Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die das Teilprojekt E des Sonderforschungsbereichs 1285 Vgl. Michalsky, Sophia/Haugk, Theresa: Tagungsbericht: Invektive Gattungen. Formen und Medien der Herabsetzung. Interdisziplinäre Tagung des TP E „Sakralität und Sakrileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionellen Streit des 16. Jahrhunderts“. 19.02.2020–21.02.2020. Dresden. In: H-Soz-Kult, 23.04.2020. URL: Vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivität.
Entgegen dem mitunter ersten Eindruck entfaltet Invektivität ihr herabsetzendes Potenzial nicht einfach in spontanen Akten, sondern zumeist in mehr oder minder stabilen Mustern. Solche Muster können durch rhetorische und literarische Gattungen bereitgestellt, durch kommunikative Gattungen verfestigt, aber auch durch mediale Affordanzen initiiert werden. Die Erscheinungsformen und Funktionen des Invektiven treten in sozialer, politischer, medialer und ästhetischer Hinsicht jedoch in vielschichtigen, historisch variablen Konstellationen auf und lassen sich nicht immer problemlos zuordnen. Unter dem Aspekt dieser komplexen Dynamik gehen wir davon aus, dass das Formenspektrum der Invektivität mit traditionellen Gattungstaxonomien nicht hinreichend präzise beschrieben ist. Zu grundsätzlichen Aspekten der Gattungsdynamik vgl. Zymner (2007) Gattungsvervielfältigung.
Grundsätzlich stellt sich daher die Frage, was Gattungsbegriffe für die Beschreibung invektiver Modalitäten von Kommunikation leisten können und wie sie gattungstheoretisch elaboriert formuliert werden müssen. Normativ-taxonomische literarische Gattungsbegriffe, die sich an der herkömmlichen Trias von Lyrik, Epik und Dramatik orientieren, können zwar in vielerlei Hinsicht als überholt gelten, spielen aber in anthropologisch orientierten Ansätzen nach wie vor eine Rolle. Zur Reflexion solcher Gattungsbegriffe vgl. Zymner (2003) Gattungstheorie; Hempfer (1973) Gattungstheorie; Zur Geschichte von Gattungsbegriffen vgl. Gymnich (2010) Gattung. Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 253. Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 258f. Vgl. Jauß (1977) Theorie der Gattungen. Vgl. Genette (1993) Palimpseste, S. 14. Vgl. Genette (2001) Paratexte. Siehe den Beitrag von Antje Sablotny in diesem Band. Vgl. daneben auch: Sablotny (2019) Metalegende, bes. S. 166f. sowie Münkler (2015) Legende/Lügende.
Die rezeptionsästhetischen Gattungstheorien sind durch praxeologische Ansätze erweitert und stellenweise abgelöst worden, die sich unter dem Oberbegriff von ‚Doing Genre‘ als diskursive Prozeduren der Herstellung von Gattungszuordnungen beschreiben lassen. Gattungen bilden sich nach den praxeologischen Ansätzen nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie durch die Orientierung an vorgängigen Texten oder einem Prototypen, sondern durch iterative Bezeichnungen von kommunikativen Akten und deren Typisierung als Gattung. Vgl. Meier/Marx (2019) Doing Genre.
Funktionsgeschichtliche und praxeologische Ansätze zur Beschreibung literarischer Gattungen können nicht zuletzt auf die rhetorischen Gattungen bezogen werden, die bereits in der Antike von einer Redepraxis und ihrer Funktion sowie deren sozialer Situierung ausgegangen sind. Die grundlegende Funktion der Rede besteht nach der antiken Rhetorik darin, den Zuhörer für die vorgetragene Überzeugung des Redners zu gewinnen. Diese Funktion kann sowohl argumentativ als auch affektiv erfüllt werden: Zu den argumentativen Mitteln gehören belehren ( Vgl. Schulz (2019) Was ist rhetorische Wirkung. Vgl. Erler/Tornau (2019) Antike Rhetorik. Siehe dazu den Beitrag von Dennis Pausch in diesem Band. Vgl. daneben Koster (1980) Invektive; Helmrath (2010) Streitkultur.
Etablierte Muster bilden sich nicht nur in literarischen und rhetorischen Gattungen aus, sondern auch innerhalb der alltäglichen mündlichen Kommunikation. Solche Muster sind zunächst in der Soziologie und daran anschließend in der Linguistik als kommunikative Gattungen beschrieben worden. Der von Thomas Luckmann konzipierte und von Susanne Günthner und Hubert Knoblauch weiterentwickelte Begriff der kommunikativen Gattung beschreibt konventionalisierte kommunikative Vorgänge, die sich zur Bewältigung wiederkehrender kommunikativer Probleme oder Situationen etabliert haben. Vgl. Luckmann (1986) Kommunikative Gattungen; Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of Faith“; Günthner/Knoblauch (1996) Analyse kommunikativer Gattungen. Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of Faith“, S. 715f. Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of Faith“, S. 704ff.
Solche Muster sind nicht nur für die Alltagskommunikation und die in ihr wiederkehrenden Vorgänge höchst relevant, sondern auch für spezifische kommunikative Situationen innerhalb von Institutionen, wie etwa der Schule. Auch hier bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für invektivitätstheoretische Fragestellungen: Welche spezifischen invektiven kommunikativen Gattungen sich etwa in Orientierungskursen für Geflüchtete ausbilden, deren Integration in erster Linie durch die Distanzierung von den ihnen unterstellten Mentalitäten ihrer Herkunftskulturen erreicht werden soll, zeigt der Beitrag von Heike Greschke und Youmna Fouad in diesem Band.
Sind Luckmanns Untersuchungen zunächst von unmittelbaren Interaktionssituationen ausgegangen, wie sie für die Schule kennzeichnend sind, so ist das Konzept der kommunikativen Gattungen schon bald auf größere Textkorpora sowie auf die Kommunikationen in audio-visuellen Medien übertragen worden. Noah Bubenhofer hat das Konzept der an der mündlichen Sprache orientierten kommunikativen Gattungen auf die korpusbasierte quantitative Untersuchung von Texten angewendet und sie mit dem Begriff der Sprachgebrauchsmuster fruchtbar zu machen versucht. Vgl. Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, bes. S. 58–60. Vgl. Dürscheid (2013); Dürscheid/Frick (2016) Schreiben digital, bes. S. 109–128; Ayaß (2011) Kommunikative Gattungen; Lomborg (2011). Vgl. Fox/Panagiotopoulos/Tsouparopoulou (2015) Affordanz; Zillien (2008) Die (Wieder-)Entdeckung der Medien, bes. S. 165–171.
Daher stellt sich die Frage, in welchen kommunikativen Formen und Mustern, literarischen und rhetorischen Gattungen sich Invektivität realisiert und welche medialen Affordanzen invektive Kommunikationsformen initiieren, situieren und etablieren. Zweifellos einschlägig sind rhetorische und literarische Gattungen, die per se als herabsetzend gelten, wie Satire Siehe den Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in diesem Band. Vgl. daneben Meyer-Sickendiek (2010) Theorien der Satire. Zur Polemik im Rahmen der Streitkultur des 16. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band. Vgl. außerdem Stauffer (2003) Polemik; zur Relation Polemik und Invektive vgl. Koster (2010) Invektive und Polemik. Zum Pamphlet vgl. van den Berg (2003) Pamphlet. Zum Pasquill siehe den Beitrag von Gerd Schwerhoff in diesem Band. Zur Karikatur vgl. den Beitrag von Lea Hagedorn in diesem Band. Vgl. Koch (2015) Ethno-Comedy. Zu invektiven theatralen Inszenierungen in der Form artivistischer Interventionen siehe den Beitrag von Lars Koch in diesem Band. Vgl. Kanzler (2019) (Meta-)Disparagement Humour sowie ihren Beitrag in diesem Band. Zur Bildparodie vgl. den Beitrag von Jürgen Müller in diesem Band.
Im Register des Ernsten bewegen sich dagegen die Polemik und die Streitschrift, was Verfahren der Ridikülisierung mit Anleihen im Register des Komischen aber nicht ausschließt. Beide geben sich, wie Kai Bremer in seinem Beitrag zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts zeigt, als reaktive Gattungen, die sich auf vorausgehendes und als empörend markiertes Handeln und Verhalten beziehen, weniger auf soziale oder politische Zustände, die als Zielscheibe satirischer Verfahren dienen. Vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band. Vgl. Marx (2019) Von Schafen im Wolfspelz; Marx (2021) Das Dialogpotenzial von Shitstorms.
Zu Aspekten der kommunikativen Praxis gehören auch Praktiken, die der sprachlichen Aggression Vgl. die Einleitung von Silvia Bonachhi sowie die Beiträge in: Bonacchi (2017) Sprachliche Aggression. Vgl. Butler (2006) Hass spricht. Zur Diskussion um das Konzept hate speech vgl. die Beiträge in: Wachs / Koch-Priewe / Zick (2021) Hate Speech. Siehe daneben auch die Beiträge in: Meibauer (2013) Hassrede sowie aus linguistischer Sicht Marx (2018) Hate Speech. Einen aufschlussreichen Beitrag liefert daneben Scharloth (2017) Hassrede und Invektivität, der die Bezichtigung einer Äußerung als Hassrede aus invektivitätstheoretischer Perspektive als metainvektive Diskursintervention deutet, die selbst Teil invektiver Kommunikation ist. Vgl. Koch / Nanz / Rogers (2020) The Great Disruptor, bes. S. 6–8.
Von Interesse für die Untersuchung herabsetzender Sprechakte ist nicht zuletzt die lexikalische Ebene. Neben Beleidigungen, die jenseits des Aspekts der Kränkung durch ihre rechtliche Rahmung charakterisiert werden können, Zu den juristischen Aspekten vgl. den Kommentar von Hilgendorf (2009) Beleidigung; zu den gesprächsrhetorischen Aspekten siehe Meier (2021) Beleidigungen. Vgl. Tenchini (2017) Multi-Akt-Semantik. Den Begriff des Ethnophaulismus als abwertende Bezeichnung für eine ethnisch oder rassistisch definierte Gruppe hat der amerikanische Psychologe Abraham Aron Roback geprägt; vgl. Roback (1944) A Dictionary. Vgl. dazu die Beiträge von Jan-Martin Lies und Anja Lobenstein-Reichmann in diesem Band. Siehe daneben die Beiträge in: Hornscheidt (2011) Schimpfwörter. Grundlegend auch: Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche Ausgrenzung; von unschätzbarer Genauigkeit: Klemperer (1947) LTI.
Zu bedenken ist des Weiteren das Verhältnis der unterschiedlichen invektiven Formen und Muster zueinander: Wie etwa ist die Beziehung von etablierten Gattungen, die Modalitäten der Herabsetzung bereits inkludieren, zu neuen invektiven Gattungen zu denken? Was unterscheidet etwa die Derartige Fragen erörtert der Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek, der die spezifischen Ausprägungen des Satirischen in der Moderne unter poetologischen Gesichtspunkten untersucht.
Wie die nachfolgenden Untersuchungen insgesamt verdeutlichen, lassen sich vielfältige Austauschprozesse beobachten, in denen einerseits rhetorisch-literarische Gattungen alltagssprachliche Elemente integrieren und bearbeiten, andererseits in der Alltagskommunikation ästhetische Schemata angeeignet und transformiert werden. Etablierte literarische und rhetorische Gattungen fungieren damit ebenso als Formarchive, die Muster der Herabsetzung in der Alltagskommunikation verfügbar halten, wie umgekehrt Muster der Alltagskommunikation in solchen Gattungen aufgenommen, iteriert und transformiert werden.
Deshalb fokussiert der Band mit den invektiven Gattungen als Untersuchungsbereich ein Schnittfeld, das rhetorische, literarische und bildkünstlerische Gattungen sowie kommunikative Gattungen im Sinne mehr oder minder fest etablierter Sprachgebrauchsmuster und auch die kommunikativen Affordanzen medialer Formate erfasst. Die Fragestellung richtet sich zum einen auf den Formaspekt des Invektiven, zum anderen auf die Effekte von Invektivität für die Konstitution und Transformation unterschiedlicher Gattungen. Übergreifend thematisieren die Beiträge die Frage, welche Bedeutung einerseits den Gattungen für die Performanz, Redundanz und Varianz invektiver Rede zukommt, welche Rolle invektive Kommunikation andererseits für die Transformation und Genese von Gattungen beziehungsweise von Sprachgebrauchsmustern spielt und wie Gattungen und Muster wiederum auf die invektiven Dynamiken zurückwirken. Dass die hier behandelten Gattungen und Modalitäten des Invektiven nicht erschöpfend sein können, versteht sich angesichts der Dynamik invektiver Kommunikation nahezu von selbst. Kennzeichnend für invektive wie metainvektive Kommunikation ist überdies, dass sie sämtliche literarischen, rhetorischen und kommunikativen Gattungen integrieren und transformieren kann und nicht an eine Liste invektiver Gattungen gebunden ist, auch wenn sich diese für herabsetzende Kommunikationsakte anbieten und dementsprechend häufig genutzt werden.
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