Die Verbindung von ‚Migration und Europa‘ ist sowohl aktuell als auch historisch gegeben. Und doch greift das Thema weit über den europäischen Rahmen hinaus – und zwar nicht nur in weltpolitischer Hinsicht, sondern in philosophischer. Im Dispositiv von Migration werden Zusammenhänge anders wahrnehmbar. Die Frage nach Migration schlägt eine andere Perspektive auf die philosophische Tradition frei und stellt sich als Anfrage an Philosophie selbst: Ihre Bedingungen der Möglichkeit sind davon berührt. Dies wird mit dem grundsätzlichen Zugriff auf die Thematik von Simone Weil, Hannah Arendt und insbesondere Vilém Flusser klar, die hier mit Seitenblicken auf Immanuel Kant und Bernhard Waldenfels betrachtet sein sollen.
Die Heftigkeit, Leichtigkeit und Schwere des Bodenlosen als existentieller Erfahrung haftet der Philosophie tatsächlich in vielfacher und konstitutiver Weise an, denn: Frei und eigen zu denken, kostete bereits in der Vergangenheit, wenn nicht gleich den Kopf, so doch nicht selten – und mehr als bildlich gesprochen – den ‚Boden‘. Wie viel von unserer abendländischen Philosophie, kann gefragt werden, ist nicht auch Exilphilosophie und -literatur? Wobei zu bemerken ist, dass die Thematik in den Literaturwissenschaften weitaus länger eigens bearbeitet wird. In der Philosophie steht hier noch eine eigene Reflexion weitgehend aus.
Die Betrachtung entfaltet sich vor dem Hintergrund von dreien, die selbst die Erfahrung von Flucht und Migration gemacht haben: der politischen Philosophin Hannah Arendt, der spirituell inspirierten und politisch aktiven Denkerin Simone Weil und dem Kommunikations- und Medienphilosophen Vilém Flusser. Sie bilden die Denkfolie für unterschiedliche Zugriffe, in denen die Thematik erschlossen wird. Philosophische Überlegungen von Kant und Waldenfels werden dabei zur theoretischen Grundlegung herangezogen und darauf in diskursiver Weise erneut zur Disposition gestellt.
Der Text gliedert sich hierfür in zwei Teile. Im Versuch einer Ausbuchstabierung des Titels seien zunächst in drei Schritten erst einmal die Begriffe ‚Migration‘ – auch im Kontrast zur ‚Flucht‘ – betrachtet und einige grundsätzliche Überlegungen angestellt, bevor in einem zweiten Zugang „Verwurzelung“, „Entwurzelung“ und vor allem das „Bodenlose“ bedacht werden. Sie alle gilt es, vor einem ambivalenten Phänomen zu reflektieren, das dem Zusammenhang immer inhärent ist: ‚dem Fremden‘ oder auch ‚der Fremde‘. Über eine weitere Etappe wird der Blick im zweiten Teil vom Migrantischen auf das Weltbürgerliche geweitet und ihrer beider Verschränkung mit dem Urteilen reflektiert. Im Ausblick sei dann auf eine potentielle Migrationsphilosophie oder ‚Philosophie der Migration‘ geschaut. Und damit komme ich zum ersten Zugriff:
Die wortgeschichtliche Bedeutung von ‚Migration‘ ist der freie Vogelflug bzw. die Vogelwanderung. Bezieht sich der Begriff auf den ‚Vogelzug‘ als eine wiederkehrende – nahezu, ‚natürliche‘ Bewegung, ließe sich jedoch mit Blick auf die Flüchtlingssituation vermutlich eine solche Lesart schlichtweg nur verweigern oder sie wäre mindestens vehement in Frage zu stellen, da die Fluchtbewegung des Flüchtlings eben in der Regel präzise Ursachen und spezifisch benennbare Gründe hat und keineswegs einfach einer zyklischen Bewegung folgt, wie wir sie in den Definitionen des Nomadentums wiederfinden. Dies lenkt den Blick einerseits auf eine notwendige mögliche Unterscheidung zwischen Migrant und Flüchtling, – der eine wird zumeist als freiwillig, der andere als unfreiwillig in seine Situation gestoßen vorgestellt. Doch handelt es sich dabei um eine Differenzierung, die letztlich kaum haltbar ist, denn wer wollte
Dies deutet auf eine besondere Problematik der ‚Umherziehenden‘, die sie an die Thematik des Fremden als „Außer-ordentliches“, wie es Waldenfels formuliert Siehe Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006, S. 31 [Künftig zitiert: Waldenfels: Grundmotive]. Siehe das gleichlautende Kapitel in: Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 14. Aufl. München/Zürich 2011, S. 601–625. In diesem Zusammenhang sind auch Jacques Derridas Überlegungen zur Arendts nicht unproblematischer, 1943 verfasster Text wird derzeit ob der Situation nahezu ‚wiederentdeckt‘. Siehe Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. 4. durchges. Aufl. Stuttgart 2016, S. 9 [Künftig zitiert: Arendt: Flüchtlinge].
Flucht und Migration lassen uns in unserer menschlichen Verletzlichkeit bewusst werden. So ist etwa gerade jener Denker, dem wir philosophisch als epochemachende Scharnierstelle den vielbedachten, diskutierten und bestrittenen Gedanken des „ich denke, also bin ich“ (zumindest solange ich denke) als vermeintlich unumstößliche Gewissheit verdanken, zugleich jener, der selbst Philosophieren als „Herumtappen im Dunkeln“ beschrieben hat und dessen „
Im Gegensatz zur Migration lässt sich die Bewegung der Flucht eher existentiell verstehen. Es ist die Reaktion auf eine Krise – ja ein Moment der Krise selbst. Metaphorisch taucht das Bild aber auch als Bewegung des kritischen Denkens auf. Diese Lesart verfolgt der Historiker Reinhart Koselleck in Beschäftigung mit Pierre Bayle, jenem großen Universalgelehrten des 17. Jahrhunderts, der in seiner Auseinandersetzung mit den anhaltenden Religionskriegen des Abendlandes zum vehementen Verfechter einer „allgemeinen Toleranz“, einer „ Siehe hierzu Bayles maßgebliches Werk von 1686–1688: Commentaire Philosophique sur ces paroles de Jésus-Christ, ‚contrain-les d’entrer. Wörtlich heißt es dort: „das Denken gerät in eine rastlose Flucht der Bewegung“. Wegen der Verbindung zur Kritik ist aber auch die ganze Kommentierung aussagekräftig: „Die raison wog bei Bayle ständig das ‚pour et contre‘ gegeneinander aus, sie stieß dabei auf Widersprüche, die stets neue Widersprüche hervorriefen, und so löste sich die Vernunft gleichsam auf in einen ständigen Vollzug der Kritik. Ist die Kritik der scheinbare Ruhepunkt des menschlichen Denkens, dann gerät das Denken in eine rastlose Flucht der Bewegung“. Siehe Reinhart Koselleck: Krise und Kritik. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1997, S. 89.
Bewegte Migrationsbiographien mit selbstgewählten und öffentlich auferlegten Umschwüngen finden so ein Pendant in einem Denken von Verschiedenheit und Pluralität, das letztlich dem nicht stillstehenden, freien, kritischen Denken selbst angehört. Die ‚Denkfluchten‘ werden zu Öffnungen auf neue Perspektiven. In diesem Sinne sei im Weiteren auf den Zusammenhang von Verwurzelung und Bodenlosigkeit als Parameter einer Philosophie geschaut, die Migration als ihr Konstituens begreift und das Fremde als ihre Öffnung.
Beide Bewegungen, die der Flucht wie die der Migration, berühren die Thematik der Fremde und des Fremden, die sich seit dem 20. Jahrhundert verstärkt zum philosophischen Thema des Anderen und der Anderen gesellt hat. Wo der oder das Andere oder die Anderen im Verständnis dieser philosophischen Richtung terminologisch aufgefasst sind, erfolgt die Großschreibung. Siehe hierzu exemplarisch die verdichteten Gedanken aus Bernhard Waldenfels’ langjährigen und mehrbändigen Studien zu einer „Phänomenologie des Fremden“ in seiner Schrift: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 2006 [Künftig zitiert: Waldenfels: Grundmotive]. Siehe Waldenfels: Grundmotive, S. 15. Waldenfels’ anthropologische Überlegungen zeigen eine deutliche plessnersche Signatur und weisen auch durchweg Anklänge an Merleau-Ponty auf. Vgl. Waldenfels: Grundmotive, S. 8. Siehe Julia Kristeva: Étrangers à nous-mêmes. Paris 1988. Dt. Ausg.: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. 1990.
In Bearbeitung dieser Begriffs- und Deutungsdifferenzen drängt sich jedoch eine grundsätzliche Frage auf, fällt wie ein fremder, ungebetener Gast mit der Tür ins Haus: Können wir angesichts ganz konkreter und praktischer Situationen überhaupt so abstrakt mit der Thematik von Flucht und Migration umgehen? Handelt es sich dabei angesichts gegenwärtiger Lagen nicht um einen unerträglichen Zynismus? – Gerade vor der Dringlichkeit gegebener Situationen wird deutlich, dass sie nicht nur nach momentaner Abhilfe, sondern nach Grundlegendem verlangen, denn es stellen sich ja nicht nur die flüchtigen, temporären Fragen, sondern auch die, wie moderne Migrationsgesellschaften, die wir jetzt schon sind, und Einwanderungsländer, wie Deutschland, dauerhaft und nachhaltig mitsamt Zukunftsperspektiven für die in ihr befindlichen Personen mit der Situation umgehen wollen. Vor allem fragt sich, welches Verhältnis wir zum Migranten, zum Flüchtling und zur Migration pflegen. Welches Verhältnis stellen wir uns im besten Fall für einander vor? Hierbei kann vielleicht mehr denn je bewusst werden, dass – gut aristotelisch gedacht – unser Umgang mit etwas und jemandem nicht unabhängig von den Konzepten ist, die wir uns davon machen. Es liegt viel Verantwortung darin, wie wir etwas denken und gerade deswegen braucht es auch für die akute Situation Reflexion auf die Begriffe, Phänomene und verschiedenen Ansätze, die sich mit ihr verbinden. Und damit komme ich zum zweiten Zugriff und mit ihm auf Flusser und das Bodenlose.
Mit den Themen Siehe Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Mit einem Nachwort von Milton Vargas. Bensheim/Düsseldorf 1992. Hier S. 9 [Künftig zitiert: Flusser: Bodenlos]. Die „philosophische Autobiographie“ wäre in der Tat noch einmal als eigene Form unter den sonst vor allem in den Literaturwissenschaften behandelten Autobiographien abzuheben und zu reflektieren. Seit ihrem Initiator Augustinus versteht sie sich als ‚Selbstsuche‘ und setzt damit bereits konstitutiv ein differenzielles Moment und Spannungsgefüge zwischen suchendem und gesuchtem Selbst: Autor und Werk, Autor und Narration etc. Sie ist damit genuin schon immer mehr oder minder wissentlich in unaufhebbarer Weise um das verlegen, worum es in der Suche geht. Für Augustinus ist diese Suche natürlich primär mit dem Lobpreis Gottes, dem Versuch der Anrufung desselben und auch die Suche nach ihm verbunden, verschränkt sich aber doch auch von Anbeginn mit der suchenden Selbstauseinandersetzung. Philosophisch ist so der Zusammenhang von Selbst und Identität nur als fragiler und gebrochener zu denken.
Genau mit dieser Ambivalenz trifft Flusser das „Bodenlose“. Es ist ein Appell an die allgemeine Verbindlichkeit dieser Erfahrung und Stimmung und zugleich die Verweigerung jeglicher Allgemeingültigkeit in Anbetracht der individuellen, monströsen Abnormität, Abstrusität dieser Erfahrung, die jeden für immer in ein schwarzes Loch, zumindest in eine andere Welt, zu katapultieren scheint. Die Tragweite der Migrationserfahrung greift bis in die eigenen Gedanken und ihre Ordnung, die Denkstrukturen selbst:
‚Bodenlosigkeit‘ bedeutete, so erkannte man jetzt, nicht etwa nur den Verlust aller Modelle für Erleben, Erkennen und Werten, sondern auch den Verlust der Struktur, welche diese Modelle ordnet. Man hatte demnach nicht nur alle [...] übertragenen Modelle verloren und sah sie nun als leere Formen, sondern man hatte auch das Gerüst verloren (nämlich die okzidentale Tradition), welches diese Modelle trägt, und sah in ihm nun Regeln eines bedeutungslosen Spiels. Flusser: Bodenlos. S, 56f. Zum existentiellen, spiel- und haltungstheoretischen Aspekt in Flussers Gedanken siehe auch meinen Beitrag: „Bodenlos.
Die Stimmung des Bodenlosen wird aber nicht nur mit negativen Vorzeichen versehen, sondern auch ein „Projekt“, der vorausschauende Blick auf Künftiges. Und dies, weil in der vorgestellten Ambivalenz der Migrationserfahrung als ‚bodenlos‘, die uns alle existentiell verbindet – spätestens, wenn Flusser die einzelne Existenz zum „Laboratorium“ für Andere erklärt – Während die philosophische Autobiographie und das Denken selbst vielleicht eher der Figur des „Wir, die ungezählten Millionen von Migranten […] erkennen uns dann nicht als Außenseiter, sondern als Vorposten der Zukunft“ und kurz darauf: „als Modelle, denen man, bei ausreichendem Wagemut, folgen sollte“. Siehe Vilém Flusser: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hamburg 2013, S. 15–30. Hier S. 16f. [Künftig zitiert: Flusser: Wohnung]. Simone Weil: L’Enracinement. Prélude à une déclaration des devoirs envers l’être humain. Paris 1943. Dt. Ausgabe: Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten den Menschen gegenüber. Zürich 2011, [Künftig zitiert: Weil: Verwurzelung].
In der Die Verwurzelung ist wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele. Es zählt zu denen, die sich nur schwer definieren lassen. Der Mensch hat eine Wurzel durch seinen wirklichen, aktiven und natürlichen Anteil am Dasein eines Gemeinwesens, in dem gewisse Schätze der Vergangenheit und gewisse Vorahnungen der Zukunft am Leben erhalten werden. Natürlicher Anteil heißt: automatisch gegeben durch den Ort, die Geburt, den Beruf, die Umgebung. Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört. Der Austausch von Einflüssen zwischen sehr verschiedenen Lebensräumen ist nicht weniger unentbehrlich als die Verwurzelung in der natürlichen Umgebung. Weil: Verwurzelung, S. 43.
Die Multiplizität der Wurzeln wird signifikant für Flusser, der aber zugleich die Vorstellung der Verwurzelung und vor allem die der Heimat damit aufbricht. Er bezeichnet sich selbst als „heimatlos“, weil zu viele Heimaten in ihm lagern. Vgl. Flusser: Wohnung, S. 15.
Der emigrierte Philosoph entlarvt den Zusammenhang von Heimat und Identität als „Banalität“ und weist auf etwas Entscheidendes. Flusser bricht mit seinen Überlegungen gängige Identitätslogiken auf. Dabei ist die enge Bindung von Identität, Natalität und Territorialität nicht nur historisch und aktuell zutiefst problembehaftet, sondern auch philosophisch hochgradig kritisch und als kontingent befragbar und könnte mit einem anders akzentuierten Augenmerk auf Migration ein Stück persönlicher wie gesellschaftlicher (Selbst-)Aufklärung leisten. Siehe hierzu auch die später im Text besprochenen kantischen Interventionen. Siehe auch Flusser: Bodenlos. Darin ebenfalls: „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (Heimat und Heimatlosigkeit – Wohnung und Gewöhnung)“. S. 247–264. Flusser: Wohnung, S. 16. Ebd., S. 17. Allerdings bemerkt Flusser, dass es dem Zustand genauso wie die französische Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile – jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden. Ebd.
Das Problem ist nun, dass diese allen gegebene Verbundenheit an ganz Konkretes, hochgradig Subjektives aus frühestens Zeiten eigener Erinnerung metaphysisch übersteigert wird. Stattdessen aber handelt es sich nur um eine „Banalität“. Die Verwendung des aus Arendts umstrittenen Diktum der „Banalität des Bösen“ bekannten Begriffs soll nicht die Gefühle der so Verbundenen in Abrede stellen. Heimat ist für Flusser zwar kein ewiger Wert, aber wer sie verliert, der leidet. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 27.
Heimat als diese „geheimnisvollen Fesseln“ – „zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen.“ Flusser: Wohnung, S. 19. Ebd., S. 30. Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in [...] mir [...] schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner [...] Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinne ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen. Ebd.
Mit diesem Ausblick Flussers möchte ich selbst – allerdings weiter fragend – nach vorne schauen:
Weil, Arendt und Flusser – als drei Stimmen zu ‚Migration und Europa‘, die alle selbst notgedrungen die Erfahrung der Emigration gemacht haben – versuchen, diesen existentiellen Einschnitt für ein Neudenken sowohl der Gesellschaft als auch der Philosophie fruchtbar zu machen. Alle drei akzentuieren das soziale Gefüge, das besonders Arendt als „Bezugsgewebe“ zwischen den Menschen zentral werden lässt, wofür Weil entscheidende Vorüberlegungen geliefert hat. Siehe Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 4. Aufl. München 2006 (1967). Amerik. Ausgabe: The Human Condition. Chicago 1958. Kap. 25: „Das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“, S. 213–222. Zum Zusammenhang von Migration und Freiheit siehe auch meinen Aufsatz: „Die Freiheit des Fremden. Gedanken zur Boden- und Haltlosigkeit“. In: Freiheit und Reflexion. Flusser-Studies, Heft 16, Januar 2014. Arendt: Flüchtlinge, S. 35f.
Eine mögliche ‚Philosophie der Migration‘ nach Flusser umfasst Sehnsucht, Heimatgefühle und Heimweh, aber auch Perspektivwechsel und mit ihnen ganz aufklärerisch eine Vorurteilskritik, die uns interpersonal als Menschen im Miteinander zeigt und die Migration als unsere menschliche Bedingtheit, unsere In dieser Weise erscheint der Weltbürger letztlich schon bei Kant im dritten Definitivartikel zum Gesetz der Hospitalität: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“ in seiner Schrift Zum ewigen Frieden. Siehe Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Bd. XI. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1977a, S. 193–259. Hier bes.
Vor dem Hintergrund dieser Fragen sei noch einmal auf eine etwas andere Trias geschaut: Flusser, Kant und Arendt und das mögliche Verhältnis von Migration und Kosmopolitismus mit Blick auf die darin implizierte Verbindlichkeit von Personen. Mit der Dekonstruktion des Heimatbegriffs hatte Flusser bereits eine Verbindung zur Urteilsthematik, geradezu im Sinne einer aufklärerischen Vorurteilskritik, vollzogen, indem er den Heimatbegriff in seiner Vorurteilspotentialität decouvrierte und Migration dagegen als einen Stand der Freiheit, auch der Befreiung aus alten Vorurteilsfesseln, in Aussicht stellte. Im Gedanken des Urteilens und der Urteilskraft laufen aber in der Tat zuvor schon bei Kant und Arendt Gedanken von Freiheit als Autonomie im Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft zusammen, die sich auch als Direktiven oder Aussichten auf einen gemeinsam bewohnten und geteilten Erdball lesen lassen. Dafür schaue ich nun im zweiten Teil noch einmal genauer auf diese drei: Kant, Arendt und Flusser und den Zusammenhang von Migration und Kosmopolitismus in ihrer Verknüpfung mit dem Urteilen.
Bemerkenswerterweise bedenkt Flusser nicht nur die Folgen für das Denken und seine Inhalte, sondern das ganze Denkgebäude und Gerüst gerät ob der Erfahrung von Migration in Bewegung – ja, bricht letztlich zusammen, doch – wie Flusser freimütig bekennt: Die ästhetische Prägung bleibt und öffnet sich für den Spiel- und Medientheoretiker nicht von ungefähr in Weisen freier Kombinatorik. In seiner schließlichen Rückwendung zum westlichen Denken beschreibt er, dass ihm S. 213–217. BA 40–48 [Künftig zitiert: Kant: Zum ewigen Frieden]. andere, östliche Philosophien, die er ebenfalls ausprobiert, letztlich nicht gefallen und er dem Westen, wie er es ausdrückt, aus „ästhetischen Gründen“ verhaftet bleibt. Vgl. Flusser: Bodenlos, S. 62.
Die Stelle aus Kants dritter Kritik, dem Paragraphen 40 zum einen Mann von erweiterter Denkungsart [anzeigt], wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974. § 40, B 160/A158 [Künftig zitiert: Kant: KdU].
Dies beschreibt nun eine Art empathischen Kopfkinos – bei Kant wie bei Arendt –, mit dem das eigene Denken und Urteilen sowohl geprüft als auch erweitert wird, und beschreibt ein inhärent transgressives und kritisch-selbstreflexives Moment, das ebenfalls als Bindeglied zwischen den Urteilenden denkbar wird. An deren Urteil appelliert jedenfalls der ästhetisch-Reflektierende, indem er auch Anderen Zustimmung zu seinem Urteil ‚ansinnt‘ Vgl. Kant: KdU: „Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es s i n n e t nur jedermann diese Einstellung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen Gleichzeitig verwahrt sich Kant vor einer Borniertheit gegenüber anderen Kulturen oder früheren Epochen unter Verweis auf den Erfahrungsbegriff. Jede Zeit und Kultur habe ihre Erfahrungen und keine sei als solche besser oder schlechter als eine andere – so lässt sich zumindest der Anfang von Kants Schrift
Diese zweite Maxime nun des gesunden Menschenverstandes, die hier für das Verhältnis von Standpunkt des Einzelnen und Gemeinschaft wichtig wird, weist daher nicht von ungefähr deutliche Ähnlichkeiten mit Kants in den anthropologischen Schriften ausgearbeiteten Vorstellungen vom Weltbürgertum auf, was Arendt mit Nachdruck mitbedenkt. Dort, im anthropologischen Kontext, ist es allerdings zunächst nur die sich kritisch erweiternde Vernunft, die ein Bestreben hat, sich potentiell unbegrenzt, weltweit zu tummeln und in kritischem Austausch zu erweitern. Die Vernunft sei nämlich „nicht dazu gemacht, daß sie sich isoliere, sondern in Gemeinschaft setze“, gibt Kant in seinen anthropologischen Reflexionen zu bedenken. Kant: Akad.-Ausg. Bd. 15: Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 897. S. 392. Und siehe ebenfalls Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. und mit einem Essay v. Ronald Beiner. Aus dem Amerik. v. Ursula Ludz. München/Zürich 1998b, S. 56 [Künftig zitiert: Arendt: Urteilen].
Die Urteilsgemeinschaft ist zumindest potentiell eine Weltgemeinschaft. Denn Urteile halten sich latent nicht an kontingente, von Menschen gesetzte Grenzen. Sie werden von Welt bewegt, bewegen Welt und sich selbst.
Flusser wehrt sich zunächst einmal sogar, seinen Entwurf zum Migranten mit dem Gedanken des Weltbürgers und Kosmopoliten kurzzuschließen, weil es ihm im Gedanken der Freiheit um konkrete, tatsächlich übernommene Verantwortung gegenüber wirklichen Personen, „Nächsten“, Freunden geht:
Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den ‚Nächsten‘. Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen. Flusser: Wohnung, S. 26f.
Gerade in der anthropologischen, aus dem Religiösen bekannten Vorstellung des Menschen als bloß temporärem Bewohner dieser Welt, der daher – wie oben beschrieben – eher ein ‚Vertriebener‘, ‚Wanderer‘ oder ‚Pilger‘ ist, findet sich aber ein Moment, das insbesondere Kant als grundlegende Reflexion zum Weltbürgerlichen nachklingen lässt, denn als Bewohner dieser Erde, die „gemeinschaftliche[r] Besitz“ ist, können wir uns dank ihrer Kugelfläche – bis auf die unbewohnbaren Teile der Welt – prinzipiell überall auf ihr bewegen und durch die Kontingenz unserer Geburt, modern wäre von „Geworfenheit“ zu sprechen, hätte auch niemand mehr Vorrecht als ein Anderer, irgendwo auf der Welt zu sein. Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 214. BA 41f. Kant wehrt damit nahezu vorausschauend einen Gedanken ab, der dann unter dem Begriff ‚Nation‘ im Grunde erst im 19. Jahrhundert seine uns bis heute drückende Gestalt gewinnt.
Nun ist freilich auch im § 40 zum sogenannten „Gemeinsinn“ der enge Bezug der zum „gemeinen Menschenverstand“, zum Zur Bedeutung des subjektiv-allgemeingültigen, ästhetisch-reflektierenden Urteils siehe auch meine diversen Studien: Frauke A. Kurbacher: Urteilskraft als Prototyp – Überlegungen zur ‚ästhetisch-reflektierenden Urteilskraft‘ im Anschluß an Kant. In: Frithjof Rodi: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen. Weilerswist 2003, S. 185–195. Und dies.: Selbstverhältnis und Weltbezug. Urteilskraft in existenz-hermeneutischer Perspektive. Würzburg 2005.
Dies gilt aber damit auch für den Autonomie-Gedanken selbst. Sich im Wortsinn selbst das Gesetz zu geben – im wortgeschichtlichen Sinn des griechischen Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 214. B 141f/A 140.
Und gleichzeitig wird der Anspruch auf Allgemeinheit – jedoch nicht im Sinne der Abstraktion, sondern der potentiellen Gemeinsamkeit verstanden – nicht aufgehoben. Es ist ein ‚nicht-subjektives‘ Moment im Sinne einer Überindividualität, wie es auch Arendt bemerkt. Vgl. Arendt: Urteilen, S. 90. Ebd. Kant: Zum Ewigen Frieden, S. 215f. BA 44ff. [Hervorhebung von der Autorin]. Hier ist natürlich auch wieder jene im kantischen Zusammenhang gegebene Nähe von ästhetischem zum moralischen Gefühl virulent. Kant: KdU. § 40, B 155ff./A153ff. Vgl. Arendt: Urteilen, S. 79f.
Kant bringt den Gedanken einer kritischen Erweiterung der Denkungsart gleichsam noch in aufklärerischer Munterkeit hervor, Arendt scheint schon mit stärkerem Blick auf die Abgründigkeit des modernen Menschen daran interessiert.
Auch wenn Arendt betont, dass man, wenn man urteilt, „als Mitglied einer Gemeinschaft“ urteilt, erhebt doch das ästhetisch-reflektierende Urteil Kants wie Arendts dagegen einen Anspruch auf eine dezidierte Eigenständigkeit und Autonomie, die gleichwohl nicht willkürlich, sondern auf eine potentielle Urteilsgemeinschaft gerichtet ist – im Zweifelsfall aber auch die Kraft und die Widerständigkeit ihr gegenüber besitzt, derer es aus Sicht des eigenen Standpunkts, eben des eigenen Urteils im kritischen Fall bedarf – und dies nicht zuletzt als Kosmopolit oder „Welt-Zuschauer“, wie Arendt sagt. Denn, wenn man auch immer als Mitglied einer Gemeinschaft urteilt, ist man dabei von seinem gemeinschaftlichen Sinn, dem Vgl. ebd., S. 100. Vgl. nochmals Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 214. B 141f/A 140.
Gerade weil der Ästhetisch-Reflektierende auch jemand ist, der selbstkritisch über das eigene Urteil nachdenkt und bewusst Stellung bezieht, kann und wird dieser eigene Standpunkt nicht voreilig aufgegeben. Der Urteilende trachtet gleichzeitig danach, sich über mögliche andere Urteile und Gegenmeinungen aber ebenso stets zu bilden, um damit
Wenn das Gefühl dem Urteilen konstitutiv ist, stehen wir allerdings durchaus vor der Problematik, dass hier auch – als Kehrseite – ein ‚Hort der Vorurteile‘ stecken mag, wie es Flusser am Heimatbegriff, den er als Heimatgefühl und in deutlicher Anspielung auf Arendt als „Banalität“ entlarvt – und zwar, weil hier etwas ganz Spezielles, aber allen subjektiv Gegebenes, theoretisch unzulässig hypostasiert und sakralisiert wird. Auch deswegen aber, weil die Urteile Bezug zum Gefühl, zur Erfahrung und dem Konkreten haben, ist kritische Reflexion dauerhaft vonnöten. Diese Konkretion, die schon bei Kant im Ästhetischen – und u.U. darüber hinaus – Konstituens des Urteilens wird, mit dem er letztlich die Autonomie des Subjekts erweist, bedeutet aber auch, dass sie mit Autonomie zusammengedacht werden muss, als etwas, was ich als „fragile Autonomie“ bezeichne, deren affektive Anteile sie als etwas Aktives wie Passives lesbar werden lassen und damit ebenfalls Übergänge zu den modernen Phänomenologien aufzeigen.
Von dieser dritten Kritik muss nun Autonomie gedacht werden – und bleibt dauerhaft kritikabel und bedarf daher der kritischen Erweiterung, doch ist es nunmehr eine sich in Urteilsentwürfen erweiternde Urteilskraft und nicht allein Vernunft. Trotzdem bleibt der Rückverweis, die Herkunft des Gedankens bei Kant aus dem Weltbürgertum sprechend, denn auch die sich über den kritischen Abgleich vollziehende eigene Urteils- und Standpunktgewinnung bei Kant und Arendt ist potentiell – räumlich-zeitlich betrachtet – ‚grenzenlos‘ und mit Vilém Flusser, als einem kreativen Rezipienten beider, gesprochen, auch „bodenlos“ im Sinne des Philosophischen als eines urteilskräftigen Denkens, das sich ohne festes Fundament stets bewegt. Der Verweis Arendts mit Kant auf das Erdenrund als „Kugelfäche“ mitsamt dem kosmopolitischen „Besuchsrecht“ und „Gesetz der Hospitalität“, weil wir nun einmal diese Welt miteinander teilen, legt auch den Blick auf die Rundung des Kopfes und dessen Beweglichkeit im kritischen Denken nahe, das gleichsam keinen festen Halt respektive „Boden“ kennt. Flusser stellt seine Überlegungen zum Bodenlosen im Rahmen seiner Schriften zum Migranten an, die sich als mögliche ‚Philosophie einer Migration‘ lesen lassen. Mit dem Verweis auf das Bodenlose ließe sich durchaus die ganze Philosophie als eine der Migration – retrospektiv wie prospektiv – neu lesen und entwerfen.
Ist der Kosmopolitismus, das Weltbürgertum, nun ein um das Moment der Migration erweitertes, alternatives Identitätsangebot – ein Angebot, das von Identität kaum mehr, aber von ihrer potentiellen Beweglichkeit viel Gebrauch machen möchte?
Allochronie im Anthropozän: Ein Gespräch mit Erhard Schüttpelz (Re)Synchronisierung auf dem Boden der Tatsachen? Die Pedosphäre als Übersetzungsregion anthropologischer und geologischer Zeitlichkeit Zukunftspolitik im Technozän. Der Technikfolgendiskurs in den 1970er Jahren Walter Benjamins Eschatologie der Katastrophe: Fortschritt, Unterbrechung und das Ende der Geschichte Wie die Geschichte(n) der Erde bewohnen? (Literarische) Kompositionen von planetarer Zeit zwischen Moderne und Anthropozän Das „diplomatische Jahrhundert“: Mediatisierung von Zeitverhältnissen in den Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts Vom Ausgang der Erde aus der Welt des Menschen, oder: Wie das „Prä-“ vor die Geschichte kam Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän