasst sah, vier ›Ahnentafeln‹ drucken zu lassen, welche in Form eigentlicher Stammbäume Vorfahren (›Lehrer‹) und Nachkommen (›Schüler‹) der verschiedenen Familienzweige (›Schulen‹) sichtbar machen. Als Ersatz für das fehlende Familienwappen erfolgte die Hinterlegung der Stammbäume mit dem deutschen Bundesadler – ungeachtet der auch aufgeführten österreichischen und schweizerischen Personen. N. N. [= Helmut Schulze-Fielitz], Die deutschen Staatsrechtslehrer der Gegenwart und ihre akademische Herkunft, Baden-Baden: Nomos 1999 (vier großformatige Blätter). Hierzu den »relativierenden Kommentar« von Helmut Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Mikrokosmos: Bausteine zu einer Soziologie und Theorie der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts, Tübingen 2013, S.453–469. Vgl. die Widmung in Karl Kormann, System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte: Verwaltungs- und prozessrechtliche Untersuchungen zum allgemeinen Teil des öffentlichen Rechts, Berlin 1910: »Dem Meister deutscher Verwaltungsrechtswissenschaft Otto Mayer in dankbarer Verehrung«. Vgl. auch die Widmung (für Otto Mayer) in Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, Tübingen 1913. Vgl. aus der aktuellen Literatur: Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, München 182011, S. 19. Jellinek, Verwaltungsrecht, S.104–107. Immerhin erwähnt Jellinek, dass nicht »alle nach 1895 erschienenen Schriften von Otto Mayer beeinflußt« wurden (S. 107) – womit er aber unterstreicht, dass alle anderen Werke in der Nachfolge Mayers verfasst wurden. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 106.
Die Auseinandersetzung mit Wissenschaftlerbiografien und die Analyse ihrer familiären und wissenschaftlichen Beziehungsnetzwerke ist heute etablierter Bestandteil der Geschichte vom öffentlichen Recht. Gerade mit Blick auf die familiären Prägungen im deutschen Bildungsbürgertum, die Bedeutung der politischen, weltanschaulichen und religiösen Einstellung für das wissenschaftliche Werk und die spezifische Wissenschaftskultur im öffentlichen Recht ist dies ein aufschlussreicher Forschungsansatz. Vgl. exemplarisch die Werke von Günther, Kempter, Stolleis sowie Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich: Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie, Zürich 2014. Peter Häberle, Michael Kilian, Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015. Häberle/Kilian/Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, S. VII. Vgl. hierzu die Rezensionen von Florian Meinel, »Unser Jahrhundert«, in: Der Staat 54 (2015), S.231–239 und Benjamin Schindler, »Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts«, in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 117 (2016), S. 106–112. Vgl. exemplarisch ZU dieser Phase In Maunz’ Leben: Michael Stolleis, »Theodor Maunz – Ein Staatsrechtslehrerleben«, In: Kritische Justiz 26 (1993), S. 393-396. Die Verleihung des Ehrentitels »Ehrwürdiger Diener Gottes« ist ein Verfahrensschritt im Seligsprechungsprozess der römisch-katholischen Kirche. Peter Lerche, »Theodor Maunz (1901–1993)«, in: Häberle/Kilian/ Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, S. 573-–78, hier S. 574 f.
Die Befassung mit der Vergangenheit diente bei zahlreichen Autoren dazu, sich von Vergangenem emanzipatorisch abzuheben. Gerade bürgerlich-liberal geprägte Autoren benutzten den ›Polizeistaat‹ gerne als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund sie ihr eigenes Programm eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts entwickelten. Autoren, welche Neigungen zu einer heilsgeschichtlichen Betrachtungsweise haben, tendieren denn auch dazu, auf frühere Entwicklungsstufen ›zurück‹ oder ›herunter‹ zu blicken und so die Gegenwart und Zukunft umso strahlender erscheinen zu lassen. In seinem Das Werk erschien 1919 unter dem an Fleiner anknüpfenden Titel »Institutionen des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts«. Ab der 2. Auflage (1922) erfolgte dann der Wechsel zum hier zitierten Titel.
» Julius Hatschek, Lehrbuch des deutschen und preußischen Verwaltungsrechts, Leipzig 61927, S. 1.
Die grundlegende Abwendung von rechtsstaatlich-liberalen Konzepten nach 1933 führte in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft zwangsläufig zu einem Bruch mit der Vergangenheit. Während Walter Jellinek sich dagegen vorerst noch mit einem nostalgisch verklärenden Blick in die Vergangenheit zu wehren versuchte, Vgl. die Hinweise in Fußnote 61: Im Nachtrag zur 3. Aufl. von 1934 ist von den kämpferischen Aussagen aus dem Jahr 1931 nicht mehr viel ZU spüren. Vielmehr sind die Ausführungen vom Bemühen geprägt, sich mit den neuen politischen Verhältnissen ZU arrangieren. Das Konzept des Rechtsstaats wird zwar nicht aufgegeben. Der liberale Rechtsstaat weicht nun aber dem »staatsbetonten Rechtsstaat« (a. a. O., S. 9). Theodor Maunz, Verwaltung, Hamburg 1937, S. 30.
» Ebenda, S.16 f.
Die an Metaphern reiche Rhetorik der liberalen Protagonisten des Verwaltungsrechts wurde gezielt aufgegriffen – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Die »stehengebliebenen Trümmer« Theodor Maunz, »Das Verwaltungsrecht des nationalsozialistischen Staates«, in: Hans Frank (Hg.), Deutsches Verwaltungsrecht, München 1937, S. 27–48, hier S.47. Maunz, Verwaltung, S.17. Claudius Frhr. von Schwerin, »Geschichte des Verwaltungsrechts und der Verwaltungswissenschaft«, in: Hans Frank (Hg.), Deutsches Verwaltungsrecht, S. 3–26, hier S. 6 f. Ebenda, S.7.
Demgegenüber propagierte Maunz eine »neue Dreiteilung« und gliederte die Verwaltungsgeschichte in die Epochen der »ständischen Verwaltung«, der »kameralistischen Verwaltung« und der »gesetzesstaatlichen Verwaltung«. Maunz, Verwaltung, S. 16–19. Der erste Abschnitt seines Werks trägt den Titel »Das Vorstellungsbild des bürgerlich-rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und seine Überwindung«: Ebenda, S.30–73. Vgl. Ebenda.
Nach 1945 knüpfte die bundesdeutsche Verwaltungsrechtswissenschaft – im Gegensatz zur DDR Die DDR definierte sich als »Antipode zum bürgerlichen Staat«, weshalb auch dessen Verwaltungsrecht als Teil seiner »diktatorischen Herrschaftsmethoden« verstanden wurde und Otto Mayer zur Zielscheibe der Kritik wurde: Gerhard Schulze, et. al., Verwaltungsrecht: Lehrbuch, Berlin 1979, S.32, S. 59–61. Zaccaria Giacometti, »Vorwort zum Nachdruck der 8. Auflage«, in: Fritz Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, Zürich 1939, S. 28–45. Christian Bumke, »Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Eberhard Schmidt-Aßmann, Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, Baden-Baden 2004, S. 73–130, hier S.93. Vgl. Ebenda, S. 91–93 sowie vorne, Abschnitt »Geschichte als Baum der Erkenntnis«, Fokussierung auf juristische Fragestellungen und Epochenbildung. Vgl. etwa den programmatischen Grundsatzbeitrag zur dreibändigen Monumentalreihe: Andreas Voßkuhle, »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft«, in: Wolfang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann, Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, München 22012, S. 1–63. Aus kritischer Distanz (mit zahlreichen weiteren Hinweisen): Christoph Engel, »Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition«, in: Ders., Wolfgang Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Tübingen 2007, S.205–240; Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, Berlin 2006, S. 87–94.
» Voßkuhle, »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft«, S. 5.
Die »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« erhebt unter anderem den Anspruch, in erhöhtem Maße wissenschaftlich, interdisziplinär und steuerungsorientiert zu sein. Die stark dogmatisch und auf den Einzelfall fokussierte Ausrichtung auf die Interpretation des geltenden Rechts (juristische Methode) soll einer sozialwissenschaftlich fundierten Sichtweise über das zukünftig richtige Recht weichen. Vgl. Ebenda, S. 21–41; Wahl, Herausforderungen, S. 89.
Diese Forderungen sind in gewisser Hinsicht durchaus berechtigt. Vgl. Schindler, Verwaltungsermessen, Rz. 320; Wahl, Herausforderungen, S. 87–94. Vgl. Wahl, Herausforderungen, S. 93. Vgl. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 20. Vgl. Wahl, Herausforderungen, S. 93 f.
Lässt man die – meist von Rechtshistorikern verfasste – Spezialliteratur beiseite, so fällt auf, dass zahlreiche der heute verbreiteten Lehrbücher zum Verwaltungsrecht ohne historische Einleitungen auskommen und auch sonst den geschichtlichen Hintergrund ausblenden. Dies gilt für Deutschland Ausnahmen bilden diesbezüglich in Deutschland die Werke von Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 13–38; und Hans J. Wolff, et al., Verwaltungsrecht, Bd. 1, München: 122 0 07, S.67–120 (das letztgenannte umfangreiche und dreibändige Werk ist indes nur noch bedingt für den universitären Lehrbetrieb geeignet). Diese Tendenz konstatierend: Möllers, »Historisches Wissen«, S. 144–147. Die schweizerische Verwaltungsrechtsliteratur kommt weitestgehend ohne historische Betrachtungen aus. Ausnahme bildet Markus Müller, Verwaltungsrecht: Eigenheit und Herkunft, Bern 2006, der auf den fehlenden Bezug zur Geschichte hinweist (S. 106). Vgl. die historischen Einleitungen in Ludwig K. Adamovich, et al., Österreichisches Staatsrecht, Bd. 4: Allgemeine Lehren des Verwaltungsrechts, Wien 2009, S. 3–28; Walter Antoniolli, Friedrich Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 31996, S. 119–142; Arno Kahl, Karl Weber, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 2007, S.34–41, S. 50 f.; Bernhard Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1998 enthält in der ersten Auflage eine historische Einleitung (S. 12–21), die dann aber seit der 2. Auflage (2003; aktuelle 4. Auflage von 2013) fehlt. Vgl. Schindler, Verwaltungsermessen, Rn. 93 f.
Mit Blick auf die Bundesrepublik scheint ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung, dass die verfassungsrechtliche Perspektive nach 1949 zu einer Neuausrichtung der Disziplin führte. Das Verwaltungsrecht musste seine Legitimität nicht mehr aus historischer Kontinuität schöpfen, sondern aus der Rückbindung an die Verfassung. Möllers, »Historisches Wissen«, S. 148 f. So Reinhard Mußgnug, »§ 8 Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland«, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg 32003, Rn. 51. Während Walter Jellinek kurz nach Kriegsende noch eine »Entsühnung« gefordert hatte, befürwortete er später eine »nicht-symmetrische Diskretion«, um den »Belasteten« die Integration im neuen, demokratischen Staatswesen ZU ermöglichen (Kempter, Die Jellineks, S.537). Jellinek kann zwar aufgrund seiner rassisch motivierten Entfernung aus der Universität Heidelberg als ›Opfer‹ des Nationalsozialismus gelten; seine Schriften aus den 1930er-Jahren (vgl. Fußnote 91) dürften aber auch bei ihm ein Bedürfnis nach Diskretion gefördert haben. Bernd Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, Tübingen 2001, S.22; vgl. Günter Frankenberg, »Vom Schweigen der Öffentlichrechtler und ihrer Verantwortung, dieses bisweilen zu brechen«, in: Kritische Justiz 27 (1994), S. 354–357; Günther, Denken vom Staat her, S.66–77, S. 117; Michael Stolleis, »Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft«, Rn. 92–94. Vgl. den Beitrag Peter Lerches über Theodor Maunz aus dem Jahr 2015 (Fußnote 88). So die Formulierung von Edgar Tatarin-Tarnheyden in einem Brief aus dem Jahr 1954, worin er sich dafür bedankt, dass er trotz seiner antisemitischen Vergangenheit wieder Aufnahme im Kreis der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer gefunden hat (zitiert nach Günther, Denken vom Staat her, S. 70).
» Hans Peters, Zwischen Gestern und Morgen: Betrachtungen zur heutigen Kulturlage, Berlin 1946, S. 15 (Hervorhebungen im Original).
Die Enthistorisierung kann aber nicht alleine auf die besonderen Umstände in Deutschland nach 1945 zurückgeführt werden. Der Erklärungsansatz mit der nationalsozialistisch ›belasteten‹ Vergangenheit taugt etwa für die Schweiz nicht; gerade die schweizerischen Lehrbücher kommen aber ohne jeden Bezug zur Vergangenheit aus. Eine Erklärung ist, dass das Verwaltungsrecht – im Gegensatz zum Verfassungsrecht - gerne als apolitisch, technisch und damit gegenüber historischen Veränderungen weitgehend immun betrachtet wird. Otto Mayer legte mit seinem berühmten Diktum (»Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht« Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, Vorwort zur 3. Auflage. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Vorwort zur ersten Auflage: »Im Ablauf der mit dem Untergang der Monarchie beginnenden, heute noch nicht überwundenen Staatskrise zeichnet sich hinter den wechselnden Verfassungsszenerien eine konstante Entwicklung ab.« Zum traditionell großen Einfluss der Politik auf die Verwaltung in der Schweiz vgl. Fritz Fleiner, »Schweizerische und deutsche Staatsauffassung« (1929), in: Ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Zürich 1941, S. 235–249, hier S. 242. Aus jüngerer Zeit vgl. René Rhinow, »Politische Funktionen des Rechts«, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 127 (2008) I, S. 181–206.
Neben dem scheinbar apolitischen Charakter des Verwaltungsrechts ist es schließlich der Systemgedanke, der einer historischen Betrachtungsweise nur beschränkt zugänglich ist. Mittels der Bildung von Systemen versucht die Verwaltungsrechtswissenschaft in einem »Chaos von einzelnen Gesetzesparagraphen« Kormann, System, S.2; vgl. auch Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 21. Den Systemgedanken besonders betonend etwa Pierre Tschannen, Systeme des Allgemeinen Verwaltungsrechts, Bern 2008. Aus der älteren Literatur Winfried Brohm, »Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung«, in: VVDStRL 30 (1971), Berlin, New York 1972, S.245–364, hier S.246, S.248 f. Hierzu (mit weiteren Nachweisen) Oliver Lepsius, »Kritik der Dogmatik«, in: Georg Kirchhof, Stefan Magen, Karsten Schneider (Hg.), Was heißt Dogmatik?, Tübingen 2012, S.39–62, hier S.40; Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft, S. 210–248; Schindler, »100 Jahre«, S. 382; Walter Selb, »Dogmen und Dogmatik, Dogmengeschichte und Dogmatikgeschichte in der Rechtswissenschaft«, in: ClausWilhelm Canaris, Uwe Diederichsen (Hg.), Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, München 1983, S. 605–614, hier S. 611. Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee: Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, Heidelberg 22004, S. 1–41; Voßkuhle, »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft«, S.40 f. Tschannen, Systeme, S. 1. So Brohm, »Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung«, S.248; vgl. etwa Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Berlin 2008, S. 158 f., der auf das »Rechtsquellenwirrwarr« im europäischen Verwaltungsrecht verweist und fordert, dieses »in eine systematische Ordnung« zu bringen und »die verschiedenen Rechtssätze einander so zuzuordnen, dass ein widerspruchsfreies, kohärentes Ganzes entsteht«.
Die politischen Diskurse, vor deren Hintergrund Verwaltungsrecht ›erzeugt‹ wird, verlaufen je nach Zeit, Ort und Sachgebiet anders. Und auch die unterschiedlichen Ebenen des Gemeinwesens, welche aufgrund ihrer Zuständigkeiten an diesem Erzeugungsvorgang beteiligt sind (supranationale Ebene, Bund, Kantone bzw. Länder, Gemeinden), führen zwangsläufig zu einem rechtlichen Pluralismus. Vgl. Lepsius, »Kritik der Dogmatik«, S. 55 f.
Dass der Systemgedanke einer enthistorisierenden Betrachtungsweise förderlich ist, zeigt gerade der Vergleich mit dem angelsächsischen Rechtskreis. Im Common Law erfolgt der traditionelle Zugang zu einer Rechtsfrage über die Gerichtspraxis. Gedacht wird in Rechtsprechungslinien, deren Wurzeln teilweise bis ins 17. oder 18. Jahrhundert zurückreichen. Jedes Urteil bezieht sich sodann auf einen bestimmten Streitfall und muss zuerst kontextualisiert werden, um es auf neue Fallkonstellationen anwendbar zu machen. Argumentiert wird – anders als im kontinentaleuropäischen Rechtsraum – nicht unter deduktiver Verwendung von Begriffen, Systemen und Prinzipien, sondern mittels induktivem »reasoning from case to case«. Zur Abneigung gegenüber dem Systemdenken, insb. für die USA, Oliver Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, Tübingen 1997, S.302, S.306; Ders., »Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?«, in: Helmuth Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S.319–366, hier S.326–330, S.335–337. Besonders in der deutschen Rechtswissenschaft ist die Ansicht weit verbreitet, dass eine begrifflich und systematisch betriebene Rechtswissenschaft der kasuistischen Rechtstradition des Common Law überlegen sei. Vgl. Jellinek, Verwaltungsrecht, S.112, der vom englischen Verwaltungsrecht als »verkümmertem Wissenszweig« spricht, sowie aus jüngerer Zeit das Votum von Matthias Herdegen, in: Jochen Abr. Frowein (Hg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, Berlin, u. a. 1993, S. 303, der von einem »Nachholbedarf an Systematisierung« spricht. Vgl. auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, der in der mangelnden systematischen Durchdringung des amerikanischen Verwaltungsrechts ein »Substanzproblem« erblickt (S. 303). Kritisch zu diesem »Chauvinismus« Michael G. Martinek, »Der Rechtskulturschock«, in: Juristische Schulung 24 (1984), S. 92–101, hier S. 99. Vgl. Möllers, »Historisches Wissen«, S. 146 f. Vgl. Armin von Bogdandy, »Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin«, in: Ders., Sabino Cassese, Peter M. Huber (Hg.), Handbuch lus Publicum Europaeum, Bd. IV, Heidelberg 2011, S. 3–36, hier S.31; Lepsius, »Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?« S.337 f.; Martinek, »Der Rechtskulturschock«, S. 100.
Ein letzter Grund für das Verschwinden der Geschichte aus den Lehrbüchern des Verwaltungsrechts mag sodann eine besonders für Deutschland zu beobachtende Ausdifferenzierung der juristischen Literaturgattungen sein. Auf der einen Seite nimmt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte von Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft zu und findet Ausdruck in umfangreichen Publikationen mit ausgebautem wissenschaftlichem Apparat.
Es sind Werke von Wissenschaftlern für Wissenschaftler. Diese enthalten meist auch profunde Beiträge zur Geschichte von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, in der Regel verfasst von Rechtshistorikern. Vgl. exemplarisch den Beitrag von Stolleis, »Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft«. Vgl. etwa das Werk von Wolff, Bachof, Stober, Kluth (Fußnote 112), welches zwar in der Reihe »Juristische Kurz-Lehrbücher« erscheint, mit drei Bänden zu mehreren hundert Seiten diesem Anspruch aber nur noch schwerlich gerecht wird. Die umgekehrte Entwicklung eines Werks ist eher selten zu beobachten. Ins Auge sticht immerhin das Werk von Raschauer (Fußnote 114), welches nach der ersten Auflage deutlich gestrafft wurde: Neben einer stärkeren Fokussierung auf aktuelle Rechtsentwicklungen entfiel die geschichtliche Einleitung, und auf Fußnoten wurde verzichtet. Michael Stolleis, »Zur kritischen Funktion der Rechtsgeschichte«, in: Hagen Hof, Peter Götz von Olenhusen (Hg.), Rechtsgestaltung – Rechtskritik – Konkurrenz von Rechtsordnungen …, Baden-Baden 2012, S.212-219, hier S.216.
Nach dieser Analyse in Gestalt eines Rückblicks (einer Art Meta-Geschichte) soll hier versucht werden, eine eigene Antwort auf die Frage zu finden, warum und wie sich die Verwaltungsrechtswissenschaft mit der Geschichte von Verwaltung, Verwaltungsrecht und mit der Vergangenheit der eigenen Disziplin befassen soll.
Die Verwaltungsrechtswissenschaft ist innerhalb der Jurisprudenz eine vergleichsweise junge Disziplin. Dennoch scheinen ihre eigenen Wurzeln und die Geschichte ihres Forschungsgegenstands heute vielfach verschüttet und der Blick in besonderem Maß dem geltenden Recht zugewandt. Der Verzicht auf eine historische Perspektive scheint gut verkraftbar, sieht doch ein Großteil der Verwaltungsrechtswissenschaft ihre Hauptaufgabe darin, praktikable Lösungsansätze für Gegenwartsprobleme bereitzustellen. Es mag paradox erscheinen – doch möglicherweise ist es gerade diese, in der heutigen Verwaltungsrechtswissenschaft vorherrschende enthistorisierte Sichtweise, die das Beharrungsvermögen gewisser Denkstrukturen und eine unbewusste Traditionsgebundenheit fördert. Vgl. Cancik, »Verwaltungsrechtsgeschichte«, S.34; Caroni, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers, S.12. Aus kirchengeschichtlich-theologischer Perspektive vgl. Alfred Schindler, »Kirchengeschichte – wozu?«, in: Helge Siemers, Hans-Richard Reuter (Hg.), Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft, Göttingen 1970, S. 140–155, hier S. 153.
Gerade in Kombination mit der Rechtsvergleichung erlaubt die Beschäftigung mit der Geschichte, die Gegenwart besser in einen raumzeitlichen Kontext einzuordnen und zu verstehen. Verstehen meint nicht, dass sich konkrete ›Lehren‹ vom Baum der Erkenntnis pflücken ließen. Michael Stolleis, »Lehren aus der Geschichte? Zur Auseinandersetzung mit den Thesen Bernd Rüthers (Entartetes Recht)«, in: Rainer Eisfeld, Ingo Müller (Hg.), Gegen Barbarei, Essays Robert M.W. Kempner zu Ehren, Frankfurt am Main 1989, S. 385–395, hier S. 385. Hierzu vorne, zu Beginn von Abschnitt »Geschichte als Baum der Erkenntnis«. Fleiner, Institutionen, Vorwort zur ersten Auflage von 1911.
Die Historisierung des Verwaltungsrechts kann somit ausgleichen, was eine Systematisierung nicht zu leisten vermag. Sie hilft, mit Widersprüchen und Inkonsequenzen umzugehen – und gerade hiervon ist das Verwaltungsrecht überreich. Das Verwaltungsrecht und auch die Verwaltungsrechtswissenschaft wurden wiederholt mit einem Gebäude verglichen. Vgl. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 106. Zur Verwendung von architektonischen Metaphern in der Sprache des Verwaltungsrechts vgl. m. w. Hw. Schindler, »100 Jahre«, S. 384–386. Vgl. Martinek, »Der Rechtskulturschock«, S. 100.
So wie die Befassung mit der Vergangenheit Verständnis für die Komplexität der Materie Verwaltung oder Verwaltungsrecht wecken kann, so kann die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Disziplin Verständnis wecken, aber auch Respekt und Verblüffungsresistenz. Wer sein ›wissenschaftsgeschichtliches Gedächtnis‹ pflegt, dem wird eher bewusst, dass wissenschaftliche Erkenntnis keine individuelle Eigenleistung darstellt, sondern immer auf dem aufbaut, was in der Vergangenheit geleistet wurde. Forschung beginnt – bildlich gesprochen – kaum je auf der ›grünen Wiese‹, sondern ist meist das Erweitern oder Renovieren eines bestehenden Gebäudes. Zudem sahen sich auch frühere Generationen mit vergleichbaren Fragestellungen konfrontiert und bemühten sich ernsthaft um überzeugende Lösungsansätze. Die damit geförderte Grundhaltung mag man als Respekt oder – vielleicht altmodisch – als Demut bezeichnen. Rechtsgeschichte kann so eine ähnliche Funktion erfüllen wie Rechtsvergleichung. Das Eintauchen in die Andersartigkeit einer räumlich oder zeitlich von uns entfernten Rechtskultur fördert den Respekt vor diesem Anderssein und schützt vor Überheblichkeit gegenüber dem vermeintlich ›Rückständigem‹.
Der latente Druck, dass Forschung – auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften – ›innovativ‹ zu sein hat, macht ein ›wissenschaftsgeschichtliches Gedächtnis‹ besonders wichtig. Wie im Abschnitt »Geschichte als Kontrastfolie« gezeigt wurde, neigt jede Generati on von Wissenschaftlern dazu, die eigene Erkenntnis mit dem Etikett ›neu‹ zu versehen und Reformern von ›Überkommenem‹ zu fordern. Sei es, weil Verwaltung und Verwaltungsrecht vor gefühlten oder tatsächlichen Entwicklungen und Herausforderungen (Gesetzesflut, Privatisierung, Internationalisierung, Entstaatlichung, Atomisierung der Verwaltung) stehen, weil diese Problemlagen von der Wissenschaft erstmals erkannt werden oder weil nun endlich
Wer den Innovationsgehalt wissenschaftlicher Forschung beurteilen will, muss daher nicht nur die neuesten Publikationen seiner eigenen Disziplin kennen, sondern sollte sich auch mit den wissenschaftlichen Theorien, Methoden und Ansätzen befassen, die vor 50 oder 100 Jahren ›en vogue‹ waren. Und wer im Zeitalter von Europäisierung und Internationalisierung des Verwaltungsrechts einen Beitrag zum ›Global Administrative Law‹ leisten will, sollte sich bewusst sein, dass Konzepte, Begriffe und Systeme in jeder Rechtskultur eine andere historische Verwurzelung haben. Zugleich macht gerade eine historische Betrachtung deutlich, wie schwierig die Attribute ›fremd‹ und ›eigen‹ im Recht sind. Schindler, »100 Jahre«, S.388 f.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit von Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft bedingt ein Mindestmaß an Befassung mit der allgemeinen Geschichte. Wer sich ausschließlich mit spezifisch juristischen Textkategorien früherer Zeiten – Gesetzestexten, Urteilen oder juristischen Lehrbüchern – beschäftigt, setzt sich der Gefahr aus, in diese Quellen sein heutiges Rechts- und Staatsverständnis hineinzulesen und nur das zu erkennen, was uns bereits vertraut ist. Vgl. Bodo Dennewitz, Die Systeme des Verwaltungsrechts, Hamburg 1948, S.11. Vgl. Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte: Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S.207; Michael Stolleis, Rechtsgeschichte schreiben: Rekonstruktion, Erwählung, Fiktion?, Basel 2008, S.27. Vgl. Möllers, »Historisches Wissen«, S. 152–154.
Die Aufforderung, sich mit allgemeiner Geschichte zu befassen, soll nicht dahingehend verstanden werden, es sei nun Aufgabe der Verwaltungsrechtswissenschaftler, einen aktiven Beitrag zu deren Schreibung zu leisten. Die allgemeine Geschichtsschreibung ist in erster Linie eine Aufgabe der Historikerinnen und Historiker. Wünschenswert wäre aber, dass die Rechtswissenschaft ihre Bedürfnisse nach historischer Forschung – etwa im Bereich der Verwaltungs- oder politischen Ideengeschichte – artikuliert und die Geschichtswissenschaft ein offenes Ohr für solche Anregungen hat. Zu diesem transdisziplinären Dialog in der Verwaltungsgeschichte vgl. Gilbert Coutaz, et al., »Was soll und kann Verwaltungsgeschichte?«, in: traverse 3 (2011), S.160–170.
Die hier geschilderten Beispiele aus der verwaltungsrechtlichen Literatur haben es deutlich gezeigt: Das Erzählen von Geschichten ist attraktiv. Vgl. Stolleis, Rechtsgeschichte schreiben, S. 5. Sabino Cassesse (1995), zitiert nach Müller, Verwaltungsrecht: Eigenheit und Herkunft, S.29. Diese These hat in der Schweiz viel Anklang gefunden. Vgl. Alfred Kölz, »Von der Herkunft des schweizerischen Verwaltungsrechts«, in: Ders., Der Weg der Schweiz zum modernen Bundesstaat, Chur, u. a. 1998, S. 95–116; Markus Müller, a. a. O; vgl. die Kritik an dieser zu einseitigen Rezeptionsthese bei Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich 22015, S. 89; Schindler, »100 Jahre«, S.389–391.
Dennoch lässt es sich kaum vermeiden, dass Geschichtsschreibung bis zu einem gewissen Grad auch das Erzählen von Geschichten ist. Ohne eine minimale Erzählstruktur, ohne Anfang und Ende, ohne das Herausarbeiten markanter Geschehnisse, ohne das Aufzeigen von Wechselwirkungen und Einflüssen und ohne Übersetzungsarbeit für uns heutige Leserinnen und Leser wird historische Forschung zum konzeptlosen und unübersichtlichen Anhäufen von Quellenmaterial. Vgl. Baberowski, Der Sinn der Geschichte, S.207 f.; Möllers, »Historisches Wissen«, S. 140 f.; Stolleis, Rechtsgeschichte Schreiben, S.40–43. Vgl. Cancik, »Diskussionsvotum«, S. 267 f.
In dieser Hinsicht gleicht die Geschichtsschreibung der juristischen Auslegungsmethode: Ausgangspunkt ist in beiden Fällen eine Quelle, in der Regel ein Text (z. B. Gesetzestexte, behördliche oder gerichtliche Entscheidungen) – seltener eine bildliche Darstellung (etwa ein Organigramm der Verwaltung) oder ein Objekt (beispielsweise ein Verwaltungsgebäude). Vgl. Baberowski, Der Sinn der Geschichte, S. 213; Wolfgang Schön, »Quellenforscher und Pragmatiker«, in: Christoph Engel, Ders. (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, Tübingen 2007, S.313-321; Stolleis, Rechtsgeschichte Schreiben, S. 18-21. Reinhart Koselleck, »Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt«, in: Ders., Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, S. 17–46, hier S. 45 f.
Wie diese Quellen gedeutet und zu anderen Quellen in Bezug gesetzt (kontextualisiert) werden, ist eine Frage der Interpretation. Juristen wie Historiker interpretieren Quellen und schreiben Geschichten. Sie ›erfinden‹ diese Geschichten aber nicht, sondern konstruieren sie anhand von nachvollziehbaren Methoden und machen sie mit dem Verweis auf Quellen für Dritte überprüfbar. Baberowski, Der Sinn der Geschichte, S.213. Zur Methodenvielfalt in der Geschichtswissenschaft Monika Dommann, David Gugerli, »Geschichtswissenschaft in Begutachtung: Acht Kommentare zur historischen Methode der Gegenwart«, in: traverse 2 (2011), S.154-164, hier S.159 f.; für die Rechtswissenschaft vgl. Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 55-181.
Der Gefahr, in einen allzu vereinfachenden Erzählmodus zu geraten, kann in der Verwaltungsrechtsgeschichte am ehesten dadurch begegnet werden, indem rechtshistorische Forschung stärker fokussiert wird. An die Stelle des Gestus der ›großen Erzählung‹ sollte das Erzählen möglichst konkreter und quellenbasierter Geschichten treten. Im Vordergrund stehen für das Verwaltungsrecht eine Dogmen- und Begriffsgeschichte. Denn die Verwaltungsrechtslehre ist in besonderem Ausmaß geprägt von scheinbar unumstößlichen Lehrsätzen oder Axiomen. Etwa dem Gesetzmäßigkeits- Vgl. Dietrich Jesch, Gesetz und Verwaltung: Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzips, Tübingen 1961. Vgl. Barbara Remmert, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, Heidelberg 1995. Vgl. Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im modernen Staat: Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, Tübingen 1991, S. 19–120.
Ähnliches gilt für Begriffe, wie etwa den Verwaltungsakt (bzw. die Verfügung [Schweiz] Vgl. Susanne Genner, Die Verfügungspflicht der Verwaltungsbehörden: Ein Beitrag zur Geschichte des schweizerischen Verwaltungsrechts, Zürich, u. a. 2013. Vgl. Ulla Held-Daab, Das freie Ermessen: Von den vorkonstitutionellen Wurzeln zur positivistischen Auflösung der Ermessenslehre, Berlin 1996; Schindler, Verwaltungsermessen. Vgl. Simone Wyss, Das subjektive öffentliche Recht als Begriff des Bundesgerichts: Herkunft, Funktion, Berechtigung, Basel 2009. Vgl. hierzu in Ansätzen Hans Boldt, Michael Stolleis, »Geschichte der Polizei in Deutschland«, in: Hans Lisken, Erhard Denninger (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, München 42007, S.1–41, hier S.21; Markus Müller, Christoph Jenni, »Die polizeiliche Generalklausel: Ein Institut mit Reformbedarf«, in: Sicherheit & Recht 2008, S.4–18, hier S.6 f. Vgl. Lepsius, »Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?«, S.365; Möllers, »Historisches Wissen«, S. 161 f. Schindler, »Kirchengeschichte – wozu?«, S. 149. In diese Richtung zielt etwa das Werk von Held-Daab (Fußnote 162), welche dem Ermessen als eigenem Forschungsgegenstand schlicht seine Existenzberechtigung abspricht (S. 263).
Das Verwaltungsrecht ist schließlich – stärker als etwa das Zivilrecht – geprägt von Institutionen, seien es Verwaltungsbehörden oder Gerichte. In ganz besonderem Maß trifft dies für den Conseil d’Etat und seinen Einfluss auf das französische Verwaltungsrecht zu. Vgl. Bruno Latour, La fabrique du droit: Une ethnographie du Conseil d’Etat, Paris 2004. Vgl. Christian Ackermann, Die Bedeutung der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zum Kommunalrecht für unsere heutige Dogmatik, Baden-Baden 2012; Martin Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht: Zur Kontrolldichte bei werdenden Behördenentscheidungen – vom Preußischen Oberverwaltungsgericht bis zum modernen Gerichtsschutz im Prüfungsrecht, Tübingen 1999, S. 202–278. Friedrich Lehne, Edwin Loebenstein, Bruno Schimetschek (Hg.), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Wien, u. a. 1976; Thomas Olechowski, Der österreichische Verwaltungsgerichtshof, Wien 2001. Vgl. Stephan Aerschmann, Der ideale Richter: Schweizer Bundesrichter in der medialen Öffentlichkeit (1875–2010), Zürich 2014; Goran Seferovic, Das Schweizerische Bundesgericht 1848–1874: Die Bundesgerichtsbarkeit im frühen Bundesstaat, Zürich, u. a. 2010; Christoph Errass, »Zur Geschichte des Bundesgerichts«, in: Marcel Alexander Niggli, Peter Uebersax, Hans Wiprächtiger (Hg.), Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Basel 22011, S. 1–77. Vgl. Fritz Sager, »Was soll und kann Verwaltungsgeschichte?«, in: traverse, Zeitschrift für Geschichte 3, 2011, S. 160–170, hier S. 164.
Eine Fokussierung auf dogmen-, begriffs- und institutionengeschichtliche Aspekte hat den weiteren Vorteil, dass sie für Juristinnen und Juristen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden bewältigbar ist. Im Vordergrund steht die Arbeit mit ›Rechtsquellen‹ (Verfassungstexte, Gesetzestexte, Verordnungstexte, Reglemente etc.), Entscheiden von Verwaltungsbehörden und Gerichten, sogenannte ›Materialien der Gesetzgebung‹, sowie die Befassung mit juristischer Fachliteratur. Das Auffinden und der Umgang mit diesen Quellen gehört zum Kerngeschäft der Rechtswissenschaften. Dieser disziplinär geschärfte Fokus schließt nicht aus, dass zusätzliche Gesichtspunkte, wie die Kulturgeschichte (Technik der Datenverarbeitung, Kommunikation, Repräsentation, Architektur) oder biografische Hintergründe ausgeleuchtet werden. Es wäre sogar ausgesprochen wünschenswert, wenn gerade Allgemeinhistorikerinnen und -historiker diese Forschungsfelder komplementär abdeckten. Vgl. exemplarisch die Studie zur Wahrnehmung des Bundesgerichts in der Öffentlichkeit von Aerschmann (Fußnote 171), die wissenschaftsgeschichtliche Arbeit von Günther (Fußnote 76), die Jellineksche Familienbiografie von Kempter (Fußnote 32), die ›ethnografische‹ Studie zum Conseil d’Etat von Latour (Fußnote 168) oder die fokussierte Verwaltungsgeschichte von Bettina Tögel, Die Stadtverwaltung Berns: Der Wandel ihrer Organisation und Aufgaben von 1832 bis zum Beginn der 1920er Jahre, Zürich 2004. Vgl. Caroni, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers, S. 103.
Wer sich als Vertreter der Verwaltungsrechtswissenschaft mit der Vergangenheit von Verwaltung, Verwaltungsrecht oder Verwaltungsrechtswissenschaft beschäftigt, riskiert den Ruf, sich als »Amateurhistoriker« Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 50.
Während Historikerinnen und Historiker besser verstehen, wie mit zeitlicher Distanz umzugehen ist, stoßen sie wegen fachlicher Distanz zu ihrem Forschungsgegenstand an Grenzen. Medizingeschichte ohne medizinische Grundkenntnisse ist ebenso ›amateurhaft‹ wie Kirchengeschichte ohne theologischen Hintergrund. Juristinnen und Juristen sollten daher nicht davor zurückschrecken, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen und damit einen Beitrag zur Geschichtsschreibung zu leisten. In diesem Sinn endet dieser Beitrag mit dem Ratschlag aus einer Rektoratsrede des Theologen und Kirchenhistorikers Adolf Harnack (1851–1930):
» Adolf Harnack (nach 1914 von Harnack), Sokrates und die alte Kirche. Rede beim Antritt des Rectorates gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität vom 15. Oktober 1900, Berlin 1900, S. 22 (teilweise wiedergegeben bei Dennewitz, Die Systeme des Verwaltungsrechts, S. 5).