Sonja Witte, wissenschaftliche Mitarbeiterin der International Psychoanalytic University Berlin, sucht in diesem Buch auf außergewöhnliche und beim Lesen zunehmend faszinierende Weise nach den unbewussten Gehalten, die einerseits in den Widersprüchen und Dynamiken (massen-)kultureller Produkte und andererseits auch in dem kulturwissenschaftlichen Nachdenken über diese Produkte aufscheinen. Es beruht auf Wittes Dissertation und ist disziplinär angesiedelt zwischen der psychoanalytischen und der gesellschaftstheoretischen Kulturforschung in der Tradition der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos. Ziel des Buches ist es zu zeigen, wie transzendierende Momente als unbewusste, die Dualismen überschreitende Bewegungen an ganz unerwarteten Stellen auch inmitten der konformistischen ‚Kulturindustrie’ auftauchen.
Wittes Werk ist ein sperriger, herausfordernder Text, der es seinen Leser*innen nicht leicht macht. Seinen Thesen nähert er sich mäandrierend und über zunächst vage bleibende Hinweise auf das, worum es in diesem Buch ‚eigentlich’ geht. Kryptische Andeutungen werden nur langsam beim Lesen entschlüsselbarer. Der*die unwissende Leser*in schüttelt anfangs immer wieder den Kopf: Was will der Text ihm*ihr sagen?
Er ist wie ein Mosaik aus sehr genauen, detailreichen Rekonstruktionen von film- und kunsttheoretischen Debatten, ideologie- und kulturindustriekritischen Exkursen, der Metaebene der Argumentationsmusteranalyse und ordnenden Zusammenfassungen aufgebaut. Dabei wechselt der Stil zwischen penibler Gründlichkeit mit vielen Zitaten, Belegstellen und einer teilweise überwältigenden Materialmenge zu auf den ersten Blick verwirrenden Assoziationssprüngen, die thematisch zu etwas ganz Anderem und doch immer Ähnlichem führen. Nach und nach begreift der*die Leser*in: Es besteht eine Homologie von Stil und Inhalt. Die Botschaften des Textes und die des untersuchten Materials sind gleicherma-ßen rätselhaft und drängen nach Deutung. Er geht um Unbewusstes.
Den konkreten inhaltlichen Ankerpunkt bilden filmtheoretische Debatten der 1950er- bis 1970er-Jahre in Frankreich sowie dazu frei assoziierend einzelne Filme sowie Werke der bildenden Kunst und der Literatur als „ästhetisches Material”. Bei dieser Zusammenschau folgt Witte durchgängig zwei Spuren. Sie nennt sie das „Spiel” und die mit ihm verbundene Erzählfigur des „Mehr als nur, aber nicht Zuviel” sowie das „Unheimliche” und die Figur des „Quasi”.
Die erste von Witte behandelte Debatte ist diejenige um die „Filmologie”: Ist das Kinoerlebnis ein folgenloses Spiel, ein symbolisches „Als Ob”, klar geschieden von der Realität? Oder verwischen hier die Unterschiede, und der Realitätseindruck des Kinos kann eine politische Aktivierung der Zuschauer*innen bewirken? Oder formt er dadurch das Publikum zu einer distanzlos-manipulierbaren Masse? Witte folgt den Bewegungen im Zwischen der dualistisch angeordneten Positionen. Die sich selbst mäßigende Erzählfigur „mehr als nur [ein Spiel], aber nicht zu viel [Realitätseindruck]”, die Witte in filmtheoretischen Texten des Psychoanalytikers Cesare Musatti findet, zeugt sowohl von Lust als auch von Unbehagen an den Grenzziehungen und -überschreitungen. Dieselbe Problemstellung wie in der Filmologie-Debatte zeigt Witte auch in Aldous Huxley Dystopie der totalen Integration in der
„Ist in Mussatis Konzepten das Fundament des Lustgewinns das Festhalten an der Grenze und zwar letztlich auch der zwischen Arbeit und Freizeit, so inszeniert Sierra eine Überschreitung, welche in nur einer von zwei möglichen Richtungen die Grenze überquert: Spiel ist hier Arbeit, nicht umgekehrt Arbeit auch Spiel.” (S. 195).
In der dialektischen Beweglichkeit, dem Ineinanderumschlagen wider Willen scheint davon etwas auf.
Die zweite von Witte analysierte Debatte ist die „Apparatusdebatte”, die sich um die Frage drehte, ob zwischen Film und Publikum eine bruchlose Einheit oder aber – in aktuellen Begriffen – eine Relation von Aneignung und Agency bestehe. An dieser Debatte, insbesondere den psychoanalytisch-filmtheoretischen Beiträgen Jean-Louis Baudrys, arbeitet Witte das Motiv des „Quasi” heraus. Das Wörtchen „Quasi” schränkt bei Baudry die zuvor herausgestellte Geschlossenheit immer wieder ein. Der Apparat ist nur quasi bruchlos.
Unter anderem anhand von Arbeiten der Gruppe
Witte betrachtet auch die psychoanalytischen (Film-)Theorien von Mussati und Baudry selbst psychoanalytisch, nämlich als Symptome hinsichtlich ihrer unbewussten Gehalte. Dies macht sie nicht tiefenhermeneutisch (vgl. zu der von Alfred Lorenzer begründeten tiefenhermeneutischen Kulturanalyse König et al. 2019), wie etwa Christa Rohde-Dachser, die Geschlechterentwürfe in Sigmunds Freuds Theorien analysiert hat (1991), sondern indem sie grundlegende dialektische Bewegungen (innerhalb nicht dialektischer Theorien) und das in deren Rissen und Umschlagsdynamiken Aufscheinende aufspürt. Sie findet dabei dieselben Motive wie auch in den Kunstwerken selbst: Zwei Gegenpositionen, die unbeabsichtigt ineinander umschlagen, sich in ihrem Gegensatz unterschwellig seltsam anähneln. Darin liegt Unheimliches und Subversives.
Mit dieser Perspektive grenzt Witte sich ab von Ansätzen, wie der kulturpessimistischen Lesart des ‚Kulturindustrie’-Konzepts, die das Subversive ‚jenseits’ der Kulturindustrie suchen, etwa in ‚authentischer Kunst’. Dies ließe sich auch – was Wittes Verzicht auf die tiefenhermeneutische Analyse untermauert – an Lorenzers Annahme eines authentischen leiblichen Wesens der Inter-aktionsformen und deren teilweise gelungener (wie in der traditionellen katholischen Liturgie), teilweise auch bis zur Unkenntlichkeit verzerrter (wie in der amerikanischen Kulturindustrie) Erscheinung in den symbolischen Formen kritisieren (vgl. Lorenzer 1981). Es bleibt kein Rest „Ist von einer bruchlosen Ordnung auszugehen oder sind in der gegenwärtigen Kultur Brüche aufzuweisen, die ein subversives Potential haben […]? Diese Frage verpasst m. E. einen wesentlichen Clou: Dass der ver-meintliche Gegensatz von bruchloser Geschlossenheit und widerständigem Aufbruch selbst ein wesentliches Prinzip der unbewussten Verwicklung und Anhänglichkeit der Subjekte an die Kulturwaren ist, welches in dieser Auslegung in symptomatischer Weise wiederkehrt.”
Wittes Buch ist ein ebenso verwirrendes wie die Verwirrung aufdröselndes dialektisches Werk.
Die Anregungen, die Wittes Rekonstruktionen und Deutungen der älteren filmtheoretischen Debatten geben, auch auf ganz aktuelle Phänomene zu beziehen, bleibt Aufgabe der Leser*innen. Das große Potenzial, das sich hier ergibt, soll abschließend kurz an zwei Themenfeldern angedeutet werden:
Die Ideologie des „
Zum zweiten vermag Wittes Perspektive auch ein neues Licht auf die teilweise irritierenden Formen der aktuellen „
Allochronie im Anthropozän: Ein Gespräch mit Erhard Schüttpelz (Re)Synchronisierung auf dem Boden der Tatsachen? Die Pedosphäre als Übersetzungsregion anthropologischer und geologischer Zeitlichkeit Zukunftspolitik im Technozän. Der Technikfolgendiskurs in den 1970er Jahren Walter Benjamins Eschatologie der Katastrophe: Fortschritt, Unterbrechung und das Ende der Geschichte Wie die Geschichte(n) der Erde bewohnen? (Literarische) Kompositionen von planetarer Zeit zwischen Moderne und Anthropozän Das „diplomatische Jahrhundert“: Mediatisierung von Zeitverhältnissen in den Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts Vom Ausgang der Erde aus der Welt des Menschen, oder: Wie das „Prä-“ vor die Geschichte kam Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän